Lukas - Alexander Booken - E-Book

Lukas E-Book

Alexander Booken

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Beschreibung

Lukas, 13 Jahre alt, lebt in einer Welt ohne Streit und ohne Sorgen. Doch als er von seinem Lehrer in einen Raum geführt wird, ahnt er nicht, dass sein Leben an diesem Junitag eine drastische Wendung nehmen wird. Gefangen zwischen seiner ungestümen Neugier und der bitteren Realität, schmiedet Lukas Pläne der Vergeltung. Doch der Weg dorthin ist steinig und führt ihn bis über die Grenzen des Erträglichen. Immer tiefer gerät er in eine aussichtslose Situation. Wird er sich aus diesem Strudel aus Angst, Rache und Verzweiflung befreien können? Eine Geschichte über Missbrauch, Mobbing und der verzweifelten Suche nach einem Ausweg.

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Inhalt

PROLOG - MEIN LEBEN

DIE BEGEGNUNG MIT LUKAS

DIE TAT

DAS DANACH

DER FREITAG

DER SAMSTAG

DER SONNTAG

DER STREIT

DIE BEGEGNUNG

DIE STIFTEMAPPE

DIE ENGLISCHARBEIT

DIE NACHT

DAS KARTENSPIEL

UNTER HOCHDRUCK

DIE EXPLOSION

DIE BIOARBEIT

DAS EXPERIMENT

DER HILFERUF

DIE LUFTPISTOLE

DER ABSTURZ

DAS FEUER

DER GESCHICHTSUNTERRICHT

DER BESUCH

TOMS RACHE

DIE FÜNFMINUTENPAUSE ÄNDERT ALLES

DIE FÜNFMINUTENPAUSE

DER GEMEINSAME AUSWEG

DER ABSCHLUSS DES SCHULJAHRES

AM ENDE IST ALLES GUT

NACHWORT - WAS DAS LEBEN BIETET

DANKSAGUNG

PROLOG - MEIN LEBEN

Lukas

Man durfte nicht auffallen, man durfte nicht anders sein. Ich durfte nicht anders sein, ich durfte nicht weiter auffallen. Ich war eh schon der Kleinste und Dünnste in meiner Klasse und fiel hierdurch in der Klasse sehr schnell auf. Zudem standen meine Haare, aufgrund mehrerer Wirbel, ständig in alle Richtungen ab.

Wenn man nicht so war wie der Durchschnitt, dann bedeutete das, dass man Aufmerksamkeit auf sich zog. Aufmerksamkeit von den gewaltbereiten Jungs dieser Schule. Von denen, die sich für die Chefs dieser Schule hielten und mit allem, was sie taten, gegen die Lehrer rebellierten.

Auch Tom musste man zu dieser Gruppe zählen. Er wiederholte die siebte Klasse in diesem Schuljahr und war somit einer der ältesten und größten Schüler in meiner Klasse.

Schulische Leistungen waren ihm gleichgültig. Zudem hatte es den Eindruck, dass sich Tom bei den Lehrern und gerade bei Herrn Müller alles erlauben konnte. Herr Müller schien nahezu machtlos gegenüber Tom zu sein.

Getrieben durch Tom rühmten sich einige in meiner Klasse damit, die schlimmste Klasse der ganzen Schule zu sein.

Cool musste man sein. Aber was genau waren die Kriterien für cool? Ich fand Patrik cool. Seine rötlichen kurzen Haare und leichten Sommersprossen verliehen seinem Gesicht etwas Mysteriöses und etwas Aufrührerisches.

Wir waren seit dem Kindergarten miteinander befreundet.

Im Kindergarten war es noch völlig gleichgültig gewesen, ob jemand groß, klein, dick, dünn, arm, reich, intelligent oder doof war. Eine Kategorie cool gab es in dem Alter noch nicht. Das, was damals für eine Freundschaft zählte, war, dass man zusammen lachen konnte.

Wir haben viel zusammen gelacht. Mit keinem anderen habe ich so viel lachen und erleben können, wie mit Patrik.

Patrik war auch noch mit Stephan und Uwe befreundet. Da wir vier häufig etwas zusammen unternahmen, bezeichnete ich auch Stephan und Uwe als meine Freunde. Das war aber nicht das Gleiche wie mit Patrik.

Das Ende des siebten Schuljahres änderte alles.

Stundenplan

Zeit

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

7

30

- 8

15

Werken

Physik

Kunst

WPF

Bio

Musik

8

20

- 9

05

Werken

Deutsch

Mathe

WPF

Englisch

Musik

9

15

- 10

00

Mathe

Deutsch

Deutsch

Englisch

Reli

Mathe

10

20

- 11

05

Reli

Englisch

AL

Mathe

Deutsch

Mathe

11

10

- 11

55

Chemie

Bio

Erdkunde

Deutsch

AG

12

05

– 12

50

AWT

AL

Geschichte

Sport

AG

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DIE BEGEGNUNG MIT LUKAS

Herr Kretschmann: Montag

Heute hatten wir Montag, der Schulgong verkündete gerade das Ende der sechsten Stunde. In dieser letzten Stunde war es nicht immer ganz einfach, die Konzentration bei den Schülern aufrecht zu halten. Das war besonders zum Ende des Schuljahres der Fall, wenn bereits alle Arbeiten geschrieben waren, die Noten somit feststanden und das Wetter gut war. Ich glaubte aber, dass es mir heute ganz gut gelungen war.

Ich packte meine Sachen in meine Tasche und ging zur Tür des Klassenzimmers. Die meisten Schüler hatten bereits kurz vor mir den Klassenraum verlassen – nach der sechsten Stunde hatten sie es immer besonders eilig –, die letzten drei Schüler gingen soeben durch die Tür, neben der ich wartete.

„Einen schönen Feierabend, Herr Kretschmann“, sagte Monika, während sie als Letzte an mir vorbei auf den Schulflur trat.

„Dankeschön, Monika. Ich wünsche dir auch einen schönen Nachmittag“, antwortete ich und freute mich über die aufmunternden Worte von ihr. Dann schloss ich die Tür und machte mich auf den Weg zum Lehrerzimmer.

Ich ging an dem Klassenzimmer der 7a vorbei und sah, wie Tom bereits vor dem Klassenzimmer stand und hier mit seinen beiden Freunden rumflachste. Regulär unterrichtete ich nicht in der Klasse von Tom, ich durfte hier aber schon zwei Mal als Vertretung für Frau Gerlach Mathematik unterrichten. Bei diesen Stunden stachen zwei Schüler aus der großen Masse dieser Klasse hervor. Das war zum einen Tom, der in dieser Klasse mit Abstand der Größte und Stärkste war. Alleine dadurch war er in der Klasse stets präsent. Er war in der Klasse das, was man in der Welt der Tiere das Alphatier nennen würde. In der Schule umgaben ihn stets seine zwei Freunde, Carsten und Michael.

Für Tom lief es an dieser Schule zuerst nicht so gut. Er hatte das letzte Schuljahr wiederholen müssen, da er zu viele Fehlstunden gehabt hatte. Aufgrund der Fehlstunden war er auch notentechnisch weit abgesackt. Er durchlief die siebte Klasse somit bereits zum zweiten Mal. Allerdings schien ihm dieses Extrajahr gutgetan zu haben. Auch wenn er in den meisten Fächern eher unter dem Durchschnitt lag, schienen seine Stärken in Deutsch und Sport zu liegen.

Neben dem Klassenzimmer der 7a führte eine lange und gerade verlaufende Treppe hinunter in das Erdgeschoß. Ich ging um das Treppengeländer herum und schlenderte die ersten Stufen der Treppe herunter. Vor mir, ungefähr auf der Hälfte der Treppe, sah ich Lukas. Auch er ging in die 7a und auch er war mir in den Vertretungsstunden aufgefallen. Er war das komplette Gegenteil von Tom. Er war einer derjenigen, die ständig unter dem Radar blieben. Sehr ruhig und zurückgezogen. Bei diesen Schülern fragte man sich am Ende der Stunde, ob sie heute überhaupt da waren.

Lukas war der Kleinste und Zierlichste in seiner Klasse. Er war so schlank, dass ich mich mal bei dem Gedanken erwischt habe, ob ich seine Taille mit meinen beiden Händen (wohlgemerkt, mit den Händen, nicht mit den Armen) umfassen könnte. Aber ein wenig kräftiger war er wohl schon. Ich wagte aber zu bezweifeln, dass an dem Jungen auch nur ein Gramm Fett war. Er wirkte dabei aber auch nicht mager, sondern eher drahtig.

Seine Haare waren fast immer ein wenig zerzaust. Besonders nach dem Schulsport standen seine Haare in alle Richtungen. Eine Frisur ließ sich hier dann nicht mehr erkennen.

Aber auch Lukas hatte Stärken. Davon durfte ich mir in den Vertretungsstunden bereits ein Bild machen. Er hatte ein ausgesprochenes Talent für Mathematik, und wie ich gehört hatte, war er auch in den technischen Fächern einer der besten Schüler dieser Schule. Ein kluger Kopf, wenn es um logische Zusammenhänge ging. Dafür aber sehr introvertiert. Sein einziger Freund in der Klasse war Patrik.

Patrik hingegen war in dem Klassenverband – wenn man in dieser Klasse denn von einem Klassenverband sprechen konnte – sehr beliebt. Durch Patrik hatte auch Lukas Anschluss in der Klasse.

Die Schwächen von Lukas hingegen lagen – wie bei mir – in den Sprachen und in der Rechtschreibung.

Ich sah, wie Lukas vor mir ganz langsam die Treppe hinunterging. Die erste Hälfte der Treppe hatte er bereits hinter sich, während ich mich anschickte, ihm zu folgen. Lukas hielt sich mit der linken Hand an dem Treppengeländer fest und nahm ganz vorsichtig Stufe für Stufe.

Tom und seine Freunde stürzten auf der Treppe an mir vorbei, und nach wenigen Sekunden war Tom auf der Höhe von Lukas.

„Platz da, du Arsch!“, rief Tom in Lukas‘ Richtung, noch ehe er ihn erreicht hatte, und rempelte ihn an. Lukas strauchelte, konnte sich aber am Treppengeländer festhalten.

Ich war leicht entsetzt. Die Treppe wäre durchaus breit genug gewesen, sodass alle nebeneinander die Treppe hinuntergehen hätten können.

„Tom!“, brüllte ich ihm hinterher. Mein Ruf verhallte ungehört auf dem Schulflur unter dem Getöse der anderen Schüler. Wie erstarrt blieb Lukas stehen, während Tom die Treppe weiter runterlief. Lukas ging vorsichtig weiter. Ich schloss schnell auf.

„Hallo, Lukas. Das sieht heute aber gar nicht rund aus, wie du hier die Treppe runtergehst. Was ist passiert?“, fragte ich ihn, als ich mit ihm auf gleicher Höhe war.

„Ich habe Muskelkater in den Beinen“, antwortete Lukas leise und hielt sich dabei am Treppengeländer fest.

„Oh, vom Sport? Was machst du? Spielst du Fußball?“, fragte ich weiter.

„Ich hatte eine Wette mit meinem Bruder … Wer die meisten Kniebeugen schafft“, antwortete Lukas ausweichend.

Ich fragte mich, wie viele Kniebeugen er wohl machen musste, um bei seinem Gewicht einen Muskelkater zu bekommen, der ihn zu einem solch vorsichtigen Gang zwang. Lukas sah verlegen an mir vorbei in die Weite des Flures.

„Ist mit dir und Tom alles in Ordnung?“

„Ja“, antwortete Lukas kurz.

Es hatte den Anschein, dass Lukas die Unterhaltung unangenehm war. Ich wollte ihn nicht weiter quälen und schloss das Gespräch mit den Worten ab:

„Na dann … Da hilft nur, in Bewegung bleiben, auch wenn es schmerzt. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“

Von der Seite sah ich noch, wie Lukas verlegen lächelte, dann setzte ich meinen Weg zum Lehrerzimmer fort.

Auf dem Flur, vor dem Gang zum Lehrerzimmer, kam mir Herr Gottwald, unser Hausmeister, entgegen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich schon mal gesehen hätte, wie sich Herr Gottwald gefreut hat. Er war wohl chronisch schlecht gelaunt. Durch seine grummelige und leicht aufbrausende Art hatte er sich zum favorisierten Ziel einiger Schüler gemacht, die ihm mit Freude immer wieder Streiche spielten.

Das, was an Herrn Gottwald aber besonders auffällig war, das war seine Frisur. Was er wohl zu seinem Friseur sagte, wenn er da hinging? ‚Wie immer. Einmal Bär im Schritt bitte.‘ Leicht lockig, immer fettig und an einigen Stellen schon etwas licht.

Es ist nicht so, dass ich einem Bären schon mal in den Schritt gesehen hätte, aber genau so stellte ich mir das da vor.

„Guten Tag, Herr Gottwald“, begrüßte ich ihn freundlich. Er sah mich an, hob grüßend die Hand und entgegnete ein einfaches und monoton ausgesprochenes „Hallo.“

Ich glaubte, dass er sich meinen Namen bis jetzt noch nicht merken konnte. Wieso auch. Wir hatten in der Regel ja nicht ganz so viel miteinander zu tun.

„Was ist los mit Ihnen? Wieso sind sie so schlecht gelaunt?“, fragte ich höflich.

„Die Jugend von heute ist nicht mehr so wie früher, sage ich Ihnen. Die haben keinen Respekt! Keinen Respekt vor anderen Menschen und keinen Respekt vor der Leistung anderer Menschen“, wetterte Herr Gottwald. Ich sah ihn verwundert an.

„Auch in dieser Generation gibt es solche und solche. Das war schon zu unserer Zeit so und das wird auch in Zukunft so sein“, antwortete ich diplomatisch.

„Ich weiß nicht, was Sie in Ihrer Jungend so alles gemacht haben, aber bei uns gab es so etwas nicht.“

„Was ist denn …?“, ich konnte meine Frage nicht ganz stellen, da wetterte Herr Gottwald schon weiter:

„Haben Sie das mit der Jungentoilette mitbekommen? Die haben heute wieder das Waschbecken zum Überlaufen gebracht! Hübsch Toilettenpapier im Waschbecken drapieren, Wasserhahn aufdrehen und weglaufen. Sehr witzig! Wenn ich die erwische, die werden sich eine neue Schule suchen dürfen! Und das ist nicht das erste Mal, dass die Plagen so was tun. Das war letzte Woche auch schon.“

So langsam redete er sich in Rage. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn in seinem Redefluss zu unterbrechen.

„Aber die letzte Woche war ohnehin etwas ganz Besonderes!“ Bei diesen Worten hob er seinen Zeigefinger an und legte eine kurze Pause ein. Hier hätte ich die Gelegenheit gehabt, etwas zu sagen, aber ich war zu überrascht. Außerdem vermutete ich, dass er seine Ausführungen gleich noch weiter fortführen würde. Was er dann auch tat:

„Die kotzen jetzt auch noch in die Räume! Tür auf, reinkotzen, noch ein wenig verwischen und wieder verschwinden. Und wer darf sich dann darum kümmern, dass der ganze Scheiß wieder weggemacht wird? Früher gab es so etwas nicht!“

„Woher wissen Sie, dass das ein Schüler war?“, fragte ich vorsichtig.

„Wollen Sie damit andeuten, dass mir einer der Lehrer letzte Woche Donnerstag in die Bibliothek gekotzt hat?“ Bei diesen Worten sah mir Herr Gottwald sehr eindringlich in die Augen.

„Nein, natürlich nicht“, entgegnete ich schnell und fühlte mich zunehmend unwohl bei diesem Gespräch. „Im Übrigen bin ich mir sicher, dass die Kollegen andere Wege gefunden hätten, um zu kommunizieren, dass sie die geschlossene Bibliothek zum Kotzen finden“, ergänzte ich scherzhaft und erlaubte mir ein vorsichtiges Lachen. Herr Gottwald schien für diesen Scherz gerade wenig empfänglich zu sein. Er sah mich böse an.

Der Hausmeister hätte im späten Mittelalter mit Sicherheit auch einen guten Inquisitor abgegeben. Er war einer, der sofort jedes Wort auf die Goldwaage legte und daraus die unmöglichsten Schlüsse zog.

Mit einem „Wenn Sie erlauben, mir läuft etwas die Zeit davon“ versuchte ich, mich aus der unangenehmen Situation zu befreien, und sah dabei auf meine Armbanduhr.

„Ja, natürlich“, antwortete Herr Gottwald langgezogen und neigte seinen Kopf dabei leicht zur Seite.

Während ich meinen Weg fortsetzte und mich somit von ihm entfernte, fühlte ich mich beobachtet.

Vom Schulflur bog ich ab in den Gang, der zum Lehrerzimmer führte. Jetzt war ich außer Sicht von Herrn Gottwald und fühlte mich sofort befreit von seinem Blick. Nach etwa fünf Metern lag auf der rechten Seite dieses Ganges die Tür zum Lehrerzimmer. Der Gang verlief dann nach links weiter zum Büro unseres Rektors Herr Neumann und zum Sekretariat der Schule, in dem sich Frau Gesierich um alles Organisatorische kümmerte.

Geradeaus, direkt neben der Tür vom Lehrerzimmer, war ein weiteres Büro. In diesem Büro saß Manuela Schaub, die vor etwa einem Jahr unsere Konrektorin geworden war. Die Tür zu ihrem Büro stand offen, und ich sah, wie sie entspannt in ihrem Stuhl vor ihrem Schreibtisch saß und telefonierte. Manuela sah mich und hob grüßend die Hand. Ich grüßte zurück.

Sie war nur wenige Jahre älter als ich. Ich mochte sie. Bei ihr merkte man, dass sie ihren Beruf liebte. Sie war für Neues immer zu haben und scheute sich nicht, auch mal unbequeme Wege zu gehen, wenn sie zum Ziel führten. Sie war sehr einfallsreich, was die Unterrichtsgestaltung anging, und war aus diesem Grund bei den Schülern sehr beliebt.

Aber natürlich gab es an dieser Schule auch bei den Lehrern die andere Seite des menschlichen Daseins. Der komplette Gegensatz zu Manuela war Herr Müller. Ich schätzte sein Alter auf etwa 58 Jahre, das war aber aufgrund seiner Körperfülle nur schwer zu sagen. Herr Müller war in allem, was er machte, sehr eingefahren. Alles musste so bleiben, wie es schon immer war. Er war der Meinung, dass sich diese Methoden über all die Jahre bewährt hatten und dass man aus diesem Grund nichts daran ändern durfte.

Er galt als sehr streng und nicht immer ganz fair. Es war schon mehrfach vorgekommen, dass sich Schüler bei mir beschwert hatten, weil sie sich von ihm ungerecht behandelt fühlten.

Ich öffnete die Tür vom Lehrerzimmer und ging zu meinem Platz. Auf dem Tisch lag hier der Stapel mit den Arbeiten, die ich in der fünften Stunde hatte schreiben lassen und die ich heute noch korrigieren musste. Ich steckte die Arbeiten in meine Tasche und machte mich auf den Heimweg.

DIE TAT

Lukas: Donnerstag, eine Woche zuvor

Es war schon erstaunlich, wie langweilig Schule sein konnte. Diese Langeweile stand nahezu jedem Schüler ins Gesicht geschrieben. Besonders in den späteren Stunden fiel es doch sehr schwer, wach zu bleiben. Das Einzige, was bei dem monotonen Gebrabbel von Herrn Müller Abwechslung versprach, das war die Fensterfront zu meiner Linken. Draußen war es warm. Nicht so warm, wie es eigentlich Mitte Juni sein sollte, aber immerhin war es schon deutlich wärmer als in der vergangenen Woche. Es war allerdings auch windig geworden. Die Böen hatten es mir heute bei der Fahrt mit dem Fahrrad zur Schule nicht leicht gemacht.

Ich sah aus dem Fenster. Der Ellenbogen meiner rechten Hand ruhte auf der Tischplatte, mit der rechten Hand stützte ich meinen Kopf.

Die Blätter an den Bäumen zappelten in den Böen. Bei meinem Glück würde der Wind bis zum Schulschluss drehen, sodass ich auch auf dem Heimweg gegen den Wind ankämpfen müsste. Aber zuerst musste ich diese Stunde überstehen. Ich sah auf meine Uhr.

Es gab Stunden, die zogen sich richtig in die Länge, und umso öfter man auf die Uhr sah, umso langsamer schien die Zeit zu vergehen. Zum Glück hatten wir heute nach der fünften Stunde frei. In der sechsten Stunde hätten wir eigentlich Sport gehabt, da unser Sportlehrer Herr Ehlers aber krank war und scheinbar keine Vertretung gefunden werden konnte, hatten wir die sechste Stunde frei bekommen. Da die fünfte Stunde bereits begonnen hatte, war ein Ende in Sicht.

Aber wie sollte ich diese äußerst ermüdende Deutschstunde bei Herrn Müller jemals überstehen?

Wieder sah ich auf die Uhr.

Welchen Sinn machte es, Deutsch in einer Schule in Deutschland zu unterrichten? Wir konnten alle deutsch. Wofür musste man wissen, was ein Genitiv-, Dativ- oder Akkusativobjekt war? Das würde ich nie verstehen. Es gab sogar Menschen, die studierten Deutsch, und das mit Sicherheit nur, um später Schüler damit in der Schule quälen zu dürfen. Was waren das nur für Menschen, was war das nur für eine Welt? Gerade Herr Müller hatte eine besondere Freude dabei, uns mit seinem Fach zu langweilen.

Wieder sah ich auf die Uhr an meinem linken Handgelenk. Es waren gerade mal dreißig Sekunden vergangen, seit ich das letzte Mal auf meine Armbanduhr gesehen hatte. Das konnte doch nicht sein? Die Uhr musste kaputt sein. Konnte eine digitale Uhr mit LCD-Anzeige überhaupt kaputtgehen? Klar, irgendwann war die Batterie leer. Aber kaputt? Die Sekunden sprangen noch um, die Uhr war also nicht kaputt. Aber waren die Sekunden vorhin auch schon so langsam vergangen?

Ich beobachtete die Sekundenanzeige auf meiner Uhr.

26 …

27 ……

28 ………

Das wurde immer langsamer!

„Lukas!“

Ich schreckte hoch. Herr Müller stand an der Tafel und sah mit einem sehr wütenden Gesichtsausdruck in meine Richtung.

„Ich habe nicht das Gefühl, dass du heute sonderlich bei der Sache bist. Ich erwarte von dir, dass du meinem Unterricht etwas mehr Aufmerksamkeit schenkst, Lukas!“, warf mir Herr Müller laut und bestimmt entgegen.

„Aber ich habe doch aufgepasst“, versuchte ich mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Herr Müller trat einen Schritt in meine Richtung und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. In dieser Haltung kam sein dicker Bauch ganz besonders gut zur Geltung. Schließlich neigte er seinen Kopf leicht zur Seite und sagte: „Dann wirst du mir sicherlich verraten können, was ich gerade gesagt habe, oder?“

Jetzt war ich am Arsch. Schnell sah ich an die Tafel, um Aufschluss über das mögliche Gesagte zu erlangen. Da war alles vollgeschrieben, verstehen tat ich davon auf die Schnelle allerdings nichts. Verzweifelt sah ich zu Patrik, der zu meiner Rechten an meinem Tisch saß. Dieser sah verlegen an die Tafel. Von ihm konnte ich mir also keinen Hinweis erhoffen. Wahrscheinlich war er, wie auch alle anderen in der Klasse, froh, dass es nicht ihn selber getroffen hatte. Ich sah wieder zu Herrn Müller. Ich musste jetzt eine Entscheidung treffen: Entschuldigen oder in die Offensive gehen.

„Ich habe nur ganz kurz auf meine Uhr gesehen.“ Das war mein verzweifelter Versuch der Offensive.

„So …? Wie spät ist es denn?“, fragte mich Herr Müller sehr provokativ.

Wie ich die Selbstsicherheit der Lehrer hasste!

Ich konterte mit einem wenig geschickten: „Was?“ Woher sollte ich das denn wissen? Hatte der keine anderen Probleme? Wer merkt sich denn die Uhrzeit, wenn er auf die Uhr sieht? Außerdem hatte ich nur noch auf die Sekunden geachtet.

„Du wirst nachher, wenn es geklingelt hat, sitzen bleiben!“, sagte Herr Müller und sah mich mit seinem ständig grimmigen Gesicht an. Die Hoffnung auf einen baldigen Schulschluss brach in mir zusammen. Hoffentlich musste ich nicht nachsitzen. Hätte ich mich bloß für die Entschuldigung entschieden.

Ich tat einen Augenblich so, als hätte Herr Müller meine ganze Aufmerksamkeit. Nach einigen Minuten sah ich mich dann in dem Klassenzimmer um. Wie vermutet kämpften die meisten meiner Klassenkameraden mit dem Schlaf und mit der Schwere ihrer Köpfe.

Ich saß zusammen mit Patrik an einem ziemlich mittig gelegenen Tisch, etwas näher an der Fensterfront. In diesem Moment wünschte ich mir, dass ich einen Platz weiter hinten gehabt hätte. In den hinteren Reihen schien man völlig unbehelligt dösen zu können. Hinter mir und Patrik saßen Tom, Carsten und Michael. So wie die aussahen, hatten die von dem Unterricht noch weniger mitbekommen als ich. Garantiert hatten die aber mitbekommen, dass ich nach dem Unterricht noch bleiben musste.

Der Rest der Stunde verging noch langsamer.

Endlich läutete es aber doch noch, und langsam erwachte die Klasse aus ihrem Halbschlaf. Alle fingen an, ihre Schulsachen zurück in ihre Schultaschen zu räumen.

Mit einem „Die Bücher braucht ihr mir heute nicht zurück auf das Pult legen. Lukas ist heute so freundlich und sammelt die Bücher für euch ein“, verabschiedete Herr Müller den Rest der Klasse. Danach wandte sich Herr Müller noch an die letzte Schülerin, die noch nicht hatte flüchten können; abgesehen von ihr waren nur noch ein paar Jungs da. „Saskia, machst du bitte noch die Fenster bei dir auf?“

Herr Müller fing an, seine Tasche zu packen. Patrik verabschiedete sich mit einem leisen „Na, ist doch halb so wild“ von mir und verließ zusammen mit meinen anderen Klassenkameraden das Klassenzimmer.

Bücher einsammeln? Das konnte noch nicht die ganze Strafe für meine Unachtsamkeit gewesen sein. Bestimmt würde gleich noch eine sehr ausführliche Belehrung darüber kommen, wie wichtig es doch sei, seinem Unterricht aufmerksam zu folgen. Damit diese Belehrung nicht ausartete, wollte ich die mir aufgetragene Aufgabe schnellstmöglich erledigen.

Nachdem ich meine Sachen in meinen Schulranzen gepackt hatte, sah ich mich in dem Klassenzimmer nach den Büchern um. Im hinteren Teil des Klassenzimmers stand nur noch Tom mit seinen beiden Freunden. Er hatte eines der Bücher in der Hand, die ich einsammeln sollte, und grinste mich an. Was hatte er vor? In der Regel war er immer der Erste, der nach dem Gong durch die Tür ins Freie stürzte.

Nachdem er sich sicher war, dass ich ihn sah, beugte er seinen Kopf vor und spuckte auf den gelben Einband des Buches. Ich war entsetzt! Ich drehte mich zu Herrn Müller um. Dieser hatte sich gerade von uns abgewendet und schüttelte etwas aus einer kleinen Plastikflasche in seine linke Hand. Er hatte das von Tom nicht gesehen. Ich sah wieder zu Tom. Dieser drehte sich nach hinten um und legte das Buch mit der Spucke ganz oben auf das Regal hinter sich. Wieder drehte ich mich zu Herrn Müller um. Dieser führte seine linke Hand zum Mund und schien das gerade aus der Plastikflasche Separierte schlucken zu wollen.

Ich wandte mich wieder Tom und dem Regal zu. Das Buch lag zu weit oben, als dass ich da hätte rankommen können. Tom war locker einen Kopf größer als ich.

Lachend und begleitet von Carsten und Michael verließ Tom das Klassenzimmer. Michael gab der Tür vom Klassenzimmer hinter sich noch einen Stoß, eine Böe durch die geöffneten Fenster verhinderte aber, dass sich die Tür schloss.

Ich sammelte nur die Bücher auf den Tischen ein. Ich hatte die Hoffnung, dass es nicht auffallen würde, wenn ein Buch fehlte.

In der Zwischenzeit durfte ich mir anhören, wie wichtig es doch sei, dem Unterricht aufmerksam zu folgen und seine Aufgaben stets gewissenhaft zu erledigen.

Ich legte die eingesammelten Bücher auf das Lehrerpult.

„Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich vorsichtig. Herr Müller sah kritisch auf die Bücher. Er schien die Bücher zu zählen.

„Da fehlt ein Buch!“ Voller Wut sah mich Herr Müller an. „Das ist genau das, was ich gerade meinte! Du musst deine Aufgaben sorgfältiger erledigen. Sonst wirst du nicht sehr weit kommen im Leben!“, wetterte er weiter.

Ich tat so, als würde ich mich in dem Klassenzimmer umsehen.

„Sind Sie sicher, dass eines fehlt?“, fragte ich zögernd.

„Natürlich bin ich mir sicher!“ Auch er sah sich in dem Raum um. Leider waren die Bücher in ihrer gelben Farbe sehr auffällig, und so dauerte es nicht lange, bis Herr Müller das fehlende Buch entdeckte.

„Da oben auf dem Regal“, sagte er triumphierend und zeigte mit seiner rechten Hand auf das Buch mit der Spucke. Ich ging zu dem Regal und Herr Müller setzte seine sehr emotional geführten Belehrungen über Aufmerksamkeit und Sorgfalt fort.

Ich schob einen Stuhl von den Schultischen an das Regal, stieg auf den Stuhl und hob meine Arme, damit ich an das Buch kommen konnte. Ich spürte, wie sich auch mein T-Shirt mit dem Heben meiner Arme anhob und so einen Teil meines Bauches und meines Rückens freilegte, und wie eine Böe durch das offene Fenster an meinem Rücken vorbeizog.

Ich schob das Buch seitlich von dem Regal auf meine Hand. Auf keinen Fall wollte ich das Buch oben auf dem Einband – bei der Spucke – anfassen. Als das Buch auf meiner Hand lag, stieg ich wieder von dem Stuhl und sah zu Herrn Müller.

Herr Müller starrte in meine Richtung. Ich hatte nicht mitbekommen, wann er mit seinen Belehrungen geendet hatte. Ich ging zurück zum Lehrerpult. Herr Müller sagte in dieser Zeit nichts. Er starrte mich einfach nur an.

Um den Anschein zu erwecken, dass ich seinen Worten gefolgt war, meinte ich: „Bitte entschuldigen Sie. Ich werde mir zukünftig mehr Mühe geben.“

Ich legte das Buch mit der Spucke auf dem Lehrerpult neben den anderen Büchern ab. Die Spucke glänzte in der Mittagssonne. Eigentlich ein ganz hübscher Anblick, wenn es nicht so eklig wäre.

Herr Müller hatte die Spucke scheinbar nicht bemerkt. Wahrscheinlich hielt er meinen gesenkten, auf die Spucke fokussierten Blick für Reue. Was für ein Idiot! Er wandte den Blick von mir ab, nahm einen Stapel Bücher in seine Hand und klatschte diesen Stapel auf das Buch mit der Spucke. Was für eine Sauerei! Entsetzt sah ich auf mein T-Shirt, um mich zu vergewissern, dass hier nichts von dem Sekret hingespritzt war. Mein T-Shirt war sauber. Dann sah ich zu Herrn Müller, der starrte mich nur an. Er hatte scheinbar keine Ahnung von dem, was er da gerade getan hatte.

Wenn wir die Bücher beim nächsten Mal im Unterricht benutzen müssten, dann würde ich mir mein Buch aber ganz penibel aussuchen!

„Du wirst mir dabei helfen, die Bücher runter in die Bibliothek zu bringen“, ordnete Herr Müller streng an und beendete damit meine Hoffnung, dass ich mich jetzt auf den Heimweg machen durfte.

Herr Müller nahm einen Bücherstapel – den Stapel ohne Spucke – in die eine Hand und seine Tasche in die andere. Dann sah er mich auffordernd an.

„Na los! Schnapp dir deine Sachen und den andern Bücherstapel! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Ich schulterte meinen Schulranzen, hängte mir meine Sporttasche um und musterte im Anschluss den unteren Teil des Bücherstapels. Es war keine Spucke an den Rändern der unteren Bücher zu sehen. Zumindest nicht von dieser Seite. Ich schob den Stapel Bücher an den Rand des Lehrerpultes, stützte die oberen Bücher mit meinem Kinn ab und fasste mit beiden Händen unter das unterste Buch. Schließlich folgte ich Herrn Müller mit den Büchern vor meiner Brust. Er verschloss noch die Tür des Klassenzimmers, dann gingen wir zur Bibliothek.

Unser Klassenzimmer lag im ersten Obergeschoss. Die Räume, in denen das Arbeitsmaterial der Lehrer aufbewahrt wurde – und dazu gehörte auch die Bibliothek – lagen im Erdgeschoß in der Nähe vom Lehrerzimmer.

Ich habe mich immer gefragt, wieso dieser Raum Bibliothek genannt wurde. Für mich war eine Bibliothek immer ein Gebäude, in dem man sich Bücher ausleihen konnte. Nach meinem Kenntnisstand wurde dieser Raum aber nie von einem Schüler betreten, um sich hier ein Buch auszuleihen. Ich rätselte sogar, ob diese Bibliothek mehr Bücher enthielt als die Bücher, die wir jetzt gerade wieder zurückbrachten. Wenigstens dieses Rätsel sollte in Kürze gelöst werden.

Ich achtete den ganzen Weg darauf, dass die unteren Bücher nicht zu nahe an mich herankamen, während ich die oberen Bücher weiter mit dem Kinn abstützte.

Herr Müller ging zielstrebig zum Materialraum, der rechts neben der Bibliothek lag, drückte die Türklinke herunter und öffnete die Tür.

„Geh da rein!“, sagte er leise, aber bestimmt. Ich blieb vor der geöffneten Tür stehen.

„Hä? Müssen die Bücher nicht in die Bibliothek?“, fragte ich skeptisch und sah, während ich die Bücher weiter mit dem Kinn balancierte, zu der Tür vom Nebenraum. Über dieser Tür thronte stolz ein Schild mit dem Namen Bibliothek.

„Die kann ich da gleich auch reinbringen“, wich Herr Müller aus und ergänzte wenige Sekunden später: „Die Tür muss ich erst aufschließen.“

Diese Argumentation widersprach jeder Logik. Wenn die Bücher in die Bibliothek müssen, dann musste er die Tür in jedem Fall aufschließen. Welchen Unterschied machte es also, dies nicht jetzt gleich zu machen? Wieso sollte ich zuerst in den Materialraum gehen? Hinzu kam, dass ich das Rätsel um die Bibliothek lösen wollte.

Ich zögerte weiter und sah stur zur Tür der Bibliothek.

Herr Müller schloss die Tür vom Materialraum wieder, ohne diese abzuschließen, und ging zur Tür mit dem Schild Bibliothek.

Er stellte seinen Bücherstapel und seine Tasche auf dem Fußboden ab, wühlte in seiner rechten Hosentasche nach dem Schlüsselbund, schloss die Tür auf und öffnete diese weit.

Durch einen Wink mit seinem Kopf deutete er mir an, zuerst in den Raum zu gehen.

Die Fenster im hinteren Teil der Bibliothek führten auf den Innenhof der Schule und waren mit Milchglas versehen. Dadurch wirkte das Licht in diesem Raum stets dämmrig. Das verlieh dem Raum eine geheimnisvolle Atmosphäre. Vor dem Fenster, mit gebührendem Abstand zur Fensterfront, stand ein massiver Schreibtisch aus dunklem Eichenholz. Auf dem Schreibtisch ruhte ein hölzerner Karteikasten, dessen Ecken durch jahrelange Benutzung abgerundet waren. An den Wänden links und rechts standen Regale, die mit Büchern gefüllt waren. Da dieser Raum so gut wie nie gelüftet wurde, wirkte es leicht stickig und man roch das Linoleum vom Fußboden.

Ich trat ein paar Schritte in den Raum und drehte mich zu Herrn Müller um. Ich wusste nicht, wo ich die Bücher abstellen sollte, und die Bücher wurden langsam richtig schwer. Er sah sich noch auf dem Flur um und kam schließlich auch in die Bibliothek. Er schloss die Tür, stellte seine Tasche neben der Tür ab und zeigte mit der freigewordenen Hand auf ein Regal hinter mir. Das Licht schaltete er nicht ein. Es blieb dämmerig. Ich drehte mich in die Richtung, in die er gezeigt hatte. In dem Regal standen bereits einige der gelben Bücher.

„Stell die Bücher zurück in das Regal!“, forderte mich Herr Müller auf.

Um meine Arme zu entlasten, stellte ich die Bücher zunächst auf dem Fußboden ab. Im Anschluss stellte ich auch meinen Schulranzen und meine Sporttasche ab.

Ich ließ meinen Blick durch die Bibliothek schweifen. Die Regale waren gefüllt mit einer schier unzählbaren Anzahl an Büchern. An der obersten Borte eines jeden Regales wies ein großes Schild auf das Genre der Bücher hin, die in diesem Regal zu finden waren. Auf den Regalborten, unter den jeweiligen Büchern, zeigten weitere Schilder die Namen der Autoren, die diese Werke verfasst hatten. Alle Buchrücken waren im unteren Bereich mit einem weißen Streifen mit einer Registernummer versehen. Mit Ausnahme der Bücher, die wir für den Deutschunterricht verwendet hatten, schien nicht ein weiteres Buch zu fehlen. Ich war mir aber sicher, dass jedes einzelne Buch in der Bibliothek spannender war als die gelb-roten Bücher, mit denen wir im Deutschunterricht gequält wurden.

Ich fing an, die Bücher nacheinander in das Regal einzusortieren. Herr Müller stellte den Stapel, den er getragen hatte, neben den meinen und deutete mir mit einem Winken seiner Hand an, dass ich mich beeilen sollte. Er stellte sich hinter mich und sah mir dabei zu, wie ich die Bücher in das Regal einsortierte. Es fühlte sich komisch an, von ihm beobachtet zu werden.

Bei den beiden unteren Büchern aus meinem Stapel achtete ich darauf, dass ich die Bücher zusammen in das Regal stellte. Nach einer Woche müssten die doch bestimmt gut zusammenkleben.

Ich sah kurz zu Herrn Müller.

Mit einem „Nur zu, du bist noch nicht fertig!“ trieb mich dieser zum Weitermachen an. Meine Sorgfalt bei diesen zwei Büchern hatte er scheinbar nicht bemerkt.

Als ich das letzte Buch im Regal verstaut hatte, da stand Herr Müller direkt hinter mir und legte seine rechte Hand auf meine Schulter. Ich hatte nicht bemerkt, dass er dichter an mich herangekommen war. Ich erschrak und zuckte zusammen. Diese körperliche Nähe zu Herrn Müller war mir äußerst unangenehm.

„Das hast du gut gemacht, Lukas“, lobte er mich, und es klang tatsächlich aufrichtig. Vielleicht sogar ein bisschen zu aufrichtig. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er übertrieben nickte. Die ganze Szene wirkte komisch auf mich.

„Ich halte große Stücke auf dich, auch wenn ich oft sehr streng mit dir bin. Glaube mir, du bist etwas Besonderes.“

Was war das denn? Ich trat einen Schritt nach rechts in den Raum und drehte mich dabei schnell um seine Hand herum, um mich aus seiner Berührung zu winden. Seine Hand löste sich dabei endlich von meiner Schulter. Ich trat einen Schritt zurück und ließ Herrn Müller nicht mehr aus den Augen.

„Du brauchst vor mir keine Angst zu haben“, sagte er sanft und trat in einer Schnelligkeit, die ich ihm mit seiner Fülle nicht zugetraut hätte, auf mich zu. Jetzt legte er mir seine beiden Hände auf die Schultern und schloss seine Hände. Dieser Griff war stärker. Es schmerzte an den Schultern. Was hatte er vor?

Der Gong läutete bereits zur sechsten Stunde. Herr Müller achtete nicht darauf.

„Weißt du …, ich bin eigentlich ein ganz netter Kerl“, sagte Herr Müller sehr ruhig. „Wir könnten Freunde sein.“

Ich sah ihn entsetzt an.

„Jeder kann Freunde gebrauchen. Und ich glaube, ganz so viele Freunde hast du nicht, oder? Patrik hat dich vorhin im Stich gelassen. Er ist nicht dein Freund. Ein richtiger Freund hätte dir in der Situation geholfen. Ich hätte dir geholfen, wenn du mein Freund gewesen wärest. Das Leben kann so viel einfacher sein, wenn man einen seiner Lehrer zum Freund hat, denkst du nicht auch?“

Nach den Worten zog mich Herr Müller an den Schultern zu sich heran und öffnete seine Arme für eine Umarmung. War mir die körperliche Nähe, als er mir seine rechte Hand von hinten auf die Schulter gelegt hatte, schon unangenehm gewesen, so überfiel mich jetzt ein Gefühl des abgrundtiefsten Ekels. Bevor er die Umarmung schließen konnte, versuchte ich mich durch ein schnelles Ducken aus der kommenden Umarmung zu befreien. Er erkannte meine Absicht, senkte ebenfalls seine Arme und stoppte meinen Fluchtversuch. Er umarmte mich und kam mit seinem Mund ganz nahe an mein Ohr.

„Ich mag dich wirklich sehr“, raunte er beruhigend in mein Ohr. Jetzt bekam ich Angst. Mein Puls fing an zu rasen. Ich versuchte mich durch schnelle, ruckartige Bewegungen aus der Umarmung zu befreien. Ohne Erfolg. Herr Müller verstärkte seine Umklammerung.

„Das ist ganz normal unter Freunden, wenn man sich umarmt. Da ist überhaupt nichts dabei.“

Nachdem er das gesagt hatte, hielt mich sein linker Arm weiter umklammert und seine rechte Hand schob sich hinter meinem Rücken langsam unter mein T-Shirt. In mir stieg blanke Panik auf. Erneut versuchte ich mich über eine schnelle Drehung aus seiner Umarmung zu befreien.

Ich war zu klein für mein Alter. Ich war zu schwach für mein Alter. Ich war noch ein Kind. Ich hatte Herrn Müller körperlich nichts entgegenzusetzen. Seine Umklammerung mit dem linken Arm hielt. Mein Atem ging schneller, die Angst ließ mich erstarren.

Er legte mir seine kalte rechte Hand auf den Rücken und schob diese unter meinem T-Shirt hoch bis zwischen meine Schulterblätter. Ich spürte seine kalte Hand auf der Haut auf meinem Rücken. Herr Müller musste meine Panik und meine Angst gespürt haben.

„Ruhig Lukas, du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nicht wehtun. Du bist ein guter Junge“, meinte er beruhigend. Dabei klopfte er mir sanft mit seiner kalten rechten Hand auf meinen Rücken, seine Wange schmiegte sich an mein Haar.

Ich schrie!

Scheinbar irritiert von dem Schrei neben seinem Ohr lockerte Herr Müller seine Umarmung etwas. Ich spürte die kurze Schwäche in seiner Umarmung und ließ mich nach unten sacken. Dabei stieß ich mich gleichzeitig mit beiden Armen von Herrn Müller nach unten ab. Er hatte immer noch seine rechte Hand unter meinem T-Shirt. Der Lehrer versteifte seinen rechten Arm, um mich am T-Shirt abfangen zu können, und so schob sich mein T-Shirt, während ich mich nach unten sacken ließ, über meinen Kopf und meine Arme. Dann ließ er mein T-Shirt los, um erneut nach mir greifen zu können.

Durch die plötzliche Freiheit verlor ich das Gleichgewicht und fiel rücklings zu Boden.

Ich konnte den Sturz nicht mit den Armen abfangen, da diese in dem T-Shirt gefangen waren.

Ich schlug zuerst mit dem seitlichen Rücken und dann mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. Mir wurde übel – und dann wurde es dunkel.

DAS DANACH

Lukas: Donnerstag

Mir war kalt.

Ich hatte Kopfschmerzen.

Ich öffnete die Augen und sah in das Halbdunkel der Bibliothek. Alles wirkte leicht verschwommen.

Ich lag auf meiner linken Seite auf dem Fußboden und roch den so typischen Linoleumgeruch der Schulfußböden. Mein Oberkörper war nackt. Ich spürte auch die Kälte des Linoleumfußbodens.

In meinem Kopf pulsierte bei jedem Herzschlag ein dröhnender Schmerz. Mir wurde übel. Langsam hob ich den Kopf, stützte mich dabei mit der rechten Hand ab und drückte meinen Oberkörper hoch.

Dieser Geruch!

Da war noch etwas anderes. Schweiß, es roch nach ekligem Schweiß. Die Übelkeit wurde stärker und in meinem Mund begann sich der Speichel zu sammeln. Ich neigte mich vor und übergab mich.

Wieder die Kopfschmerzen! Bei jedem Herzschlag schwollen sie an, aber die Übelkeit ließ nach. Mit dem Handrücken meiner rechten Hand wischte ich mir den Mund ab.

Ein Hand schlang sich, von rechts hinter mir, seitlich um meinen nackten Brustkorb und zog mich zurück in die liegende Position. Ich war nicht alleine!

„Das ist nicht so schlimm. Ich mache das gleich weg“, kam es tröstend und butterweich von Herrn Müller direkt hinter mir. Mein Puls fing an zu rasen. Ich hatte Angst. Seine Hand fuhr hoch zu meinem Kopf und strich mir durch das Haar.

Ich war wie gelähmt. Ich konnte nur noch in kurzen und schnellen Zügen atmen. Was war geschehen? Ich musste bewusstlos gewesen sein!

„Ruhig. Alles ist gut. Du musst dir wegen dem Erbrochenen keine Sorgen machen. Du bist wieder wach, das ist wichtig.“ Seine Hand bewegte sich von meinem Kopf runter auf meinen seitlichen Bauch. Seine Hand war kalt. Wie durch einen Reflex spannten sich alle meine Bauchmuskeln an. Erneut hob ich meinen Kopf und sah nach hinten.

Direkt hinter mir lag Herr Müller. Sein Hemd war offen und zeigte seinen dicken und behaarten Bauch. Der Gürtel seiner Hose war offen. Mein Hintern schmerzte. Wieso tat mein Hintern weh? Als ich fiel, da war ich zuerst auf meinen Rücken gefallen und nicht auf meinen Hintern, da war ich mir sicher.

Meine Unterhose saß nicht richtig. Sie schien verrutscht zu sein. Sie kniff mir in den Schritt und schien auf meiner linken Seite nicht ganz oben zu sein. Was war in der Zeit, in der ich bewusstlos war, geschehen? Wie war beim Fallen meine Unterhose verrutscht?

Mir wurde erneut übel, allerdings musste ich mich dieses Mal nicht übergeben. Mit einem kräftigen Ruck seines Armes zog mich Herr Müller zu sich heran. Ich spürte seinen warmen Bauch an meinem Rücken.

„Du bist gestürzt und hast dir den Kopf gestoßen. Das kann ja schon mal passieren“, flüsterte er nahe an meinem Ohr. Ich spürte mein Herz schlagen.

„Das hier bleibt unser kleines Geheimnis. Das braucht niemand zu wissen. Nur du und ich.“ Beide Worte, du und ich, betonte er dabei übertrieben stark. Dabei tätschelte er mir mit seiner rechten Hand leicht auf die nackte Brust. An meinem Rücken spürte ich noch die Wärme seines Bauches, die in mir jetzt ein Gefühl des Ekels auslöste. Ich wollte hier weg! Mein Hintern brannte wie Feuer.

„Da stimmst du mir doch sicherlich zu, oder?“, setzte er nach. Ich war nicht imstande zu antworten. Mein Puls raste und bei jedem Schlag meines Herzens hämmerte der Schmerz in meinem Kopf. Ich hatte Angst. Ich musste hier raus!

Ich spürte, wie sich Herr Müller hinter mir bewegte. Sein linker Arm ging unter meinem Kopf hindurch, schloss sich um meinen Hals und zog meinen Kopf dichter an seinen heran. Seine rechte Hand lag auf meinem unteren Bauch, knapp über meinem Hosenbund und zog mich stärker zu sich. Im Augenwinkel erkannte ich, dass er seinen Kopf angehoben hatte und dichter an mein Ohr kam.

„Du möchtest doch sicherlich auch nicht, dass alle wissen, was hier passiert ist, oder?“, flüsterte er mir ins Ohr.

Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte, dass das hier vorbei war! Ich wollte hier weg! Ich konnte immer noch nichts sagen.

„Das wird unser Geheimnis bleiben. Für immer!“, ergänzte Herr Müller. Er erhöhte weiter den Druck, den er mit seinem rechten Arm auf meinen unteren Bauch ausübte. Jetzt konnte ich seinen Körper auch an meinem Hintern spüren.

„Oder?“ Sein Mund war ganz nahe an meinem Ohr und ich konnte seinen Atem riechen. Der linke Arm von Herr Müller schloss sich weiter um meinen Hals. Ich bekam kaum noch Luft. Mit meinen Händen versuchte ich den Arm von Herrn Müller von meinem Hals wegzudrücken. Ohne jeden Erfolg.

„Nein“, röchelte ich kaum hörbar.

„Dann ist ja gut. Ich hätte dir das Leben richtig zur Hölle gemacht, wenn du uneinsichtig gewesen wärst. Schlechte Noten, die Klasse wiederholen … Aber das ist jetzt ja nicht erforderlich.“ Der Druck an meinem Hals und meinem Bauch ließen nach, er ließ mich aber nicht los. Sein linker Arm lag immer noch um meinen Hals. Nach kurzer Zeit senkte sich seine linke Hand und streichelte meine rechte Schulter.

„Du bist ein guter Junge, Lukas. Ich werde auf dich aufpassen. In der Schule wirst du keine Angst mehr haben müssen. Ich werde dein Freund sein.“ Während er das sagte, klopfte er sanft mit seiner linken Hand auf die rechte Seite meiner Brust.

Seine rechte Hand wanderte von meinem Bauch zu meinem seitlichen Rücken und streichelte mich dort einen kurzen Augenblick. Mir wurde übel vor Angst.

„Was ist denn auch schon geschehen? Du bist gestürzt und kurz ohnmächtig geworden. Aber ich war ja da, um mich um dich zu kümmern“, ergänzte er scheinheilig.

Er streichelte weiter meinen Rücken. Ich war immer noch starr vor Angst. So vergingen einige Minuten.

Das Streicheln der rechten Hand stoppte abrupt und auch die linke Hand gab mich frei.

„Du solltest dich jetzt wieder anziehen. Du kommst sonst noch zu spät nach Hause.“

Die neu gewonnene Freiheit nutzend, stützte ich mich mit der rechten Hand ab und hob meinen Oberkörper an. Dabei streifte ich mit der Hand durch das zuvor Erbrochene. Ich achtete nicht weiter darauf und wollte meinen Fuß auf dem Boden absetzen, um aufstehen zu können. Dabei durchfuhr mich ein stechender Schmerz in meinem Hintern. Trotz der Schmerzen schaffte ich es, aufzustehen. Sofort drehte ich mich in die Richtung von Herrn Müller und wich einen Schritt zurück. Mein Fuß stieß scheppernd gegen einen Mülleimer aus Blech hinter mir. Auch Herr Müller war aufgestanden und drehte sich, irritiert von dem Scheppern, zu mir um.

„Pass doch auf, du Idiot!“ Er steckte sein Hemd in die Hose und schloss anschließend den Gürtel.

„Du sorgst noch dafür, dass sie uns hier finden!“

Voller Angst starrte ich ihn an. Unsere Blicke kreuzten sich. In seinem Blick lag wieder der altbekannte Hass und die Abscheu. Sein Blick senkte sich und ich wurde mir meiner Blöße bewusst.

Ich hatte Angst. Ich konnte nichts anderes machen, als ihn anzustarren. Ansonsten war ich wie versteinert. Ich spürte jeden Schlag meines Herzens in meinem Kopf.

Nachdem sich Herr Müller angezogen hatte, sah er mich erneut an. Ich hob meine Hände vor meinen nackten Bauch und begann mit der rechten Hand, die Fläche zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger der linken Hand zu massieren. Dabei sah ich mich in dem Raum nach meinem T-Shirt um. Herr Müller bemerkte meinen suchenden Blick, drehte sich zur Seite und griff in das Regal neben sich. Hier lag mein T-Shirt. Fein säuberlich zusammengelegt. Dieser Anblick ließ in mir die Frage aufkommen, wie lange ich bewusstlos gewesen war. Was in dieser Zeit geschehen sein musste, das war mir in der Zwischenzeit grob klargeworden. Warum mein T-Shirt zusammengelegt in dem Regal lag, das konnte ich mir aber nicht erklären. Herr Müller warf mir das T-Shirt zu.

„Zieh dich an und mach deine Haare ordentlich!“, forderte mich Herr Müller auf. Ich fing das Shirt und hielt es vor meinem Bauch fest.

„Es ist nicht gut, wenn wir gemeinsam rausgehen“, meinte der Lehrer dann und sah dabei auf seine Armbanduhr. „Die sechste Stunde geht noch 20 Minuten. Du wartest hier noch fünf Minuten und gehst dann. Und kein Wort zu niemandem!“ Erneut blickte er mich voller Hass an. Ich konnte den Blick nicht ertragen und sah auf den Linoleumfußboden.

„Zieh die Tür gleich zu, wenn du gehst, und mach deine Kotze weg, bevor du gehst!“, befahl Herr Müller, während er zur Tür ging und sich neben der Tür nach seiner Tasche bückte. Im Anschluss wandte er sich der Tür zu. Ich hörte einen Schlüsselbund klappern. Ich sah auf.

Wann hatte er die Tür abgeschlossen? Als wir in die Bibliothek gegangen waren, hatte ich nicht mitbekommen, dass er die Tür hinter uns verschlossen hatte. Hatte er zugesperrt, als ich die Bücher einsortiert habe?

Er zog den Schlüssel aus dem Schloss, öffnete die Tür, sah sich kurz im Flur um und ging hinaus. Die Tür fiel hinter ihm zu.

Ich war alleine.