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Die düsteren Schatten wandeln noch immer in diesem Haus. Geister, unvollendete Spuren, die ungesühnt ihr Dasein fristen. Meterdicker Staub bedeckt die Fenster und Böden mit all seinen Vergangenheiten. Ausgelöscht, vertuscht um der Wahrheit zu entkommen. Die Dielen knarzen und doch wandelt kein Leben in diesem Gemäuer. Dennoch ist dort eine Existenz anwesend. Sie durchforstet alle Räume, inspiziert jedes Zimmer, immer auf der Suche... auf der Suche nach was? Ein schreckliches Heulen erfasst die Nacht und doch ist es eher ein verzweifelter Schrei, der die Luft eisig zersplittert. Begleitet mit einem raunenden und heiseren Flüstern: „ Bald, bald wirst du zu mir kommen. Ich werde warten. Ja, ich werde warten!“
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Seitenzahl: 336
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Ich danke allen, die mich und meine Familie, in einer schweren Zeit unterstützt haben.
Eure Petra Eggert
Träume nicht dein Leben, Lebe deinen Traum!
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Die düsteren Schatten wandeln noch immer in diesem Haus.
Geister, unvollendeter Spuren, die ungesühnt Ihr Dasein fristen.
Meterdicker Staub bedeckt die Fenster und Böden mit all seinen Vergangenheiten. Ausgelöscht, vertuscht um der Wahrheit zu entkommen. Die Dielen knarzen und doch wandelt kein Leben in diesem Gemäuer. Dennoch ist dort eine Existenz anwesend. Sie durchforstet alle Räume, inspiziert jedes Zimmer immer auf der Suche ... auf der Suche nach was? Ein schreckliches Heulen erfasst die Nacht und doch ist es eher ein verzweifelter Schrei, der die Luft eisig zersplittert. Begleitet mit einem Raunenden und Heiseren flüstern: „ Bald, bald wirst du zu mir kommen. Ich werde warten. Ja, ich werde warten!“
„Puh, ich hätte nie gedacht, dass diese Kisten so schwer sind.“ „Mom, das sind alles meine Bücher.“ Mariel schwitzte schon selber bei ihren Kartons, aber das wollte sie ihrer Mutter nicht gerade unter die Nase reiben.
„Du meine Güte, was willst du eigentlich mit all diesen Büchern? Die meisten sind doch schon vergilbt und einige Einbände haben schon Risse. Ich versteh das nicht.“ Clara Wilkott war eine engagierte Frau mittleren Alters und hatte nicht viel Sinn für die Kunst des Lesens oder Schreibens. Das Einzige was sie zu schreiben hatte waren Schichtpläne und Medikamentendosierungen. Sie arbeitete als Krankenschwester und ging in ihrem Beruf sehr auf. Zum Leidwesen ihrer Tochter. Mariel wischte sich eine rotbraune Locke aus ihren grau/blauen Augen und stellte die Kiste in eine Ecke.
„Ach Mom, du weist doch, wenn ich in der Bibliothek arbeite, nehme ich mir eben ein paar Bücher mit nach Hause. Es wäre doch schade, sie wegzuwerfen, wenn ich viele davon, noch restaurieren kann. Ich weiß nicht, es ist eben wie, als wenn man einen Welpen auf der Straße findet, aber nicht vorbeigehen kann.“ Clara verdrehte die Augen. Sie packte noch eine Kiste auf die anderen und wandte sich dann wieder an ihre Tochter.
„Kind, ich weiß ja das wir oft umziehen mussten, aber du kannst dich doch nicht ständig hinter deinen Büchern verstecken. Und das mit dem Welpen … na ich weiß ja nicht.
So, ach je so spät schon. Schatz, ich muss zur Arbeit. Ich rufe dich morgen an.“ Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange und war auch schon durch die Tür.
Mariel schaute sich in ihrer kleinen Mansarden Wohnung um.
Sie war nicht groß, aber das machte der Einundzwanzigjährigen nichts aus. In ihrem ganzen Leben war sie schon einundzwanzig Mal umgezogen und hatte danach aufgehört zu zählen. Ihre Mutter gab immer an, dass die Arbeit daran schuld wäre. Einmal war es das Gehalt, dann wieder die Kollegen oder das Krankenhaus selbst. Mariel hatte sich damit abgefunden und stellte ihre Kisten einfach nur noch in die Ecke und legte eine Decke darüber, um sie mit einer Lampe zu zieren. So hatte sie alles praktisch verstaut. In den ganzen Kisten befanden sich wirklich unzählige Bücher, von denen sie sich nie trennen konnte, da schien sie ihrer Mutter gleich zu sein. Von wegen, die Bücher sind antik, oder Einzelausgaben.
Die junge Frau arbeitete, seit ihrer Ankunft hier in Hamburg, in der großen Stadtbibliothek. Es war nicht unbedingt das, was sie machen wollte, aber ihrer Mutter zuliebe ist sie mit ihr hierher gezogen. Sie konnte sich gar nicht mehr genau erinnern, wo sie schon überall waren. Es ging quer durch Europa und Mariel wusste, das dies nicht die letzte Station war, in der sie haltmachen würden. Trotz aller Umzüge hatte ihre Mutter stets darauf geachtet, dass ihre Tochter einen vernünftigen Beruf erlernen konnte. Sicher, es war nicht unbedingt der Traumberuf, den sich Clara für ihre Tochter wünschte, aber Mariel war schon immer ein Bücherwurm und so fand sie ihre Berufung als Bibliothekarin.
Während Clara ihrer Arbeit nachging, versuchte sich Mariel einen Überblick ihrer Kartons, zu machen. Die kleine Mansardenwohnung bot gerade Platz genug für beide.
Während die junge Frau ein kleines Zimmer für sich hatte, schaffte sich ihre Mutter Platz im Wohnzimmer. Es war einfach und praktisch und günstig war es obendrein. Nicht das es beiden schlecht ging, aber Clara war ständig auf dem Sprung, selten zu Hause und man konnte ja nie wissen, wie schnell sie mal wieder ihre Koffer packen mussten. So, und nicht anders kannte Mariel ihre Mutter.
In der Wohnung befand sich noch eine kleine Eckküche mit einer Anrichte und einer kleinen Esstheke. Im Wohnzimmer hatten sie einen kleinen Blick auf den riesigen Hafen von Hamburg mit all seinen Kränen. Clara hatte diese Wohnung von einem Kollegen bekommen, der auf unbestimmte Zeit nach Afrika gegangen war. Sonst wäre hier die Wohnungssituation nicht so günstig ausgefallen. Das Krankenhaus lag nur ein paar Straßen weiter und die Bibliothek war auch nicht weit.
Mariel versuchte sich etwas häuslich einzurichten. All zu viel Zeug hatten die beiden nicht. Ein paar Klamotten, das nötigste Geschirr, da sie ohnehin kaum zu Hause aßen. Entweder nahm jeder seine Mahlzeit auf den jeweiligen Arbeitsplatz ein oder es wurde etwas bestellt. Ein paar Dekoartikel durften dennoch nicht fehlen. Mariel liebte ihre Bücher und Schallplatten, dann hatte sie noch ein paar Aquarell Bilder von englischen Landschaften. Sie wusste, Clara stammte eigentlich aus England, aus der Nähe von Cornwall, aber sie hatte es bisher vermieden darüber zu sprechen. Es wurde nie viel über die Vergangenheit gesprochen. Da gab es keine Großmutter oder Großvater. Einzig und allein hieß es, die beiden seien schon früh gestorben und Clara war ein Einzelkind. Auch was ihren eigenen Vater anging, hüllte sich Clara in Stillschweigen, sie meinte, es wäre eine Affäre gewesen und er hätte sich gleich aus dem Staub gemacht. Sicher, Mariel wuchs behütet auf, wenn auch mit Einschränkungen, durch die ständigen Umzüge, aber es hatte ihr nie viel ausgemacht. Ab und an fragte sie sich dennoch, was und wie, wohl ihr Vater war. Schnell wischte sie ihre Gedanken beiseite und kramte ein paar Bilder, einer der wenigen, die sie von ihrer Mutter, in den früheren Jahren hatte.
Es zeigte ein schwarz,weißes Foto, auf dem Clara vor einem riesigen Anwesen posierte. Sie trug ein halblanges Volantkleid, mit einer Schürze darüber. Typisch Mom, dachte sie. Sie trug schon immer gerne Kittel, da lag es wohl Nahe, dass sie die Tracht der Krankenschwester wohl nie ablegen würde.
Das Anwesen im Hintergrund, sah ziemlich düster aus, fast so eins, wie sie Mariel sich immer vorstellte, wenn man so einen Horrorfilm drehte, aber Clara meinte, es sei nun mal so in England und davon gab es viele Häuser. Sie selber wusste gar nicht mehr, welches Anwesen dies überhaupt war.
Wahrscheinlich mal wieder eins dieser Klötze, die sich Claras Mutter gerne angesehen hatte.
Mariel legte das Bild wieder an die Seite und bezog erst einmal die Betten, dann machte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf den kleinen Balkon. Die frische Meeresbrise wehte ihr, trotz des riesigen Industriehafens, in die Nase und sie hörte ganz leicht die Möwen kreischen. Der Himmel war an diesem Nachmittag mit leichten Wolken bedeckt, aber es war nicht kühl. Von der Straße her hörte sie die Autos vorbeirauschen und Leute aufgeregt schwatzen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, musste sie erst morgen Früh arbeiten und so konnte sie die Wohnung einrichten. Es würde sicherlich spät werden, bis Clara heimkam. Also bestellte sich Mariel zum Abend hin, einen großen Nudelteller mit Salat. Den Rest bewahrte sie für ihre Mutter im Ofen auf. Die junge Frau machte es sich in dem großen Ohrensessel bequem und schlief auch gleich ein. Sie bemerkte gar nicht, dass ihre Mutter sehr spät von der Arbeit kam. Nur das Klingeln der Mikrowelle ließ sie kurz aufhorchen.
„Oh, schon so spät? Mom, hast du bis jetzt noch gearbeitet?“
Mariel rieb sich die Augen. Sie musste sich erst mal wieder an die neue Umgebung gewöhnen. Ihre Mutter sah geschafft aus.
„Ach du weist doch, wie das so ist. Kaum ist man auf dem Weg nach Hause, kommen plötzlich alle Notfälle auf einmal. Es gab einen großen Crash auf der Autobahn, das war mal wieder ein Durcheinander, aber immerhin gab es keine Tote. Geh ins Bett, du musst morgen früh fit sein. Gute Nacht!“, sie schob ihre Tochter mit einem leichten Schulterklopfen in ihr Zimmer. Sie selber legte sich gleich auf die Couch und war binnen Sekunden eingeschlafen.
Mariel schlief derweil unruhig. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere. Bei jedem Geräusch wurde sie kurz wach und musste sich wieder orientieren, wo sie überhaupt war. Vor ihrem Fenster hangen noch keine Gardinen, die wollten sie besorgen, wenn beide etwas mehr Zeit hatten. Das Rollo ging nur bis zur Hälfte herunter und so schienen die blinkenden Lichter der Kräne und die Lichter des Hafens, bei ihr herein.
Auch wenn ihre Straße nicht allzu befahren war, tummelte sich der Verkehr davor und jedes einzelne Licht der Scheinwerfer drang in ihr Zimmer. Teilweise sah es gruselig aus. Wie eine Art kleine UFOs kamen die Lichtstrahlen durch. Erst wurden sie schwach, dann immer heller und durch die Jalousie brach das Licht. Durch die Schatten, die das Licht widerspiegelte und an die Wand warf, verwandelte es sich in seltsame Fratzen.
Nicht das Mariel ängstlich war, aber schon seit Langem quälten sie einige Albträume. Sie waren selten, aber dafür umso intensiver. Sie drehte sich zur Wand und stülpte die Bettdecke über ihren Kopf. Es dauerte auch nicht lange und sie schlief wieder ein. Sie schwitzte. So dass sie sich die Decke abstreifte und jetzt längst ausgestreckt da lag. Unruhig wälzte die junge Frau sich hin und her. Das rote Leuchten der Kranlichter kam immer näher und sie wollte es fortwischen oder sich wieder die Decke rüber ziehen, bis sie merkte, dass es gar nicht der Hafen war, der sie fixierte. Es schien ihr, wie zwei rote Augen, die sie anfunkelten. Zwei knochige Hände griffen nach ihr und dabei legte sich eine andere Hand an zwei ausgedörrte, bläulich gefärbte Lippen, die ihr bedeuteten, keinen Mucks von sich zu geben. Sie schienen zu schweben. Es kam Mariel vor, als würden sie in einen großen Raum schweben, als sei jemand auf der Suche nach etwas. Dann blitzte es wieder in ihren Kopf, die Hand ließ sie los und ein gellender Schrei durchlief ihren Körper. Begleitet von unkenntlich, gezeichneten Leichen, die zu schweben schienen. Etwas rüttelte an ihren Schultern und sie wollte sie fortreißen, doch eine Stimme drang ganz tief durch sie durch.
„Mariel, Kind wach auf!“, Clara saß neben ihr am Bett und hielt sie an den Schultern fest, bis Mariel wieder zu sich kam.
Völlig verschwitzt und zitternd.
„Hattest du wieder einen dieser Träume?“, fragte sie ihre Mom.
Die junge Frau nickte nur und nahm einen großen Schluck Wasser, den ihr Clara hinhielt. Es tat ihr ja auch Leid, das sie ihre Mutter damit stören musste. Sie wusste, wie hart die Schicht im Krankenhaus war und jetzt auch noch das.
„Oh Mom, es tut mir leid. Es geht schon wieder. Ich wollte dich nicht wecken. Geh wieder schlafen. Ich krieg das schon hin,“ beteuerte sie. Clara nickte schlaftrunken und tätschelte ihre Tochter noch mal kurz, um dann wieder im Wohnzimmer zu verschwinden. Sie wusste, morgen würde es wieder einer dieser Diskussionen geben, in denen sie ihr anbot doch ein wenig nachzuhelfen, was den Schlaf betraf. Clara schwor immer auf ihre pflanzlichen Schlafmittel, aber Mariel wollte keine. Es musste doch einen Grund geben, für diese immer wieder, kehrenden Träume. Vielleicht hatte das alles doch mit den ganzen Umzügen zu tun und die setzten ihr mehr zu, als sie zugeben wollte. Den Rest der Nacht verbrachte Mariel mehr mit dösen als mit schlafen und war am nächsten Morgen ziemlich gerädert. Na, das konnte ja ein toller Arbeitstag werden. Als Mariel aufstand, war ihre Mutter mal wieder weg.
Sie hinterließ einen Zettel „ Schatz, es tut mir leid, aber die Klinik hat angerufen. Ich muss für jemanden einspringen. Aber wir reden noch!“ Das war mal wieder typisch. Clara konnte einfach nicht Nein sagen. Mariel nahm ein Brot und machte sich einen starken Kaffee, zum wach werden. Dann zog sie sich an, packte ihre Schultertasche und ging zur Arbeit.
Sie liebten diesen Geruch von altem Papier. Es war wie Magie, wenn sie die Hallen mit den vielen Büchern betrat. Eine Welt voller Geheimnisse und fremder Welten, die nur drauf warteten, erobert zu werden. Es gab nicht viele Leute, mit denen sie auf der Arbeit Kontakt hatte. Man ging sich hier fast aus dem Weg, was aber auch daran lag das, dass Gebäude so riesig war und jeder seine Abteilung für sich hatte. Hin und wieder kam die kleine Daisy aus dem zweiten Stock zu ihr herunter. Sie quasselte gern, natürlich über das männliche Geschlecht und sie sprach, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Da waren dann so unverblümte Fragen wie: „ Wann war dein letztes Mal? Ich meine, du hast doch einen Freund? Nein?
Oje, du willst doch nicht als alte Jungfer sterben? Du musst einfach mal mit mir in den Club kommen, da lernst du die Richtigen kennen.“ Dabei knuffte sie gerne ihr Gegenüber in die Seiten ohne zu merken, dass es nervte. Nun gut, sie war Gott Lob, nicht all zu lästig und kam auch nicht jeden Tag vorbei. Dann war da noch der stämmige Walter. Der machte ihr ein wenig Angst. Er ging immer in so einer geduckten Haltung an ihr vorbei und schob dann immer demonstrativ seine Brille zurecht. Ein Eigenbrötler aus der Buchhaltung. Er kam genauso selten vorbei wie Daisy. Es gab noch viele studentische Aushilfen, aber die blieben unter sich, und wenn man einen sah, hingen die an ihren Handys. Alles in allem, fand Mariel es ganz gut so. Es war nicht so, das sie keine Menschen mochte, aber sie fühlte sich alleine auch ganz wohl. Die Einzige, die sich als ihre Freundin nennen konnte, war Judith. Eine Freundin aus Kindheitstagen. Die hat sie in der Grundschule begleitet, was man Clara auch anrechnen konnte. Wenn sie umzogen, hatte sie darauf geachtet, das Mariel ihre ersten Jahre in der Schule, an einem Stück verbrachte. Daher konnte Judith sie auch all die Jahre begleiten. Erst als sie die weiterführende Schule besuchte, beschränkte sich der Kontakt auf Briefe und Telefonaten. Ja, sie mochte Judith. Sie konnte ihr alles erzählen und jeder meinte, sie wären so eine Art Seelenverwandte.
Immer wenn der Sommer nahte, besuchten sie sich gegenseitig. Judith war ein bisschen quirlig und na ja, wie Mariels Mutter meinte, leicht verrückt. Sicher, es war so, als sie noch jünger waren. Mittlerweile stand das Alter im Weg und beide wurden Erwachsener. Mittlerweile hielten sie nur noch Briefkontakt, ab und an eine kurze SMS, aber der Urlaub wurde allein verbracht. Die Interessen wechselten. Während Mariel sich mehr in die Bücher verkroch, hatte Judith für sich die Partymeile entdeckt. Sie arbeitete in einem Imbiss, was leider nicht ganz spurlos an ihrer Figur vorüberging.
Die Tage gingen dahin. Der Alltag fand Einzug und jeder ging seiner Arbeit nach. Hier und da ertappte sich Mariel dabei, wie sie das Angebot von Daisy annahm und mit ihr in einen, dieser tollen Clubs ging. Small Talk war da angesagt und teure Drinks. Mariel machte sich nur wenig daraus. Natürlich war die männliche Partie sehr angetan von ihr. Mit ihren halblangen rotbraunen, lockigen Haaren und den graublauen Augen, sah sie mit ihrer schlanken Figur, sehr passabel aus. Jedoch waren die meisten Typen nichts für sie. Es gab schon den einen oder anderen, mit dem sie sich unterhielt, aber mehr wurde nicht daraus. Sie fand, die Männer waren ihr alle zu oberflächlich.
Die meisten protzten nur vor Geld oder mit ihrer Arbeit, sei es als Manager oder Anwalt oder sonst ein Architekt. Sie fand, das alles zu gehoben, aber Daisy war begeistert. Potenzielle Ehemänner fand sie. Mariel mochte ihr Singleleben bisher so, wie es jetzt war. Der Richtige, wie sie fand, war noch nicht dabei und sie würde ihm eines Tages bestimmt begegnen.
Die Tage schlichen dahin und der Sommer hielt ein. Die Temperaturen zogen an und es wurde heiß. Jetzt sah sie ihre Mutter kaum noch. Immer mehr Hitzschläge trafen ein. Alte, die dehydriert waren, Kinder und Menschen, mit Wespenstichen, die mal allergisch mal einfach nur aus Vorsicht, in die Klinik kamen, oder auch Brandwunden, die versorgt werden mussten, da man beim Grillen etwas zu forsch war.
Mariel hingegen hatte derweil nicht so viel zu tun. Die Menschen zogen es vor lieber an der Elbe schwimmen zu gehen, als in einer muffigen Bibliothek zu hängen. Für Mariel war das kein Problem. Sie war nicht so der Typ, der stundenlang am Strand liegen konnte und sich von der Sonne braten lassen. Die junge Frau zog es vor, sich in die Archive zu verkriechen und die alten verstaubten Bücher zu restaurieren.
Mariel und Clara hatten nicht viel Zeit zusammen zu verbringen, so gab es auch kaum private Gespräche zwischen ihnen. Was Mariel etwas schade fand. Die ganzen Jahre hatte sie wirklich nie viel über ihre Mutter gewusst. Es wurde einfach nur so hingenommen. Zumal ihre Mutter sehr verschlossen war, was ihre Vergangenheit anging. Als Kind hatte Mariel manches Mal versucht sie ein wenig auszuquetschen, wie das so bei Kindern war, aber Clara hatte alles abgewiegelt und wurde sogar recht zornig, wenn Mariel weiter bohrte. So ließ sie es auf sich beruhen. Im späteren Alter aber machte sie sich so einige Gedanken. Jetzt, wo sie so allein in ihrer Kammer hockte und die vielen Bücher studierte über alte Adelsgeschlechte und Familien mit langer Herkunft. Wie sie so nachdachte, wusste sie gar nichts von ihr. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie ihren Gedanken nachhing,und sie ihr Aussehen infrage stellte. Etwas merkwürdig war es schon, wenn sie ihr Spiegelbild mit dem ihrer Mutter verglich.
Die junge Frau, mit ihren rotbraunen Locken und graublauen Augen war das krasse Gegenteil ihrer Mutter. Clara war einen Kopf kleiner wie sie und hatte schwarze, glatte Haare und braune Augen. Einmal hatte sie ihre Mutter darauf angesprochen und es wurde gleich, damit abgetan das Mariel wohl eher nach ihrem Unbekannten Vater käme. Thema erledigt!
An diesem Tag ging Mariel ihrer Arbeit nach, und als sie nach Hause kam, nahm sie sich einen Eistee und schlüpfte in ein paar bequeme Sachen. Gerade als sie sich auf den Balkon begeben wollte, fiel ihr das Bild von ihrer Mutter ins Auge. Es war irgendwie seltsam. Als wenn sie zwei Augen anstarrten, aber es waren nicht die ihrer Mutter, sondern zwei rote Augen aus dem Anwesen hinter ihr. Das musste eindeutig die Hitze sein, dachte Mariel. Sie rieb sich die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Auf den ersten Blick konnte sie nichts erkennen. Sie nahm den Rahmen ab und ging damit auf den Balkon. Das Haus im Hintergrund war ziemlich verschwommen und nur ein kleiner Giebel war zu erkennen, mit einem kleinen, runden Fenster. Bei der Aufnahme zog eindeutig Nebel über das Land. Am Fuße des Anwesens schloss sich ein kleiner Nebelteppich, nur bei Clara war er nicht mehr.
Diese stand ein paar Meter vom Haus entfernt auf einer weitläufigen Wiese. Ein paar karge Äste hingen im Bild, die eindeutig von einem alten, aber abgestorbenen Baum stammten. War da Staub oder Dreck auf dem Bild? Mariel versuchte leicht über das Bild zu wischen. Es blieb irgendwie schattenhaft. Sicher bildete sie sich das nur ein. Das war doch absurd, dachte sie und legte das Bild auf den kleinen Tisch.
Mariel trank ihren Eistee und wollte das Bild außer Acht lassen, doch etwas ließ ihr keine Ruhe. Gerade als das Licht von einem Winkel her darauf schien, nahm sie es wieder in die Hände. In der Schublade fand sie eine kleine Lupe. Was sie finden wollte, wusste sie nicht, aber es ließ ihr keine Ruhe. Ihre Lupe ging Stück für Stück über das Bild. Sie musste es ins Licht halten. Mariel fing bei ihrer Mutter an und arbeitete sich weiter hoch, zu dem Haus. Manche Stellen waren vergilbt, aber das eigentliche Hauptziel schien noch gut erhalten. Das kleine runde Fenster zog sie magisch an. Ihre Lupe durchforstete Pixel für Pixel. Da war doch etwas. Sie musste genauer hinsehen und bekam binnen Sekunden einen riesigen Schreck.
Da waren zwei kleine Augen, die ihr entgegenstarrten.
Kinderaugen! Das konnte doch nicht wahr sein. Sie schaute noch mal hin. Sie konnte und wollte sich nicht täuschen. Es waren ein paar Kinderaugen. Auf dem Schreck brauchte sie etwas Stärkeres. Sie nahm sich ein Glas Whisky und kippte ihn herunter. Es war nicht so, das sie Angst davor hatte, aber diese Augen hatte sie schon einmal gesehen. Genau dieselben, die sie in ihren Träumen begleiteten. Gerade wollte sie sich diese noch einmal anschauen, als sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Ihre Mutter kam von der Arbeit.
„Oh, hallo Schatz, du bist schon da. Gut, gut. Ich sage dir, Sommer ist eindeutig die Hölle für Krankenschwestern. Puh, war das eine Schicht. So viele Irre hatten wir noch nie. Ich glaube, das liegt auch an dem Vollmond. Hast du schon gegessen?“, Clara packte ihre Tasche in den Schrank und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbaren. Ein Salat war jetzt genau das Richtige. Sie flippte ihre Schuhe in die Ecke und sah ihre Tochter mit dem Glas Whisky.
„Oh, ein bisschen früh. So schlecht war dein Tag, aber du hast recht. Gar keine schlechte Idee.“ Sie nahm sich auch einen Whisky und wollte mit ihrem Teller und Glas auf dem Balkon, als sie ihre Tochter mit dem Bild sah. Mariel wollte Clara gleich darauf ansprechen, aber was war das, als sich ihre Blicke trafen. Sah sie etwa ein zittern bei ihrer Mutter? Diese schien irgendwie die Situation zu überspielen.
„Ach was machst du den mit dem ollen Foto? Das ist doch schon so alt. Du kennst das doch in und auswendig. Also, wie war dein Tag?“, ihre Finger umklammerten das Glas, das ihre Knöchel fast weiß hervortraten. Mariel setzte sich neben ihre Mutter und hielt ihr das Bild mit der Lupe vor die Nase.
„Mom, sieh doch mal. Da oben an dem Fenster. Sieh doch!“
Die junge Frau hielt ihrer Mutter die Lupe hin, diese nahm sie halbherzig in die Hand und sah ganz kurz durch.
„Ja Schatz ein Fenster. Was soll damit sein?“, sie gab ihr die Fotografie wieder zurück.
„Aber nein, sieh doch! Da oben am Fenster, da sind doch Augen. Zwei Kinderaugen. Oh bitte Mom, sieh doch!“ Mariel hielt ihr das Bild nochmals unter die Nase, doch Clara lächelte nur und schob das Papier sanft zur Seite. „Mariel bitte, es ist heiß, du siehst schon Gespenster. Da ist nichts zu sehen.
Komm, lass uns essen. Der Tag war anstrengend genug.“ Sie nahm Mariel das Bild aus der Hand und schob ihr den Salat hin. Dann ging sie kurz in die Küche und holte noch einen Whisky. Für Clara schien die Sache erledigt. Für Mariel war es eher unbefriedigt, aber sie gab vorerst Ruhe. Vielleicht war ihre Mutter ja wirklich zu erledigt und eventuell sah die Sache morgen besser aus.
Die ganze Nacht konnte Mariel kaum ein Auge zutun. Immer wieder verfolgten sie die Augen von dem Foto und unheimliche Stimmen schlichen sich in ihr Gehirn. Sie flüsterten und wisperten. Sie konnte kaum ein Wort verstehen, alles sprach durcheinander. Es schien, als wollte es sie locken.
Nur was?
Der Morgen begann wie fast alle, an denen sie die Träume hatte. Gerädert! Dennoch wollte sie ihre Mutter noch einmal auf das Foto ansprechen. Diese war gerade im Badezimmer.
Mariel suchte das Foto, doch konnte sie es nirgends finden.
Das war zum verrückt werden. Gestern hatte sie es noch gehabt. Sie suchte Schubladen ab, Ecken und Schränke.
Nirgends war es zu sehen.
„Ach ist das herrlich. Nach so einer kalten Dusche fühlt man sich gleich lebendiger.“
„Mom? Hast du das Foto gesehen? Ich kann es nirgends finden.“ Mariel suchte nochmals alles ab. Clara rubbelte sich gerade ihre Haare trocken und sah sie von der Seite an.
„Oh, ach das. Ach das tut mir Leid, als ich es gestern wieder aufhängen wollte ist es mir aus den Händen gerutscht. Ich wollte es gerade noch halten doch sieh nur welch ein Missgeschick.“ Sie hielt ihr die Hand hin, die eindeutig eine kleine Schnittwunde aufwies.
„Das Bild ist dabei leider kaputt gegangen. Es tut mir leid. Ach Schatz, mach nicht so ein Gesicht. Es ist doch nur ein Bild. Die Vergangenheit kann uns keiner nehmen, sie ist tief in uns drin.“
Clara tätschelte Mariel auf die Schulter. Diese stand perplex vor ihr. All die Jahre hatte ihre Mutter an diesem Bild gehangen und jetzt soll es nur Schall und Rauch gewesen sein?
Irgendetwas stimmte hier doch nicht. War es nur so ein Gefühl oder spielten ihr ihre Sinne wirklich einen Streich?
Wahrscheinlich hatte ihre Mutter recht und die ganzen Träume und das Wetter, setzten ihr zu. Was konnte sie jetzt auch anderes tun? Sie musste es dabei belassen.
Die Tage schlichen dahin und keiner der beiden erwähnte auch nur ein Wort über das Bild oder Mariels Träume. An einem schwülen, regnerischen Tag machte sich Mariel fertig für die Arbeit. Clara war schon vor Stunden aus dem Haus gegangen, als es an der Tür klingelte. Ein Postbote stand vor ihr.
„Mariel Wilkott?“, fragte er und hielt einen Umschlag in den Händen. Mariel hatte noch ihren Kaffee in der Hand, als es draußen auch schon anfing zu donnern. Der Bote schaute sich leicht schüttelnd um. Das hatte ihm noch gefehlt. Mariel nickte.
„Verzeihung, aber ich brauche ihren Ausweis. Das ist ein Einschreiben und sie kennen das sicher mit der Vorschrift“, maulte er leicht gereizt beim Anblick des Wetters.
„Oh, oh ja natürlich, Moment!“, grummelte Mariel und setzte ihren Kaffee ab, um nach ihrer Geldbörse zu suchen. Sie kramte in ihrer Tasche und fand sie ganz unten. Mit dem Ausweis, in der Hand ging sie wieder zur Tür, als wieder ein krachender Donner ganz in der Nähe einschlug. Vor Schreck verlor sie den Ausweis der ihr zwischen den Flurschrank rutschte.
„Ach herrje, war das ein Donner. Sie sind auch nicht zu beneiden, bei dem Wetter. Ich hab´s gleich“, stammelte die junge Frau und versuchte mit den Fingern nach dem Papier zu fischen. Der Postbote hatte jegliche Art von trockenen Gängen abgehakt und gab sich seiner Geduld hin. Mariel zog unterdessen ein Fetzen Papier hinter dem Schrank hervor. Es war nicht ihr Ausweis. Ihr staunen war groß als sie ein Stück von dem Foto in den Händen hielt, das ihre Mutter angeblich weggeworfen hatte. Darum musste sie sich später kümmern.
Sie suchte noch einmal, bis sie den Ausweis fand. Diesen gab sie dem Postboten und unterschrieb den Empfang. Wer sollte ausgerechnet ihr ein Einschreiben schicken und dann noch aus … sie musste schlucken, aus England. Was hatte das zu bedeuten? Jemand musste man sie mit ihrer Mutter verwechselt haben. Sie kannte niemanden dort. Es war sehr merkwürdig.
Bevor sie den Brief öffnete, wollte sie noch einmal hinter den Flurschrank blicken. Waren da nur ein paar Restschnipsel? Der Schrank war verdammt schwer. Sie fasste mit den Fingern dahinter und fand noch mehr Schnipsel. Alles in allem, ergaben die Papierfetzen einen Teil des Ganzen. Warum nur hatte ihre Mom diese Fetzen hier versteckt? Das ergab keinen Sinn.
Schnell konzentrierte sie sich auf den Brief. Sollte sie warten bis ihre Mutter wiederkam, oder sollte sie ihn jetzt öffnen? Ach was soll´s, ist immerhin mein Name. Ihre Finger rissen das Papier auf. Schnell überflogen ihre Augen das Dokument und sie musste sich im gleichen Augenblick erstaunt setzen. Das war ein Ding, dachte sie. Mariel konnte kaum glauben, was sie da las. Sollte sie gleich ihre Mutter im Krankenhaus anrufen oder erst zur Arbeit gehen? Ach was, ich gehe erst mal zur Arbeit, vielleicht ist alles ja nur ein Versehen. Das Dokument steckte sie gleich in ihre Tasche.
Den ganzen Tag war sie ziemlich hibbelig und fahrig. Zum Glück war in der Bibliothek heute nicht viel los. Mit einem Kaffee to go, begab sie sich gleich nach Hause und hoffte das ihre Mutter schon da war. Diese saß bereits im Wohnzimmer mit einem Glas Whisky und den Fotoschnipseln.
„Oh gut, du bist schon da. Ich hab dir etwas Wichtiges zu sagen.“ Mariel warf ihre Jacke unachtsam in eine Ecke und kramte in der Tasche nach dem Papier. Clara saß da, wie ein Häufchen Elend mit den Schnipseln in der Hand. Sie hob sie hoch und wollte ihrer Tochter etwas sagen.
„Oh Mom, sieh doch nur.“ Sie hielt ihr den Umschlag hin und sah das Gesicht ihrer Mutter und die Fetzen.
„Oh, ja die habe ich hinter dem Schrank gefunden, aber das ist jetzt unwichtig. Du wirst deine Gründe dafür haben. Sieh dir das Mal an, ich meine die haben sich doch bestimmt mit dem Namen geirrt.“ Mariel wedelte mit dem Umschlag vor ihrer Nase her. Clara verstand nicht ganz. Erst als sie die ersten Zeilen las, wurde sie kreidebleich im Gesicht. Sie überflog die Zeilen immer und immer wieder. Mariel saß neben ihr und nickte.
„Stimmt es? Ich meine haben die wirklich mich gemeint? Ich und ein Erbe. Himmel was soll ich tun? Was meinst du, soll ich hinfahren und sehen, was es ist, oder meinst du, es ist nur eine Ente? Vielleicht ja nur ein klappriges Fahrrad.“ Sie lachte, aber ihrer Mutter war gar nicht zum Lachen zumute. Diese stand auf und horchte dem Wind, der an die Fensterrollladen klapperte.
Ihre Stirn fühlte sich heiß an und sie kühlte sie an der nassen Scheibe. Es hatte alles keinen Sinn. Sie musste Licht ins Dunkle bringen, aber nicht jetzt. Sie war auf einmal schrecklich müde.
„Mariel mein Kind. Bewahre das Schreiben gut auf, ich muss dir etwas sagen. Es wird nicht leicht für dich sein, aber ich hoffe, du wirst es verstehen. Denk jetzt nicht weiter darüber nach. Morgen, wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, setzten wir uns zusammen und reden. Ich verspreche es dir, aber ich bin so müde. So müde ...“, Clara konnte ihrer Tochter kaum in die Augen sehen, doch wenn sie einen Blick riskierte, sah sie pure Verzweiflung. Ihre Mutter sah wirklich elend und erschöpft aus. Am liebsten hätte sie wie ein kleines Kind darauf bestanden das sie es ihr jetzt erzählte, aber morgen war auch noch ein Tag.
„Ja, klar. Kein Problem leg dich nur hin. Ruh dich aus. Soll ich dir noch einen Tee machen?“, Clara verneinte und gab ihrer Tochter einen Kuss.
„Es tut mir Leid“, stammelte sie leicht. Hatte sie etwa Tränen in den Augen? Nein, sie musste sich versehen haben. Mariel sah ihre Mutter nie weinen. Nur jetzt schien sie so zerbrechlich.
Auch die junge Frau zog es vor, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Das Papier immer noch in den Händen. Dort stand nur, dass sie für einen Termin in einer Woche nach Cornwall kommen soll, zwecks einer Erbangelegenheit. Nun, vielleicht war es ja doch von ihren Großeltern oder einer heimlichen Verwandten. Mariel konnte noch so viel grübeln, sie musste abwarten. Noch mehr Kopfzerbrechen aber, machte ihr die Stimmung, ihrer Mutter. So hatte sie Clara noch nie erlebt. Erst das Foto und nun das Dokument. Aber sie hatte Geduld gelernt. Alles würde sich aufklären.
In dieser Nacht schlief sie so gut wie gar nicht. Es waren nicht Träume, die sie quälten, auch wenn sie wieder diese wirren Stimmen hörte. Ein Wispern und Flüstern das sie lockte. Da war noch ein anderes Gefühl. Etwas was sie nicht erklären konnte. Ein Gefühl, das sie irgendwie einengte und ihr fast die Luft abschnürte.
Am nächsten Tag erwachte sie mit fürchterlichen Kopfschmerzen und das Wetter trug auch nicht zum Besten dabei. Die Schwüle war unerträglich. Sie würde bestimmt etwas länger auf ihre Mutter warten müssen. Wahrscheinlich gab es mal wieder viele Leute, die zusammenbrachen, aber auch viele alte Leute. Sie mochte ihre Mutter nicht beneiden, was ihre Arbeit anging. Mit ein paar Aspirin, versuchte Mariel in den Tag zu starten. Sie kam, wahrscheinlich wie die meisten, heute kaum in die Gänge. Auf dem Tisch stand noch eine Flasche Wein, daneben lag ein Zettel mit den Worten.
„Stell die schon mal kalt, die werden wir brauchen. Wenn nicht sogar etwas Stärkeres. Drück dich!“ Ihre Schrift schien zittrig.
Hatte sie es in aller Eile geschrieben, oder ging es ihr noch nicht gut? Ein bisschen sorgte sich Mariel um ihre Mutter. Mit einem unguten Gefühl im Bauch ging sie zur Arbeit.
Heute donnerte es wieder und die Blitze schlugen ein wie bei einem Feuerwerk. Kaum zog ein Blitz vorbei, schlug der Nächste nach. Imposant sah es aus, was der Himmel so von sich gab. Das dürfte heute wieder ein ruhiger Tag werden, dachte Mariel. Bei dem Wetter blieb man lieber zu Hause.
Einmal, als Mariel gerade in der unteren Halle war, um ein paar Bücher einzusortieren, krachte ein donnern in unmittelbarer Nähe ein und das Licht flackerte für ein paar Sekunden. Hier in der Halle, zwischen all den Büchern sah der Blitz schon etwas gespenstisch aus. Was, wenn der Blitz einmal hier einschlagen würde? All die Bücher würden in Schall und Rauch aufgehen.
Gesammelte Werke, teure Sammelbänder und einzelne Exemplare waren für immer dahin. Mariel durfte nicht daran denken. Das war einfach zu schrecklich und tat ihr in der Seele weh. Sie lenkte sich mit ein paar Kinderbüchern ab, die hier noch standen und einsortiert werden mussten. Von oben hörte sie schon die piepsige Stimme von Daisy.
„Na ganz toll, kein Strom. Es hat wohl die Leitung gekappt.
Das war´s dann wohl. Ich hol mir nen Kaffee. Willste auch einen?“, rief sie runter und Mariel zuckte nur die Schultern. Es war, egal ob sie einen wollte oder nicht, sie wusste, Daisy würde trotzdem einen mitbringen. Wenn der Strom hier ausfiel, wurde ein Notaggregat eingeschaltet, damit die Bücher an der Luft zirkulieren konnten. Wenn das den ganzen Tag ginge, könnte Mariel ohnehin gleich Feierabend machen. Also bereitete sie sich vor und sortierte die letzten Bücher ein. Kurz bevor sie ausstempeln wollte, flackerte das Licht wieder und siehe da es ging wieder an. Mariel war das egal, sie hatte sowieso gleich Feierabend. Das, dass Telefon die ganze Zeit klingelte, hörte sie, aber sie wollte es übergehen. Sicher wieder einer derjenigen, die noch kurz vor Schluss einen elend langen Vortrag halten musste. Gott Lob, ging noch Daisy ran. Sie hörte sie immer wieder sagen. „Ja? Ja ich verstehe. Nein, kein Problem. Mach ich sofort. Ja, ja danke.“ Na, da hatte die Gute aber Glück, dachte Mariel und machte sich auf den Weg. Eilige Schritte kamen die lange Wendeltreppe herunter. Ein leichtes Schnaufen begleitete sie und das knacken von nervösen Fingern. Die große Schwingtür war zum Greifen nahe und Mariel hatte schon eine Klinke in der Hand, als Daisy herunterrief und dabei fast rannte, was bei ihr selten vorkam.
Oh nein, dachte Mariel. Sie wollte sie doch nicht wieder zu einem dieser Clubabenden einladen? Darauf hatte sie wirklich keine Lust. Sie tat so, als hätte sie die andere Frau nicht gehört und winkte zum Abschied. Erst als Daisy schrill hinter ihr herrief wurde sie leicht stutzig. Wie eine Einladung sollte sich das nun wirklich nicht anhören.
„WARTE! Es ist etwas passiert. Bitte Mariel, warte!“ Sie sprintete, so schnell es ging, die Treppe herunter durch den langen Flur, die Halle entlang. Ihre Finger verhaspelten sich und sie nagte an ihrer Unterlippe. Als sie vor ihr stand, musste sie erst mal zu Atem kommen.
„Also Daisy, was kann denn jetzt noch so wichtig sein. Ich muss nach Hause. Ich habe Wichtiges mit meiner Mutter zu bereden.“ Warum erzähl ich ihr überhaupt davon, dachte sie, aber es war jetzt raus gerutscht. Doch Daisy bekam große Augen und nickte.
„Ihre Mutter … “, japste sie. „Ja, mit meiner Mutter“, erwiderte Mariel genervt, doch die andere Frau schüttelte nur den Kopf.
Sie atmete einmal tief durch, dann sah sie die andere an und sagte fast schon weinerlich.
„Das war gerade das Krankenhaus. Deine Mutter, sie ist zusammengebrochen. Es sieht nicht gut aus. Du sollst sofort ins Krankenhaus kommen. Es tut mir leid.“ Daisy nagte an ihrer Lippe und verschränkte die Arme. Mariel wurde leichenblass. Das konnte doch nicht wahr sein. Heute war einer dieser schicksalshaften Tage, dachte sie. Eine innere Stimme rief leise nach ihr. Und sie bekam eine Gänsehaut. „Komm!
Komm zu mir!“, flüsterte sie. Es war nicht die Stimme selbst, die sie so erzittern ließ, etwas stimmte damit nicht. Sie klang so … ja so, irre, als sei das Wesen, welches die Worte sagte, vollkommen vom Wahnsinn getrieben. Mariel musste sich konzentrieren. Es ging jetzt um ihre Mutter und es brachte nichts, wenn sie jetzt auch noch durchdrehen würde. Das Wetter buhlte mit ihr um die Wette. Das Donnern hatte etwas nachgelassen, dafür rauschte der Regen in Bindfäden zu Sturzbächen den Weg herab. Kaum jemand der sich noch auf den Straßen aufhielt und dennoch war da irgendwie eine Art Schatten, der sie zu beobachten schien. Wahrscheinlich war sie auch einfach nur zu hypersensibilisiert. Das lag wohl eher an ihren Kopfschmerzen und der derzeitigen Situation. Ihre Gedanken rasten. Sie musste jetzt die Nerven behalten. Gab es denn hier niemanden der ein Taxi brauchte, außer ihr? Es war wie verhext. Am Tage und in der Nacht tobte diese Stadt vor Leben und jetzt war ausgerechnet diese Straße wie ausgestorben. Ach was, dachte sie, dann lauf ich eben bis zur Klinik. Ohne darauf zu Achten wie Nass sie dort ankam, rannte sie einfach drauf los. Sie achtete nicht auf Wege oder Menschen, die ihr schnell aus dem Weg gingen. Auf dem Bürgersteig kam ihr ein Mann mit einem kleinen Dackel entgegen, der sie hysterisch anbellte, als sie an ihm vorbeirauschte. Im Hintergrund, hörte sie noch, das leise fluchen des Besitzers, doch darum konnte sie sich nicht kümmern. Sie lief um Ecken, rannte über Straßen, durchquerte kleine Tunnel und hatte stets ihr Ziel vor Augen. Sie konnte mittlerweile nicht mehr sagen, ob ihre Augen nass vom Regen waren oder doch von Tränen. Sie war zu aufgewühlt. Mariel rannte und rannte, bis sie endlich die Türen der Klinik sah. Die Vorhalle war gefüllt mit Menschen, sei es um Schutz vor dem Wetter zu suchen oder aber um leichte und große Wunden verarzten zu lassen. Natürlich waren auch Kreaturen dabei die leider, nun, wie soll man sagen, zu tief ins Glas geschaut hatten. Es war seltsam hier in diesem Gebäude zu sein. Seit ihrer Ankunft hatte sie ihre Mutter noch nie im Krankenhaus besucht. Wenn sie so nachdachte, war das in allen Städten so.
Noch nie sah sie wirklich die Arbeitsstädte ihrer Mutter. Sie lief die Treppen hinauf ohne zu wissen, wo sie überhaupt hin musste. Alle liefen geschäftig herum. Schwestern, die mit Spritzen hantierten, Ärzte, die gewichtig mit Klemmbrettern und Notizen herumliefen, oder mit ihren Stethoskopen über den Kopf, in Richtung Notaufnahme rannten. Andere die hastig am Handy tippten und wiederum Andere, die wie sie, Hilfe suchten. Instinktiv lief Mariel zu der Intensivstation. Wieso auch immer, wusste sie nicht, nur die Stimme von Daisy blieb ihr noch im Kopf, die ihr sagte: „Es steht nicht gut um Sie.“
Das musste doch bedeuten, das eine Person die, sagen wir mal, zwischen Leben und Tod, schwebte, auf der Intensivstation lag. Mariel musste nur den Hinweisschildern folgen. Sie ging Stufe für Stufe höher, bis sie vor der Milchglastür stand. Zitternd drückte sie die Klinke herunter und trat in den Vorraum. Dort stand sie wieder vor verschlossenen Türen mit einer Klingel daran und einem Hinweisschild. „Um unsere Patienten nicht unnötig zu belasten, bitten wir Sie nur einzeln einzutreten und nur auf engste Verwandte zu beschränken. Bitte haben Sie dafür Verständnis!“ Mariel zögerte. Sie merkte gar nicht wie sie eine Pfütze hinterließ. Ein Leises, aber leicht Beruhigendes plätschern rann ihre Hose herunter. Die Haare lagen klatschnass an ihrer Stirn und auch ihre Tasche tropfte. Mariel streckte gerade ihren Finger aus um zu klingeln, als plötzlich die Tür aufschwang. Ein Arzt mittleren Alters kam gerade heraus mit ein paar Ampullen. Er stieß fast mit Mariel zusammen und wollte schon weiter gehen, als er sich wieder umdrehte.