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Traue niemals einem Prinzen …
Nach dem harten Prüfungsjahr an der Akademie darf Ryiah die Ausbildung zur Kriegsmagierin antreten – gemeinsam mit Erzfeindin Priscilla, unter einem Kommandeur, der ihr das Leben zur Hölle macht, und in Gesellschaft von Prinz Darren: abwechselnd ihr größter Rivale und engster Vertrauter. Für den sie mehr als Freundschaft empfindet, obwohl er verlobt ist. Als die Landesgrenzen von Jerar bedroht sind, müssen Ry und ihre Freunde noch vor der Abschlussprüfung zeigen, was in ihnen steckt ...
Jetzt in neuem Look: Band zwei der Dark-Academia-Romantasy-Serie von Rachel E. Carter – für alle Fans von »Scholomance« und »Powerless«.
Alle Bände der »Magic Academy«-Reihe:
Magic Academy - Das erste Jahr (Band 1)
Magic Academy - Die Prüfung (Band 2)
Magic Academy - Die Kandidatin (Band 3)
Magic Academy - Der letzte Kampf (Band 4)
Magic Academy - Der dunkle Prinz (Prequel, nur als E-Book verfügbar)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 568
© Luminis Studio 2017
DIE AUTORIN
Rachel E. Carter ist die USA-Today-Bestsellerautorin der Fantasy-Jugendbuchserie Magic Academy über Magie, Machtkämpfe und eine große Liebe. Kaffee zu horten gehört ebenso zu ihren Leidenschaften wie böse Jungs und Helden vom Typ Mr Darcy.
Mehr über die Autorin unter rachelecarter.com
Von Rachel E. Carter sind außerdem bei cbj erschienen:
Magic Academy – Das erste Jahr (Band 1, 31170)
Magic Academy – Der dunkle Prinz (22572)
Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader
Rachel E. Carter
MAGIC
ACADEMY
Die Prüfung
Aus dem Amerikanischen von Britta Keil
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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
© 2015 by Rachel Carter
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »The Black Mage – Apprentice«.
© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe by cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Aus dem Amerikanischen von Britta Keil
Lektorat: Christina Neiske
Covergestaltung und Illustration: Isabelle Hirtz, Hamburg
he · Herstellung: eR
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-20791-5V003
www.cbj-verlag.de
Für den Jungen, der nie liest.
Zu dumm, dass du ausgerechnet mit einer Autorin verlobt bist.Verzeih mir all die Male, die ich dich vernachlässigt habe, um dieses Buch zu schreiben. Danke, dass du mir trotzdem einen Ring anstecken wirst.
Eins
In der flirrenden Hitze der Morgensonne tänzelten zwei Gestalten umeinander und attackierten sich wechselseitig mit blitzschnellen Schlägen und Tritten. Der Wüstensand wirbelte zwischen ihren Füßen auf.
Ich studierte ihre Bewegungen – geschmeidig wie die zweier Raubkatzen. Ihre gebräunte Haut glänzte von Schweiß, was ihre muskulösen Arme und Schultern nur noch mehr zur Geltung brachte. Einem Kampf wie diesem hatte ich schon unzählige Male zugesehen, aber ich war immer wieder fasziniert.
Der größere und ältere der beiden Kämpfer, ein Junge mit dunkelblondem Lockenschopf und wachen grünen Augen, wirkte vollkommen entspannt. Er parierte die Attacken seines Gegners mit einer Lässigkeit, die von jahrelangem Training zeugte. Sein Kontrahent hingegen konnte nur mit Mühe seinen wachsenden Unmut über jeden gescheiterten Angriff verbergen. Als ich seine dunklen Augen hinter den schwarzen Locken funkeln sah, setzte mein Herz einen Schlag aus. Auch wenn er im Kampf mit den bloßen Fäusten der Unterlegene zu sein schien, war dennoch er derjenige, der meinen Blick eine Sekunde zu lang fesselte.
Ich fächelte mir mit der Hand Luft zu und wünschte, man hätte uns ein kühleres Terrain zum Trainieren zugeteilt. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass man uns ausgerechnet in die Wüste schicken würde. Die sengende Hitze machte mir immer noch zu schaffen, genau wie den meisten meiner Mitstreiter. Kein Einziger von uns hatte noch Wasser in seinem Trinkschlauch.
Der ältere der beiden Jungen nutzte die nächste Unachtsamkeit seines Gegners und schickte ihn mit einem gezielten, flinken Tritt in den Sand. Verärgert über den Ausgang des Kampfes, warf der Schwarzhaarige ihm daraufhin einen Blick zu, der so feindselig war, dass er wohl jeden von uns in die Knie gezwungen hätte. Der Junge mit den dunkelblonden Locken jedoch grinste bloß und streckte dem anderen seine Hand hin – was dieser demonstrativ ignorierte –, und der Rest der Klasse spendete Applaus.
Master Byron, ein Mann in steifer schwarzer Robe, trat vor und runzelte die Stirn. »Das reicht, Ian.« Dann wandte er sich an den Jungen, der am Boden lag, und sagte in freundlicherem Ton: »Darren, das war für einen Schüler im zweiten Lehrjahr gar nicht übel. Es gibt keinen Grund, sich zu ärgern.«
Darren rappelte sich auf. Seine Miene blieb unverändert grimmig. Es war offensichtlich, dass er Master Byrons Auffassung nicht teilte, und ich war mir absolut sicher, dass er nach der heutigen Niederlage in den kommenden Wochen jede freie Minute trainieren würde.
Darren und ich hätten unterschiedlicher nicht sein können – nur in puncto Ehrgeiz waren wir uns ähnlich. Unser Lehrer lobte ihn seit Wochen in den Himmel, doch es war klar, dass Darren nicht eher zufrieden sein würde, bis er der Beste war.
»Ryiah, Lynn – ihr seid dran.«
Mit klopfendem Herzen bahnte ich mir einen Weg nach vorn. Ein Mädchen mit dunklem Pony und bernsteinfarbenen Augen berührte flüchtig meinen Ellbogen. »Viel Glück, Ry«, flüsterte meine Freundin Ella mir zu.
Dort, wo eben noch die beiden Jungen gekämpft hatten, stand nun ein schwarzhaariges Mädchen mit olivfarbener Haut, gegen das ich schon öfter antreten musste. Lynn warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu. Ich versuchte, es zu erwidern, und brachte mich in Stellung. Mit schweißnassen Händen wartete ich auf Master Byrons Signal.
»Und los!«
Lynn startete den ersten Angriff. Sie stürzte geduckt auf mich zu, um einen tiefen Schlag in meine Rippen zu landen. Ich hielt meine Deckung, blockte den Schlag ab und attackierte sie mit einem hohen Fußtritt. Lynns langer Pferdeschwanz peitschte umher, als sie gekonnt zurückwich, sodass ich sie um Haaresbreite verfehlte. Ich war schwer in Versuchung, die Reichweite meines Tritts mithilfe von Magie zu verlängern, aber ich unterdrückte den Drang in letzter Sekunde.
Keine Magie, Ryiah.
Stattdessen studierte ich meine Gegnerin, suchte nach der kleinsten verräterischen Zuckung, die ihren nächsten Angriff ankündigen würde. Lynn musterte mich aus unschuldigen braunen Augen, die zu ihrer püppchenhaften Erscheinung passten. Aber dieses Mädchen war alles andere als ein Püppchen. Das hatte ich schon vor einiger Zeit lernen müssen. Sie mochte klein und zierlich sein, aber im Kampf ohne Waffen oder mit der Stange war sie eine hochgefährliche Gegnerin.
Ich atmete langsam aus.
Bisher hatte ich jeden Kampf gegen Lynn verloren. Das hätte mich nicht weiter grämen müssen, da sie ein Jahr über mir war, allerdings wusste ich, dass einige meiner Mitschüler durchaus schon Duelle gegen ihre älteren Mentoren gewonnen hatten. Im Publikum kicherte jemand, leise und klirrend wie ein Windspiel … wie ein grässliches, nervtötendes Windspiel. Ich musste mich nicht mal umdrehen, um zu wissen, wer da gekichert hatte. Priscilla von Langlis Stimme war einfach unverwechselbar.
Im nächsten Moment nahm ich wahr, wie Lynn ihr Gewicht kaum merklich auf die rechte Ferse verlagerte. Ich sprang auf sie zu, blockte mit dem linken Arm und ließ die rechte Faust nach vorn schnellen, um sie meiner Gegnerin in den Magen zu rammen. Lynn wich zurück und meine Hand streifte nur den dünnen Stoff ihres Hemds.
Ohne zu zögern, setzte ich einen tiefen Fußtritt nach, den sie mühelos mit einem Schlag parierte. Ich taumelte rückwärts und drehte mich instinktiv so, dass ich außerhalb ihrer Reichweite war – die Fäuste erhoben, um ihren nächsten Angriff abzuwehren. Als dieser nicht sofort kam, sprang ich wieder auf sie zu und täuschte einen Faustschlag an. Mein Plan war, sie mit einem gezielten Fußtritt in die Rippen zu überrumpeln.
Doch meine Mentorin ließ sich nicht austricksen. In derselben Sekunde, in der ich mein Knie hob, warf sie sich mit voller Wucht gegen mich. Ich geriet ins Stolpern, was Lynn sofort ausnutzte. Nun attackierte sie mich abwechselnd mit Schlägen und Tritten. Ich versuchte verzweifelt, mich zu schützen, aber ihre vorherige Attacke hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Ein harter Fausthieb landete in meinem Magen, ein anderer in meinem Gesicht. Als Lynn mir dann auch noch gegen das Schienbein trat, riss es mich endgültig von den Füßen, und ich kippte zur Seite. Statt mich richtig abzurollen, so wie wir es gelernt hatten, knallte ich mit dem rechten Ellbogen auf den hart getretenen Boden, und eine Sandwolke stob auf. Ein grässlicher Schmerz schoss durch meinen Arm.
Ich schrie – und verlor die Selbstkontrolle. Ehe ich es verhindern konnte, schoss eine magische Druckwelle aus meiner Hand, traf meine Gegnerin und ließ sie rückwärts in eine nahe stehende Palme krachen. Lynn schlug hart auf dem Boden auf – und meine Magie, die ihren Zweck erfüllt hatte, verpuffte.
»Was zur Hölle …! Ryiah!«, fluchte Master Byron. Sein vornehmes, blasses Gesicht, in dem sich nur selten eine Gefühlsregung zeigte, war knallrot. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Wenn du nicht lernst, deine Magie zu beherrschen, wird man dich nie auch nur in die Nähe eines Schlachtfelds lassen!«
Ich rappelte mich hastig auf, meine Wangen glühten. Auch Lynn war wieder auf den Beinen und sah mich mitfühlend an. Was wirklich nett von ihr war. Ich musste die mit Abstand frustrierendste Schülerin im zweiten Lehrjahr sein, die man sich als Mentorin vorstellen konnte. Dennoch verlor Lynn nicht die Geduld und zeigte immer Verständnis, selbst wenn sie meinetwegen in irgendwelche Bäume krachte.
Master Byron hingegen war alles andere als geduldig und verständnisvoll.
»Es tut mir leid, Sir! Ich wollte nicht, dass …«
»Der Magische Rat hat sich geirrt«, schnaubte er. »Du hast hier nichts verloren. Ich weiß beim besten Willen nicht, was sich der Schwarze Magier dabei gedacht hat, ausgerechnet dir einen Ausbildungsplatz an unserer Akademie zu verschaffen. Mag sein, dass du dich durch deine Prüfungen mogeln konntest, aber mit faulen Tricks wirst du bei mir nicht weit kommen.«
»Ja, Sir.« Die Worte schmeckten bitter auf meiner Zunge. Mein Ellbogen schmerzte höllisch. Es schoss heiß und kalt durch meinen rechten Arm.
Master Byrons Schelte ärgerte mich noch mehr als sonst. Ich hatte doch nicht mit Absicht gezaubert – es war einfach so passiert! Davon abgesehen war ich nicht die Einzige, die beim Kampf die Kontrolle über ihre Magie verloren hatte. Doch in den zwei Monaten, die unsere Ausbildung nun schon andauerte, hatte unser Lehrer immer nur mich zurechtgewiesen.
»Was nützen Weiber im Kampf, wenn sie auch auf dem Schlachtfeld so willensschwach sind, wie es ihrem Geschlecht nun mal eigen ist? Lerne endlich, die Zähne zusammenzubeißen, Ryiah, oder geh ins Kloster.«
Ich wollte gerade etwas erwidern, als Ella mein Handgelenk umfasste – eine stumme Ermahnung. Lass dich von ihm nicht provozieren. Ich schluckte meine Wut hinunter.
»Aber Master Byron, Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, dass nur Mädchen Schmerzen empfinden?«, meldete sich jemand amüsiert zu Wort. »Also ich für meinen Teil verspüre diese willensschwacheRegung jeden Tag.«
»Und wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, Ian?«, entgegnete Master Byron gereizt. »Ich wollte Ryiah lediglich zu verstehen geben, dass sie woanders vielleicht besser aufgehoben wäre …«
»Nur weil sie versehentlich ihre Magie eingesetzt hat?«, fragte Ian. »Aber das ging uns doch allen so, Sir! Allein in meinem zweiten Lehrjahr habe ich …«
»Nun, vielleicht ist sie ja auch nicht die Einzige hier, die an der Akademie nichts verloren hat«, unterbrach ihn Master Byron barsch, und mit einem abschätzigen Blick in meine Richtung fügte er hinzu: »So wie dein Arm aussieht, Ryiah, wirst du den Rest der Übung wohl später nachholen müssen.«
Meine Mitschüler bildeten eine Gasse, um mich durchzulassen. Niemand wagte es, mir in die Augen zu sehen. Ich stöhnte innerlich auf. Die meisten von ihnen konnten Master Byron genauso wenig ausstehen wie ich, aber im Gegensatz zu Ian und mir wussten sie sich inzwischen zu beherrschen.
Erhobenen Hauptes trat ich den Weg zur Krankenstation an. Dort würde mich der erste Lichtblick des Tages erwarten: Alex.
Ich hatte meinen Bruder in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen, da er nicht wie ich bei den Kämpfern war, sondern bei den Heilern, und unser Unterricht hier, in der Wüstenstadt Ishir, an entgegengesetzten Enden des Trainingsareals stattfand. Mittlerweile war mir jeder Vorwand recht, um ihn – meine bessere Hälfte – zu sehen, und sei es ein gebrochener Arm.
»Hey, Ryiah! Warte!«
Ich drehte mich um und sah Ian auf mich zurennen. Seine Haare waren windzerzaust, und ich musste mal wieder feststellen, wie unglaublich gut er aussah – sogar wenn er verschwitzt und außer Atem war. Natürlich nicht so gut wie der Prinz, aber an Darren kam sowieso niemand heran. Ian war einfach Ian.
Als die Lehrlinge in der Akademie angekommen waren, um uns – die Neuen – abzuholen, hatten mich viele der älteren Schüler skeptisch beäugt. Mein Ruf war mir vorausgeeilt. Ich war also das sechzehnjährige Mädchen, das während der Prüfungen der Erstklässler die Waffenkammer in Schutt und Asche gelegt hatte. Ich war die Sechste aus dem Zweig der Kämpfer, die man bei der feierlichen Zeremonie im Festsaal in die Riege der Lehrlinge aufgenommen hatte – was eine bemerkenswerte Ausnahme darstellte. Für gewöhnlich übernahm die Akademie nur fünf Schüler aus jedem Zweig.
Ian scherte sich um all diese Geschichten nicht. Als er mich sah, stieß er bloß einen lauten Jubelschrei aus und begann, bei seinen Freunden Geld einzusammeln. Offenbar hatten sie eine Wette darüber abgeschlossen, welche Erstklässler übernommen werden würden. Seit meiner krachenden Niederlage gegen Priscilla im Halbjahresturnier war ich zu keiner Zeit eine sonderlich aussichtsreiche Kandidatin gewesen, und so war Ian am Ende der Einzige, der auf mich gesetzt hatte. Ich war überrascht gewesen, dass er sich überhaupt noch an mich erinnern konnte, denn wir hatten nur ein einziges Mal ganz kurz miteinander geredet, auf dem Ball zur Wintersonnenwende. Doch Ian hatte mir versichert, dass er sich an alle Leute erinnerte, »auf die es ankommt«.
In den letzten zwei Monaten war Ian zu einem meiner engsten Freunde geworden, neben Ella. Wir hatten beide einen Hang zum Sarkasmus, und Ian verstand, wie ich mich fühlte, denn er wusste aus eigener Erfahrung, wie schrecklich Master Byron sein konnte. Bis ich gekommen war, hatte Byron nämlich mit Vorliebe auf ihm herumgehackt.
»Was zur Hölle machst du hier?«, schimpfte ich scherzhaft. »Solltest du nicht mit Darren trainieren?«
Ian grinste. »Mit diesem eingebildeten Wunderknaben? Keine Sorge, der kommt auch ohne mich klar.« Er schenkte mir ein entwaffnendes Lächeln. »Du, meine Liebe, bist diejenige, die gerade Hilfe braucht.« Er hakte meinen unverletzten Arm unter. »Das Prinzlein hat Master Byron doch sowieso längst dazu gebracht, den Boden unter seinen Füßen anzubeten. Darren könnte sich jeden noch so großen Fehler erlauben, und Byron würde trotzdem darauf bestehen, dass er der nächste Schwarze Magier wird.«
»Master Byron wird dich zur Strafe zum Latrinendienst abkommandieren«, warnte ich ihn, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Ians grüne Augen funkelten schelmisch. »Das soll er ruhig versuchen. Aber dann werde ich ihm sagen, dass ich dafür leider keine Zeit habe, weil du meinen Beistand gerade dringender brauchst …«
Ich lachte laut. »Dafür macht Byron dich einen Kopf kürzer.«
»Für seine meistgehasste Schülerin nehme ich das in Kauf. Das ist ja wohl das Mindeste, was ich für dich tun kann, nachdem du mich als Prügelknabe abgelöst hast.«
»Du solltest nicht so … Aua!« Ich streifte mit dem verletzten Arm den Stamm einer Palme, als ich mich unter ihren herabhängenden Wedeln hinwegducken wollte.
»Alles in Ordnung, Kriegermädchen?«
»Ja«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich will nur, dass die Schmerzen aufhören.«
»Wir sind gleich da.« Ian zeigte auf ein entferntes Felsmassiv, in das mehrere Holztüren eingelassen waren. Wie alle Gebäude in der Wüstenstadt war auch die Krankenstation in einen Fels geschlagen worden.
Die Felsen bildeten eine scheinbar endlose Kette, die die Rote Wüste von den grünen Ebenen Jerars im Norden und seiner Hauptstadt Devon trennte. Ich hatte schon viele Geschichten über die Wüstenstadt Ishir gehört. Trotzdem hatte es mir am Tag unserer Ankunft bei ihrem Anblick die Sprache verschlagen.
»Gott sei Dank«, stöhnte ich.
Nach einer Viertelmeile Fußmarsch durch den heißen Sand erreichten wir den Felsen und betraten einen dunklen, von Fackeln erleuchteten Gang, in dem zwei Wächter postiert waren. Die Luft war hier merklich kühler. Die Wachen erkannten uns sofort an unseren Lehrlingsgewändern und ließen uns, ohne zu zögern, passieren. Der Gang verzweigte sich in drei weitere Gänge – wir bogen in den rechten ab.
Hinter einer Treppe vernahm ich die schneidende, abgehackte Stimme von Master Joan, die ihren Schülern gerade erklärte, wie man einen Skorpionstich ohne den Einsatz von Magie richtig behandelte. Autsch. Ian und ich warfen uns belustigte Blicke zu und betraten das Klassenzimmer der Heiler-Lehrlinge.
Normalsterbliche wurden in der richtigen Krankenstation von Ishir behandelt, die sich im selben Gebäude befand, aber wir Schüler durften nur dorthin, wenn wir wirklich schwerste Verletzungen hatten. In allen anderen Fällen dienten wir als Übungsobjekte für die Heiler-Lehrlinge. An irgendjemandem mussten sie sich schließlich ausprobieren.
»Ry!«, rief Alex.
Master Joan warf meinem Zwillingsbruder einen strafenden Blick zu, weil er sie mitten im Satz unterbrochen hatte. Dann wandte sie sich verärgert an Ian und mich: »Was macht ihr hier?«
»Mein rechter Arm …«, begann ich und versuchte, die interessierten Blicke von Alex’ Mitschülern auszublenden. Ich wusste ja, dass sie Heiler werden wollten, trotzdem fand ich es immer noch unheimlich, wie wenig schockiert, ja wie begeistert sie waren, wenn sie eine Verletzung sahen. Niemand sollte versessen darauf sein, Blut zu sehen.
»Und du?« Master Joan beäugte Ian argwöhnisch.
Ian grinste dümmlich. »Hab zu viel Sonne abgekriegt …?«
»Raus!« Master Joan zeigte zur Tür.
Ian, der mit dieser Reaktion gerechnet hatte, zwinkerte mir zu, winkte kurz und verließ den Raum. Kaum war er weg, entfuhr ein paar Schülerinnen ein Seufzen. Ich grinste verstohlen. Offenbar war ich nicht die Einzige, der aufgefallen war, wie gut Ian aussah.
»Wir werden die Übung fortsetzen, nachdem wir Ryiah geheilt haben«, sagte Master Joan. »Ryiah, bitte beschreibe uns deine Beschwerden, damit wir überlegen können, wie wir dich am besten behandeln.«
Also begann ich aufzuzählen: Schmerzen im Arm, Schwellung, steifer Ellbogen. Vielleicht war mein Arm ja gebrochen.
»Gebrochen«, sagte mein Bruder prompt.
»Und wie überprüfen wir, ob diese Diagnose stimmt?«
»Ich würde mir mithilfe eines Zaubers die Stellung der Knochen ansehen – natürlich nur, wenn es kein offener Bruch ist. Dann bräuchte man ja keine Magie, um die Diagnose zu bestätigen«, sagte Ronan. Ronan war ein Freund meines Bruders – und manchmal auch sein Rivale, denn aus dem Zweig der Heiler war er der Überflieger unseres Jahrgangs.
Master Joan forderte ein Mädchen aus dem fünften Lehrjahr auf, den Zauber zu übernehmen. Voller Stolz und mit leuchtenden Augen legte sie los. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, um mich gegen die Folgen von Flüssigkeitsmangel behandeln zu lassen, war ein eigentlich schmerzloser Zauber schiefgelaufen, und ich hatte einen grässlichen Hautausschlag bekommen. Hüte dich vor Heiler-Lehrlingen, Ryiah.
Glücklicherweise schien dieses Mädchen genau zu wissen, was es tat. Ich spürte nichts außer einem schwachen Kribbeln, als meine Haut am Arm langsam durchsichtig wurde und darunter leuchtende Konturen zum Vorschein kamen. Mir wurde flau im Magen, denn plötzlich wurde mir klar, dass diese grell orangefarbenen Dinger meine Knochen waren. Am oberen Ende eines Unterarmknochens war eine winzige Lücke zu erkennen.
»Leichte Fraktur des Ellbogens, Bruch nicht verschoben«, verkündete das Mädchen feierlich. »Nichts, was wir mit einer Metallplatte richten müssten. Ich würde eine konservative Behandlung empfehlen.«
Ich schluckte, augenblicklich erleichtert, dass sie mir kein Metall in den Arm stecken würden.
»Und wie sähe so eine Behandlung aus? Mit Magie und ohne?«
Auch diesmal gab das Mädchen die richtigen Antworten – und ich war froh, dass sie so knapp und schlicht ausfielen.
»Gut. Dann verbinde jetzt ihren Arm, aber ohne Magie. Da es sich um einen harmlosen Bruch handelt, wird Byron wollen, dass er ohne Zauberei verheilt.«
****
Nachdem das Mädchen meinen Arm bandagiert und ihn in eine Trageschlinge gelegt hatte, war ich entlassen. Beim Hinausgehen hielt Alex mich fest – unter dem Vorwand, meinen Verband überprüfen zu wollen. In Wirklichkeit wollte er sich nach Ella erkundigen.
»Sie hat mich nicht vergessen, oder?«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu und brachte meinen Arm in eine bequemere Position. »Schön, dass du fragst, wie es mir geht.«
»Ich weiß, dass ich mir um dich keine Sorgen zu machen brauche, Schwesterherz. Du warst öfter in der Krankenstation als jeder andere aus deinem Zweig, und ich habe dich noch niemals jammern hören – nicht mal über Master Byron.« Als er sah, dass Master Joan argwöhnisch die Stirn runzelte, schnappte er sich schnell mein Handgelenk und legte zwei Finger auf die Innenseite, um meinen Puls zu fühlen. »Puls normal«, verkündete er laut.
Kaum hatte uns Master Joan wieder den Rücken zugekehrt, warf Alex mir einen flehenden Blick zu – die Art Blick, mit der er in unserem Heimatdorf Demsh’aa unzählige Herzen erobert hatte. Bei mir funktionierte das nicht. »Nun sag schon«, flüsterte Alex, »wie geht es Ella? Ich konnte überhaupt noch nicht vernünftig mit ihr reden, seit unsere Ausbildung hier begonnen hat.«
»Ihr seht euch jeden Tag beim Essen.«
»Aber da sitzt sie immer mit euren Leuten am Tisch«, entgegnete Alex, »und ich muss bei meinen Leuten sitzen. Zwecks guter Kameradschaft und diesem ganzen Blödsinn, du weißt schon. Außerdem macht ihr sowieso immer den Eindruck, als wäret ihr lieber unter euch.«
Ich seufzte. »Komm doch das nächste Mal einfach an unserem Tisch vorbei, wenn du genug Kameradschaftspflege betrieben hast. Ich werde jedenfalls nicht Vermittlerin zwischen euch spielen. Sag ihr, was du empfindest, oder lass das arme Mädchen endlich in Ruhe.«
Alex ließ stöhnend meinen Arm los. »Das ist nicht lustig, Ry.«
»Ich finde es auch nicht lustig, wenn du meiner besten Freundin wehtust.« Ich hatte wirklich wenig Mitleid mit meinem Bruder. Er hatte seine Chance gehabt und sie nicht genutzt. Natürlich liebte ich ihn über alles, aber wenn es um Beziehungen ging – insbesondere um die zwischen ihm und Ella –, benahm er sich wie ein Idiot. In Herzensdingen war der schöne, liebenswürdige Alex ein richtiger Schuft, und in meinen Augen geschah es ihm nur recht, dass Ella nun ihm das Herz gebrochen hatte.
»Ry …« Er sah mich mit traurigen Augen an.
»Ja?«
»Sie fehlt mir.«
»Ich weiß.«
****
Als ich von der Krankenstation zurückkam, war das Trainingsgelände verlassen. Die dritte Stunde hatte bereits begonnen: Strategische Kriegsführung. Es war mein Lieblingsfach und die letzte Unterrichtseinheit vor der Mittagspause.
Ich eilte zu dem mehrstöckigen Felsengebäude, in dem sich das Hauptquartier des Wüstenregiments befand. Eine von vielen Säulen getragene Halle war ganz oben in den Fels gehauen worden und diente der obersten Kommandantin dieses Außenpostens, ihren adligen Bediensteten und den hier stationierten Soldaten, Rittern und Zauberern als Versammlungsort, um über sämtliche militärische Angelegenheiten zu beraten. Während die königliche Armee in der Hauptstadt stationiert war und in Zeiten des Krieges die oberste Befehlsgewalt innehatte, lag es in Zeiten des Friedens in der Verantwortung der einzelnen Truppen vor Ort, für Recht und Ordnung zu sorgen und sich um die Belange ihrer Städte zu kümmern.
Ich rannte die unzähligen Stufen zum Versammlungssaal hinauf. Dort angekommen, erspähte ich Ella in einer der hinteren Sitzreihen und eilte zu ihr. Sie machte mir Platz auf ihrer Bank und beäugte meinen Arm. »Autsch«, flüsterte sie. »Vielleicht tut es Master Byron ja leid, dass er mit dir geschimpft hat, wenn er sieht, dass dein Arm gebrochen ist.«
»Haha. Der war gut!«, sagte ich ironisch. Dieser Mann war doch zu Reue überhaupt nicht fähig!
»Wollt ihr zwei jetzt wohl still sein? Ich habe Besseres zu tun, als mir Ryiahs Gejammer anzuhören.« Priscilla, die in der Reihe vor uns saß, warf Ella und mir einen giftigen Blick zu.
»Ryiah hat nicht gejammert«, zischte Ella zurück. »Ganz im Gegensatz zu dir, als du dir neulich die Schulter gebrochen hast.«
»Ich habe ganz bestimmt nicht gejammert!«
»Du hast dich von Darren zur Krankenstation tragen lassen!«, rutschte es mir heraus, ehe ich etwas dagegen tun konnte. Ich Trottel! Warum konnte ich nicht ein Mal meine Klappe halten?
Priscillas Augen wurden schmal. »Ah, verstehe. Darum geht es also.« Sie verzog die Lippen zu einem kleinen, bösen Lächeln. »Ryiah, es tut mir wirklich leid, dass du immer noch diese Art von Gefühlen hegst, aber versuch doch bitte endlich, darüber hinwegzukommen. Es gefällt mir nicht, dass du meinen Verlobten immer noch so anschmachtest.«
Ich ballte die Fäuste im Schoß. »Darren und ich sind nur Freunde.«
»Und nichts anderes werdet ihr jemals sein.« Priscillas Miene verfinsterte sich. »Was immer damals zwischen euch …«
»Was ist da hinten los? Habt ihr drei Grünschnäbel es etwa nicht nötig, zuzuhören? Ich verlange eine Erklärung! Sofort!«
Priscilla verstummte, als Master Byron mit wutverzerrtem Gesicht herangerauscht kam. Dann rief sie: »Das war Ryiah, Sir!«
Ella und mir klappte die Kinnlade herunter.
»Ich habe ihr gesagt, dass sie still sein soll, aber sie hat einfach nicht aufgehört zu zetern, weil ihr der Arm wehtut und Darren sie nicht zur Krankenstation getragen hat.«
Ich wurde knallrot, und mein Blick flog zu Darren, der eben noch in eine Schriftrolle vertieft gewesen war und sich nun zu uns umgedreht hatte.
»Das stimmt nicht!«, rief ich. »So was würde ich niemals sagen!« Ich hoffte, dass der Prinz mir meine aufrichtige Empörung anhörte.
»Und warum sollte ich einer Unruhestifterin wie dir eher Glauben schenken als der angehenden Gemahlin unseres ehrenwerten Prinzen? Willst du unsere zukünftige Kronprinzessin etwa der Lüge bezichtigen?«
Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg, und musste mich zwingen, ruhig zu bleiben. Ian hatte nicht übertrieben, als er mich vor Master Byron und seinem Standesdünkel gewarnt hatte: Byron hatte mehrere Jahre als Hofmagier im königlichen Palast gedient, bevor er die Ausbildung der Lehrlinge übernommen hatte. Ein arroganter Blaublüter und Frauenverächter wie er war wirklich der Letzte, von dem wir etwas lernen konnten.
»Ryiah sagt die Wahrheit, Sir.« Ella war aufgesprungen und hatte mir zum Zeichen ihrer Solidarität die Hand auf die Schulter gelegt.
»Ach ja? Leider bist du auch nicht gerade ein Quell der Wahrhaftigkeit, Eleanor.«
»Ich heiße Ella«, sagte Ella grimmig.
»Das ändert gar nichts«, entgegnete Master Byron spöttisch. »Du und Ryiah werdet mit Ian für den Rest der Woche den Putzdienst übernehmen – in eurer Freizeit, versteht sich. Betrachtet es als kleinen Denkzettel dafür, dass ihr eure Mitschüler vom Lernen abgehalten habt. Ich hege ja die leise Hoffnung, dass euch ein bisschen Extraarbeit die Flausen austreiben wird.« Er schnaubte übertrieben laut. »Auch wenn ihr diese Hoffnung vermutlich enttäuschen werdet. Und nun will ich keinen Mucks mehr hören, oder ich werde dafür sorgen, dass ihr nie wieder auch nur eine freie Minute habt.«
Obwohl ich vor Wut am liebsten geplatzt wäre, hielt ich den Mund und richtete meine Aufmerksamkeit auf die hochrangigen Militärs, die an der Stirnseite des Saals versammelt waren. Auch Ella sagte keinen Ton mehr. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für weiteren Protest. Wir wollten unbedingt hören, was die oberste Kommandantin und die Mitglieder ihres Regiments zu sagen hatten, denn anders als bei unseren Lehrern an der Akademie vermittelten sie uns nicht bloß graue Theorie, sondern Wissen, das auf ihren eigenen Kampferfahrungen beruhte.
Auch heute ging es wieder einmal um die Feldzüge mit Streitwagen, für die das Wüstenregiment berühmt-berüchtigt war.
Der Außenposten von Ishir lag an der nördlichsten Grenze der Roten Wüste, die sich über den gesamten Süden Jerars erstreckte. Wie die Stadt Ishir selbst bestand auch der Rest der Grenze aus nichts als Felsen und steilen Klippen. Von Menschenhand geschaffen worden war nur ein großes Tor – die einzige offizielle Passage zwischen Nord und Süd.
Die hohen Felsen, die die Ebenen Jerars weit überragten, waren bestens geeignet für die Späher der königlichen Armee. Feindliche Invasoren hatten keine Chance, unbemerkt zur Hauptstadt Devon vorzudringen. In den letzten Jahrzehnten hatten die Felsen aber vorrangig den Truppen des Wüstenregiments als Beobachtungsposten gedient, denn zwischen Jerar und dem Nachbarreich Caltoth im Norden hatte es seit über neunzig Jahren keinen Krieg mehr gegeben.
Außerdem hatten wir erfahren, dass die natürliche Felsengrenze etwa alle fünfzig Meilen von verborgenen Tunneln durchbrochen war. Durch diese konnte die Bevölkerung im Notfall evakuiert werden. Für die Truppen im Süden wiederum war es der schnellste Weg, um auszurücken. Den königlichen Geschichtsschreibern zufolge war es der gefürchteten Schlagkraft dieser Truppen und ihrer unmittelbaren Nähe zu Devon zu verdanken, dass kein fremder Herrscher es je gewagt hatte, Jerars Hauptstadt anzugreifen.
Aufgrund der Tunnel und des ebenen Geländes hatte die königliche Armee beizeiten mehrere Hundert Streitwagen in alle nördlich gelegenen Wüstenstädte entsandt – als schnelle Eingreiftruppe.
Die Streitwagen wurden von einem Soldaten gelenkt, während ein fähiger Bogenschütze oder Kriegsmagier den Angriff ausführte. Der Schnelligkeit, mit der ein solch wendiges, leichtes Gefährt lange Distanzen überwinden konnte, hatten feindliche Angreifer kaum etwas entgegenzusetzen.
Als bevölkerungsreichste Stadt mit dem größten Regiment war Ishir zu einem der vier Gebiete auserkoren worden, in dem angehende Zauberer und Ritter im Rahmen ihrer mehrjährigen Ausbildung für Feldzüge mit den Streitwagen geschult wurden.
»Die Soldaten der Kavallerie sind davon ausgenommen, da sie nach einem Jahr Ausbildung sofort eingesetzt werden«, erläuterte die Kommandantin. »Das ist durchaus bedauerlich, anderseits ist es angesichts der weniger gewichtigen Aufgaben, die ihnen in ihrem jeweiligen Regiment zukommen, auch nicht notwendig, weitere Jahre auf ihre Ausbildung zu verwenden.«
Die Ehrfurcht gebietende Kommandantin erläuterte weitere strategische Details im Falle eines Kampfes und überließ auch den Anführern ihrer Truppen dann und wann das Wort: Sobald die Streitwagen ausgerückt waren, folgte eine Einheit berittener Kämpfer, die für gewöhnlich mit Sichelschwertern oder Hellebarden bewaffnet waren – je nachdem, ob es sich um Einheimische der Wüste oder Mitglieder der königlichen Armee handelte.
Eine Fußarmee von Soldaten zog mit Streitäxten ins Feld, um die Rüstungen der Feinde zu zerstören und sie so zur leichten Zielscheibe zu machen. Die Heiler und Alchemisten blieben in den Tunneln. Auch sie waren zum Kampf gerüstet, aber in erster Linie sollten sie Verwundete heilen oder – im Falle der Alchemisten – die letzte Verteidigungslinie bilden.
Für jedes Szenario gab es eine bestimmte Strategie, um die feindlichen Linien zu durchbrechen und letztlich den Sieg zu erringen. Das Einzige, was man uns nicht verriet, war, wo genau sich diese Tunnel befanden und wie viele davon es überhaupt gab. Und wir würden es auch nie erfahren, es sei denn, man übertrug uns eine militärische Führungsposition oder schickte uns in eine Schlacht.
Nicht einmal die Lords des Reiches wussten, wo die Tunnel lagen, und die Männer, die sie einst in den Fels geschlagen hatten, waren seit Hunderten Jahren tot.
Mir schien, die Tunnel waren Jerars bestgehütetes Geheimnis. Zwar hatte es niemand so direkt gesagt, aber ich hatte den Verdacht, dass jeder, der sich auf die Suche nach den Tunneln machte, sein Leben riskierte. Man munkelte, dass einige Wagemutige, die sich auf den Weg gemacht hatten, nie zurückgekehrt waren. Und dann war da noch der rätselhafte Tod des ehemaligen Kommandanten aus Ishir, der nach nur drei Jahren im Amt überraschend erkrankt und verstorben war, obwohl er sich zuvor bester Gesundheit erfreut hatte.
Definitiv noch so ein Geheimnis.
****
Zwei Stunden später hatte ich die meisten meiner Sorgen vergessen. Priscilla, Master Byron und mein gebrochener Arm waren nur noch kleine Ärgernisse in meinem ansonsten so perfekten Leben. Immer wenn ich aus der Felsenhalle kam und der Kommandantin gelauscht hatte, fühlte ich mich wie ein Teil von etwas ganz Großem. Und nichts und niemand konnte mir dieses Gefühl nehmen.
Ich war jetzt ein Lehrling der Akademie. Im Zweig der Kämpfer – dem prestigeträchtigsten aller drei Zweige. Wer hätte das gedacht?
In der Kavallerie wurden drei Viertel aller Anwärter Soldaten. An der Schule der Ritter schaffte es immerhin fast die Hälfte aller Bewerber, in den Stand des Knappen erhoben zu werden. An der Akademie hingegen waren nach dem ersten Probejahr nur sechzehn von ursprünglich einhundertzweiundzwanzig Schülern übernommen worden.
Inzwischen spielte nicht einmal mehr meine ärmliche Herkunft eine Rolle. Als Lehrling der Akademie genoss ich dasselbe Ansehen wie eine Adlige. Nicht einmal den Knappen wurde ein solches Privileg zuteil. Aber Magie war nun mal selten. Und bedeutsam. Also war ich es auch. Schon in vier Jahren würde ich eine Kriegsmagierin sein.
»Für jemanden mit gebrochenem Arm siehst du aber ganz schön fidel aus.«
Ich blickte auf und sah, dass Lynn und Loren – Ellas Mentor – auf Ella und mich gewartet hatten. Loren war ein hoch aufgeschossener, dunkelhäutiger Junge mit stechend blauen Augen. Mein Bruder konnte ihn nicht ausstehen.
»Danke, dass du mich an meinen Arm erinnerst, Loren«, sagte ich spitz.
Ella und ich folgten den beiden die Treppe hinunter in den Speisesaal im zweiten Stock.
Ein Stockwerk tiefer befanden sich die Unterkünfte für die Knappen oder die Lehrlinge der Akademie – je nachdem, wer von uns gerade hier war, denn wir waren nie gleichzeitig in derselben Stadt. Im Erdgeschoss lagen die Waschräume und Toiletten. Das Hauptquartier war zwar nicht so groß wie die Akademie, aber dennoch ein eindrucksvoller Bau.
Im Speisesaal gab es nur drei Tischreihen und nicht Dutzende wie in der Akademie. Aber dort waren wir zeitweise ja auch über hundert Schüler gewesen und nicht nur sechzig, so wie hier: fünfzehn Lehrlinge aus jedem der insgesamt vier Jahrgänge. Nun ja, um genau zu sein, waren wir einundsechzig, nachdem der Magische Rat meinetwegen eine Ausnahme gemacht hatte.
»Wo ist denn Ian? Macht er noch Überstunden mit Darren?«, fragte Lynn, als sie sich neben mich setzte.
»Ich glaube nicht, dass Ian mit Darren trainiert«, antwortete ich. »Wahrscheinlich ist er gerade bei Master Byron und versucht, sich aus der Strafarbeit herauszuquatschen, die Byron Ella, ihm und mir aufgebrummt hat. Bei der Unterhaltung wäre ich ja zu gern dabei …«
Ella stocherte lustlos in ihrem Essen herum. »Würde mich sehr wundern, wenn er das versuchen würde.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
Statt mir zu antworten, warf Ella einen Blick zu Lynn und schob sich eine voll beladene Gabel Curry in den Mund, das ihr bis eben angeblich viel zu scharf gewesen war.
Lynn schien plötzlich schlechte Laune zu haben. Sie versuchte es zu überspielen, indem sie mich mit Fragen bombardierte, bis ich meine eigene Frage vergessen hatte: Ob sie und ich trotz meiner Verletzung noch zusammen trainieren könnten? Ob ich dächte, dass mein kaputter Arm mich beim Zaubern beeinträchtigen würde? Ob ich mir sicher sei, dass Byron es den Heiler-Lehrlingen nicht doch erlauben würde, meinen Arm mit Magie zu behandeln?
»Hallo, die Damen. Hi, Loren. Ich hoffe, ihr habt euch keine allzu großen Sorgen um mich gemacht, während ich weg war.« Ian war an unseren Tisch gekommen, sah aber kein bisschen mitgenommen aus.
»Hast du mit Byron geredet?«, fragte ich skeptisch. Ian wirkte viel zu gut gelaunt für jemanden, der gerade ein Gespräch mit unserem Lehrer geführt hatte.
Ian setzte sich neben Loren, auf den Platz mir gegenüber. »Nö. Den Stress habe ich mir dann doch lieber erspart.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Ella und Loren sich bedeutungsvolle Blicke zuwarfen.
»Ist euch übrigens auch aufgefallen, wie Kommandantin Ama mal wieder versucht hat, die Frage nach der Lage der Tunnel zu umschiffen?«, fragte ich, um die peinliche Stille zu beenden.
Lynn zuckte die Schultern. »Was kümmern uns die Tunnel? Ich glaube nicht, dass Jerar demnächst in den Krieg ziehen wird.« Sie wandte sich an Ian. »Oder was glaubst du? Steht uns ein Krieg bevor?«
Ian grinste schelmisch. »Wieso fragen wir nicht unser Prinzlein? Schließlich ist sein Vater derjenige, der solche Beschlüsse unterzeichnet.«
Er stand auf und tat so, als würde er nach dem Prinzen Ausschau halten. Aber Darren saß – wie immer – nicht an unserem Tisch. »Schade. Mein reizender Schützling ist nicht hier. Na so eine Überraschung.«
Darren hatte noch nie mit uns zusammen Mittag gegessen, seitdem wir in Ishir waren. Stattdessen ließ er sich in der Mittagspause von Byron höchstpersönlich trainieren. Ob das Darrens oder Byrons Idee gewesen war, wusste ich nicht. Aber ich konnte verstehen, dass Ian sich darüber ärgerte. Niemand sonst bekam Privatstunden bei Byron außer Darren, der von unserem Lehrer wie ein Held verehrt wurde. Byron war versessen darauf, Darren zum Erfolg zu führen, während er alle anderen Schüler – insbesondere die, die er nicht mochte – wie Dreck behandelte.
Vor ein paar Wochen hatte ich Darren ins Gesicht gesagt, wie ungerecht ich das fand, aber er hatte nur gelacht. »Was hast du denn erwartet, Ryiah? Dass uns von nun an alle so behandeln, als wären wir gleich? Mit den Lehrern letztes Jahr hattest du Glück, die waren große Befürworter der Gleichberechtigung, aber du solltest dich damit abfinden, dass die Dinge hier und in Zukunft anders laufen werden– vor allem, solange ich im Spiel bin.«
Ich hätte Darren gern widersprochen, aber leider hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen.
Als sein Mentor fühlte sich Ian von Darrens Abwesenheit besonders provoziert. Außerdem traute er Darren nicht über den Weg, was wahrscheinlich an dessen distanzierter Art lag. Und sein grenzenloser Ehrgeiz machte die Sache auch nicht besser.
Ich konnte gut nachfühlen, wie es Ian ging – besser als jeder andere an unserem Tisch. Seit ich dem Prinzen zum ersten Mal begegnet war, hatte er mich ständig vor den Kopf gestoßen, und ich hatte ganze zehn Monate gebraucht, bis ich endlich damit aufgehört hatte, mich über sein Verhalten zu wundern.
Normalerweise hatte die Beziehung zwischen Mentoren und ihren Schützlingen für beide Seiten viel Positives. Gemeinsame Trainingsziele und Prüfungen schweißten zusammen. Jede Paarung bestand für ein Jahr, bevor man einen neuen Partner zugeteilt bekam. Zwei Jahre lang war man Schützling, zwei Jahre Mentor. So konnten wir lernen, sowohl mit Unterlegenheit als auch mit Überlegenheit klarzukommen und im Umgang mit beidem besser zu werden.
Ian deutete Darrens Extratraining zweifellos als Angriff auf seine Person. Dabei wollte Darren wahrscheinlich einfach nur die Erwartungen anderer erfüllen – wie schon sein ganzes Leben lang.
Die wenigsten verstanden, wie Darren wirklich tickte. Ich war zwar auch keine Expertin, aber einige Bemerkungen, die der Prinz im letzten Jahr fallen gelassen hatte, legten für mich den Verdacht nahe, dass das Leben als Prinz härter war, als die Leute sich vorstellen konnten. Wie sonst ließ es sich erklären, dass Darren nicht mal mit der Wimper zuckte, wenn er sich beim Training verletzte? Er verlor nie die Kontrolle über seine Magie, selbst wenn er sie dadurch heraufbeschwören musste, dass er sich Schmerzen zufügte. Das ließ für mich nur zwei Schlüsse zu: Entweder war Darren perfekt oder aber er war schlimmere Schinderei gewöhnt als wir alle.
Letzteres wollte ich ihm nur ungern zugestehen, aber niemand – nicht einmal der amtierende Schwarze Magier – war während seiner Ausbildung so ein Überflieger wie Darren gewesen. Außerdem hatte ich ja selbst miterlebt, wie hart Darren an sich arbeitete. Letztlich war sein großer Ehrgeiz auch ein Grund dafür, warum wir irgendwann Freunde geworden waren – obwohl der Weg dorthin von Missverständnissen gepflastert gewesen war.
»Ich verstehe ja, wenn man der Beste sein will«, sagte Ian, »aber deswegen kann man doch trotzdem ein bisschen nett zueinander sein. Es würde den Prinzen doch nicht umbringen, mal zusammen mit uns Mittag zu essen.« Ian sah zu mir. »Ich meine – schaut euch Ryiah an. Die ist genauso verbohrt, aber sie kriegt es trotzdem hin, sich ab und zu mit uns abzugeben.«
Ella zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Oh, mit bestimmten Leuten kriegt Darren das auch hin.«
Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Sie wusste genau, dass zwischen mir und Darren nichts lief. Okay, da war mal was gewesen, aber das war längst Geschichte. Und spätestens seit seiner Verlobung mit Priscilla von Langli, einer der wohlhabendsten jungen Damen im ganzen Königreich – und meiner persönlichen Erzfeindin –, gab es daran auch nichts mehr zu rütteln.
Ian sah wieder zu mir. »Ella hat recht, Ry. Du und Darren seid tatsächlich Freunde.« Er spuckte das letzte Wort angewidert aus. »Wie hast du das geschafft? Womit konntest du das kalte Herz unseres Prinzleins erweichen?«
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum. Ich wollte auf keinen Fall, dass die anderen herausfanden, welche Grenze Darren und ich letztes Schuljahr überschritten hatten. Vor allem Ian durfte das nie erfahren. Er war für mich mehr als nur ein guter Freund, und ich wollte nicht, dass er – so wie Priscilla – glaubte, ich würde Darren heimlich anschmachten. Weil es einfach nicht stimmte!
Ella kicherte. »Oh, glaub mir, Ian, das ist nichts, was du gern ausprobieren würdest.«
»Wieso?« Ian hob eine Augenbraue. »Was hat sie getan, was ich nicht tun könnte?« Er schenkte mir sein entwaffnendstes Lächeln. »Komm schon, Ry, verrat mir doch einfach, wie du ihn dazu gebracht hast, sein albernes Getue abzulegen.«
»Das ist kein Getue«, entgegnete ich. Und mit gesenktem Blick fügte ich hinzu: »Darren fällt es einfach nur schwer, anderen zu vertrauen. Er denkt immer, dass die Leute nur aus Berechnung nett zu ihm sind …«
Ian zog übertrieben scharf die Luft ein.
»Aber ich bin mir sicher, in ein paar Monaten wird er kapieren, dass du dir aufrichtig Mühe mit ihm gibst«, schob ich hinterher.
Ian stibitzte ein paar Trauben von meinem Teller. »Das, meine Liebe, ist die lausigste Erklärung, die ich je gehört habe.« Und halb im Scherz fügte er hinzu: »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du verteidigst ihn.«
»Tue ich gar nicht!«, antwortete ich schnell. Zu schnell.
»Ist zwischen euch irgendwas vorgefallen?« Ian beugte sich über den Tisch und sah mir in die Augen.
Ich wurde rot. »Nein.«
Ella hüstelte lautstark.
Ian lehnte sich wieder zurück und grinste breit. »Also hatte Priscilla doch recht! Du bist eine schlechte Lügnerin, Ry.«
Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Peinlicher konnte es für mich wohl kaum noch werden. Dachte ich.
Bis Ella sagte: »Mach dir nichts draus, Ry. Es interessiert wirklich niemanden, dass du den Prinzen geküsst hast.«
Zwei
Die zweite Hälfte des Tages wurde nicht besser.
Ich war gerade auf dem Weg zum Unterricht, als ich Darren in die Arme lief.
»Du wolltest also, dass ich dich zur Krankenstation trage?«, stichelte er.
Ich sah den Prinzen herablassend an. »Keine Ahnung, wovon du redest.«
Sein Mundwinkel zuckte verdächtig. »Hätte mich auch gewundert«, sagte Darren. »Du würdest dir von niemandem freiwillig helfen lassen.«
Ich verzog keine Miene. »Du kennst mich gut.«
Anscheinend hatte Darren nicht gesehen, dass Ian mich zur Krankenstation begleitet hatte – und ich würde es ihm auch nicht auf die Nase binden. Schließlich war Ian mitgekommen, weil er Lust dazu gehabt hatte – nicht weil ich ein hilfloses Mädchen war, das gerettet werden musste.
»Selbst wenn du mich darum gebeten hättest – den Gefallen hätte ich dir nicht getan«, legte Darren nach.
Und diesen Kerl hatte ich ein halbes Jahr lang angeschmachtet? Ich musste von Sinnen gewesen sein.
»Ich sage das nicht, um dich zu ärgern, Ryiah. Also guck mich nicht so böse an.«
Ich guckte ihn weiter böse an.
»Byron tut dir gut.«
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Kommt jetzt wieder die alte ›Was uns nicht umbringt, macht uns stärker‹-Leier? Kannst du dir sparen, Darren. Byron ist ein frauenverachtendes Ekel. Und überhaupt: Gegen welche Widerstände hast du hier eigentlich anzukämpfen?«
Darren hob eine Augenbraue. »Muss ich noch rausfinden.«
Ich schnaubte entnervt, marschierte in den Versammlungssaal und suchte mir einen Sitzplatz in den hinteren Bankreihen. Abgelenkt von meinem Ärger über Darren, merkte ich erst gar nicht, dass Ian sich auf die Bank neben mir gesetzt hatte.
»Streit unter Liebenden?«, flüsterte er mir plötzlich ins Ohr.
Ich warf ihm einen finsteren Blick zu.
Ella, Lynn und Loren kicherten.
»Ich hasse euch«, zischte ich – was meine fiesen Freunde nicht im Geringsten beeindruckte.
Das versprachen zwei wundervolle lange Stunden im Kreise meiner Liebsten zu werden.
****
»Ihr habt gehört, was die Kriegsmagier gesagt haben: Abstand halten ist das A und O. Hütet euch also davor, eurem Feind zu nahe zu kommen. Euer Leben ist viel zu kostbar, um es gleich in den ersten Minuten einer Schlacht zu opfern. Den Tod eines Soldaten könnte die Krone verschmerzen, aber nicht den Tod eines Magiers!«
Zum Glück ist die Infanterie nicht hier, dachte ich und beschwor mit verkniffener Miene meinen nächsten Zauber herauf.
In etwa dreihundert Metern Entfernung stand ein langer Holzzaun, der zur Pferdekoppel gehörte. Heute waren die Tiere im Stall – wie immer, wenn wir hier trainierten. Der Zaun war etwa anderthalb Meter hoch und mit Kränzen behängt. Er stellte die feindliche Linie dar und die grob gebundenen Kränze die Schwachstellen der feindlichen Verteidiger: Augen, Achseln und Brustharnisch. Ziel der Übung war es, mit magischen Pfeilen die Kränze zu treffen. Es handelte sich gewissermaßen um eine Variante des Zielens mit dem Langbogen, das wir seit Wochen jeden Morgen trainiert hatten.
Wenn wir einen Kranz trafen, der Pfeil aber nicht stecken blieb, galt unser Angriff ebenfalls als gescheitert. Unsere magischen Pfeile mussten also genug Druck haben, um die große Entfernung zu überwinden und sich dann auch noch ins Holz – beziehungsweise in den Panzer des Feindes – zu bohren. Keine leichte Aufgabe.
Die meisten Schüler im zweiten Lehrjahr, einschließlich mir, hatten an diesem Nachmittag erst ein oder zwei Treffer gelandet.
Wie die Kommandantin zuvor bereits erwähnt hatte, spielten die Streitwagen bei der Offensive der ishirschen Armee eine strategisch wichtige Rolle. Die Kriegsmagier, die darauf postiert waren, konnten die Feinde mithilfe ihrer magischen Waffen aus größerer Entfernung niederstrecken als die Ritter mit ihren normalen Waffen. Langbögen hatten eine maximale Reichweite von circa hundertzwanzig Metern. Bei anderen Waffen, die im Fernkampf eingesetzt wurden, lag die Reichweite sogar noch darunter. Doch das waren eben herkömmliche Waffen.
Ein Kriegsmagier konnte aber nicht nur mit Pfeilen auf weit entfernte Ziele schießen, sondern auch mit schwereren Geschützen. Für die ishirsche Armee war dies ein großer Vorteil.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Lynn ihre magischen Geschosse heraufbeschwor. Scheinbar mühelos ließ sie einen Pfeil nach dem anderen aus dem Nichts entstehen und Richtung Zaun zischen, wo sie sich tief in einen der Kränze bohrten, in dem schon Dutzende anderer Pfeile steckten.
»Ryiah, du brauchst viel zu lange!«, riss Byron mich aus meinen Gedanken.
Hastig beschwor ich kurz hintereinander drei Pfeile herauf. Zu meinem Ärger landeten sie alle auf der Wiese, ganz knapp vorm Ziel. Ich ließ sie verschwinden, kaum dass sie den Boden berührt hatten. Dann holte ich tief Luft und versuchte es noch einmal.
»Ruhig bleiben, Ry«, flüsterte Lynn.
Ich warf ihr ein dankbares Lächeln zu und machte mich sofort wieder ans Werk.
Ich hatte mich von den Schmerzen in meinem Arm – und von Master Byron – ablenken lassen. Diesmal würde ich mich voll und ganz auf meine Aufgabe konzentrieren.
Ich beschwor einen ein Meter langen Pfeil herauf und stellte mir einen Langbogen aus Ulmenholz vor. Das war die Ausrüstung, die wir auch im Training benutzten. Dann spannte ich meinen imaginären Bogen und ließ den Pfeil fliegen. Surrend schoss er auf sein Ziel zu. Er war noch in der Luft, als ich schon die nächsten Pfeile abfeuerte. Dieser Zauber erforderte den Einsatz aller Sinne und war nicht weniger kräftezehrend als das Schießen mit einem echten Bogen.
Während wir schossen, ließ Master Byron den Boden unter unseren Füßen beben. Ich musste die Stiefelsohlen tief in den Sand rammen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und exakt zielen zu können. Ganz offensichtlich wollte unser Lehrer sehen, ob wir auch in einem fahrenden Streitwagen in der Lage wären, unsere Konzentration aufrechtzuerhalten.
Mein zweiter und dritter Versuch waren erfolgreich: Jedes Mal traf mindestens einer der Pfeile einen Kranz.
Die nächste halbe Stunde verging wie im Flug. Ich hatte einen richtigen Lauf. Die Hälfte meiner Pfeile traf das Ziel, die andere Hälfte landete nur knapp daneben.
Doch dann fing mein Magen an zu rebellieren. Übelkeit stieg in mir auf. Ich schmeckte bittere Galle auf der Zunge und mein Blick verschwamm. Das waren keine guten Vorzeichen! Ich fing an zu schwitzen, was diesmal leider nicht an der brütenden Hitze lag.
Als dann auch noch meine Beine zu zittern begannen, brach ich die Übung ab. Meine Pfeile lösten sich mitten im Flug in Luft auf.
Ich hockte mich hin, legte den Kopf zwischen die Knie und wartete darauf, dass das Schwindelgefühl nachließ. Ein paar Minuten später fühlte ich mich tatsächlich schon etwas besser. Ich richtete mich wieder auf und sah nach meinen Mitschülern.
Es beruhigte mich ein bisschen, dass Priscilla, Ella und Ray – der Junge, gegen den ich in der letzten Abschlussprüfung verloren hatte – inzwischen ebenfalls aufgegeben hatten. Auch Lynn sah aus, als würde sie nicht mehr lange durchhalten, genau wie Darren und Eve. Selbst die erfahrensten Lehrlinge unter uns schienen am Ende ihrer Kräfte zu sein. Allerdings hatten sich einige von ihnen auch an schwereren Geschützen als Pfeilen versucht.
In meinem ersten Jahr an der Akademie hatte unser Lehrer, Master Cedric, uns immer bis zur völligen Erschöpfung zaubern lassen. Es war der schnellste Weg zu hoher Ausdauer, aber das hatte seinen Preis gehabt. Oft war uns nach dem Training speiübel oder schwindlig gewesen, manchmal hatten wir sogar das Bewusstsein verloren.
Unser Training hier war anders ausgerichtet. Nach der Wintersonnenwende würden wir fünf Monate lang die Patrouillen des hiesigen Regiments verstärken. Alle Übungen bereiteten uns auf reale Kämpfe vor – was bedeutete, dass nicht mehr Ausdauer das Entscheidende war, sondern dass wir am Leben blieben.
Unsere Grenzen auszutesten, war sinnvoll gewesen, als es darum ging, unsere magischen Fähigkeiten schnellstmöglich zu entfalten. Was nun zählte, war Taktik.
Jeder von uns verfügte über ein anderes Potenzial – über andere Entwicklungsmöglichkeiten. Aber diese Möglichkeiten waren endlich. Hatte man seine persönliche Höchstform erreicht, ging es darum, die eigenen Fähigkeiten bestmöglich einzusetzen.
Bei den meisten war die Entwicklung ihrer magischen Kräfte im Alter von etwa siebzehn Jahren abgeschlossen, bei einigen wenigen erst in den frühen Zwanzigern. Mit Anfang dreißig ließ die Kondition eines Magiers für gewöhnlich nach, selbst wenn er jeden Tag fleißig trainierte. Das war auch der Hauptgrund dafür, warum man permanent Ausschau nach aussichtsreichen Kandidaten für ein Amt im Magischen Rat hielt: Unser Reich brauchte die Besten, selbst wenn es bedeutete, dass die Besetzung des dreiköpfigen Rats alle paar Jahre wechselte.
»Ihr seid hier, um eines Tages in einer richtigen Schlacht zu kämpfen«, hatte Byron an unserem ersten Tag in Ishir verkündet. »In einer richtigen Schlacht geht es aber nicht darum, möglichst ausdauernd zu zaubern, sondern effektiv. Wenn ihr auf dem Schlachtfeld merkt, dass euch eure Kräfte verlassen, müsst ihr die Zauberei sofort einstellen und euch in Sicherheit bringen. Ich will niemanden ohnmächtig werden sehen, es sei denn, die Gefahr ist gebannt oder die Schlagkraft eurer Magie ist es wert, dass ihr euer Leben aufs Spiel setzt.«
Das Bewusstsein zu verlieren oder zu riskieren, vom Wagen zu stürzen, nur weil man die feindliche Front aus »entbehrlichen« Fußsoldaten mit einem allerletzten Pfeil beschießen wollte, wäre idiotisch gewesen. Das leuchtete mir ein. Auch wenn einen so ein allerletzter Pfeil nicht umbrachte, so machte es einen womöglich zu einem leichten Ziel für all jene, die einen umbringen konnten. Die Kunst bestand also darin, dem Feind empfindlichen Schaden zuzufügen und rechtzeitig zu erkennen, wann man sich besser zurückziehen sollte. Niemand hatte etwas davon, wenn ein Magier der feindlichen Meute von Soldaten zum Opfer fiel.
Kaum dass auch der Rest meiner Mitschüler die Schießübung beendet hatte, schwang Byron eine vollmundige Lobesrede auf Darren und beleidigte uns Mädchen. Es war immer dasselbe.
Frauen waren schwach. Wir waren dumm, launisch und gefühlsduselig. Wir waren dazu geschaffen, zu gehorchen, nicht dazu, zu führen, und sosehr wir uns auch anstrengten – Männer würden immer die besseren Magier sein. Sie waren nun mal zum Kämpfen geboren – im Gegensatz zu uns Frauen. Darum hatten wir auf dem Schlachtfeld auch nichts zu suchen. Der Umstand, dass wir in meinem Jahrgang bei den Kämpfern doppelt so viele Mädchen wie Jungen waren, schien Byron dabei wenig zu beeindrucken.
Die Einzige von uns, die gelegentlich eine gute Beurteilung bekam, war Priscilla, aber wahrscheinlich auch nur, weil sie die Verlobte des Prinzen war. Bei uns anderen machte Byron sich gar nicht erst die Mühe, mit seinen Vorurteilen hinterm Berg zu halten.
Ich fragte mich, was Eve von Byron hielt. Das Mädchen mit den veilchenblauen Augen begehrte niemals auf, wenn unser Lehrer mal wieder vom Leder zog. Wahrscheinlich war es ihr einfach egal. Priscilla war die Verärgerung über Byrons frauenfeindliche Sprüche deutlich anzusehen, aber sie war clever genug, ihrem Ärger nicht lautstark Luft zu machen. Ella war längst nicht so beherrscht wie Priscilla, doch da es Byron weitaus seltener auf sie abgesehen hatte als auf mich, verbrachte sie die meiste Zeit damit, mich zu bedauern, statt unserem Lehrer Paroli zu bieten. Die Schülerinnen aus den höheren Jahrgängen schienen dieselbe Strategie wie Eve zu fahren: Halte den Mund und du hast deine Ruhe.
Das schien zu funktionieren. Es sei denn, man war ich.
»Das nächste Mal musst du dich besser konzentrieren, Ryiah. Ein gebrochener Arm ist keine Entschuldigung für deine schlechte Darbietung.«
Wie bitte? Ich war heute so gut wie noch nie gewesen! Ich hatte das Ziel öfter getroffen als die meisten anderen meines Jahrgangs! Selbst Ellas Mentor Loren hatte ich ausstechen können, genau wie Bryce, einen anderen Schüler aus dem dritten Lehrjahr. Aber wie immer wollte Master Byron nur meine Fehler sehen.
Ich schluckte meine Wut darüber hinunter – ein ziemlich zähes Unterfangen – und trat gemeinsam mit den anderen den Rückweg zum Hauptquartier an.
Das Trainingsgelände war etwa eine Meile vom Hauptquartier entfernt. Normalerweise war mir der lange Weg nach einem anstrengenden Training lästig, aber heute war ich froh darüber, noch etwas Zeit zu haben, um meine Gedanken zu sortieren.
Dieser Vollidiot ist mir total egal, meine Ausbildung ist das Einzige, was zählt. Wenn ich es mir nur oft genug sagte, würde aus dem Wunschgedanken irgendwann Wirklichkeit werden, hoffte ich.
Es fiel mir immer schwerer, mich zusammenzureißen, wenn Byron mich kritisierte. Es war einfach nur ungerecht, dass dieser Tyrann mich immer noch büßen ließ, nur weil ich ganz am Anfang ein paarmal die Beherrschung verloren hatte.
Plötzlich rempelte mich jemand an und ein grässlicher Schmerz schoss meinen Arm hinauf. Ich unterdrückte einen Schrei.
»Hoppla! Oh, das tut mir aber leid!«
Ich funkelte Priscilla wütend an. »Das hast du doch mit Absicht gemacht!« Vor lauter Schmerzen tanzten grellbunte Pünktchen vor meinen Augen.
In diesem Moment pfiff ich darauf, dass Master Byron uns verboten hatte, außerhalb des Unterrichts zu zaubern. Es war höchste Zeit, dass jemand dieses Mädchen mal in seine Schranken wies! Und allem Anschein nach war ich heute gut in Form.
»Ach ja? Das musst du erst mal beweisen«, entgegnete Priscilla.
»Beweisen?«, knurrte ich und hoffte, dass Master Byron zu weit weg war, um uns zu hören. »Ich muss gar nichts beweisen. Und warum forderst du mich eigentlich nie direkt heraus, sondern kommst mit solchen hinterhältigen, feigen Aktionen?«
»Ryiah!« Darren umfasste meinen gesunden Arm. »Nicht«, sagte er bestimmt.
»Warum nicht?«, blaffte Priscilla ihn an.
»Warum nicht?«, blaffte ich ihn an.
Darren bedachte seine Verlobte mit einem kühlen Blick. »Weil du heute gegen sie verlieren würdest.«
»Sie kann mich gar nicht schlagen«, schnaubte Priscilla.
Darren hielt meinen Arm weiter fest. »Doch, sie kann. Und wenn du nicht sofort aufhörst, sie weiter zu provozieren, werde ich sie nicht länger davon abhalten.«
Mit Vergnügen beobachtete ich, wie das Gesicht der dunkelhaarigen Schönheit rot anlief. »I-i-ich werde Byron sagen, d-d-dass sie mich angegriffen hat!«, stammelte sie.
»Priscilla …« Darren verlor allmählich die Geduld. »Wenn du das machst, werde ich ihm erzählen, wie es wirklich war … Du und ich sind verlobt, schön und gut, aber Ryiah ist meine Freundin. Ich versuche ja wirklich, mich aus eurem Kleinkrieg herauszuhalten, aber wenn du das machst, werde ich mich auf Ryiahs Seite stellen.«
Priscilla schnaubte wütend und stapfte davon. Ein paar unserer Mitschüler applaudierten, vereinzelt ertönten anerkennende Pfiffe. Jetzt war ich diejenige, die rot anlief. Darren ließ meinen Arm sofort los.
Wie ich feststellen musste, war Master Byron doch nicht so weit weg gewesen, wie ich gehofft hatte. Er hatte alles gehört, sagte aber auch jetzt keinen Ton, sondern starrte mich nur ärgerlich an. Es war klar, dass er nur wegen Darren nicht eingeschritten war.
Das hat sein Frauenbild bestimmt bestätigt, dachte ich grimmig.
»Was macht dein Arm?«
Ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Darren immer noch neben mir stand. So nah waren wir uns seit unserer Begegnung im Turm am Tag meiner Prüfung nicht mehr gewesen – nur dass ich damals noch nicht gewusst hatte, ob ich ihm trauen konnte.
»M-mir g-geht’s gut«, stotterte ich. Mir war plötzlich ganz schwindlig. Ob das an Priscillas Rempler lag oder daran, dass Darren meinen Arm berührt hatte, konnte ich nicht genau sagen. Ich hoffte auf Ersteres. »Danke«, fügte ich hastig hinzu, »für das, was du gesagt hast.«
»Wir sind Freunde, Ryiah.« Er lächelte mich an.
»Ich weiß«, erwiderte ich. »Aber ihr beide seid verlobt …«
Darrens Miene wurde hart. »Sie wird sich schon wieder einkriegen«, brummte er.
»Was ist passiert, Ry?« Ian, Ella und Loren waren zu uns geeilt. Sie waren so ins Gespräch vertieft gewesen, dass sie gar nichts mitbekommen hatten, bis Priscilla plötzlich wutentbrannt an ihnen vorbeimarschiert war.
»Priscilla hat mal wieder die Priscilla-Show abgezogen. Nur dass diesmal mein Arm darunter leiden musste.« Ich lachte schwach. Mein Arm tat immer noch höllisch weh, aber ich wusste, dass Byron keinem Heiler erlauben würde, ihn auch nur zu berühren. Immerhin hatte das diesmal ausnahmsweise nichts mit mir persönlich zu tun. Wie die übrigen Lehrer war auch Byron davon überzeugt, dass wir lernen mussten, Schmerzen zu ertragen.
Ian entging nicht, wie ich mich quälte. »Jemand muss sich deinen Arm ansehen«, sagte er. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Bestimmt können wir deinen Bruder davon überzeugen, mal einen Blick darauf zu werfen.«
Ich protestierte halbherzig und rechnete schon damit, dass Darren eine schnippische Bemerkung darüber fallen lassen würde, dass erst Schmerzen aus einem Magier einen guten Magier machten, aber komischerweise blieb er stumm.
»Zier dich nicht so, Ry«, sagte Ian. »Alex soll den Bruch ja nicht heilen. Das würde Byron sowieso sofort merken. Aber er kann dir zumindest einen Tipp geben, was du gegen die Schmerzen machen kannst.« Ian schenkte Darren ein schmales Lächeln. Ganz gleich, was er über den Prinzen gesagt hatte – ich wusste, dass Ian aufrichtig an einer Freundschaft mit ihm interessiert war. »Ich übernehme ab jetzt.«
Der Prinz musterte uns stirnrunzelnd. Ich hätte zu gern gewusst, was er gerade dachte.
»Klar.« Darrens Miene war wieder so undurchdringlich wie eh und je. Mit einem letzten Blick zu mir sagte er: »Frag deinen Bruder nach Arnikasalbe.«
****
Alex schälte sich gerade eine Mango, als wir in den Speisesaal kamen. Er war kurz irritiert, uns zu sehen, vor allem Ella, aber er fing sich schnell wieder.
»Ihr braucht Arnikasalbe?«
»Du weißt, was das ist?«, fragte ich.
»Klar.« Er sah mich belustigt an. »Mich überrascht eher, dass Darren weiß, was das ist. Die wenigsten Laien kennen Arnika oder ihre Wirkung.«
»Und, kannst du uns die Salbe besorgen?«, wollte Ian wissen.
»Könnte ich … Aber ich bräuchte Hilfe …« Sein Blick fiel auf Ella, die neben uns stand. Er schluckte. »Die Medizinvorräte werden in einer kleinen Kammer in der Krankenstation aufbewahrt. Ihr müsstet die anderen Heiler ablenken, während ich die Salbe besorge. Jetzt wäre eine ganz gute Gelegenheit. Master Joan macht gerade Pause.«
»Dann lasst uns gehen«, sagte Ella, ohne meinen Bruder anzusehen, und an Loren gewandt: »Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst.«
Loren schüttelte den Kopf. Seine Augen leuchteten. »Den Spaß lass ich mir doch nicht entgehen!«
Mein Bruder schien wenig begeistert, aber er sagte nichts.
Auf dem Weg zur Krankenstation plapperten Ella, Ian und Loren in einem fort, während mein Bruder und ich peinlich vor uns hin schwiegen. Alex warf immerzu eifersüchtige Seitenblicke auf Ella und Loren, bis ich ihm einen Tritt verpasste.
»Aua!«
»Hör auf, Loren anzustarren!«, zischte ich.
»Hab ich gar nicht.«
»Hast du wohl.«
Mein Bruder runzelte die Stirn. »Läuft da was Ernstes zwischen den beiden?«
»Sie flirten nicht miteinander, falls du das meinst«, erwiderte ich knapp.
»Noch nicht«, grummelte Alex, drängte sich dichter an meine Seite und flüsterte mir zu: »Du musst irgendwie einfädeln, dass Ella und ich mal kurz ungestört sind. Sag ihr, dass sie mit mir mitkommen soll, wenn ich die Salbe hole.«
»Warum sollte ich das tun?«
Das letzte Mal, als die beiden im selben Raum waren, hatte Ella meinen Bruder beim Rumknutschen mit einem anderen Mädchen erwischt – und das, obwohl sich zwischen Ella und ihm gerade etwas angebahnt hatte. Das war jetzt einen Monat her. Unter Schluchzen hatte mir meine Freundin damals erzählt, was sie gesehen hatte, und geschworen, nie wieder ein Wort mit meinem Zwillingsbruder zu wechseln. Sie hatte sich bis jetzt daran gehalten und ich hatte nie versucht, sie umzustimmen.
Es war nicht Alex’ erste Aktion dieser Art. Die Liste gebrochener Herzen, die er in unserem Heimatdorf Demsh’aa zurückgelassen hatte, war meilenlang. Nur schien es ihm diesmal aufrichtig leidzutun. Nachdem zwischen ihm und Ella tagelang eisiges Schweigen geherrscht hatte, war er sogar weinend vor meinen Augen zusammengebrochen und hatte mich angefleht, mit Ella zu reden.
»Ich muss ihr erklären, was passiert ist«, sagte Alex jetzt. »Bitte, Ry.«
Er sah mich verzweifelt an und ich spürte einen Anflug von Mitgefühl. Zugleich verfluchte ich meinen Bruder dafür, dass er es immer wieder schaffte, Mitgefühl zu erregen. Niemand konnte in diese traurigen blauen Augen blicken und ihm einen Wunsch abschlagen.
»Na schön«, sagte ich äußerst widerwillig. »Aber wenn sie dann wieder heulend vor mir steht, helfe ich dir nie wieder. Nie wieder, hörst du, Alex?«