Lumpenloretta - Christine Nöstlinger - E-Book

Lumpenloretta E-Book

Christine Nöstlinger

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Beschreibung

Querkopf liebt Traumtänzerin Christine Nöstlingers neuer Roman trifft mitten ins Herz Glatze und Loretta, kann daraus was werden? Hier der schweigsame Typ, der sich aus purer Sturheit wöchentlich seine Glatze neu schert. Da die quirlige angehende Zirkusprinzessin, die notgedrungen zu viele Grenzen überschreitet. Dann ist da auch noch Locke, die Verwirrung stiftet. Eine Dreiecksliebe ohne Zukunft, sollte man meinen. Aber, wie gesagt: Glatze ist ein sturer Bock ... Die traurige und zarte, wunderbar hoffnungsvolle Liebesgeschichte von Glatze und Loretta überrascht durch einen völlig neuen Ton und setzt einen Meilenstein in Christine Nöstlingers umfangreichem Schaffen. "Wenn dir das Schicksal eine Liebe aufhalst, bist du dagegen machtlos, da brauchst du gar nicht versuchen, dich zu wehren! Du musst es hinnehmen!" ... Es ist schwer zu glauben, dass einer wie Glatze, der nicht gern redet, und schon gar nicht über so Gefühlskram, das gesagt haben soll. Und da es die Loretta mit der Wahrheit nie hundertprozentig genau genommen hat, könnte es leicht sein, dass sie es erfunden hat. Was aber nicht heißen muss, dass es falsch ist."

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CHRISTINE NÖSTLINGER

LUMPENLORETTA

CHRISTINE NÖSTLINGER

LUMPENLORETTA

VIGNETTEN VON TRIXI SCHNEEFUSS

UNSERE SIEDLUNG MUSST DU DIR so vorstellen: Eine schnurgerade, nicht sehr breite Straße, zu beiden Seiten Alleebäume und dahinter Einfamilienhäuser mit winzigen Vorgärten und ein bisschen weniger winzigen Gärten hinter den Häusern. Ein Haus schaut aus wie das andere, und wenn du unbedingt etwas finden willst, was die weißen Betonwürfel mit den dunkelgrauen Spitzdächern voneinander unterscheidet, musst du dich an die Nummernschilder auf den Haustüren halten. 1-3-5-7 bis 49 auf der linken Straßenseite, 2-4-6-8 bis 50 auf der rechten.

Ein Geschäft, wo du etwas einkaufen könntest, gibt es bei uns in der Siedlung nicht. Auch kein Wirtshaus, keinen Zeitungs-Kiosk, keinen Kinderspielplatz und keine Garagen für die PKW. Die müssen am Straßenrand, zwischen den Alleebäumen parken, und die stehen so dicht aneinander, dass dazwischen bloß zwei Autos Platz haben. Vor fünfzig Jahren, wie die Siedlung gebaut worden ist, hat man sich nicht vorstellen können, dass es einmal fast so viele Autos wie Menschen geben wird und Parkplätze knapp werden könnten. Bus fährt durch unsere Straße auch keiner. Die nächste Bushaltestelle ist auf der B2, bis dorthin sind es zehn Minuten zu Fuß. Das stört die Erwachsenen nicht, die haben ja alle ein Auto. Aber wenn du ein Kind bist und einen Bleistift, einen Kaugummi, ein Heft oder sonst etwas brauchst oder am Morgen zum Bus musst, der zur Schule fährt, kannst du losradeln; was aber, wenn du noch nicht zwölf bist, eigentlich nur in Begleitung von Erwachsenen erlaubt wäre. Und im Winter, wenn alles vereist und verschneit ist, musst du sowieso jappeln und dir die Nase rot frieren, falls deine Mutter oder dein Vater nicht so gütig ist, dich mit dem Auto zur Schule oder wenigstens zur Bushaltestelle zu fahren.

Kinder gibt es in der Siedlung zwar jede Menge, altersmäßig brauchbare allerdings, wenn du so zwischen zehn und vierzehn bist, mit denen sich etwas halbwegs Vernünftiges unternehmen lässt, sind Mangelware, die hast du bis letzten August an einer Hand mit amputiertem Daumen abzählen können: Glatze, Zecke, Locke und Zahn. Und dann ist als Daumen noch die Loretta dazugekommen, wegen der die ganze Geschichte, um die es hier geht, passiert ist. Obwohl: Warum etwas passiert, weiß man in Wirklichkeit nie so genau, du denkst dir halt bloß, dies oder jenes sei der Grund dafür. Je nachdem, wie es dir in den Kram passt.

Jedenfalls sind alle anderen Kinder in der Siedlung Buggy-Babys, Kindergartenzwerge und Volksschulstöpsel. Außerdem gibt es noch eine kleine, arscharrogante Clique von sechzehn-, siebzehnjährigen Schnepfen und Dilos, die mit niemandem reden, der auch nur ein bisschen jünger ist als sie. Diese Typen geben dir nicht einmal Antwort, wenn du sie freundlich grüßt, und stehst du am Morgen im Bus neben ihnen, schauen sie durch dich durch, als wärst du glasklare Gebirgsluft.

Wer die Volksschule hinter sich hat, fährt an jedem Schultag mit dem Bus vier Stationen zum Gymnasium am Oberhuberplatz. Die Volksschulknirpse fahren nur eine Station mit. Zur Reichtaler-Schule. Hauptschüler und Lehrlinge haben wir in der Siedlung nicht, auch die Deppen gehen ins Gymnasium. Und wenn sie es trotz vieler Nachhilfestunden nicht schaffen, kriegen sie eine Maturaschule aufs Auge gedrückt. Der große Bruder von Zecke zum Beispiel geht noch immer in so eine private Schule, dabei ist er dreiundzwanzig und hat angeblich irgendwo eine Ex-Tussi, die ein Baby von ihm erwartet; was aber geheim ist. Und Zecke ist es streng verboten, darüber zu reden. Zecke hält sich an Verbote, die ihm blöd vorkommen, allerdings nicht.

Frag mich bloß nicht, warum alle Eltern in unserer Siedlung den Bildungstick haben. Ich weiß keine Antwort drauf. Höchstens, was der Großvater von Locke einmal gesagt hat, nämlich: „Das ist halt so bei den sozialen Aufsteigern.“

Locke hat ihn gefragt, was „soziale Aufsteiger“ sind, doch da hat er von einem Ohrwaschel bis zum anderen böse gegrinst und gesagt, dass er ihr das erst nächsten Montag erklären wird, weil er sich vorgenommen hat, seinen Schwiegersohn und seine Tochter nur zweimal die Woche zu beleidigen, und das hat er diese Woche bereits erledigt. Aber am Sonntag vor dem nächsten Montag hat er leider einen Schlaganfall gehabt und einen schief gezogenen Mund davon bekommen und sich beim Reden schwer getan, und Locke hat ihn mit unnötigen Fragen nicht belästigen wollen.

Der große Bruder von Zecke behauptet, dass die „sozialen Aufsteiger“ Menschen sind, die „etwas Besseres“ sein wollen als ihre Eltern, und von ihren Kindern erwarten sie, dass die „etwas Besseres“ werden als sie selber. Und ohne Matura kriegt man das nur sehr schwer hin, da kann man zwar unter Umständen stinkreich werden, aber kaum „etwas Besseres“. Ob man aber einem Kerl glauben soll, der schon dreizehn Jahre vergeblich an seiner Matura bastelt, musst du selber entscheiden.

Falls es dich interessiert:

Zahn heißt deswegen Zahn, weil seine oberen Einser perfekt ins Kiefer eines Rübezahl-Riesen passen würden und unten so ausgezackt sind wie ein Sägemesser.

Locke haben ihre goldfischfarbenen Wuschelhaare den Spitznamen eingetragen, die echt und ehrlich nicht gefärbt sind; das behaupten in ihrer Klasse bloß ein paar neidische Schnepfen.

Zecke ist vor drei Jahren von einer Zecke mit Gehirnhautentzündung infiziert worden und hat ein halbes Jahr gebraucht, bis er wieder ordentlich laufen hat können.

Und Glatze rasiert sich seinen Schädel jeden Samstagnachmittag ratzekahl. Weil er ein sausturer Bock ist! Vor zwei Jahren hat er sich, wahrscheinlich in der Schule, eine Kolonie Kopfläuse samt Nissen eingefangen, und seine Mutter hat deswegen einen hysterischen Kreischanfall bekommen und hat von seinem Vater verlangt, dass er seinem Sohn die verlausten Haare total abrasiert, weil eine Glatze wesentlich leichter zu entlausen ist als ein stark behaarter Schädel. Glatze hat wildwütend protestiert, aber sein Vater hat eine Mastochsenstatur, gegen den ist er nicht aufgekommen. Soviel er auch gebrüllt und getreten und gespuckt hat, sein Vater hat ihn in den Schwitzkasten genommen, und mit dem Rasierapparat in der Hand vom anderen Arm hat er sich über Glatzes verlausten Schädel hergemacht. Glatze hat zwei Wochen lang um seine schulterlange, rabenschwarze Lockenpracht getrauert, dann hat er beschlossen, lebenslang glatzig zu bleiben.

„Das mache ich meinen Eltern zu Fleiß“, hat er Zecke, Zahn und Locke erklärt. Wieso er damit seinen Eltern etwas zu Fleiß macht, hat niemand so wirklich kapiert. Aber es hat auch niemand nachgefragt, weil das bringt nichts bei ihm. Er ist keiner, der sich ausfragen lässt. Mehr als ein „So eben!“ hättest du ihm doch nicht rausgelockt.

ANGEFANGEN HAT IM GRUNDE ALLES damit, dass die alte Frau Berger und der noch ältere Herr Berger, die im Nachbarhaus von Glatze, auf Hausnummer 19, gewohnt haben, in ein Senioren-Heim übersiedelt sind. Weil der Herr Berger schon seit langer Zeit im Rollstuhl gesessen ist und die Frau Berger es nicht mehr geschafft hat, ihn zu versorgen und auszuhalten. Er ist nämlich auch im Kopf total meschugge worden und hat geglaubt, dass sie ihn abmurksen will und er sich gegen sie mit dem großen Fleischmesser verteidigen muss. Aber das Senioren-Heim hat den beiden nicht wirklich gutgetan. Im Frühling drauf waren sie tot. Und alle in der Siedlung haben darüber gerätselt, wer nun das Berger-Haus erben wird. Kinder haben die beiden keine gehabt, von Freunden oder Bekannten, die Erbschleicher hätten sein können, sind sie auch nie besucht worden. Und alle Verwandten, von denen sie den Nachbarn irgendwann einmal erzählt hatten, waren längst tot.

Die Glatze-Mutter hat zur Locke-Mutter oft gesagt: „Hoffentlich hat das Haus jemand geerbt, der zu uns herpasst!“

Und die Locke-Mutter, die auf der anderen Seite vom 19er-Haus wohnt, hat vermutet: „Also, wie ich diese zwei schrulligen Zausel einschätze, haben sie ihr Haus garantiert der Caritas oder der Kirche vermacht, damit sie in den Himmel kommen!“

Und drauf hat die Glatze-Mutter gejammert: „Da sei Gott im Himmel vor, sonst macht die Caritas glatt noch ein Obdachlosen-Wohnheim daraus oder ein Asylanten-Quartier!“

Aber die Locke-Mutter hat behauptet: „Das wagt die Caritas nicht, die will keinen Unfrieden in eine gutbürgerliche Wohngegend tragen. Die verkauft das Haus sicher, falls sie es geerbt haben sollte!“

Gegen Ende der Sommerferien dann, an einem Donnerstag, am frühen Nachmittag, hat vor dem 19er-Haus ein echtes Wahnsinnsgefährt eingeparkt. Ein uralter schlammgrau-senfgelb-kackebraun gefleckter Autobus, militärisch tarnfarben für Wüstengegenden. So einer mit Teddybärschnauze und dickem Hinterteil. Unter den Seitenfenstern ist auf beiden Seiten mit großen, ziemlich krummen Blockbuchstaben in allen Regenbogenfarben aufgepinselt gewesen: PATSYS ALTWAREN-PARADIES. Und eine Mobil-Telefonnummer dahinter.

Glatze ist gerade beim Tor vom Vorgartenzaun gestanden, weil ihn seine Mutter zum Briefkasten um die Post geschickt hatte. Klarerweise ist er mit den zwei Briefen und dem Post-wurf-Kram nicht ins Haus zurück, sondern hat sich an den Zaun gelehnt und getan, als ob er die knalligen Angebote in den Werbeprospekten studieren würde. Wer aus dem Autobus aussteigt, hat er sehen wollen, und lange warten hat er nicht müssen. Zuerst ist eine Frau ausgestiegen. Eine im Mama-Alter, sehr klein und ein bisschen pummelig, Haare knallrot, streichholzkurz. Reingezwängt in eine hellblaue Lederjacke mit jeder Menge Lederfransen und silberner Nieten an allen erdenklichen Nähten, einer hellblauen Jeans mit absichtlich ausgefransten Löchern, die ihr leicht um drei Nummern zu eng gewesen ist, und Cowboystiefeln aus hellblauem Schlangenleder mit schief getretenen Absätzen.

Dann ist ein Mann im Papa-Alter aus dem Bus gesprungen. Lang und dünn. Ebenfalls in Fransenlederjacke, Jeans und Schlangenleder-Cowboystiefeln. Aber alles in dunkelgrau und ohne absichtliche Löcher. Speziell witzig hat Glatze dem seine Frisur gefunden. Kahlkopf mit Zopf! Oben glänzende, sonnenbraune Platte, und die spärlichen blonden Federn vom Haarkranz rundherum zu einem langen, dünnen Zopf geflochten, der unten mit einem Gummiringerl zusammengehalten wird. Bis zur Taille ist der Zopf gebaumelt. Der Kahlkopf mit Zopf hat einen Schlüssel aus der Hosentasche geholt, die Vorgartentür von Nummer 19 aufgemacht und ist zur Haustür. Die Pummelfrau hinter ihm her. Er hat die Haustür aufgesperrt und ist ins Haus rein. Die Pummelfrau wieder hinter ihm her.

Glatze hat sich vom Anblick der zwei Typen noch nicht wirklich erholt gehabt, da ist ein Mädchen aus dem Bus geklettert. Wenn du mich fragst, ein recht durchschnittliches Girl. Mittelgroß, dünn, Storchenbeine mit Kamelknien, braune Schnittlauchhaare bis zu den Schultern, sehr kleine Nase, riesige Augen, abstehende Flügelohren und ein viel zu langer Hals. Nur klamottenmäßig absolut nicht durchschnittlich, sondern noch irrer als die zwei Cowboy-Imitate. Von oben nach unten gesehen: weiß-grau-braun geflecktes, räudiges Hasenfelljackerl bis knapp über die Taille, lappiger, wadenlanger, gardinendurchsichtiger Rock und keine Strümpfe und keine Schuhe an den Füßen. Nichts gegen barfuß gehen und Hasenfell! Aber es war ein ziemlich kühler Sommertag ohne Sonne, mit viel Wind und zwischendurch Nieselregen, also wirklich kein Barfußtag, aber noch lange kein Pelzjackerltag.

Niemand kann sich aussuchen, in wen er sich verknallt. So etwas passiert dir einfach, ob du willst oder nicht. Glatze hat sicher nicht gewollt. Mit Liebe hat er nie etwas am Hut gehabt. Der hat doch nicht einmal bemerkt, dass Locke seit dem Kindergarten unsterblich in ihn verliebt ist, und wenn ihm das Zecke oder Zahn gesagt haben, hat er grantig geknurrt: „Pflanzt gefälligst einen anderen!“

Aber trotzdem knallt es irre in ihm, wie er das komische Girl sieht! Ob im Hirn, im Bauch oder in der Brust, das kannst du dir aussuchen. Wie der totale Volltrottel steht er da und starrt. Bringt es nicht einmal fertig, „Guten Tag!“ oder etwas in der Preislage zu sagen.

Das komische Girl hüpft zu Glatze hin und teilt ihm mit, dass sie Loretta heißt und nebenan wohnen wird, und Glatze bringt noch immer kein Wort raus, bloß wie der Blöde nickt er. Und dann fällt ihm glatt noch der Postkram aus den Händen und platscht zu Boden. Er bückt sich, um ihn aufzusammeln, die Loretta will ihm dabei helfen und – päng! – knallen ihre Köpfe zusammen.

„Du hast aber einen harten Schädel“, sagt die Loretta, richtet sich wieder auf und reibt sich die Stirn.

„Sorry!“, sagt Glatze und ist glücklich, wieder bei Stimme zu sein. Er will sagen, dass er Konrad heißt, weil er selber nennt sich ja nicht Glatze, doch da brüllt es kreischlaut aus dem tarnfarbenen Bus.

Die Loretta sagt: „Unser Hank ist munter geworden“, drückt Glatze die Zettel, die sie aufgehoben hat, in die Hände, rennt zum Bus und klettert rein. Kaum ist sie drin, hört das Gebrüll auf, und gleich drauf steigt sie mit einem Sabberbaby in den Armen aus dem Bus, ruft Glatze zu, dass das Baby ihr kleiner Bruder ist, und geht durch den Vorgarten vom Nachbarhaus der offenen Haustür zu.

Glatze hat gewartet, bis die Loretta im 19er-Haus ist, dann hat er die ganze Post in den Briefkasten zurückgestopft und ist langsam die Straße rauf. Nach dem letzten Haus ist er noch ein Stück weiter gegangen und zwischen den Büschen am Straßenrand durch und die Böschung runter und hat sich auf seinen Stein gesetzt. Der Stein gehört nicht wirklich ihm. Der Bauer, dem das Grünzeugfeld an der Böschung gehört, hat den babybadewannengroßen Granitbrocken vor ein paar Jahren aus der Erde gebaggert und am Feldrand abgelegt.

Glatze ist oft auf diesem Stein gesessen, und jeder hat gewusst, dass man ihn dann besser nicht anredet. Und jeder hat auch gewusst, dass es Glatze nicht mag, wenn sich jemand anderer auf dem Stein breitmacht. Da hat er echt biestig werden können. Stur hat er behauptet, dass ihm der Bauer den Stein geschenkt hat. Was natürlich nicht gestimmt hat. Aber jeder hat einen Tick, und weder Locke, noch Zecke oder Zahn haben es der Mühe wert gefunden, mit ihm deswegen lang und breit herumzustreiten.

Dass Glatze den Granitbrocken für sich allein hat haben wollen, ist aber schon erstaunlich gewesen, weil er keiner ist, der ungern mit anderen teilt. Im Gegenteil. Du kannst von seinem Schulbrot abbeißen, seine Buntstifte benutzen, seine Bücher und CDs ausborgen, von seinem Taschengeld etwas abkriegen, sogar sein Fahrrad und sein Handy leiht er dir, ohne mit einer einzigen Wimper zu zucken.

Als seinen „Denkstein“ hat er den Granitbrocken immer bezeichnet. Erklärt hat er, dass der Granit auf sein Hirn eine positive Wirkung hat und dass er auf dem Stein Gedanken kriegt, die ihm anderswo nie kommen würden. Granit, hat er behauptet, strahlt, und das strahlende Zeug heißt Radon, und dieses Radon flutscht durch seinen Hintern, sein Gedärm und seine Brust ins Hirn rauf und macht es superfit.

Zecke hat seine Mutter gefragt, ob sie das für möglich hält. Seine Mutter ist nämlich Chemie-Lehrerin. Sie hat gesagt, dass das völlig unmöglich ist, aber wenn sich Glatze das einbildet, soll man ihn ruhig bei seinem Glauben lassen, weil der Glaube Berge versetzen kann. Hauptsache, hat sie gesagt, er hat dort vernünftige Gedanken.

Glatze ist an die zwei Stunden auf seinem Denkstein gehockt, obwohl es zu regnen angefangen hat und der Wind sich angefühlt hat, als wäre nicht August, sondern November. Und die supertollen Gedanken, die ihm das Radon diesmal ins Hirn raufgeflutscht hat, waren angeblich folgende: Wenn dir das Schicksal eine Liebe aufhalst, bist du dagegen machtlos, da brauchst du gar nicht versuchen, dich zu wehren! Du musst es hinnehmen! Und es ist ohnehin ein Schicksals-Glücksfall, wenn du dich in eine verknallst, die gleich nebenan wohnt, weil sie dann immer in deiner Nähe ist und du dich nicht nach ihr sehnen musst!

„Angeblich“ sage ich deswegen, weil das alles die Loretta später Locke erzählt hat. Glatze, hat sie behauptet, hat ihr das gestanden. Aber wenn du mich fragst: Es ist schwer zu glauben, dass einer wie Glatze, der nicht gern redet, und schon gar nicht über so Gefühlskram, das gesagt haben soll! Und da es die Loretta mit der Wahrheit nie hundertprozentig genau genommen hat, könnte es leicht sein, dass sie es erfunden hat. Was aber nicht heißen muss, dass es falsch ist.

Jedenfalls ist Glatze nach zwei Stunden wieder die Böschung raufgeklettert und zur Siedlung zurückgegangen und hat beschlossen, jetzt gleich die neuen Nachbarn zu besuchen. Weil die Loretta noch nicht einmal gewusst hat, wie er heißt. Und weil es nicht schaden kann, wenn er mit ihr schon gut Freund ist, bevor Zecke und Zahn sie sehen. Dann kann er nämlich für den Fall, dass es nötig wäre, sagen: „Finger weg! Die gehört zu mir!“

WIE GLATZE ZUR SIEDLUNG GEKOMMEN