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1947 wurde er als Erich Lukas Resetarits in Stinatz geboren, 1977 spielte er sein erstes eigenes Solokabarett. In der Zeit dazwischen kam er nach Wien-Favoriten, lernte Deutsch und ministrierte bei Adolf Holl. Er studierte Psychologie, arbeitete am Bau und gründete die Beat-Band "Jerry and the G-Men". Doch statt in Schweden als Rockstar weltberühmt zu werden, verlegte er sich lieber aufs "Gammeln". Geläutert gründete er eine Familie und wurde "Traffic-Officer" auf dem Flughafen Schwechat. Dort rettete er eine Königin, lernte Frank Zappa, Veruschka von Lehndorff, Brian Jones, aber auch Franz Antel kennen. Folgerichtig besetzte er daraufhin die "Arena" und der Rest ist Geschichte.
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Seitenzahl: 296
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Es war im legendären „Floh“-Gartl zu Langenlebarn, als mich im Hochsommer 2021 Lukas Resetarits fragte: „Sag, willst du net den Chronisten machen, bei meinen Erinnerungen? Ich erzähl’ und du bringst das dann in eine literarische Form.“
Es gab viel zu hören und aufzuschreiben. Manches war tief berührend, vieles war spannend und das meiste regte zum Lachen an. Man kennt ja den Lukas: Er macht sich über alles lustig. Am liebsten über sich selbst.
(Fritz Schindlecker, Sommer 2022)
Am 14. Oktober 1947, just an dem Tag, als Chuck Yaeger als erster Mensch mit einem Flugzeug die Schallmauer durchbricht, erblickt Erich Lukas Resetarits in Stinatz das Licht der burgenländischen Welt. Knapp vier Jahre später kommt er nach Wien-Favoriten, lernt zügig Deutsch und ministriert Lateinisch bei Kaplan Adolf Holl.
Er studiert Psychologie, arbeitet am Bau und gründet die Beat-Band Jerry and the G-Men. Doch statt in Schweden als Rockstar weltberühmt zu werden, verlegt er sich lieber aufs „Gammeln“. Dabei lernt er den Dogenpalast in Venedig von außen und ein Münchner Polizeigefängnis von innen kennen.
Geläutert gründet er daraufhin eine Familie und wird Loadsheet Officer auf dem Flughafen Wien. Dort rettet er eine Königin, sucht Brian Jones’ Koffer und landet nach einem Flug um den Erdball in Sydney bei einem Führungsseminar mit Weinverkostung.
Dieses Buch erzählt Geschichten aus dem Leben des großen Kabarettisten, als er noch keiner war.
Bildnachweis:
Privatarchiv Lukas Resetarits: S. 2, 12, 16, 38, 42, 50f., 54f., 61, 66, 80, 89, 138, 143, 147, 152, 155, 168, 174, 184f., 194
Arkivi/dpa Picture Alliance/picturedesk.com: S. 19
Austrian Archives/brandstaetter images/picturedesk.com: S. 35
Ernst Kainerstorfer/picturedesk.com: S. 183
Heiko Meyer/laif/picturedesk.com: S. 122
Christine Schindlecker-Skrivanek: S. 125
Rotraud Schröcke/Interfoto/picturedesk.com: S. 115
Ullstein Bild/picturedesk.com: S. 69
Wikimedia Commons: S. 103
Stefan Zenzmaier, Confiserie Braun, Hallein: S. 27
Textauszug Interview Elfriede Jelinek (S. 29) aus:
FALTER – Die Wochenzeitung aus Wien, Ausgabe 47/2011, Seite 18
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des FALTER-Verlages
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1. Auflage 2022
© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022
ISBN 978-3-8000-7800-4 (print)
ISBN 978-3-8000-8230-8 (e-book)
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.
Lektorat: Marina Hofinger
Covergestaltung: Saskia Beck, s-stern.com
Coverfoto: © Gisela Ortner
Satz: Gabi Schwabe, grafik design
Konvertierung: bookwire.de, Frankfurt a. Main
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Erinnerungen an meine Jugend
Aufgezeichnet vonFritz Schindlecker
Gewidmet meinem BruderWilli Resetarits
Mein „kleiner“ Bruder der Kinderjahre,du bist zu meinem großen Bruder geworden,der mich zu meinem Beruf geführt hat.
VORWORT
EINLEITUNG
PENDLER ZWISCHEN ZWEI HEIMATEN
Engel helfen Kühen
Opas beeindruckende Badewanne
Meine Eltern
Der Geldscheißer verschwindet im Spital
Die Kinderbande, der Sparefroh und der Buchclub-Maxi
Fürs Leben lernen
Ein roter Konsumtempel und ein katholischer Dissident
Jungscharlager statt Caorle-Urlaub
Privates und staatliches Glück
LEBEN LERNEN IST NICHT LEICHT
Ein eigenes Haus in Floridsdorf
Rechtsaußen
Beatmusik statt Schundheftln
Im Elfenbeinturm der Wissenschaft
Arbeit macht das Leben süß
Fast ein Rockstar in Schweden
Gammeln in München
Der Jesus von Venedig
Im Häfen
Gehen, fahren, fliegen
STARTS UND LANDUNGEN
Hochzeitsglocken, Triebwerkslärm und Babygeschrei
Pflicht und Neigung
Karl Schranz und die Ski-Nation – eine Empörung
Rund um die Erde in 40 Tagen
Jeder Neuanfang hat ein Ende hinter sich
Nun ist er also 75, der „Krowod“, der große Sohn aus dem kleinen Stinatz. Der präzise Menschenbeobachter, der fantasiereiche Gedankenspieler, der aufmerksame Zuhörer, der bereitwillige Helfer, der wertvolle Mensch Lukas Resetarits. Meine Bewunderung wächst nach wie vor. Immer wieder entdecke ich in seinen Texten Zwischentöne, die mir Vorbild sind.
Es gibt Begegnungen im Leben, die von übergangsloser Magie gekennzeichnet sind. Keine Magie, als würde man ein Kaninchen aus dem Hut zaubern, sondern eine, die auf der zwischenmenschlichen Ebene schwingt. Lukas und ich schwingen wunderbar. Ich besitze das Privileg, von ihm „mei Bua“ genannt zu werden. Wenn der Winter in meiner Seele dichte Wolken aufziehen lässt, die mir das Sonnenlicht rauben, und der erste Neuschnee auf meinem Herzen liegen bleibt, dann weiß ich, wen ich anrufen kann. Und sei es mitten in der Nacht. Dafür bin ich dankbar!
Lukas wurde unweit von meinen Großeltern geboren. Stinatz und er sind unzertrennlich verbunden. Obwohl die Familie bereits früh nach Wien ging, ließ Lukas seine Wurzeln in Stinatz. Über die vielen Jahre haben sie weiter ausgetrieben und letztendlich auch mich erwischt. Immer wieder hörte ich von meinen Großeltern über die Resetarits-Brüder, die es „geschafft haben“.
Mein geliebter Dida Opa hat mir einmal in der Küche die berühmte Nummer „Tschusch Tschusch“ vorgespielt. Ich war sieben Jahre alt, verstand damals natürlich nicht, worum es ging, musste dennoch herzlich darüber lachen. „Bitte, wo Thaliastraße?“ hatte sich im Laufe der Zeit in den Wortschatz der Kinder eingefügt. Dass ich die Nummer Jahre später, im Zuge von Lukas’ 35-jährigem Bühnenjubiläum, selbst spielen würde, ahnte ich damals natürlich nicht.
Schade, dass Dida Opa das nicht mehr erleben durfte.
Onkel Erich, so wie ich Lukas gerne nenne, kann Geschichten erzählen wie kaum ein anderer. Er hat die Gabe, seine Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Egal, ob auf der Bühne oder privat. Man klebt an seinen Lippen und wünscht sich noch eine Geschichte.
Ohne Lukas wäre ich höchstwahrscheinlich nie zum Kabarett gekommen. Er war ein Unterstützer meiner Kunst ab der ersten Stunde. Die Symbiose aus Kabarett und der Verortung in Stinatz tragen zweifellos seine Handschrift. Ich bin im Laufe der Jahre ein Helfer dieser Symbiose geworden und spüre ein Ehrgefühl, dass auch ich „krowodisches“ Blut in mir trage. In meinen Stinatz-Krimis stecken auffallend viele Onkel-Erich-Denkweisen und ordentliche Portionen Lokalkolorit.
Was mir aber noch viel wichtiger erscheint, ist die Tatsache, dass ich Lukas Resetarits als meinen Freund bezeichnen darf. Das macht mich ungemein stolz!
So, und jetzt lieber Onkel Erich, erzähle uns bitte deine Geschichte!
Hab dich lieb!
Dein Bua
Es war im legendären „Floh“-Gartl zu Langenlebarn, als mich im Hochsommer 2021 Lukas Resetarits fragte: „Sag, willst du net den Chronisten machen, bei meinen Erinnerungen? Ich erzähl’ und du bringst das dann in eine literarische Form.“
„Gern“, antwortete ich. „Ich weiß eh das meiste über dich.“
Das war natürlich arrogant. Aber wir Langenlebarner neigen nun einmal zur Überheblichkeit, vor allem wenn wir daheim sind. Und wir sind kaum anderswo so daheim wie im „Floh“-Gartl.
Lukas lächelte mich gütig an und sagte: „Du weißt ein bissel was über den Lukas. Aber in dem Buch geht’s hauptsächlich um den Erich.“
Ah ja. Erich Lukas Resetarits wurde bis zu seinem 30. Lebensjahr naturgemäß von allen, die ihm nahestanden, mit seinem ersten Vornamen Erich angesprochen. Das war 1977. Alle, die ihn danach kennlernten, sagten Lukas. Wir lernten einander 1978 kennen, meinen ersten Songtext sang er 1981. Und unsere intensive Co-Autorenschaft begann dann 1983.
Aber: „Ein paar G’schichten aus deiner Erich-Zeit kenn ich schon: die vom Flughafen!“, sagte ich trotzig.
„Okay!“, erwiderte er. „Aber jetzt pass einmal auf: Weißt du, dass ich kaum ein Wort Deutsch können hab, wie ich mit vier nach Wien gekommen bin? Dass der Holl mein Kaplan war, wie ich Ministrant war? Dass ich beim berühmten Professor Asperger studiert hab, dann abgepascht bin, in Venedig gammeln und in München im Häfen war? Und warum? Weil ich leider nicht Popstar in Schweden geworden bin.“
Nein, das wusste ich alles nicht. Auch nicht, dass er nach einer Weltreise von der australischen Fluglinie Qantas als führender Mitarbeiter am Flughafen Sydney engagiert worden wäre, wenn er nicht abgesagt hätte.
Es gab viel zu hören und aufzuschreiben. Manches war tief berührend, vieles war spannend und das meiste regte zum Lachen an. Man kennt ja den Lukas: Er macht sich über alles lustig. Am liebsten über sich selbst. Auch dann, wenn er uns als Erich gegenübertritt.
Ich wünsche Ihnen beim Lesen denselben Spaß, den ich beim Schreiben hatte. Fritz Schindlecker
Die Septembersonne setzte ihr mildes Licht auf die bombenbeschädigten Häuser rund um den Humboldtplatz in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk. Der kleine Erich erkundete zum ersten Mal die Umgebung des Mietshauses, in das die Familie einen Tag zuvor eingezogen war. Entgegen späteren Expeditionen machte er diese Entdeckungsreise noch nicht alleine, sondern an der Hand seiner Mutter Angela.
Verständlich – denn Erich war noch keine vier Jahre alt.
Erst zwei Jahre später, nach dem Eintritt in die Volksschule, sollte er sich immer wieder ohne Erwachsenenbegleitung in den Großstadtdschungel vorwagen. Kühn und entschlossen –ähnlich dem Entdecker Alexander von Humboldt, nach dem der Platz benannt war, wo im Haus mit der Nummer 10 Erich und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Willi mit ihren Eltern ab nun leben sollten.
Den gefürchteten Bezirksteil „Kreta“ mied er aber lange Zeit. Warum diese urbane Gegend denselben Namen trug wie die Insel des Minotaurus und warum sie bei gutbürgerlichen Favoritnerinnen und ihren männlichen Beschützern damals so gefürchtet war wie die Bronx bei gutbürgerlichen New Yorkern, darauf werden wir später noch zurückkommen.
Familie Resetarits 1951: Erich, Mutter Angela, Vater Valentin, Willi
Vorerst verweilen wir an diesem Altweibersommertag des Jahres 1951 bei Erich und Angela, die gerade zu ihrem Sohn sagt:
„Schau dir den Park aun! Is’ da net scheen?“
Die Mutter sagte das auf Deutsch.
Sie und ihr Mann hatten sich darauf geeinigt, mit den Kindern immer Deutsch zu reden.
Denn: „Wer Deutsch spricht und nicht Kroatisch, der wird es im späteren Leben einmal viel leichter haben.“ Jedenfalls dann, wenn man in Wien wohnt.
Der kleine Erich ließ seinen Blick über den Park schweifen, der denselben Namen wie der Platz trägt, in dessen Zentrum er liegt. Dabei schweifte sein Blick achtlos über die Sandkiste für Dreikäsehochs, wie er einer war, um dann allerdings am saftigen Grün der Grasmatten hängen zu bleiben und andächtig zu verweilen. Dabei schossen ihm Gedanken in Kroatisch durch den Kopf.
Nachdem er sie zu Ende gedacht hatte, wandte er sich seiner Mutter zu, wechselte die Sprache und sagte auf Deutsch – mit unüberhörbarem Akzent:
„So a scheene Weide. So vühl Gros is do! Und ka Kuah. Wo sand die Krave (= Kühe)?“
Die Mutter musste lachen. Sie erklärte dem Kleinen, dass ein Park keine Kuhweide sei. Und dass man so ein Gras gar nicht „Gras“ nenne, sondern „Rasen“, „englischen Rasen“, um genau zu sein. Und dass das Betreten eines solchen nicht nur den Kühen, sondern jedermann, vor allem aber den Menschenkindern, verboten sei.
„Das Betreten des Rasens ist verboten!“
So hieß es damals in Wien-Favoriten und nicht nur dort, in der langen Zeitspanne von der Wiedereinführung der Zivilisation nach dem Krieg bis tief hinein in die 1980er-Jahre. Dann entdeckte man mit Erstaunen, dass diese Zivilisation auch eine natürliche „Umwelt“ besaß. Die war zwar durch eine ganze Reihe von Einflüssen gefährdet, am wenigsten aber dadurch, dass man sie betrat.
Über den englischen Parkrasen und die mit ihm verbundenen Betretungsverbote konnte der kleine Erich damals noch nicht Bescheid wissen. Doch er wusste viel über Kühe. Er wusste, dass sie Milch gaben und grundsätzlich gutmütig waren. Dass sie einen aber auch kräftig treten konnten, wenn man sich ihnen so näherte, dass sie erschraken. Darüber hinaus waren sie auch unglaublich kräftig und in der Lage, mit Holz, Heu oder Getreide schwer beladene Leiterwagen zu ziehen. Bei dieser Tätigkeit standen sie in einem sehr engen Bündnis mit den Engeln des Himmels.
Das hatte ihn einer seiner Großonkel gelehrt – im kroatischen Dorf Stinatz im Südburgenland, wo Erich sein bisheriges Leben verbracht hatte.
Wenn seine Kühe einen voll beladenen Leiterwagen zu ziehen hatten und dabei einen kleinen Hügel bergauf mussten, forderte eben dieser Großonkel regelmäßig zur Unterstützung der Zugtiere himmlische Hilfe in Form jener Geistwesen an, die gemeiniglich als „Engel“ bezeichnet werden. Er tat dies mit Bedacht und Genügsamkeit:
„Dwa Angeli, zui! – Zwei Engel, herbei!“
Er rief also nicht nach ganzen Heerscharen von Erzengeln samt den ihnen unterstellten Cherubinen und Seraphinen, sondern begnügte sich mit ein bis zwei landwirtschaftlich versierten Arbeitsengeln. Der Großonkel war dabei in seiner Bescheidenheit so konsequent, dass er im Falle einer „Überanforderung“ einen der beiden Helfer sogleich wieder ins himmlische Jerusalem zurücksandte:
„Geht scho besser! Danke vülmols! Jedan na kraj – Einer kann wieder zurückfliegen!“
Erichs erster Eindruck vom Humboldtpark war nicht rasend positiv. Denn wo keine Kühe sind, da sind im Regelfall auch die Engel rar – dies schloss er aus seiner bisherigen Lebenserfahrung.
Kein Wunder also, dass er in diesen Momenten heftiges Heimweh nach seiner südburgenländischen Heimat verspürte, wo noch jene Harmonie zwischen Himmel und Erde zu herrschen schien, die in Favoriten offenbar verloren gegangen war.
RÜCKBLENDE. Drei Jahre und elf Monate vorher.
Während der spätere US-amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower, der damals Generalstabschef war, seinen 57. Geburtstag im Rahmen einer stimmungsvollen Feier im Pentagon beging, wurde Erich am 14. Oktober 1947 in Stinatz im Haus Nr. 182 geboren.
Der erste Schrei des Kindleins wäre vermutlich durch einen mörderisch lauten Knall übertönt worden, wenn seine Geburt nicht im Südburgenland, sondern in der Mojave-Wüste in Kalifornien vonstattengegangen wäre. Denn hier hatte just an diesem Tag der Pilot Chuck Yeager in 13,7 Kilometer Höhe erstmals mit dem raketengetriebenen Flugzeug „Bell X-1“ die Schallmauer durchbrochen.
Den damaligen US-Präsidenten Harry S. Truman erfüllte dieser natürlich auch militärisch nutzbare technische Fortschritt sicher mit großer Freude: denn seit einigen Monaten hatte sich das Verhältnis zur Sowjetunion eindeutig verschlechtert. Die USA und die UdSSR, enge Bündnispartner im Zweiten Weltkrieg, standen nun am Beginn einer Auseinandersetzung, die man bald darauf den „Kalten Krieg“ nennen sollte.
In Stinatz hingegen machte sich die Kirisits-Baba Sorgen um das zukünftige bilaterale Verhältnis zu den Mächten des Himmels. Denn auf ihre Frage:
„Wie werd’ iam taufen?“, bekam sie von ihrer Tochter Angela die Antwort:
„Erich.“
„Ne!“, entgegnete die Oma. „Nema Svetoga Ericha! – Es gibt keinen heiligen Erich!“
Hand aufs Herz: Uns fällt auch keiner ein.
Aber heute hat man es ja bekanntlich leichter.
Man googelt.
Tatsächlich finden wir im neunmalklugen Wikipedia einen heiligen Erich, der allerdings „Erik“ hieß, weil er Schwede war.
Erik IX. lebte im 12. Jahrhundert, war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dortselbst König und wurde bis ins 16. Jahrhundert auch als schwedischer „Landespatron“ verehrt. Dann verlor er diesen Status, als die Schweden mehrheitlich Lutheraner wurden, weil die Evangelischen jede Form der Heiligenverehrung bekanntlich ablehnen.
Ansonsten ist über Eriks Leben durch Primärquellen gar nichts überliefert, doch ranken sich um seine Gestalt zahlreiche Legenden.
Eine davon erzählt, dass er einen Kreuzzug nach Finnland unternommen habe, um die dort ansässigen Heiden, also die Finnen, nach gutem, altem christkatholischem Brauch mit dem Schwerte zu bekehren. Bei dieser kriegerischen Unternehmung soll er selbst den Tod gefunden haben. Dies mochte er anfänglich bedauert haben, doch immerhin kam er dadurch posthum zu der Ehre, vom Papst als „Märtyrer“ anerkannt zu werden, was in logischer weiterer Folge zu seiner Heiligsprechung führte.
Schlussfolgerung: Es existiert ein Namenspatron für alle katholischen Eriche.
So weit, so gut.
Kirisits-Oma und Erich 1949
Allerdings gab es im Jahre 1947 genauso wie in allen anderen Teilen der Welt auch in Stinatz noch kein Internet, eine Tatsache, die jedwede Form des Googelns unmöglich machte. Und da sich damals auch noch keine Touristen im Südburgenland eingefunden hatten, war kein Schwede greifbar, der bei einem Viertel Apfel-Birnen-Most leutselig die Legenden von Erik IX. erzählt hätte. Also blieb man bei der Ansicht, dass Erich zwar ein schöner, jedoch kein katholisch vertretbarer Name sei.
Für die Oma lag die Lösung auf der Hand: Man musste einen zweiten Namen finden, der hundertprozentig katholisch abgesichert war. Was lag also näher, als den eines Evangelisten auszuwählen?
Die Wahl fiel auf „Lukas“, dessen Symboltier ja bekanntlich der Stier ist. Und da Viehzucht und Viehhandel immer schon hier in Stinatz blühten und gediehen, passte dieser Name doppelt gut.
Und so wurde Erich in der örtlichen Pfarrkirche, die den Aposteln Petrus und Paulus geweiht ist, auf den Namen „Lukas“ getauft – von Pfarrer Lukas Drimmel.
Da dies aber damals – im Gegensatz zu heute – kein schicker Modename war, wurde er in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten von allen mit seinem ersten Vornamen „Erich“ angesprochen.
Und dieser Erich wuchs vorerst einmal in ländlicher Idylle heran. Ein wichtiger Wegbegleiter war ihm dabei der Kirisits-Opa und der sollte das noch lange bleiben. Denn auch nach der Übersiedlung nach Wien kamen Erich und sein Bruder Willi immer wieder nach Stinatz. Die Sommerferien verbrachten sie fast zur Gänze in der „alten Heimat“.
Erich bewunderte seinen auf ihn geradezu universalgelehrt wirkenden Opa. Der war in seiner aktiven Zeit Eisenbahner gewesen und im Ersten Weltkrieg Soldat an der Isonzo-Front. Er hatte also die schönen und die grauenhaften Seiten der Welt außerhalb des Dorfes hautnah kennengelernt. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb interessierte ihn immer noch alles, was „draußen“ geschah. Deshalb hörte der Opa im Radio regelmäßig die Nachrichten – die er „Bericht“ nannte – und dazu die politischen Kommentare von Vincenz Ludwig Ostry. Außerdem las er regelmäßig die steirische Wochenzeitung Sonntagspost.
„Mein Großvater hat den Eisenhower sehr bewundert“, erzählt Lukas. „Das ist für mich aus heutiger Sicht sehr interessant. Denn obwohl Eisenhower zu den großen US-amerikanischen Militärikonen des Zweiten Weltkrieges gezählt wird, war er erstaunlicherweise immer am Interessenausgleich mit der Sowjetunion, an Abrüstung und damit an der Bewahrung des Friedens interessiert. Er gehörte auch zu den wenigen US-amerikanischen Generälen, die sich gegen die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ausgesprochen hatten. In seiner berühmten Abschiedsrede am Ende seiner Präsidentschaft 1961 warnte er davor, dass der Militärisch-Industrielle Komplex niemals allzu mächtig werden dürfe, weil dies die Demokratie in den USA gefährden könnte.“
Neben seinem Interesse an weltpolitischen Vorgängen war der Großvater aber auch in seiner ländlichen Heimat nicht nur tief verwurzelt, er hatte auch ein umfassendes land- und forstwirtschaftliches Wissen. Und er beherrschte vielerlei damit verbundene Fertigkeiten, die er dem Enkel vermittelte.
Der Opa kannte alle Bäume, Feldfrüchte und Wildkräuter, wusste, wie man ein sicheres Lagerfeuer im Wald macht, und verstand sich auch darauf, einen „Keuwestrick“ richtig einzusetzen, wenn es darum ging, bei der Geburt eines Kalbes als Geburtshelfer tätig zu werden.
Dass Lukas Resetarits bis heute ein begeisterter Seher von Naturdokumentationen ist, mag den frühkindlichen Einflüssen durch den Opa geschuldet sein. In Lukas’ Freundes- und Bekanntenkreis ist es allgemein bekannt, dass man sich mit brennenden Fragen wie: „Wo nistet der Blaufußtölpel?“ oder „Wo haust denn die „Leptonychotes weddelli?“ vertrauensvoll an ihn wenden kann.
Dasselbe gilt übrigens auch für medizinische Fragen – warum dem so ist, werden wir an anderer Stelle in diesem Buch noch genauer ausführen.
Unter den vielen handwerklichen Fertigkeiten, die sein Großvater beherrschte, hat den kleinen Erich am meisten dessen Perfektion in der Kunst des Messerschleifens beeindruckt.
„Wenn er mit dieser Arbeit fertig war, hat er das Resultat immer mit der Papierprobe überprüft. Ohne Druck auszuüben, ließ er die Klinge seines Krotenfeitls über eine Seite der ,Sonntagspost‘ gleiten, die er schon gelesen hatte. Die Seite zerfiel in zwei Teile. Der Krotenfeitl war scharf wie ein Rasiermesser.“
Dazu kam, dass der Kirisits-Opa in seinem Haus und auf seinem Grundstück Schätze barg, die ihresgleichen suchten: Einer davon war ein funktionstüchtiger und gelegentlich auch noch benutzter Pferdeschlitten. Der kleine Erich durfte damals, als der Klimawandel fern und die Winter auch im Südburgenland vergleichsweise noch geradezu sibirisch waren, gemeinsam mit Bruder Willi die eine oder andere vorweihnachtliche Schlittenfahrt unternehmen. Erzählungen von diesen exotischen Abenteuern riefen in dem sich allmählich herausbildenden Favoritner Freundeskreis ungläubiges Staunen und neidvolle Bewunderung hervor.
Das zweite Artefakt, das sich im Besitz des Kirisits-Opas befand und um das die Resetarits-Buben von allen ihren Favoritner Freunden damals beneidet wurden, war eine Badewanne.
Nicht irgendeine stinknormale Badewanne, obwohl auch die ganz gewöhnlichen Badewannen im Favoriten der frühen 1950er-Jahre noch immer als absolute Luxusaggregate gehobenen Lebensstils galten.
„Penible Hygiene war trotz der einfachen Wohnverhältnisse, in denen wir damals am Humboldtplatz lebten, ein Muss!“, erzählt Lukas. „Die tägliche Reinigung erfolgte über dem ,Lawuua‘, dem Lavoir, einer mit Wasser gefüllten Schüssel, mithilfe von Waschlappen, Reißbürste und Kernseife.“
Badetag war meist Samstag und da pflegte man ins „Tröpferlbad“ zu gehen. Diesem kollektiven, kommunikationsfördernden Reinigungsvergnügen hat das legendäre Musiker-Duo Pirron und Knapp ein wunderbares musikalisches Denkmal gesetzt.
Das für die Familie Resetarits damals nächstgelegene war das Amalienbad. Es wurde 1926 eröffnet und ist nach der sozialdemokratischen Gemeinderätin Amalie Pölzer benannt, die als erste Frau in Favoriten 1919 in den Wiener Gemeinderat gewählt worden war.
Neben dem Reinigungsbad gab und gibt es hier auch eine große Schwimmhalle mit Sprungtürmen – worauf wir später noch zurückkommen werden.
Das Amalienbad in Wien-Favoriten
Das eigentliche „Tröpferlbad“ war ein Duschbad mit einem großen gemeinschaftlichen Duschraum, ausgestattet mit Trennwänden. Die Temperatur der Warmduschen war vom Bademeister vorgegeben und das Wasser lief nur, wenn man auf ein Brett stieg, das zentral am Boden angebracht war. Durch das Betreten wurde ein Mechanismus ausgelöst, der das Duschventil öffnete.
Der Eintritt war günstig und betrug 50 Groschen pro Kind.
Neben diesem Gemeinschaftsbad gab es auch ein deutlich luxuriöseres „Kabinenbad“ mit Duschkabine und Vorraum für die Garderobe. Der Eintritt für eine erwachsene Person und zwei Kinder betrug 2 Schilling. Diesen Luxus leistete sich häufig Mutter Angela mit ihren zwei Buben, gelegentlich tat dies auch der Vater.
„Mit meinem Vater hatte ich dabei einmal ein recht bizarres Erlebnis“, erzählt Lukas. „An diesem Tag war der Andrang im Amalienbad besonders groß und die Geduld in der Warteschlange enden wollend.
Plötzlich begannen zwei Männer zu streiten – einer warf dem anderen vor, sich vorgedrängt zu haben. Ein Wort gab das andere, und als ihnen die Worte ausgegangen waren, entschlossen sie sich übereinstimmend, die Fäuste sprechen zu lassen.“
Bei dem einen war das mit dem „Fäuste-sprechen-Lassen“ sichtlich schwieriger, denn ihm fehlte die rechte Hand. Das machte ihn allerdings nicht von vorneherein zum Verlierer, denn der andere konnte zwar noch beide Fäuste ballen, es fehlte ihm aber das linke Bein. Er war auf zwei Gehhilfen angewiesen.
„Ich glaub, da Aanpratzler wird gewinnen!“, meinte ein seriös wirkender Herr, während er hektisch an seiner Zigarette Marke „Egyptische III. Sorte“ sog.
„Des glaub i weniger“, erwiderte eine Dame in mittleren Jahren, die das war, was man damals als „wasserstoffblond“ bezeichnete. „Waunn der Aanbiegler de Krucken einsetzt, haut er den aundern komplett auf an Krippel!“
Zur Erklärung: Der „Aanpratzler“ war natürlich jener mit nur einer „Pratze“, also einer Hand. Komplizierter ist der „Aanbiegler“ zu verstehen: In Wien nennt man das Hendlhaxerl gerne auch „Biegerl“ – somit ist wohl alles gesagt: Der „Aanbiegler“ war der Einbeinige. Gewettet wurde übrigens nicht. Weder die Wasserstoffblondine noch der Egyptische-III.-Sorte-Raucher setzten auf ihren Favoriten. Vermutlich deshalb, weil sich ein Polizist in Uniform unter den Wartenden befand. Und das Glücksspiel war ja damals noch ein unumstrittenes Staatsmonopol.
Der Kampf begann.
Eine Zeit lang schien es, als könne der Einbeinige mit Leichtigkeit den Sieg in diesem Duell davontragen: Mit der Linken stützte er sich mit der Krücke ab, während er mit der rechten auf den Handlosen eindrosch. Doch dieser wich behände immer wieder aus, um dann seinerseits den rechten, handlosen Unterarm wie einen Knüppel auf den Kopf des Beinamputierten niedersausen zu lassen.
Der Großteil des Publikums verhielt sich neutral. Der Kampf schien spannend, aber fair, zumal ja beide Kombattanten Kriegsinvaliden waren, also „gleichwertig“ sozusagen.
Als der Bademeister die nächste Nummer aufrief, klang noch ein letzter Schlag des Handlosen dumpf durch das Treppenhaus, dann ging man zur Bade-Tagesordnung über.
Der Handlose überließ dem Einbeinigen den Vortritt und der Friede war wiederhergestellt.
„Mein Vater und ich“, so Lukas, „benutzten an diesem Tag die luxuriöse, geflieste Duschkabine. Allerdings die nächsthöhere Stufe, das Wannenbad, haben wir nie genommen. Wie mir mein Vater erklärte, war es teuer. Und so konnten es sich nur aktive oder pensionierte Beamte und andere ,bessere Leute‘ leisten, die allerdings in ihren Wohnungen dann offenbar auch keine Badezimmer hatten. Mein Großvater in Stinatz aber schon!“
Und Opas Badewanne war – wie gesagt – keine gewöhnliche Badewanne. Sie war ein Unikat. Etwas, was man sonst nirgends sah. Außer vielleicht in italie nischen Villen, wo sie von hochherrschaftlichen Contesse und Conti benutzt wurden. Opas Badewanne schimmerte silbrig, war vermutlich aus Blech und so sinnreich konstruiert, dass man sie durch sanfte Bewegungen zum Schaukeln bringen konnte. Der kleine Erich liebte es, diese Bewegungstechnik so zu verfeinern, dass er sich, sobald er die Augen geschlossen hatte, wie ein Schwimmer im Mittelmeer fühlte.
Bei allen Meerurlauben, die Erich/Lukas Jahrzehnte später unternahm, stieg in ihm immer wieder der frühkindliche Wellentraum aus der Erinnerung auf.
Und damit die bittersüße Erkenntnis, dass alles, was man als kleines Kind erlebt hat, im Guten wie im Bösen, viel intensiver nachklingt, als dies bei späteren Erlebnissen der Fall ist.
Es war sehr heiß an diesem 1. August des Jahres 1926, als mein Großvater Franz Resetarits in Blumau in der Oststeiermark auf einem von ihm gepachteten Acker die Ernte einbrachte. Unermüdlich half ihm dabei Jagica, seine hochschwangere Frau. Plötzlich begann nach einem lauten Donnerschlag ein heftiges Gewitter und gleichzeitig setzten bei Jagica die Wehen ein. Kurze Zeit später wurde sie von einem gesunden Sohn entbunden. Er wurde in der Kirche von Stinatz, wo Franz einen Bauernhof besaß, auf den Namen „Valentin“ getauft.
Er sollte alles andere als eine schöne Kindheit haben.
Die Mutter starb an Tuberkulose, als er drei Jahre alt war. Sein Vater heiratete mit kirchlicher Dispens seine Schwägerin, mit der er zwei weitere Söhne hatte. Die Stiefmutter soll die eigenen Buben verzärtelt und Valentin „stiefmütterlich“, im bösen Sinne des Wortes, behandelt haben.
In der Verwandtschaft hielt sich das Gerücht, sie habe zum lieben Herrgott gebetet, er möge dafür sorgen, dass „der Valentin aus dem Krieg nicht mehr zurückkommt“.
Mein Vater wuchs also als unerwünschter Stiefsohn in Stinatz auf. Einer schlechten Bauerntradition folgend, hielt sein Vater nichts von Bücherwissen und Schulbildung. Also durfte Valentin nicht einmal die Hauptschule im benachbarten Stegersbach besuchen, sondern musste die acht Pflichtschuljahre in der Stinatzer Volksschule absitzen. Danach begann er im Kriegsjahr 1940 eine Maurerlehre in Wien bei der Baufirma „Universale Hoch- und Tiefbau“.
1943 wurde er unmittelbar nach seinem Lehrabschluss zum „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) eingezogen und 1944 zur Deutschen Wehrmacht und nach einem„Schnellkurs“ zum Gebirgspionier gemacht. In Polen musste er beim Rückzug in dieser Einheit dann Brücken vor der heranrückenden Roten Armee sprengen.
Nach der Kapitulation gelang es ihm, sich einer Gefangennahme zu entziehen und zu Fuß von Tschechien ins Burgenland zu kommen. Doch knapp 15 Kilometer vor Erreichen des Elternhauses schien die Mühe vergebens: Ein Zug sowjetischer Soldaten eskortierte Gefangene zum Bahnhof Oberwart. Mein Vater versteckte sich sofort, hatte aber nicht mit einem weiteren Soldaten gerechnet, der als Nachhut seiner Truppe zu Pferd gefolgt war. Mein Vater grüßte ihn auf Stinatz-Kroatisch und bot ihm ein Päckchen Tabak an. Der Russe lachte, nahm das Geschenk, deutete mit einer Geste an, er solle weitergehen und sagte: „Dawai!“
Wieder zu Hause sah der junge Mann für sich keine Zukunft im Burgenland. Aber in Wien waren natürlich Maurer für den Wiederaufbau sehr gefragt. Auch sein Vater musste neben der Landwirtschaft etwas dazuverdienen und so verdingten sich beide bei Valentins ehemaligem Lehrbetrieb – der Sohn als Maurer, der Vater als „Zureicher“, als dem Maurer zugeteilter Hilfsarbeiter.
Gemeinsam fuhren die beiden nach Wien und kamen oft nur alle 14 Tage für ein Wochenende zurück nach Stinatz.
Sie wohnten gemeinsam in einem Substandard-Quartier mit Kochnische. Eines Tages wollte Vater Franz einen Kaiserschmarren zubereiten. Der Teig in der Pfanne wurde zusehends schwärzer und es roch stechend nach „Chemie“. Franz forderte meinen Vater auf, wenigstens ein bisschen was von dem Kaiserschmarren zu probieren. Immerhin seien ja vier Eier in den Teig geschlagen worden, und man solle nicht „urassen“. Glücklicherweise verweigerte mein Vater, denn sonst hätte ich möglicherweise nie das Licht der Welt erblickt. Offenbar hatte mein Großvater beim Zubereiten des Teiges das Mehl mit dem Waschpulver verwechselt. Denn damals bewahrte man Mehl, Speisesoda oder Salz ebenso wie Waschpulver in braunen Papiersäcken auf.
Übrigens: Die Weigerung meines Vaters, den Persil-Schmarren zu kosten, veranlasste auch meinen Großvater, die Finger davon zu lassen.
Stinatz lag damals in der sowjetischen Besatzungszone. Dank eines offensichtlich weltoffenen und humanen Kommandanten, der im Zivilberuf Gymnasiallehrer war, ereigneten sich hier deutlich weniger Übergriffe und Schikanen durch die Besatzungsmacht als anderswo.
Es gab auch bald schon bescheidene Vergnügungsveranstaltungen, so etwa Tanzabende in den sich allmählich wieder füllenden Wirtshäusern.
Bei einer solchen „Tanzerei“ fanden meine Eltern zueinander. Die fesche Angela Kirisits und der flotte Tänzer Valentin waren bald ein verliebtes Paar.
Angela oder „Gela“, wie sie genannt wurde, hatte, wie damals die meisten Mädchen im Ort, nur die Volksschule absolviert. Ab ihrem zehnten Lebensjahr wurde sie dort aber schon als eine Art „Hilfslehrerin“ eingesetzt: Da die erste bis zur vierten und die fünfte bis zur achten Schulstufe jeweils in nur einem Raum untergebracht waren, mussten die begabten älteren den jüngeren Mitschülerinnen und Mitschülern beim Lesen und Schreiben helfend zur Seite stehen.
Unterrichtssprache war – sowohl in der Zeit des Austrofaschismus wie natürlich auch bei den Nazis – ausschließlich Deutsch. Lehrerin war damals Frau Biricz. Trotz ihres tschechischen oder kroatischen Familiennamens war sie eine waschechte Magyarin, deren Deutschkenntnisse eher bescheiden waren, wie unsere Mutti gern triumphierend zu erzählen wusste:
Eines Tages fragte die Frau Lehrerin mit magyarischem Akzent:
„Kindär, wär ist der stärkste Tier där Wält?“
„Der Löwe, der Tiger, der Bär …“, riefen die Kinder eifrig durcheinander. Darauf Biriczka (wie sie kroatisch genannt wurde):
„Näin, Kindär!“, korrigierte die Pädagogin streng. „Es ist natürlich der Oroszlàn!!“ So heißt der Löwe auf Ungarisch.
Als meine Mutter im Frühjahr 1947 mit mir schwanger wurde, hieß das damals natürlich: schnellstmöglich heiraten. Das war ein Muss im Sinne der heiligen Ecclesia catholica. Aber oft steht ein „katholisches Muss“ einem anderen, ebenso „katholischen Muss“ diametral entgegen. Dann entsteht ein Gewissenskonflikt. Und es muss schweren Herzens eine Entscheidung getroffen werden.
In Stinatz war es uralter katholischer Brauch, im Fall des Ablebens eines Verwandten oft monatelang zu trauern. Das hieß – vor allem für Frauen –, schwarze Kleidung zu tragen, aber auch keine Musik, kein Tanzen, kein Lachen und kein Scherzen.
An eine Hochzeit war also in solchen Trauerzeiten nicht zu denken. Wer genau aus meiner damals zukünftigen Verwandtschaft zu betrauern war, ist inzwischen vergessen. Sicher ist, dass ich als Kirisits zur Welt kam und erst ein paar Monate später, nach der Hochzeit meiner Eltern, 1948 zum Resetarits wurde.
Es war die Zeit des Wiederaufbaus und des Neubeginns. Um der jungen Familie den Start in ein besseres Leben zu ermöglichen, verrichtete meine Mutter Schwerstarbeit. Sie verdingte sich auch bei der Universale als Hilfsarbeiterin. Dies tat sie wohl auch, um meinem Vater nahe zu sein. Bis zu unserer Übersiedlung nach Wien 1951 waren meine Eltern auf einer Großbaustelle in Salzburg beschäftigt.
Im Dezember 1948 kam mein Bruder Wilhelm zur Welt. Während ich in dieser Zeit bei den Kirisits-Großeltern lebte, war Willi bei der Schwester meiner Mutter untergebracht, unserer Tante Jagica.
Beide Eltern kompensierten ihre erzwungene Abwesenheit mit reichlich Geschenken und kleideten uns immer picobello ein.
Als wir alle nach Wien übersiedelt waren, begann mein Vater, neben seiner Arbeit als Maurer, sofort mit dem Besuch der Abendschule am TGM. Er wurde bald darauf Polier und schaffte schließlich sogar die äußerst schwierige Baumeisterprüfung. Er gründete aber keine eigene Firma, sondern blieb seinem bisherigen Arbeitgeber, der Universale, treu und machte dort eine steile Karriere.
Mutter war anfänglich auch noch nach unserer Übersiedlung als Bauhilfsarbeiterin tätig, fand aber bald eine Stelle als Kindermädchen bei einer holländischen Familie. Herr Moulder-Bohn war Direktor der KLM in Österreich. Das entsprach damals vom Stand und vom Einkommen her einem römischen Statthalter in den Provinzen des Reiches: Wohnung im Diplomatenviertel im 3. Bezirk, Dienstauto (Opel Kapitän), alle Kosten wurden von KLM getragen uvm. Mutti war den Kindern Betty und Freddie ein liebevolles Kindermädchen und wurde hochgeschätzt. Als Mijnher Moulder-Bohn nach Kanada versetzt wurde, kamen für uns jedes Jahr zu Weihnachten Geschenkpakete an, deren Inhalt unsere Schulkollegen vor Neid erblassen ließ.
Das kulturelle Interesse und die Bildungsbeflissenheit der Eltern waren enorm. Unsere Nenntante Anni war Garderobiere an der Staatsoper und so gab es immer wieder Freikarten, die gern genutzt wurden. Auch Volksopern- und Burgtheaterbesuche waren dank Annis Vermittlung erschwinglich.
Trotz der vielen Arbeit gab es für meine Eltern viel Zeit zum Lesen und zum Radiohören, weil es kein Fernsehen gab.
Mit sechs Jahren wurde ich bei der Buchgemeinschaft Donauland als Mitglied angemeldet. Klammheimlich las ich aber auch bald Vaters für mich verbotene Romane. „Ich, Claudius, Kaiser und Gott“ von Robert Graves und „Die Caine war ihr Schicksal“ von Herman Wouk sind mir bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben.
Im Februar 1960, in der Endphase unseres Hausbaus am Bruckhaufen, brachte unsere Mutter Bruder Peter zur Welt. Sie schaffte es nicht nur, die Familie zu managen, sondern arbeitete auch fleißig und kraftvoll am Bau mit, wobei sie auch noch alle Helfer aus der Verwandtschaft verköstigte. Als Haubenköchin und Sternepâtissière war sie hochgeschätzt. Ihr gekochtes Rindfleisch mit Semmelkren und ihre Kuchen waren mindestens auf Plachutta- und Sacher-Niveau.
Vater setzte seinen Aufstieg innerhalb der Universale fort und leitete einige Großprojekte, deren bekanntestes wohl der Flughafen Wien-Schwechat ist.
Mit den Jahren forderte der Dauerstress allerdings seinen Tribut und gesundheitliche Probleme traten auf. Diese wurden nach ärztlicher Meinung auch dadurch verschärft, dass er eine Hepatitis-Erkrankung im Krieg nicht auskurieren konnte. Er starb relativ jung im Alter von 53 Jahren.
Mutter überlebte ihn um 23 Jahre. Sie blieb immer aktiv, immer auch in Sorge um die Familie. Wehleidig war sie nie, wie eine Indianerin – leider, könnte man rückblickend sagen. Denn sie ignorierte zu lange die von einem Zwölffingerdarm-Geschwür herrührenden Schmerzen. Bei der Operation fiel sie in ein Koma, aus dem sie nicht mehr erwachte.
Wir drei Brüder wurden oft gefragt, wie wir denn die Tatsache erklären würden, dass wir alle drei in unterschiedlichen Bereichen Karriere gemacht haben.
Wir haben darauf – je nach Frust und Laune – wohl die unterschiedlichsten Antworten gegeben.
Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Zu beruflichem Erfolg gehört vieles – vor allem aber auch Glück.
Viel wichtiger ist aber das, was uns unsere Eltern mitgeben wollten:
Sie haben versucht, uns zu anständigen, ehrlichen Menschen zu erziehen. Und wir haben versucht, sie nicht zu enttäuschen.
Ob uns das gelungen ist, müssen andere beurteilen.
„Ich war circa drei Jahre alt“, erzählt Lukas. „Ich sehe heute noch das Gesicht meines Vaters vor mir, der schwer atmete. Er rannte durch den Wald, mit mir in seinen Armen.“
Das Ziel des Vaters war die Arztpraxis von Dr. Stopper im Nachbarort Litzelsdorf. Erich zitterte am ganzen Körper.
„Das Kind hat die Fraisen“, hatte die Oma gesagt und ihr sonst rosiges Gesicht war plötzlich leichenblass geworden. „Der muaß sofurt zum Padr!!!“ Als „Padr“ wird in der Stinatzer Variante des Kroatischen der „Arzt“ bezeichnet, was vermutlich eine Ableitung des deutschen Wortes Bader ist.
Als „Fraisen“ bezeichnete man damals alle Krankheiten, die mit hohem Fieber und krampfartigen Zuständen einhergingen. Dr. Stopper war ein Landarzt der alten Schule – im positiven Sinne des Wortes: Er war ein blendender Diagnostiker, der sehr wohl wusste, welche Therapien sinnvoll ambulant anwendbar waren. Er zögerte aber nicht, Patienten so schnell wie möglich in ein Spital einzuweisen, wenn er dies für angezeigt hielt. Im konkreten Fall war die Entscheidung klar: Dr. Stopper hatte ein Abszess am Kopf des Kleinen festgestellt und die krampfartigen Fieberanfälle unterstrichen die Notwendigkeit einer fachärztlichen Behandlung, die nur in Wien verfügbar war. Zeit durfte man sich dafür nicht viel lassen, es war, wie man das damals nannte, „höchste Eisenbahn“!
„Ob ich nach Wien-Favoriten ins Gottfried Preyer’sche Kinderspital