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Er ist der Schwarze Magier, sie eine Verräterin ...
Ryiahs Welt wurde für immer zerstört an jenem Tag, als König Blayne von Jerar sein wahres Gesicht zeigte. Nun zählt nur noch eines: die Rebellen zu unterstützen, ihre Familie zu schützen und den König zu Fall zu bringen. Selbst wenn das bedeutet, den mächtigsten Magier des Landes zu hintergehen, der geschworen hat, die Krone zu verteidigen und die Rebellen zu zerstören – Prinz Darren, der Bruder des Königs und Ryiahs Mann ...
Der finale Kampf dieser Enemies-to-Lovers-Romantasy wird alles entscheiden.
Alle Bände der »Magic Academy«–Reihe:
Das erste Jahr (Band 1)
Die Prüfung (Band 2)
Die Kandidatin (Band 3)
Der letzte Kampf (Band 4)
Der dunkle Prinz (Prequel, nur als E-Book verfügbar)
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Seitenzahl: 617
Rachel E. Carter
MAGIC ACADEMY
Der letzte Kampf
Aus dem Englischenvon Eva Hierteis
Foto: © Luminis Studio 2017
DIE AUTORIN
Rachel E. Carter ist die USA-Today-Bestsellerautorin der Fantasy-Jugendbuchserie Magic Academy über Magie, Machtkämpfe und eine große Liebe. Kaffee zu horten, gehört ebenso zu ihren Leidenschaften wie böse Jungs und Helden vom Typ Mr Darcy.
Mehr über die Autorin unter rachelecarter.com
Von Rachel E. Carter sind außerdem bei cbt erschienen:
Magic Academy – Das erste Jahr (31170)
Magic Academy – Die Prüfung (31171)
Magic Academy – Die Kandidatin (31245)
Magic Academy – Der dunkle Prinz (22572)
Mehr zu cbj/cbt auf Instagram unter @hey_reader
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Deutsche Erstausgabe Mai 2019
© 2016 by Rachel Carter
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Last Stand. The Black Mage Book Four«.
© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Aus dem Englischen von Eva Hierteis
Lektorat: Catherine Beck
Covergestaltung: Isabell Hirtz
he ∙ Herstellung: eR
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-22574-2V004
www.cbj-verlag.de
Für Craig,
weil du so viel mehr bist als nur eine Erinnerung.
Du hattest eine innere Wärme, die den meisten von uns abhandenkommt, wenn sie älter werden. Du warst das Licht, das uns eigentlich gar nicht zustand, die Sorte Held, die es sonst nur in Büchern gibt. Du hast in allem nur das Schöne gesehen und immer an das Gute in uns geglaubt.
Die Welt hat dich nicht verdient, aber du die Welt.
Du hast mir einmal erzählt, wie schrecklich du die Vorstellung findest, verbrannt zu werden. Weil man doch einen Ort braucht, an dem man das Andenken an die geliebte Person hegen und pflegen kann, damit sie mit der Zeit nicht in Vergessenheit gerät. Deine Eltern haben dir einen wunderschönen Grabstein anfertigen lassen und dieses Buch hier ist meine ganz spezielle Gedenktafel für dich. Mit dieser Widmung möchte ich dir ein Stück Ewigkeit schenken und der Welt sagen, was für einen wundervollen Menschen sie verloren hat.
Neun Jahre habe ich darauf gewartet, deinen Namen zu schreiben. Craig LeAron Cagley Short, dieses Buch ist für dich, denn wenn jemand ein Happy End verdient hat, dann du.
In memoriam, Craig LeAron Cagley Short (1987–2007)
Eigentlich hätte es der schönste Tag meines Lebens sein sollen.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Laute Hochrufe, donnernder Applaus, ja sogar hysterisches Schluchzen brandete auf, als Jerars bedeutendste Adelshäuser uns zujubelten – nicht zuletzt, weil sie glaubten, dass unsere Vermählung sie vor der Tyrannei der Caltothen bewahren würde.
Hätten sie doch nur geahnt, dass das alles eine einzige große Lüge war!
Ich rang mir ein zittriges Lächeln ab, während mein Herz in meiner Brust flatterte wie ein verängstigter kleiner Vogel. Über das schmale Podium hinweg, auf dem wir standen, trafen sich Darrens und meine Blicke, und dieser kurze Moment gab mir neue Kraft, um diese Farce hier irgendwie durchzustehen. Als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, erschienen winzige Lachfältchen um seine Augen. Bestimmt dachte er, es läge an der Krone aus Hämatit, die der Priester mir gerade aufs Haupt gesetzt hatte.
Der Prinz hatte keinen Grund, mehr hinter meiner Anspannung zu vermuten. Er streckte die Hand aus und zog mich langsam am Ellbogen zu sich, bis wir dicht an dicht standen. Dann sah er mir tief in die Augen und hob mit der anderen Hand mein zitterndes Kinn an.
Unter seinen schwieligen Fingerspitzen brannte meine Haut. Ob ich nun wollte oder nicht – ich fing jedes Mal Feuer, wenn er mich berührte.
Sein warmer Atem streifte mein Ohr, als er sich zu mir herunterbeugte und mir zuflüsterte: »Und jetzt werde ich meine wunderschöne Braut küssen.«
Schon lag sein Mund auf meinem. Er schmeckte nach heißem Zimt und Gewürznelken, und für einen Moment, nur einen kurzen Moment, vergaß ich es. Und das Mädchen schmiegte sich in die Arme des Prinzen, erwiderte seinen Kuss, ließ sich von der allgemeinen Euphorie anstecken und errötete heftig, während er sie so ausführlich küsste, dass die Menge ein zweites Mal Beifall klatschte.
Sie war glücklich. In diesem wundervollen, perfekten Augenblick war sie einfach nur glücklich. Es war wie im Märchen. Sie hatte den Jungen, den sie liebte, und mehr brauchte sie nicht.
Hunderte Blütenblätter regneten auf sie herab.
»Lang lebe die Krone!«
Doch als die Rufe ertönten, war das Mädchen schlagartig verschwunden. Der schöne Traum löste sich in Luft auf und das Hochgefühl wich Scham, Schuldgefühlen, Selbsthass, Selbstgeißelung.
Glasscherben zerschnitten mich von innen und ich taumelte zurück und verlor das Gleichgewicht.
Ich konnte nicht so tun, als wäre alles in bester Ordnung. Nicht vor dem Hintergrund, dass unsere Zukunft nichts als ein Netz aus Lügen wäre und dass er mich nie wieder so ansehen würde, wenn er erst einmal die Wahrheit erfuhr.
»Vorsicht, liebe Schwägerin …« Eisige Finger packten mich in letzter Sekunde am Handgelenk und bewahrten mich davor, vom Podium zu fallen.
Es kostete mich unglaubliche Anstrengung, ruhig zu bleiben und nicht meinen Arm wegzureißen, wo doch alles in mir schrie. Er. Ausgerechnet er.
Der König von Jerar. Der kleine Junge, dessen schreckliche Kindheit ihn zu einem Monster gemacht hatte.
Meine Hände bebten. Rasender Zorn brodelte in mir hoch und drohte, jede Sekunde aus mir herauszubrechen.
»Ryiah?« Darrens Stimme fing mich gerade noch rechtzeitig ein.
Der König von Jerar stieß ein Lachen aus und schob mich zurück aufs Podest, während ich noch immer zitterte und mir das Blut in den Ohren rauschte. »Steht wahrscheinlich ein wenig unter Schock. Immerhin ist sie gerade Prinzessin von Jerar geworden, Bruderherz. Was soll man da auch anderes erwarten?«
Ich bekam kaum mit, wie Darren mir die Hand um die Taille legte und mir die Stufen hinunterhalf.
»Ich weiß, das ist alles ein bisschen viel«, flüsterte er mir zu, und seine Worte holten mich zurück und bahnten sich einen Weg durch die eisernen Ketten, die sich kalt um meine Brust gelegt hatten und mir die Luft abschnürten. »Tut mir leid.«
Ich wollte ihm sagen, dass es mir auch leidtat, doch mein Mund war staubtrocken.
Ich sah nur den leblosen Körper meines kleinen Bruders vor mir, wie er auf dem kalten Marmorboden lag, und Alex’ Gesicht, als ich ihm erzählte, dass Derrick tot war.
Die lautstarke Verkündigung des Priesters riss mich aus meinen Gedanken: »Hier kommen der Kronprinz und die Prinzessin von Jerar, in der Ehe verbunden als Mann und Frau.«
Ich zwang mich zu atmen. Zu schlucken. Und einen Fuß vor den anderen zu setzen, als Darren und ich den Zeremoniensaal durchquerten.
Eigentlich sollte es wie im Märchen sein.
Doch wir würden nicht glücklich bis ans Ende unserer Tage miteinander leben.
Als die königliche Kutsche unter lautem Jubel durch die Straßen von Devon fuhr, gab ich mir Mühe, wie Darren und Blayne huldvoll zu lächeln und allen zuzunicken. Es war Dank und Versprechen zugleich. Das las ich in den vielen Hundert erwartungsvollen Gesichtern, die sich auf den Gassen und in den Läden drängten. So viele Menschen überall, die winkten und Reis warfen und uns Glück wünschten. Ihre Hoffnung war ansteckend. Sogar in den Mienen derer, die sich hinter ihren dreckigen Fenstern verschanzten, konnte ich sie leuchten sehen, trotz der Sorgenfalten, die sich tief in ihre Gesichter eingegraben hatten. Für sie waren wir das Licht am Ende des Tunnels. Der Silberstreif am Horizont.
In dem Glauben, die Krone würde sie retten, legten sie ihr Schicksal vertrauensvoll in deren Hände.
Man konnte sie nicht einfach als Narren abtun. Noch vor wenigen Stunden hatte ich wie sie alle meine Hoffnungen auf die Königsfamilie gesetzt.
Und jetzt ist nichts mehr wie zuvor.
Darren bemerkte meinen finsteren Blick und drückte meine Hand, wobei er den Grund für mein Unbehagen falsch deutete. »Deine Eltern wären bestimmt gekommen, wenn sie es irgendwie hätten einrichten können.«
Ich sah auf unsere verschränkten Finger hinunter und schluckte. Ich musste etwas sagen, irgendetwas, sonst würde er sich noch mehr Sorgen machen.
Hastig fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und räusperte mich. »Es … es hätte ihnen zu sehr zugesetzt.« Es zählte nicht, dass es die Hochzeit ihrer einzigen Tochter war, die noch dazu den Kronprinzen von Jerar heiratete. Nach Derricks Tod weigerten sie sich, jemals wieder einen Fuß auf den Boden der Stadt zu setzen, wo ihr Jüngster an den Dachsparren des Palasts aufgeknüpft und vor aller Augen als Verräter gebrandmarkt worden war.
Meine Eltern hatten mir zwar keine Vorwürfe gemacht, doch ich hatte es in ihren Augen gesehen. Ihr Jüngster war tot und ich hätte ihn retten müssen. Egal, wie.
Womit sie nicht unrecht hatten.
Aber wie hätte ich das wissen sollen? Nicht einmal Derrick hatte geahnt, wie niederträchtig die Krone war.
Und ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, den Jungen zu verteidigen, den ich liebte, dass ich irgendwie vergessen hatte, seinen Bruder im Auge zu behalten. Warum auch? Blayne hatte seine Rolle hervorragend gespielt. So gut, dass es ihm nach all den Jahren, in denen er seine Grausamkeit nicht zuletzt mir gegenüber mehrmals eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, dennoch gelungen war, mir vorzumachen, dass noch etwas von dem traurigen kleinen Jungen von einst in ihm steckte. Ich hatte ihm tatsächlich abgenommen, dass er nicht gänzlich verderbt war. Dass seine tragische Kindheit ihn zwar hart gemacht hatte, doch dass tief in ihm drin immer noch ein wenig Menschlichkeit schlummerte. Güte. Reue. Dass er besser wäre als sein tyrannischer Vater.
Das war ein schwerer Fehler gewesen. Die Kinder waren zwar beide in Finsternis aufgewachsen, doch nur einer hatte unter der rauen Schale einen weichen Kern.
Während ich meine Sitzposition ein wenig änderte, verrutschten die gelben Seidenrüschen meines Kleids, und ich betete, dass Darren die kleinen roten Flecken dazwischen nicht bemerkte – mein Blut, das vor nicht einmal einer Stunde daraufgetropft war.
»Wenn du möchtest, dann können wir sie auf dem Weg besuchen.«
Ich schluckte, weil mein Mund noch immer wie ausgedörrt war. »Das wäre schön.«
Blayne hatte uns damit beauftragt, Jagd auf die Rebellen zu machen, sobald die einwöchigen Feierlichkeiten vorüber waren. Darrens Entscheidung, die Suche im Norden zu starten, kam nicht überraschend. Er dachte schon seit Wochen darüber nach.
Der ehemalige Schwarze Magier Marius hatte in den letzten zehn Jahren seiner Amtszeit bereits intensiv den Süden durchkämmt, was damals auch sinnvoll gewesen war, da alle Attacken und Sabotageakte tief im Süden von Jerar stattgefunden hatten – vor allem in der Roten Wüste, Port Cyri und bei den Salzminen von Mahj. Immer dort, wo gerade größere Warentransporte anstanden. Deshalb erschien es nur logisch, dass die Rebellen auch dort in der Nähe ihren Unterschlupf hatten.
Dummerweise hatte der neue Schwarze Magier seine ganz eigene Theorie darüber entwickelt, warum die Rebellen nie ausfindig gemacht worden waren – eine Theorie, die ihn schließlich nach Ferren’s Keep und zu meinem Zwillingsbruder und seinen Freunden führen würde.
Zu den Rebellen.
Panik schnürte mir die Kehle zu, ich rang nach Atem.
Meine Aufgabe bestand nun darin, Darren in die Irre zu führen. Auch wenn mir vollkommen klar war, dass dieses Täuschungsmanöver mich am Ende seine Liebe kosten würde, war es die einzige Möglichkeit. Ich hatte gesehen, wie nahe er und Blayne sich standen. Sogar jetzt, während unserer Prozession durch die Stadt, rissen die beiden hübschen Kerle Witze und merkten dabei gar nicht, dass dem Mädchen neben ihnen das Herz blutete.
Außerdem war ich vor gerade einmal zwei Monaten selbst vor die Wahl gestellt worden, mich zwischen Derrick und dem, was ich für richtig hielt, zu entscheiden … und hatte mich auf die Seite meines Bruders geschlagen, auch wenn es am Ende keinen Unterschied gemacht hatte. Ich hatte zu lange gezögert und zwar, ehe ich den schändlichen Machenschaften des Königs auf die Schliche gekommen war.
Damals hatte ich noch geglaubt, mein kleiner Bruder wäre ein Lügner und Verräter. Mir war klar gewesen, dass sein Spionageakt Hunderte Menschen – oder womöglich noch mehr – das Leben kosten könnte, wenn er entkam, und dennoch war ich in letzter Konsequenz bereit gewesen, sie zu opfern, um meinen Bruder vor dem Galgen zu bewahren. Und ich wusste, Darren würde es nicht anders machen.
Man konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, wenn er für Blayne denselben Fehler begehen würde. Durch jahrelange Misshandlung hatte Darrens Vater seinen Zweitgeborenen zum Beschützer seines Bruder erzogen, und wenn man jemanden so viele Jahre in der Opferrolle erlebt hatte, wurde es einem unmöglich, denjenigen mit anderen Augen zu betrachten, geschweige denn als Täter. Trotz allem, was Blayne sich zuschulden hatte kommen lassen – nachdem er beinahe meine beste Freundin vergewaltigt und mich während der gesamten Ausbildung schikaniert hatte, als er noch dachte, ich wäre nur ein armseliges kleines Bauernmädchen, mit dem sein Bruder zum Zeitvertreib spielte –, hatte sogar ich noch Mitleid mit dem Thronfolger gehabt!
Außerdem gab es Dinge, bei denen man nicht vor die Wahl gestellt werden sollte, und das hatte ich auch nicht vor. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass Darren sich falsch entschied, auch wenn das vielleicht egoistisch erschien. Denn falls er zuerst zu seinem Bruder ging, um ihm die Chance zu geben, sich zu erklären, würde Blayne, noch ehe Darren sichs versah, die Welt in Flammen aufgehen lassen – und gegen die Armee eines Königs konnten auch die zwei mächtigsten Magier der Welt nichts ausrichten. Im Handumdrehen würde alles in Schutt und Asche liegen und die Rebellen würden im Morgengrauen hingerichtet.
Ich natürlich nicht. Dazu war Blayne zu raffiniert, zu berechnend. Obwohl er mich von Anfang an gehasst hatte, hatte er mich in seine Pläne einbezogen. So krank im Kopf er auch war, sein Bruder lag ihm sehr am Herzen, und er wollte sich nicht mit ihm überwerfen. Also würde der König mich in einer Zelle verrotten lassen, bis es ihm endlich gelungen wäre, Darren gegen mich aufzuhetzen. Bis Darren sich von mir abwandte. Dann erst würde er mich töten lassen.
Und danach würde der König in den Krieg ziehen – ein sinnloser und verlustreicher Krieg, auf den sein Vater schon unzählige Jahre hingearbeitet hatte und der Teil eines ausgeklügelten Plans war, der Jerar als das Opfer caltoth’scher Aggression darstellte. Die anderen beiden Länder, die mit Jerar und Caltoth im sogenannten Großen Kompromiss einen Nichtangriffspakt geschlossen hatten, würden mit König Horrace brechen und Jerar unterstützen, das schließlich als das Land mit der größten Armee und als die reichste Nation aus den Kriegswirren hervorgehen würde.
Nein, solange ich keine eindeutigen Beweise sowie die Unterstützung der anderen Staaten hatte, konnte ich nicht mit Darren reden, denn momentan waren das nichts als wilde Unterstellungen einer Wahnsinnigen.
Darren hatte das kleine Mädchen auf der Tribüne bei der Kandidatur nicht einmal gesehen. Er wäre nicht in der Lage, ihr Gesicht mit der Edelfrau und ihrer Tochter in Verbindung zu bringen, die wir vor Jahren auf einer Mission in Caltoth entführt hatten. Die Erpressung von Lord Tyrus und die Morde bei der Siegeszeremonie waren ebenso Teil der Intrige wie auch die Verleumdung von König Horrace. Und das alles nur, um sich die Unterstützung zweier skeptischer Nationen zu sichern.
So wie die Dinge jetzt standen, würde Darren nur ein Mädchen niederer Herkunft sehen, das Lucius und Blayne noch nie hatten leiden können, ein Mädchen, das seinen jüngeren Bruder verloren hatte und nun mit allen Mitteln versuchte, dessen Namen reinzuwaschen.
Und selbst wenn er tiefer blicken würde, durfte ich nicht riskieren, dass er sich trotzdem auf die falsche Seite schlug.
Ich selbst hatte vor zwei Monaten eine Fehlentscheidung getroffen. Wieso sollte Darren das nicht auch passieren? Es standen zu viele Menschenleben auf dem Spiel. Das hier war größer als wir beide, hier ging es um die ganze Welt.
Und falls er mir meinen Vertrauensbruch nicht vergeben könnte, dann … tja, dann war das eben der Preis, den ich dafür zahlen musste.
Eine unsichtbare Hand drückte mir die Kehle zu. Ich wusste, dass ich das Richtige tat, doch es fühlte sich so unglaublich falsch an. Wir waren noch keine zwei Stunden vermählt, und ich plante schon, meinen Ehemann zu hintergehen.
»Wenn ihr sowieso in Demsh’aa seid, solltet ihr die Zeit nutzen, die Dorfbewohner zu vernehmen.« Mit einem trägen Lächeln lehnte sich Blayne, der unser Gespräch offenbar belauscht hatte, auf seiner Kutschbank zurück.
Als sich unsere Blicke trafen, zuckte ich zusammen.
»Verzeiht, Ryiah, aber ich bezweifle, dass Ihr bei Eurem letzten Besuch daran gedacht habt, diesbezügliche Nachforschungen anzustellen … damals gab es ja auch dringlichere Angelegenheiten.«
Wie zum Beispiel, meinen Eltern das Herz zu brechen? Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Jüngster tot war? Dabei zuzusehen, wie Alex schrie, dass er nie wieder zurückkäme? Und dann auch noch mit ansehen zu müssen, wie meine beste Freundin meinem Bruder hinterherritt, in dem Wissen, dass die beiden es vielleicht mit dem Leben bezahlen mussten, wenn sie sich den Rebellen anschlossen?
Meine Nägel gruben sich in meine Handflächen, und es kostete mich unglaubliche Kraft, die Fäuste wieder zu lösen.
Eine Sekunde zu spät merkte ich, dass Darren noch immer meine Hand hielt. Er sah mich an, doch seine Augen waren eher traurig.
Mitfühlend drückte er meine Hand und warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu.
»Das reicht, Blayne.«
»Deine Frau ist nicht dumm. Ihr Bruder war ein Verräter, der unser ganzes Königreich in Gefahr gebracht hat. Bestimmt nimmt sie es mir nicht übel, wenn ich mich berechtigterweise frage, ob ihr Dorf den Rebellen möglicherweise als Basis für ihre Anschläge dient, oder, Ryiah? Schließlich haben wir in der Mitte und im Norden nie Ermittlungen angestellt.«
Spiel mit. Das ist jetzt die einzige Möglichkeit, die dir noch bleibt, Derricks Opfer zu honorieren. Wenn du die Karten zu früh auf den Tisch legst, ist das Spiel vorüber, noch ehe es begonnen hat. »Nein.« Ich zwang mich, dem König ins Gesicht zu blicken und ruhig zu atmen. »Natürlich nicht.«
Blayne grinste. »Siehst du? Sogar sie versteht das.«
»Das heißt aber nicht, dass wir darauf herumreiten müssen«, sagte Darren mit leiser, beschwörender Stimme. »Bitte nicht heute Abend.«
Der Blick des jungen Königs huschte von Darren zu mir und er stieß ein ungeduldiges Seufzen aus. »Eines Tages musst du mir erklären, was so besonders an ihr ist.«
Das wirst du in dem Moment wissen, in dem ich dir meine Klinge an die Kehle halte. Nach außen hin schnaubte ich spöttisch, wie Blayne es vermutlich erwartete, war ich doch dafür bekannt, keiner Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Wenn ich jetzt keine Reaktion zeigte, machte ich mich nur verdächtig. »Keine Sorge, Ihr werdet es mit Sicherheit noch vor Jahresablauf herausfinden.«
»Ah.« Der König stieg auf mein Spiel ein, an dem er Gefallen zu finden schien. »Habt Ihr wohl was Größeres in Vorbereitung?«
Zumindest musste ich nicht lügen. »Ach, nur ein Königreich vor dem Verderben bewahren.«
»Vor den Rebellen.« Blaynes Augenbrauen gingen hoch. »Und ich dachte schon, Ihr hättet es auf den niederträchtigen König selbst abgesehen.«
Mein Herz setzte einen Schlag lang aus und alle Farbe wich aus meinem Gesicht.
»König Horrace gehört mir«, unterbrach Darren uns mit harter Stimme. »Wenn es so weit ist, dann werde ich ihn mir nach allem, was er angerichtet hat, vorknöpfen.«
Ich stieß keuchend die Luft aus. Natürlich. Der caltoth’sche König. Der Mann, den Blayne und sein Vater so überzeugend zum Erzfeind aufgebaut hatten.
Einen Moment lang hatte ich schon gedacht, Blayne wüsste Bescheid.
»Nicht, wenn ich ihn als Erste in die Finger bekomme«, preschte ich vor. Gut gemacht, Ryiah. Immer schön antäuschen. Und das Lächeln nicht vergessen.
»Horrace kann sich warm anziehen.« Als die Kutsche anhielt, klopfte sich der junge König ein wenig Staub von den Kleidern und erhob sich. Unsere Fahrt durch Devon war beendet und es war Zeit für den großen Ball im Palast. »Ich habe die zwei blutdurstigsten Magier des Landes an meiner Seite.« Sein Stolz war unüberhörbar. »Der Krieg wird vorbei sein, ehe er richtig begonnen hat.«
Wird er. Aber aus anderen Gründen, als du denkst.
Ich verfolgte ihn mit meinem Blick, als er mir den Rücken zuwandte und beim Aussteigen etwas zu einem Wachmann sagte. Einen Sekundenbruchteil gab ich mich der Vorstellung hin, wie es wohl wäre, es hier und jetzt zu beenden, den König von Jerar kaltblütig hinterrücks abzustechen und alles Weitere einfach auf mich zukommen zu lassen.
Es lag nicht in meiner Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass am Ende alles gut wurde. Blayne war ein Tyrann. Zählte es angesichts all derer, die seinetwegen unschuldig ihr Leben gelassen hatten, überhaupt, ob er am Leben blieb oder starb? Wenn ich ihn beseitigte, täte ich der Welt einen Gefallen. Sollte sich doch jemand anders darüber den Kopf zerbrechen, wie sich alles wieder gerade rücken ließ.
Aber irgendetwas hielt mich davon ab. Schuldgefühle. Und zwar gar nicht unbedingt dem Jungen gegenüber, dem ich das Herz brechen würde.
Von jeher hatte ich davon geträumt, eine Heldin zu sein. Deshalb war ich überhaupt Kriegerin geworden. Ich hatte den Zweig der Kampfmagier gewählt, weil er der berühmteste und berüchtigtste war. Wieder und wieder hatte ich mich für den beschwerlichsten Weg entschieden, denn der genoss nun mal das höchste Ansehen.
Nachdem ich im Zuge der Kandidatur vergangenes Jahr so schrecklich neidisch auf Darren gewesen war, hatte ich inzwischen erkannt, woher mein Antrieb rührte: Ehrgeiz. Natürlich war es mir wichtig, Menschen zu retten, aber ich hatte auch stets von dem gesellschaftlichen Ansehen und dem Status geträumt, den das mit sich brachte – ich wollte mich von den anderen abheben, mir einen Namen machen. Die glorreiche Ryiah auf dem Schlachtfeld, die die Bösewichter nur so niederstreckte und dafür die Anerkennung des Königs und seiner Untertanen erhielt, weil sie ihre Sache so gut machte.
Kampfmagier waren ein ehrgeiziges, eitles Völkchen, und wenn nicht, dann brachten sie es nicht weit. Also hatte ich naives Ding beschlossen, mein Leben lang Ruhm und Ehre hinterherzujagen, und erst die Zeit hatte mir die Augen für die Wahrheit hinter dieser Entscheidung geöffnet.
All diese Soldaten im Wald von Caltoth … die hatte nicht Blayne auf dem Gewissen, sondern ich.
Mir wurde heiß und kalt zugleich und noch dazu schwindelig und ich hielt mich schnell am Haltegriff der Kutsche fest.
Das ging auf mein Konto.
Es tat nichts zur Sache, dass ich auf der Mission unter Magierin Miras Kommando gestanden hatte. Ich hatte Männer getötet, die für eine gerechte Sache gekämpft hatten, und alles nur, weil ich einer Lüge aufgesessen war. Diese Menschen hatte ich auf dem Kerbholz. Es war meine Magie gewesen, die ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Und wie viele meiner Landsleute würden wie ich darunter leiden, nur weil sie sich für eine Laufbahn als Soldat, Ritter oder Magier entschieden hatten?
Ich konnte nicht einfach so die Augen davor verschließen. An meinen Händen klebte Blut. Ihnen und all den anderen, die keine Ahnung hatten, wozu ihr gnadenloser Herrscher fähig war, schuldete ich es, diesem ganzen Grauen irgendwie einen Riegel vorzuschieben, ehe auch sie so viel Schuld auf sich luden wie ich.
Bei meiner Magierweihe hatte ich einen Eid geschworen, diejenigen zu verteidigen, die in Not waren. Jetzt durfte ich nicht den leichtesten Weg gehen, nein, ich musste eine wahre Heldin werden.
Es reichte nicht aus, Blayne einfach nur zu töten, sondern es galt, den Krieg zu verhindern. Zwar gab es keine Garantie, dass Pythus seine Truppen wieder abziehen würde, wenn Blayne tot war, keine Garantie, dass die Wahrheit ohne stichhaltige Beweise ans Licht käme, aber ich musste andere davor bewahren, falsch zu entscheiden, denn das war die einzige Möglichkeit, meine eigenen Fehler wiedergutzumachen.
Die Götter lachten sich bestimmt über mich tot: Du willst dich reinwaschen? Dich selbst erlösen? Eine echte Heldin sein, nicht nur so eine, wie du es dir in deiner grenzenlosen Naivität ausgemalt hast? Ja, du sollst deine Chance bekommen, aber die Sache hat einen Haken: Dafür musst du den Jungen hintergehen, den du liebst, und den Bruder verschonen, der deinen eigenen auf dem Gewissen hat.
Das Schicksal trieb ein grausames Spiel mit mir und brachte mich fast um den Verstand.
»Ryiah?«
Erschrocken blickte ich auf und sah, dass Darren an der Tür auf mich wartete. Sein Blick war weich, ganz ohne die übliche Arroganz und Provokation. Er sah aus wie jemand, der einfach glücklich war.
Wie sehr wünschte ich, das hätte ich auch sein können.
»Bereit, Liebes?«
Ich folgte ihm in den Palast.
Schon immer hatte ich mir erträumt, eine Heldin zu sein. Ich hatte nur nicht geahnt, wie hoch der Preis war, den ich dafür zahlen musste.
Ein ums andere Mal wurde auf dem Ball auf unsere Vermählung angestoßen und auf das Wohl unseres Landes getrunken. Zusammen mit meinem frisch Angetrauten und seinem Bruder, der sich auf dem pompösen Stuhl seines Vaters niedergelassen hatte, saß ich an der Spitze der Tafel, zu unserer Linken folgten die Berater. Die nächsten drei Stunden verbrachte ich damit, ein paar klitzekleine Happen Wildbret hinunterzuwürgen, denn der Appetit war mir schon lange vergangen.
Immer wieder warf mir Darren Blicke zu. Unter dem Tisch wanderte seine Hand zu meinem Knie und er beugte sich nah zu mir. »Bitte iss doch was, Ryiah. Ich kann das gar nicht sehen.«
Damit er sich nicht noch mehr Sorgen machte, zwang ich mich, ein wenig Kohl auf meine Gabel zu spießen und zu kauen. Schließlich musste ich den Anschein erwecken, dass alles in bester Ordnung war. »Mir geht’s gut.«
Darren machte ein finsteres Gesicht. »Ryiah, du kannst mir nichts –«
Seine Worte wurden von einer lauten Stimme übertönt, die sich über die anderen Unterhaltungen erhob.
»Sechs Wochen!« Es war einer der Berater, ein massiger Mann in kostbarer, jedoch zerschlissener boreanischer Seide. Mit jedem Glas Bier war er ungestümer geworden. »Dann stechen vierzig pythische Kriegsschiffe Richtung Jerar in See. Ach, wäre ich doch nur ein Ritter, dann könnte ich diesen caltoth’schen Verrätern höchstpersönlich den Bauch aufschlitzen!«
Sechs Wochen. Ich schluckte schwer.
Darren schien dasselbe zu denken. »Was glaubt Ihr, wie lange sie für die Überfahrt brauchen?«
Unter dem intensiven Blick des Kronprinzen schien der Mann noch zu wachsen und erklärte mit schwerem Zungenschlag: »Einen Monat, Euer Hoheit. Keinen Tag weniger.«
Eine andere Beraterin, eine Frau mit markantem Kinn und schmalen Lippen, stellte ihr Glas mit einem demonstrativen Schnauben ab. »Zwei Wochen, Cletus. Das solltet Ihr doch am allerbesten wissen. Schließlich seid Ihr für den Handel der Krone zuständig.« Ihr Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Oder habt Ihr Eure Zeit nur mit Würfelspielen zugebracht?«
Das Gesicht des Mannes bekam vor Scham rote Flecken. »Wie k-könnt Ihr es w-wagen!«, stammelte er.
»Stimmt das, Cletus?« Die Frage kam mit trügerisch ruhiger Stimme von meinem Tischende. Der Mann hatte die Aufmerksamkeit seines Königs auf sich gezogen, und zwar nicht im positiven Sinne.
Cletus schien zu schrumpfen und zuckte so abrupt auf seinem Stuhl zurück, dass die Holzbeine über die Marmorfliesen schabten. »Möglicherweise, Euer Majestät. Dazu müsste ich erst meine Seekarten und Tabellen zu Rate ziehen …«
»Und dabei entlohne ich Euch so fürstlich, dass Ihr sie eigentlich im Kopf haben solltet.« Die Stimme des jungen Königs war ausdruckslos, jegliche Jovialität wie weggeblasen, stattdessen trat Verachtung an deren Stelle. »Hestia hat recht. Nichtsnutze kann ich an meinem Hof nicht gebrauchen. Wachen, bringt diesen Mann augenblicklich weg.«
»Blayne.« Darrens Stimme war so leise, dass nur ich sie hören konnte. »Ist das wirklich nötig? Er hat zu viel getrunken. Du könntest noch einmal mit ihm reden, wenn er nüchtern ist.«
Der wütende Blick des Königs wanderte zu seinem Bruder und dann zurück zu dem Berater. Seine Stimme wurde eiskalt. »In zwei Monaten ziehen wir in den Krieg. Eure ungenauen Kalkulationen könnten meine Soldaten das Leben kosten. Wenn Ihr Euch noch ein einziges Mal an meinem Hofe blicken lasst, werde ich nicht mehr so viel Gnade walten lassen.«
»Ja, Euer Majestät.« Hastig rappelte der Mann sich mit angestrengtem Keuchen aus seinem Stuhl hoch und drängte sich wankend mit hochroten Wangen an Dienern, Spielleuten und Grüppchen ahnungsloser Höflinge vorbei.
»Tut mir leid, Darren«, sagte Blayne, als die Gespräche am Tisch wieder aufgenommen wurden, »aber das musste sein, zum Wohle Jerars.«
Dagegen konnte und wollte Darren nichts einwenden.
Und genau deshalb habe ich keinen Verdacht geschöpft. Denn wer würde es einem König zur Last legen, dass er zum Wohle seiner Untertanen handelte? Wenn er mit harter Hand regierte, dann nur, weil die Alternative einen noch viel höheren Verlust bedeuten würde.
Nur mit handfesten Beweisen wäre ich in der Lage, seinen Schwindel aufzudecken: dass all das eben nicht notwendig war. Dass die Caltothen ein friedliches Volk waren und nur aufgrund von König Lucius’ Gier und Intrigen unser Volk und die Nachbarstaaten etwas anderes unterstellten.
Ich schob meinen Teller weg.
Hatte ich zuvor schon keinen Appetit gehabt, so wurde mir nun vollends übel angesichts der Lobhudelei, mit der die restlichen Berater das Engagement ihres neuen Königs priesen, dem das Wohl Jerars über alles ging. Es war nicht ihre Schuld. Sie hatten ja keine Ahnung … oder vielleicht doch? Ich fragte mich, ob Lucius abgesehen von seinem Erstgeborenen noch weitere Leute in seine Pläne eingeweiht hatte. Ob Blayne außer Mira, der obersten Magieranführerin seines Regiments, noch jemand anderen ins Vertrauen gezogen hatte. Dass Mira Bescheid wusste, hielt ich jedenfalls für sehr wahrscheinlich, wenn man bedachte, wie schnell sie nach König Lucius’ Ermordung aufgestiegen war – aber gab es noch mehr Mitwisser?
Und dann kam mir ein ganz neuer Gedanke: Wie viele von den Beratern des Königs wussten Bescheid?
Plötzlich begann sich das Zimmer um mich zu drehen und ich sackte gegen die Lehne meines Stuhls. Was, wenn sie alle eingeweiht waren?
»Ryiah?«
Ich hatte die Hochzeitszeremonie durchgestanden, eine zweistündige Prozession durch die Straßen von Devon und die ersten drei Stunden des Balls und mich die ganze Zeit in der Gegenwart dieses Mörders zusammengerissen, was eine fast schon übermenschliche Leistung war. Aber jetzt konnte ich nicht mehr. Ich musste hier weg, wenigstens für ein paar Minuten.
Ich wandte mich an Darren und verschränkte meine Finger mit seinen. »Irgendwie wächst mir das gerade alles ein bisschen über den Kopf.« Das war zumindest nicht gelogen. »Meinst du, es macht deinem Bruder was aus, wenn ich mich mal kurz davonstehle?«
Darren sah mich fest an. »Ich werde dich entschuldigen, und wenn er ein Problem damit hat, soll er es mit mir bereden.«
Es schnürte mir die Kehle zu, und ich musste schnell wegschauen, damit ich nicht vor lauter Scham auf die Knie fiel und ihm mein Herz ausschüttete. In solchen Augenblicken wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich Darren gar nicht verdient hatte. Ich brachte gerade noch ein hastig gemurmeltes »Danke« zustande, ehe ich möglichst unauffällig den Tisch verließ, während sich der König angeregt mit einem hochrangigen Gast unterhielt.
Ohne einen Blick für die farbenfrohen Wandteppiche und vergoldeten Säulen des Palasts irrte ich ziellos durch die Hallen und Gänge. Ich hatte den Prunk so über. Wohin ich auch sah, erhellten Wandleuchter die Räume, dabei sehnte ich mich nach Dunkelheit. Sogar mein Kleid mit seinem cremegelben Rock und dem Mieder, das mit goldenen und orangefarbenen Perlen bestickt war, schimmerte hell. Es war das Schönste, was ich je getragen und auch zu Gesicht bekommen hatte, doch es erinnerte mich ständig daran, was nur wenige Stunden zuvor geschehen war. Wie die Erkenntnis mich wie ein Blitz getroffen hatte, an den Moment, als ich auf einmal Blaynes Intrigenspiel durchschaut hatte.
Zehn Minuten später fand ich mich im Türrahmen meiner Kammer wieder, die im Laufe des Tages von den Dienern zu einem Wohnzimmer umgewandelt worden war.
Meine Eichentruhen und das wunderschöne Kirschbaumbett an der Wand waren verschwunden und hatten einem kleinen Tisch und gepolsterten Bänken Platz gemacht, wo ich mit meinem Mann sitzen konnte. Das Einzige, was geblieben war, war die kleine Nebenkammer mit dem Badezuber und dem Nachttopf.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand und einfach nur schaute. Wieder etwas, das unwiederbringlich vorbei war.
Mit ein klein wenig Magie ließ ich das flackernde Kerzenlicht verlöschen, sodass mich Dunkelheit umfing. Ohne mich umzudrehen, griff ich hinter mich und schloss die Tür. Noch mit der Hand an der Klinke begann meine Brust, sich heftig zu heben und zu senken, und ich ließ die Maske fallen.
Die Minuten verrannen und ich klammerte mich noch immer an der Tür fest. Zehn Minuten? Zwanzig? Eine Stunde? Ich weinte und weinte und verlor jegliches Zeitgefühl. Es war auch egal. Ich befand mich irgendwie außerhalb der Zeit. Hier und da ein paar Minuten für mich allein konnten nicht auffangen, was ich wusste. Sie konnten mir nicht das Gewicht der Welt nehmen, das schwer auf meinen Schultern lastete, und auch nicht die Schuldgefühle, die mich schon jetzt plagten, noch ehe ich Dinge tat, die zwar dem Wohle vieler dienten, aber natürlich auch auf Kosten einiger weniger gingen.
Ich wusste nicht, wie ich den Beweis auftreiben sollte, den mein Bruder nicht gefunden hatte. Ich wusste nicht, ob ich die Rebellen davon überzeugen konnte, dass ich auf ihrer Seite stand, obwohl ich der Krone angehörte. Nicht einmal mein Zwillingsbruder vertraute mir. Und Pythus und die Boreanischen Inseln? Wie in aller Welt sollte ich sie dazu bringen, der Neuen Allianz, dem Vertrag, der mit meiner Vermählung mit Darren nun vollständig in Kraft getreten war, zuwider zu handeln? Wie sollte eine junge Frau einen König und einen Kaiser zweier benachbarter Reiche dazu bewegen, ein Abkommen zu brechen, das sie mit ihrem eigenen Land – dem der jungen Frau – geschlossen hatten? Und selbst wenn ich Beweise in der Hand hatte … würden sie mir Gehör schenken?
Ich hätte meinen Wein trinken sollen, dachte ich. Auch wenn er mir nicht schmeckte, so hätte er doch wenigstens meine Gefühle, allem voran meine Angst, betäubt, und ich hätte das alles für eine Weile verdrängen können. Ich hatte gehofft, ich würde mich im Schutz der Finsternis besser fühlen, ein wenig befreit, doch in gewisser Weise machte das Loslassen es nur noch schlimmer.
Vielleicht würde es sich mit der Zeit nicht mehr ganz so schrecklich anfühlen. Aber genau das hatte ich nicht: Zeit. Die Stunden zerrannen mir zwischen den Fingern, und wenn es stimmte, was die Berater gesagt hatten, dann blieben uns sechs Wochen, bis die Pythier die Segel setzten, und acht Wochen, bis ihre Schiffe an unserer Küste eintrafen. Und nicht lange darauf würden unsere Armeen gemeinsam auf Caltoth vorrücken.
Mein altes Ich sehnte sich zurück in das schattenhafte Zwischenreich, in dem ich nach Derricks Tod wie ein Geist gewandelt war, wollte alles hinwerfen, verzweifeln und die Welt am liebsten nur noch wie durch einen Schleier wahrnehmen.
Aufgeben war so viel leichter, als stark sein.
Später am Abend fand Darren mich mit angezogenen Knien an die Wand meiner alten Kammer gekauert.
Mithilfe seiner Magie entfachte er hastig einige Kerzen in den Wandleuchtern und im nächsten Moment kniete er vor mir und sein Mund öffnete und schloss sich in einer Abfolge von Worten. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich, doch ich brachte ich keinen Ton heraus.
Anscheinend hatte ich geweint, denn er fuhr mir sacht mit dem Daumen über die Wange, und als er ihn zurückzog, stand ihm die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
Ich schämte mich, weil ich gleich am allerersten Tag versagt hatte. Darren hätte meine Tränen niemals sehen sollen.
»Ich hätte deine Tränen nicht sehen sollen?«, fragte er nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und mir wurde bewusst, dass er das wiederholte, was ich offenbar laut ausgesprochen hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
»Warum entschuldigst du dich, Ryiah?«
»Weil …« Meine Stimme brach. Es wäre so einfach gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Weil du noch immer um Derrick trauerst?« Darren schluckte und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. »Weißt du, Derrick war vielleicht ein Verräter, aber er war auch dein Bruder. Bei den Göttern, wenn es Blayne gewesen wäre …«
Er versuchte, mir zu helfen, aber er machte es nur noch schlimmer. Ich wollte mir die Tränen wegwischen, doch er hielt meine Hand fest und nahm sie in seine.
»Bitte«, flüsterte er, »zieh dich nicht vor mir zurück. Nicht so. Ich weiß, dass das kein leichter Tag für dich war, ohne deine Familie und nach allem, was … was passiert ist. Aber du musst da nicht allein durch.«
Er war so gut zu mir. Sein einziger Makel war die Liebe zu seinem Bruder – ein Vergehen, dessen auch ich mich schuldig gemacht hatte.
Ich zwang mich zu nicken und Darren half mir auf.
»Blayne möchte, dass wir zum Ball zurückkommen.« Er sah mich mit seinen granatroten Augen an, während wir auf den Gang traten. »Aber ich schätze, er kann auch mal bei einem feierlichen Anlass ohne den Kronprinzen und die Prinzessin auskommen, was meinst du?«
Eine warme Woge der Erleichterung schlug über mir zusammen, bis ich seine Hand sah, die noch immer auf der Klinke der angrenzenden Kammer ruhte.
Vor ein paar Monaten hätte ich alles darum gegeben, dass es endlich so weit war: nur wir beide – nachdem wir all die Jahre unsere Gefühle so sehr hatten im Zaum halten müssen und sich so viel zwischen uns aufgestaut hatte.
Doch jetzt? Jetzt, da er die Tür öffnete und mich nach drinnen zog und ich die Hitze seiner Finger spürte, die meine eigenen wärmte … jetzt hatte ich nur einen Gedanken, nämlich dass auch das ein Betrug war, der sich nicht mehr rückgängig machen ließ. Eine wunderschöne Erinnerung, die Darren im Nachhinein verfluchen würde. Und so sehr ich ihn auch wollte, so wollte ich doch das hier nicht. Nicht so.
Ich hasste mich selbst für das, was ich gleich tun würde, aber sonst könnte ich mir nie wieder ins Gesicht sehen.
»Darren, ich …« Wie erstarrt blieb ich stehen. »Ich kann das nicht. Mir ist klar, was man von m-mir erwartet …« Meine Stimme war rau, und ich hielt den Blick auf den Boden gesenkt, weil ich mich so entsetzlich schämte. »A-aber es geht nicht.«
»Heute Nacht möchte ich meine Frau einfach festhalten.« Darrens Stimme war ruhig. »Mehr nicht.«
Es brach mir das Herz. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, um es ihm zu erklären. »Es tut –«
»Wenn du noch einmal sagst, dass es dir leidtut, könnte es passieren, dass ich doch noch sauer werde, Liebes.« Darren nahm meine Hand und zog mich vor den perlenbesetzten Spiegel – denselben, der vor der Zeremonie in meiner Kammer gestanden hatte. Mit einer raschen Handbewegung dämpfte er das Licht, dann stellte er sich hinter mich und nahm mich um die Taille, während der Spiegel das Granatrot seiner glühenden Augen reflektierte. »Hier bin ich, ein Mann und ein Prinz. Der Schwarze Magier liegt dir zu Füßen.«
Bei seinen Worten rebellierte mein Magen.
Er hob meine Hand an seine Lippen und drückte einen Kuss darauf, wobei er mich im Spiegel betrachtete. »Als dein Gemahl.«
Seine Hände wanderten zu der Schnürung, die mein Kleid zusammenhielt. Langsam fielen die Bänder zu Boden. Dann folgte das Mieder. Und während mir das Herz bis zum Hals schlug, glitt die gelbe Seide an mir herab und enthüllte kaum mehr als ein hauchdünnes Unterkleid.
Ich spürte, wie er seine Lippen in meinen Nacken presste und die Klammern aus meinen Haaren zog. »Ich werde dich erst dann anrühren«, sagte er, »wenn du es mit jeder Faser willst. Wenn du mich so sehr begehrst, dass du an nichts anderes mehr denken kannst.«
Mir stockte der Atem und tief unten in meinem Bauch wurde es warm.
»Ich gehöre ganz dir.« Vor dem Hintergrund aus Schatten und Licht hielt Darren meinen Blick fest. »Und das wird auch immer so bleiben.«
Seine Finger lösten meine Haare, sodass scharlachrote Locken um mein Gesicht fielen und das Mädchen im Spiegel mit den hellen blaugrauen Augen und dem dünnen weißen Leinenhemdchen aufleuchten ließen. Weich und ein wenig verloren und unschuldig sah ich aus mit meinen leicht rosa angehauchten Wangen.
Alles Lüge. Schon wieder stiegen mir Tränen in die Augen.
»Solange werde ich warten.« Darren ging um mich herum und stellte sich vor den Spiegel, um mir ins Gesicht zu schauen. Was ich sah, raubte mir den Atem. Ich ließ mich von ihm zu dem Himmelbett führen, auf das Blütenblätter gestreut waren. Er nahm mich in die Arme und ich legte den Kopf an seine Schulter.
Es fühlte sich so gut an – das sanfte Heben und Senken seiner Brust, der Duft nach Nelken und Kiefern, den seine Haut verströmte, der warme Zimt in seinem Atem.
Natürlich war es falsch, es zu genießen, in den Armen des Jungen zu liegen, den ich so schwer enttäuschen würde, aber ich war selbstsüchtig. Er war schön und ich schwach.
Ich hatte mir schon so viel versagt und durfte mich nicht noch mehr zurückziehen, wenn ich keinen Verdacht erregen wollte.
Also nahm ich mir begierig das bisschen von Darren, das ich mir zugestehen konnte.
Und so kam es, dass der Prinz mich in unserer ersten Nacht als Mann und Frau eng umschlungen hielt, und ich schmiegte mich an ihn und sagte mir, dass das nicht falsch, sondern notwendig war.
Das Mädchen klammerte sich an den Jungen, um die Dunkelheit in ihrem Herzen zu verjagen. Er war das Licht, wo sie verlosch und von einem Schattenreich verschlungen wurde, und während sie in den Schlaf hinüberglitt, lauschte sie seinem Herzschlag.
Irgendwie, so sagte sie sich, würde sie einen Weg finden, dass alles gut werden würde.
Am nächsten Tag hätte ich laut Protokoll eigentlich von früh bis spät an den Feierlichkeiten der Krone teilnehmen sollen, doch als ich erwachte, hatte Darren seinen Bruder bereits überredet, mir eine weitere kleine Auszeit zu gewähren. Mir war bewusst, dass ich das Verständnis des Königs nicht überstrapazieren durfte und dem Hof nicht ewig aus dem Weg gehen konnte, also schob ich meine Selbstvorwürfe beiseite, sperrte mich in meiner ehemaligen Kammer ein und fertigte Listen an, nur um sie anschließend gleich wieder im Kamin zu verbrennen.
Ich brachte allerhand Pläne zu Papier. Pläne, den Palast von der untersten Bodenfliese bis hin zur obersten Zinne des höchsten Turms auf den Kopf zu stellen, jeden noch so abgelegenen Winkel zu durchstöbern, den mein Bruder möglicherweise übersehen hatte. Pläne, wie ich meine Unterredungen mit den Rebellen geheim halten konnte, wenn ich erst einmal zusammen mit dem Schwarzen Magier, der die Nachforschungen leitete, in Ferren’s Keep war. Und Pläne, wie ich heimlich mit den Pythiern Kontakt aufnehmen konnte.
Doch hinterher war ich so klug wie zuvor.
Am liebsten hätte ich die ganzen Überlegungen in den Wind geschlagen. Das Pläneschmieden raubte mir kostbare Zeit, die ich nicht hatte. Doch ohne eine klare Strategie befürchtete ich, den Schwung und die Tatkraft schnell wieder einzubüßen, die mich gerade eben beflügelten, und wie am Vortag in einer Abwärtsspirale aus Verzweiflung und Mutlosigkeit zu enden, oder schlimmer noch, wie mein Bruder erwischt und in den Kerker geworfen zu werden, ehe ich die Möglichkeit hatte, alles zu erklären.
Ich musste mit Verstand und Bedacht vorgehen, was umso schwerer war, da mir der Kopf nur so schwirrte und alles in mir danach schrie, loszulegen. Die Dinge in Angriff zu nehmen.
Jetzt hieß es stark sein. Auf meinen Schultern lag so viel Verantwortung, dass ich mir keine Fehler erlauben durfte, vor allem nicht jetzt, da ich doch gerade erst ein Mitglied des Königshauses geworden war.
Als Prinzessin von Jerar hatte ich auf einmal Zugang zu Dingen, von denen selbst die einflussreichsten Vertreter meiner Profession nur träumen konnten. Nicht einmal als Magierin ersten Rangs im Dienste des königlichen Regiments und als zweitbeste Kriegsmagierin des Landes hatte ich an den Besprechungen der Krone teilnehmen dürfen, doch als Prinzessin schon. Nur Mitglieder der Krone, der Kommandant der königlichen Armee und der Magische Rat waren dazu befugt.
Bislang war ich bei diesen Sitzungen nie dabei gewesen, und da Darren auch dafür zuständig war, den bevorstehenden Kampfeinsatz der Kriegsmagier vorzubereiten, hatte ich ziemlich viel nicht mitbekommen. Bei diesen Treffen wurde die Kriegsstrategie besprochen und es wurden Schlachtpläne festgelegt bis hinunter zur Ebene der einzelnen Stadtregimenter.
Nun, da ich der Krone angehörte, hatte ich die Möglichkeit, direkt Einfluss darauf zu nehmen, und käme zudem an Informationen, auf die die Rebellen sonst keinerlei Zugriff hätten. Darren Löcher in den Bauch zu fragen, war auf Dauer zu auffällig, selbst als seine Frau und Mitstreiterin, aber bei Ratsversammlungen die Ohren aufzusperren und begierig jede Kleinigkeit aufzusaugen, nicht.
Ich muss sie irgendwie dazu bringen, noch eine Sitzung anzuberaumen, und zwar bevor Darren und ich nächste Woche nach Ferren’s Keep aufbrechen.
Das war vielleicht meine einzige Chance, wertvolle Informationen für die Rebellen zu beschaffen, und ich musste jede sich bietende Gelegenheit nutzen.
So gern ich sofort losgelegt hätte, meine Durchsuchungsaktion musste warten. Ich sprang auf und warf mir so schwungvoll meinen Umhang über, dass ein paar lose Blätter vom Tisch segelten. Im Vergleich zum Vortag waren die Temperaturen rapide gesunken, doch die Hofetikette schrieb nun einmal vor, dass ich bei allen feierlichen Anlässen ein Kleid tragen musste, auch wenn es im Palast eiskalt war und der Winter mit Riesenschritten herankam.
Wenn Ella jetzt da wäre, würde sie fluchen wie ein Waschweib. Sie hasste die Kälte.
Unwillkürlich biss ich die Zähne zusammen. Ich vermisste meine beste Freundin, die mit meinem Bruder im Hauptquartier der Rebellen war, genau dort, wo Darren Ermittlungen anstellen sollte.
Mist, Mist, Mist! Ich schlug die Tür meiner Kammer hinter mir zu. Ich durfte nicht an Ella, Alex, Ian oder sonst einen von ihnen denken, sondern musste mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Auf das, was ich beeinflussen konnte, und das war das Ratstreffen.
»Auf keinen Fall.«
»Mira.« Darrens warnendes Knurren brachte die oberste Magierin des königlichen Regiments augenblicklich zum Verstummen, änderte jedoch nichts an den wütenden Blicken, mit denen sie mich bedachte.
Ich war an sich kein aggressiver Mensch, und umso mehr musste ich meine Feindseligkeit so manchen hier gegenüber gut verbergen, aber Mira und ich waren uns von Anfang an nicht grün gewesen. Insofern war sie der einzige Mensch, bei dem ich meine Abneigung ganz offen zeigen durfte.
Wir kannten uns von früher und das wusste die Krone auch. Als ich an ihr vorüberging, rempelte ich sie mit der Schulter an und würzte das Ganze noch mit einer Prise Magie, sodass sie mit dem Rücken gegen die Wand knallte. Das Knirschen ihres Kettenhemds auf dem Stein gab mir irgendwie was.
Das war für Derrick, du blutrünstige Hexe.
Ich tat so, als hätte ich ihr Fauchen nicht gehört, und betrat die Kronkammer. Blayne, Kommandant Audric und die anderen beiden Ratsmitglieder waren bereits da.
Hinter mir schnappte Mira wütend nach Luft und ich schlug ihr schnell die Tür vor der Nase zu.
Insgeheim gefiel es mir sogar ein bisschen, dass sie recht hatte – ich war ja tatsächlich eine Verräterin. Aber nicht einmal Blayne schenkte ihr Glauben, weil sie ihr Misstrauen mir gegenüber zu früh herausposaunt hatte.
Genau genommen hatte sie mich vom ersten Moment an nicht leiden können, und zwar seit ich mich auf dieser Mission in Caltoth während meiner Ausbildung ihrem Befehl widersetzt hatte, und diese Abneigung hatte sich noch verstärkt, seit sie am Hofe residierte und meinen Bruder verhört hatte.
Ich konnte es kaum erwarten, bis ich die üblen Machenschaften Blaynes und seiner getreuen rechten Hand endlich vor aller Welt enthüllen konnte.
»War das wirklich nötig?«, fragte Darren mit leiser Stimme.
Gespielt gleichgültig zuckte ich die Achseln, doch innerlich schäumte ich vor Wut, und das zu unterdrücken, war, als würde ich mir die Hand abhacken.
Ich nahm meinen Platz auf der linken Seite des langen rechteckigen Tisches ein. Karina und Yves, die oberste Heilerin und der oberste Alchemist, hatten sich bereits mir gegenüber niedergelassen, während ich beim König und dem Oberbefehlshaber der Kronarmee, Eves Vater, saß. Kommandant Audric hatte das größte Regiment von Jerar unter sich, das aus über zehntausend Männern und Frauen bestand, wobei sich allerdings ein paar Hundert ständig auf Patrouille befanden. Der Rest hielt sich in einem Heerlager nur wenige Meilen außerhalb der Hauptstadt jederzeit einsatzbereit. Im Gegensatz zu den Regimentern der einzelnen Städte war die Kronarmee für ganz Jerar zuständig.
»Also«, ergriff Blayne das Wort und lehnte sich genauso auf seinem Stuhl zurück wie einst sein Vater, »weshalb so ein dringliches Treffen mitten in den Feierlichkeiten? So schlecht kann deine Frau doch gar nicht im Bett sein, dass du dich stattdessen danach sehnst, möglichst schnell in den Krieg zu ziehen, Darren, oder?«
Mein Gesicht brannte. Wie konnte er es wagen, mich vor allen anderen dermaßen zu demütigen? Und dann auch noch den Finger direkt in die Wunde zu legen, denn schließlich hatte ich Darren ja wirklich weggestoßen …
»Lass meine Frau aus dem Spiel.«
Erstaunt sah Blayne von seinem Bruder zu mir, und ein kleines gemeines Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. Ihm entging nichts. »Interessant.«
»Es reicht.« Darrens barscher Befehl gab nichts von seinen Gefühlen preis. »Wir haben wirklich Wichtigeres zu besprechen.«
Der junge König wedelte ungeduldig mit der Hand. »Ich höre. Du hast mir noch immer nicht verraten, warum das Treffen anberaumt wurde.«
»Ich habe ihn darum gebeten«, sagte ich in die unbehagliche Stille hinein. Am besten münzte ich meine Wut in Tatendrang um. »Es kann nicht angehen, dass ich hier das verliebte Prinzesschen geben soll und wir zum jetzigen Zeitpunkt eine ganze Woche mit Feierlichkeiten vertun.«
Wieder merkte ich, wie einige leise die Luft einsogen. Sie empfanden es wohl als Beleidigung Darren gegenüber, doch so war es nicht gemeint. »Nicht in dieser Situation, wo die Rebellen uns bedrohen und wir kurz vor einem Krieg mit den Caltothen stehen, die jeden Tag zuschlagen können. Blayne, ich habe keine Ahnung, wie es um dieses Land bestellt ist, und als Mitglied der Krone habe ich ein Recht darauf, es zu erfahren. Es lässt mir keine Ruhe, dass wir Jerar in Gefahr bringen, nur damit der Kronprinz und ich eine Woche lang ausgiebig Hochzeit halten können. Dieses Geschenk ist einfach zu groß.«
Ich bemerkte ein leichtes Kopfnicken des Königs, das erkennen ließ, dass er das guthieß. Kein Wort davon war gelogen, nicht einmal die Leidenschaft, mit der ich mein Anliegen vorgebracht hatte. Blayne hatte also keinen Anlass, irgendetwas zu argwöhnen.
Der pythische Gesandte hatte mir gesagt, dass ich eine grauenhafte Lügnerin sei. Im Gegensatz zu den Adligen am Hofe war ich nicht in einem Netz von Intrigen aufgewachsen und hatte von klein an selbst welche gesponnen. Also musste ich es anders angehen und die Wahrheit verdrehen, musste meine Worte so geschickt wählen, dass man sie auch ganz anders auslegen konnte. Wie der König es dann interpretierte, war sein Problem.
»Ich weiß Euer Engagement zu schätzen, Ryiah.« Blayne verschränkte die Arme. »Aber Eure Sorge ist unbegründet. Kommandant Audric und der Rat haben höchstpersönlich unsere Strategie ausgearbeitet. Es ist also alles geklärt.« Seine Miene wurde hart. »Ich fürchte, diese Besprechung wurde irrtümlich einberufen. Darren, vielleicht solltest du das nächste Mal die Gründe dafür angeben, ehe du wieder einen Termin zu so später Stunde ansetzt.«
»Bitte.« Meine Stimme klang gepresst. »Ihr könnt mich doch nicht einfach im Dunkeln darüber lassen. Ich möchte etwas tun, einen Beitrag leisten –«
»Ryiah«, erwiderte Blayne schroff, »Ihr seid weder Kommandantin meiner Armee noch der Schwarze Magier. In Anerkennung Eurer neuen Stellung am Hofe ist es Euch gestattet, an unseren künftigen Treffen teilzunehmen – und da geht es in erster Linie ums Zuhören –, aber mehr nicht.«
Ich machte ein langes Gesicht. Nein, ich brauchte Informationen, die ich an die Rebellen weitergeben konnte. Bedeutete das hier schon das Ende, ehe es überhaupt richtig angefangen hatte?
Ich versuchte es mit der einen Sache, die Blayne nicht unter Kontrolle hatte, der einzigen Unwägbarkeit in seinem Ränkespiel. »Aber die Rebellen warten nur darauf …«
»Ganz ruhig, Prinzessin«, schaltete sich der Kommandant zu meiner Linken ein. »Niemand macht Euch für die Taten Eures Bruders verantwortlich. Meine Eve war die Erste, die ein Loblied auf Euch gesungen hat.« Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht, und es trat unvermittelt Stille ein, während Darren die Hand über den Tisch streckte und dem älteren Mann auf den Arm legte. Fast hatte ich vergessen, dass Audric Darren früher zusammen mit seiner Tochter trainiert hatte.
Die Blicke, die die beiden wechselten, machten deutlich, dass sie sich sehr nahe standen, und ich sah hastig weg, jedoch nicht ohne zuvor noch das kurze Aufflackern von Eifersucht in den Augen des Königs zu bemerken. Allerdings verschwand es genauso schnell, wie es gekommen war.
Eine Sekunde später räusperte sich Darren. »Blayne, Ryiah hat recht. Wir sollten über die Rebellen reden.«
»Das können wir ja auch. Nächste Woche.« Die Stimme des Königs klang scharf. »Die Festivitäten sind nicht nur für Euch, sondern vor allem für unsere Untertanen. Die Leute brauchen etwas, das ihnen Mut und Hoffnung gibt, ehe wir in den Krieg ziehen.«
Wieder einmal gab Blayne den gütigen, edelmütigen Herrscher, und ich erwischte Karina und Yves dabei, wie sie zu seinen Worten nickten, weil sie es einfach nicht besser wussten.
»Dann schickt Euren Bruder los, um gleich mit den Nachforschungen zu beginnen.« Der Kommandant hatte sich auf die Seite des Prinzen geschlagen. »Darren wurde von klein an zu einem Krieger erzogen, Euer Majestät. Das Herumsitzen und Warten bekommt uns Kämpfern nicht.«
»Ich habe bereits fünf Einheiten in den Norden verlegt, die dort in der Provinz patrouillieren, Audric.« Blayne klang gereizt. »Als Rumsitzen und Warten würde ich das nicht bezeichnen.«
Darren stieß ein Lachen aus. »Aber das ist doch etwas völlig anderes, Bruder. Du kannst kaum dieselbe Kompetenz von ihnen erwarten wie von mir.«
Das war mein Stichwort. »Und ist deren Berichten auch wirklich zu trauen?« Ein König, dessen Vermächtnis aus einem einzigen Lügennetz bestand, hatte mit Sicherheit Schwierigkeiten, überhaupt jemandem zu vertrauen, vor allem, wenn überall Rebellen ihr Unwesen trieben. »Was sind ihre Vorgaben? Wie sollen sie die Dörfer auskundschaften? Wie stellen sie die Leute auf die Probe?«
Rück endlich mit Details raus, fügte ich im Stillen hinzu, damit ich sie aufhalten kann.
»Also ich möchte mich nicht blind auf Berichte aus zweiter Hand verlassen«, legte Darren nach. »Da hat doch jemand seine Aufgabe nicht anständig erledigt, Bruder. Ich zumindest finde es höchst suspekt, dass wir in all den Jahren nicht das kleinste bisschen über die Rebellen herausbekommen haben. Wo auch immer sie sich versteckt halten, müssen sie die Unterstützung der Bevölkerung haben, die sie deckt. Und bis ich die Leute auf der Festung nicht persönlich vernommen habe, können wir nicht ausschließen, dass sie irgendwo dort oben ihren Unterschlupf haben. Ihre Kämpfer kommen jedenfalls alle aus dem Norden. Und irgendjemand muss doch etwas wissen. Du solltest Ryiah und mich jetzt gleich losschicken, Feierlichkeiten hin oder her.«
Was? Nein! Ich klammerte mich an der Tischkante fest. Dieses Gespräch lief in die gänzlich falsche Richtung. Ich wollte mehr Informationen, nicht früher aufbrechen.
»Du kannst die Festivitäten ja auch weiterlaufen lassen, wenn es dir beliebt«, meinte Darren. »Und Audric kann weiterhin Kundschafter aussenden, aber diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht durch die Lappen gehen lassen.«
Karina räusperte sich. »Das sehe ich genauso.«
»Ich auch.« Yves nickte. »Der Rat schließt sich dem Vorschlag des Schwarzen Magiers an. Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten.«
Kommandant Audric sprach sich ebenfalls dafür aus.
»Nun gut, wenn sich alle einig sind«, erklärte Blayne mit finsterer Miene, »dann machen wir das so. Ryiah, wie es aussieht, bekommt Ihr Euren Willen.«
Ich schenkte ihm ein schwaches Lächeln und verfluchte mein Pech. Das Treffen hatte die schlimmstmögliche Wendung genommen.
»Mira wird sich darum kümmern, dass Eure Wachen bei Sonnenaufgang bereitstehen.« Blayne erhob sich als Erster aus seinem Stuhl und die anderen standen ebenfalls auf. Im Vorübergehen legte der König Darren die Hand auf die Schulter. »Aber spiel nicht den Helden, Brüderchen. Ich will, dass du in einem Stück zurückkehrst.«
Auch Darren legte Blayne die Hand auf die Schulter, weil es ihnen widerstrebte, sich zu umarmen. Seine Miene war ernst. »Du weißt, dass ich dich nie im Stich lassen werde.«
Als wir auf den Gang hinaustraten, senkte Blayne die Stimme. »Es ist mir egal, wenn du das Leben anderer aufs Spiel setzt. Aber nicht dein eigenes. Das hier ist nicht mehr diese verdammte Ausbildung –«
»Bei den Göttern, du klingst schon wie unser Vater.« Darren biss die Zähne zusammen. »Ich weiß, was ich tue.«
Der König brummte genervt und sah eindringlich zu mir herunter. »Ihr seid mir für seine Sicherheit verantwortlich, Ryiah. Ihr zwei seid die Einzigen, denen ich vertraue.«
Abgesehen von denjenigen, die deine mörderischen Geheimnisse kennen, wie Mira.
»Was immer er Euch auch befiehlt: Weicht nicht von seiner Seite.« Blayne packte mich am Arm. »Diese Rebellen werden keine Gelegenheit ungenutzt lassen, dem Königreich zu schaden, und sie würden eher einem Prinzen den Hals aufschlitzen, als auf die Stimme der Vernunft zu hören. Jemand muss ständig auf der Hut sein, wenn mein Bruder möglicherweise kurz unaufmerksam ist –«
»Blayne«, unterbrach Darren ihn. »Ich kann sehr gut –«
»Versprecht es mir!« Blaynes Fingernägel gruben sich in mein Handgelenk. Einen Moment lang sah ich den Jungen in ihm, der er einst gewesen war, den Jungen, dem einzig und allein sein Bruder am Herzen lag, und sonst keiner.
Das war das Einzige, was ihn davor bewahrte, dass ich ihm ein Schwert an die Kehle hielt: diese merkwürdige, fehlgeleitete Geschwisterliebe, gegen die ich machtlos war.
Zumindest was Darren anging, waren wir uns jedoch einig. Ich hatte nicht vor, den Prinzen bei den Rebellen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und ganz besonders jetzt nicht, wo ich so wenig vorzuweisen hatte.
Wie hatte Darren damals im ersten Jahr an der Akademie so schön gesagt? »Du bist vielleicht das einzig Gute hier.« Bei den Göttern, wie sehr sich das Blatt doch gewendet hatte. Der dunkle Prinz war jetzt der Unschuldige, Naive und ich die Schattengestalt mit dem dunklen Geheimnis. Aber ich würde auf ihn aufpassen und das versicherte ich dem König voller Inbrunst mit funkelnden Augen im flackernden Kerzenschein des Gangs.
»Was für ein bewegender Moment.« Darren zog eine Augenbraue hoch. »Wirklich rührend, wie ihr euch um mich, den mächtigsten Magier des ganzen Königreichs, sorgt.«
»Bilde dir ja nichts darauf ein.« Der König warf seinem Bruder einen Blick zu. »Ich habe einfach nur keine Lust darauf, dich zu ersetzen. So was macht viel Arbeit und den Ärger will ich mir nicht antun.«
»Würde mir umgekehrt genauso gehen.«
Blayne schüttelte nur den Kopf und ging.
Etwas zog mir bis ins Herz. Ich konnte noch immer das schiefe Grinsen auf Darrens Lippen sehen, das dem von Blayne so verdammt ähnlich war.
»Das hat nichts mit Logik zu tun. Sie streiten sich und schreien sich an, aber letztendlich sind und bleiben sie Brüder.« Es war sonnenklar, wie entsetzlich enttäuscht er am Ende von Blayne wäre. Genauso wie von mir.
Sobald der König mit Mira an seiner Seite gegangen war, zog mich der Kronprinz in eine düstere Nische und hob mein Kinn an. »Tu dir keinen Zwang an. Versuch ruhig, mich zu beschützen, wenn du meinst«, zog er mich auf. »Aber ich werde dich bis an mein Lebensende beschützen.«
Ich wusste, dass es richtig war, was ich tat, aber in diesem Moment kam ich mir vor wie der letzte Dreck. Um die Hysterie zurückzudrängen, atmete ich ein paarmal tief durch und brachte halbwegs ein Lächeln zustande, ehe ich floh.
Ich sagte mir, dass ich eine Heldin war. Auch wenn er es niemals verstehen würde.
Im Morgengrauen brachen wir auf.
Mira teilte jedem von uns zehn Leute aus dem königlichen Regiment zu, zwanzig insgesamt. Jeder hatte fünf Kampfmagier an seiner Seite, und ansonsten waren noch zwei Heiler, zwei Alchemisten und insgesamt sechs Ritter mit von der Partie – unsere Leibwächter Henry und Paige schon mit eingerechnet.
Wir kamen zügig voran. In den Ebenen im Landesinneren hatte der Winter noch nicht Einzug gehalten, doch es war bereits so kalt, dass die meisten Leute sich lieber nicht auf Reisen begaben, wenn es sich vermeiden ließ. Um unerkannt zu bleiben, war unsere Truppe gekleidet wie eine ganz gewöhnliche Patrouille der Kronarmee, sodass die wenigen Leute, die doch auf der King’s Road unterwegs waren, nicht ahnten, dass sie einen Kronprinzen und eine Prinzessin vor sich hatten.
Die ersten drei Tage ritten wir durch rostrotes Laub und braune Felder. Die Ernte war bereits eingebracht, und viele junge Leute waren ausgezogen, um ihr Glück an einer der Kriegsschulen des Königreichs zu versuchen, während andere beschlossen hatten, zu Hause zu bleiben und bei den Eltern mit anzupacken.