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Callum Hunt ist kein normaler Magier. In ihm wohnt die Seele von Constantine Madden weiter, seinerzeit der berühmteste Magier im Magisterium. Doch Constantine ist vom Weg der guten Magie abgekommen, als er sich dem Ziel verschrieben hat, den Tod für immer zu besiegen. Dafür hat er viel Leid über andere gebracht und schließlich zumindest einen Weg gefunden, selbst lebendig zu bleiben - im Körper von Callum Hunt. Auch Callum hat sich einem großen Ziel verschrieben. Doch anders als Constantine und seine Mitstreiter setzt er alles daran, der bösen Magie die Stirn zu bieten ...
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Seitenzahl: 286
Holly Black & Cassandra Clare
Der goldene Turm
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anne Brauner
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»Magisterium – The Golden Tower«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Holly Black and Cassandra Clare LLG
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Thomas Krämer nach einem Design von © FAVORITBUERO, München
Umschlagmotiv: © shutterstock/Vorobiov Oleksii 8; © shutterstock/4ek
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-6157-5
Sie finden uns im Internet unter: www.one-verlag.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Cammie und Elliot,die beide gut darin sind, böse zu sein.
Zum ersten Mal in Calls Leben sah das Haus, in dem er aufgewachsen war, klein aus.
Nachdem Alastair geparkt hatte, stiegen sie aus, auch Mordo, der sofort bellend um den Rasen lief. Bevor er den Wagen abschloss, warf Alastair noch einen Blick auf Call – diesmal hatte er keinen Koffer dabei, keine Reisetasche oder anderes Gepäck, um das man sich hätte kümmern müssen. Call war mit leeren Händen von Master Joseph nach Hause gekommen.
Mit leeren Händen kann man so nicht sagen, meinte Aarons Stimme in Calls Kopf. Du hast doch mich.
Call versuchte nicht zu lächeln. Sein Vater würde sich wundern, wenn er ohne Anlass vor sich hin grinste, zumal es in letzter Zeit nicht viel gab, worüber man lächeln konnte. Das Magisterium hatte Master Joseph und seine Truppen besiegt, doch die Schlacht hatte viele Opfer gefordert. Calls bester Freund Aaron war von den Toten auferstanden, nur um erneut zu sterben.
Das war jedenfalls die allgemeine Lesart.
»Geht’s dir gut?« Alastair musterte Call mit zusammengekniffenen Augen. »Du siehst aus, als hättest du was am Magen.«
Call lächelte jetzt doch. »Ich bin nur froh, wieder zu Hause zu sein.«
Alastair nahm ihn unbeholfen in den Arm. »Das kann man dir nicht verübeln.«
Drinnen wirkte das Haus ebenfalls kleiner, fand Call, als er dicht gefolgt von dem hechelnden Mordo in sein Zimmer ging. Es war nach wie vor ungewohnt, seinen Gefährten mit normalen grünen Wolfsaugen statt den strudelnden Blicken der Chaosbesessenen zu sehen. Call bückte sich, um Mordo hinter den Ohren zu kraulen, und der Wolf klopfte gähnend mit dem Schwanz auf den Boden.
Call streifte durch sein Zimmer, nahm ziellos Dinge in die Hand und legte sie wieder weg: seine alte Uniform aus dem Eisenjahr, glatte Kieselsteine aus den Höhlen des Magisteriums oder ein Foto von ihm, Aaron und Tamara, auf dem sie alle strahlten.
Tamara. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Er hatte nicht mit ihr gesprochen, seit sie auf dem Schlachtfeld vor Master Josephs Stützpunkt neben seinem geschundenen Körper auf die Knie gesunken war. In jenem Augenblick hatte er fast daran geglaubt, dass sie ihn so lieb hatte, wie er es sich wünschte. Doch ihr anschließendes Schweigen hatte ihn wieder auf seinen Platz verwiesen. Selbst wenn man nicht wollte, dass jemand starb, hieß das noch lange nicht, dass man mit ihm reden wollte, nachdem alle am Leben geblieben waren.
Tamara war von Anfang an dagegen gewesen, dass Call Aaron von den Toten aufgeweckt hatte, und sobald er es doch getan hatte, fand sie, dass Aaron nicht der Alte war. Und Call musste zugeben, dass Aaron sich wirklich nicht wie früher verhalten hatte. Wie sich herausstellte, geschahen sonderbare Dinge mit einer Seele, wenn man sie in einen bereits leicht verwesten Körper zurückbrachte. Witzigerweise war Aaron wieder sehr viel mehr er selbst, seit er in Calls Kopf herumgeisterte. Doch Tamara wusste nicht, dass Aaron noch da war, und Call war sich sicher, dass sie das überhaupt nicht gut finden würde. Sie hielt Call ohnehin schon für einen bösen Zauberer oder zumindest für jemanden mit bösen Absichten.
Doch darüber wollte Call lieber nicht nachdenken. Tamara war von allen Menschen auf der ganzen Welt immer diejenige gewesen, die am meisten an ihn geglaubt hatte.
Wir werden es ihr aber trotzdem sagen.
Call zuckte zusammen. Obwohl Aaron in der ganzen Zeit auf der Krankenstation des Magisteriums, wo Call die Nachwirkungen des übermäßigen Einsatzes von Chaosmagie im Kampf gegen Alex hatte auskurieren müssen, bei ihm gewesen war, fand Call es nach wie vor verstörend, dass jemand seine Gedanken hören und einen Kommentar dazu abgeben konnte.
Es klopfte, und Alastair steckte den Kopf zur Tür hinein. »Hast du Lust auf Abendessen? Ich könnte gebratene Paprika-Sandwiches machen. Oder wir bestellen Pizza.«
»Sandwiches wären super«, sagte Call.
Alastair bereitete sie mit Sorgfalt zu, bestrich die Pfanne mit Butter, damit das Brot gut bräunte, und öffnete eine Dose Tomatensuppe. Calls Vater war noch nie ein besonders guter Koch gewesen, aber mit ihm zu Abend zu essen – und Mordo unterm Tisch heimlich Brotkrusten zuzustecken – war viel besser als das köstlichste Festmahl bei Master Joseph.
»So«, sagte Alastair, sobald sie sich hingesetzt und mit dem Essen begonnen hatten. Die Tomatensuppe war salzig und süß zugleich, genau richtig, und der Paprika-Käse hatte die perfekte Schärfe. »Wir müssen über die Zukunft reden.«
Call hob perplex den Blick von der Suppe. »Über die Zukunft?«
»Du kommst jetzt in den Goldjahrgang des Magisteriums. Alle sind sich einig, dass du, äh, genug Magie gelernt hast und das Silberjahr sozusagen erfolgreich abgeschlossen hast. Sobald du im Herbst wieder zur Schule gehst, kannst du durchs Tor marschieren.«
»Ich kann doch nicht ins Magisterium zurück!«, sagte Call. »Die hassen mich alle.«
Geistesabwesend strich Alastair sich die dunklen Haare aus der Stirn. »Mittlerweile nicht mehr, würde ich vermuten. Du bist wieder ein Held.« Calls Dad war in vielerlei Hinsicht ein großartiger Vater, aber im Trösten war er nicht ganz so gut. »Außerdem musst du nur noch ein Jahr dabeibleiben, und ohne Master Joseph dürfte es einigermaßen ruhig bleiben.«
»Das Kollegium-«
»Du musst nicht ins Kollegium gehen, Call«, unterbrach ihn Alastair. »Ich finde es sogar besser, wenn du das nicht tust. Nach Aarons Tod bist du der letzte lebende Makar. Sie werden versuchen, dich für ihre Zwecke zu benutzen, während sie dir gleichzeitig niemals vertrauen. Das Leben eines normalen Magiers ist für dich nicht möglich.«
Insgeheim dachte Call, dass Magier ohnehin nicht in der Lage waren, ein normales Leben zu führen. »Und was soll ich sonst machen? Auf ein ordentliches College gehen?«
»Ich habe überhaupt kein College besucht«, entgegnete Alastair. »Wir könnten eine Auszeit nehmen und zum Beispiel auf Reisen gehen. Ich könnte dir beibringen, was ich so tue, und wir könnten ein Geschäft aufmachen – Vater und Sohn. Was hältst du von Kalifornien?« Er rührte mit dem Löffel in der Suppe herum. »Gut, wir müssten unsere Namen ändern. Und sowohl dem Magisterium als auch dem Präsidium aus dem Weg gehen. Aber es würde sich lohnen.«
Call fiel dazu erstmal nichts ein. Es klang verlockend, nichts mehr mit dem Präsidium und seiner Einstellung zu den Makaris zu tun zu haben. Und vor allem dem allgemeinen Hass auf Constantine Madden aus dem Weg zu gehen, dem Feind des Todes, dessen Seele in Call weiterlebte. Andererseits …
»Hör mal, ich muss dir etwas sagen«, sagte Call. »Aaron ist nicht wirklich tot.«
Alastair runzelte besorgt die Stirn.
Oh-oh, dachte Aaron. Hoffentlich flippt er nicht aus.
»Was meinst du damit?«, fragte Alastair behutsam.
»Dass er immer noch in meinem Kopf steckt, also, dass er in mir weiterlebt«, sprudelte Call hervor.
Es ist nicht unbedingt nötig, es ihm zu verraten, sagte Aaron. Ausgerechnet er, der eben noch der Meinung gewesen war, sie müssten es Tamara aber sagen.
Als Alastair bedächtig nickte, atmete Call vor Erleichterung tief aus. Sein Vater nahm diese Neuigkeit erstaunlich gut auf. Vielleicht hatte er sogar eine Idee, wie sie damit umgehen konnten.
»Das ist eine gute Sichtweise«, sagte Alastair schließlich. »Du wirst wirklich prima damit fertig. Kummer ist schlimm, das weiß ich selbst. Aber am besten behält man den Menschen, den man verloren hat, in Erinnerung und-«
»Du verstehst das falsch«, schnitt Call ihm das Wort ab. »Aaron spricht mit mir. Ich kann ihn hören.«
Alastair hörte nicht auf zu nicken. »Das Gefühl hatte ich nach dem Tod deiner Mutter auch manchmal. Es war beinahe so, als würde Sarah laut mit mir schimpfen, vor allem einmal, als ich dich draußen herumkrabbeln ließ und du Erde gegessen hast, weil ich nicht aufgepasst hatte.«
»Ich habe Erde gegessen?«, fragte Call.
»Das ist gut fürs Immunsystem«, wehrte Alastair ab. »Du hast dich bestens entwickelt.«
»Kann sein«, sagte Call. »Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass Aaron wirklich bei mir ist.«
Alastair legte Call sanft eine Hand auf die Schulter. »Das weiß ich doch.«
Danach brachte Call es nicht übers Herz, weiterzusprechen.
In der Nacht, bevor er zu seinem Abschlussjahr im Magisterium aufbrechen sollte, lag Call schlaflos im Bett, während der Mond einen weißen Streifen auf seine Bettdecke warf. Er hatte eine Reisetasche gepackt, in die er auch die dunkelrote Uniform des Goldjahres gelegt hatte. Er musste daran denken, wie Alex Strike in der Uniform des goldenen Jahrgangs ausgesehen hatte, wie cool und selbstbewusst er mit seinen Freunden umgegangen war. Und jetzt war Alex tot. Doch Call war froh darüber, denn Alex hatte Aaron ermordet und den Tod verdient.
Call. Aaron hatte seine Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Denk jetzt nicht über diese Dinge nach. Du musst nur den morgigen Tag überstehen.
»Aber alle werden mich hassen«, sagte Call. Obwohl er wusste, dass sein Vater anderer Meinung war, glaubte er ziemlich fest daran. Selbst wenn er in der letzten Schlacht auf der richtigen Seite gekämpft und möglicherweise das Magisterium gerettet hatte, trug er nach wie vor Constantine Maddens verdorbene Seele in seiner Brust.
Mordo jaulte, stieß die Nase in Calls Hand und machte Anstalten, unter seine Bettdecke zu kriechen. Das war niedlich gewesen, als er ein kleiner Welpe gewesen war, doch als ausgewachsener Wolf war es schlichtweg gefährlich, selbst wenn er nicht mehr chaosbesessen war.
Lass das, Mordo, dachte Aaron, und Mordo riss blinzelnd den Kopf herum. Er kann mich hören! Aaron klang entzückt.
»Das bildest du dir ein«, sagte Call.
Es klopfte an seine Tür. »Call? Telefonierst du?«, fragte Alastair.
»Nein!«, rief Call. »Ich habe … nur was zu Mordo gesagt.«
»Na gut.« Man hörte, dass Alastair ihm nicht glaubte, doch er entfernte sich wieder.
Du hast Tamara, Mordo und mich, sagte Aaron. Wenn wir zusammenhalten, kann uns nichts passieren.
Als er auf dem Beifahrersitz von Alastairs silbernem Rolls-Royce Phantom aus dem Jahr 1937 saß und wieder einmal zum Magisterium fuhr, musste Call daran denken, wie sie vor vier Jahren zur Eisenprüfung angereist waren. Er wusste noch, dass sein Vater ihm eingeschärft hatte, wenn er nur durchfiele, müsste er auch nicht auf die Magierschule gehen. Und das wäre etwas Gutes, weil er sonst in den Tunneln sterben könnte.
Mittlerweile wusste Call, wovor sein Vater damals wirklich Angst gehabt hatte – vor der Enthüllung, dass Call das Gefäß für Constantines Seele war. Und bis auf den Teil mit dem Tod in den Tunneln war alles, was sein Dad befürchtet hatte, dann ja auch geschehen.
Und auch das konnte noch passieren.
Warum denkst du über die schlimmsten Dinge nach, die es gibt?, fragte Aaron. Wie dieses Punktesystem des bösen Kriegstreibers. Darüber müssen wir uns wirklich mal unterhalten.
»Lass mich«, sagte Call.
Alastair warf ihm einen schrägen Seitenblick zu. »Ich lasse dich ja, Callum. Allerdings fällt mir schon auf, dass du heute wirklich sehr still bist.«
Call musste aufhören, Aaron laut zu antworten.
Und Aaron musste unbedingt aufhören, in seinem Gedächtnis zu kramen.
»Mir geht’s gut«, sagte Call zu seinem Vater. »Ich bin bloß ein bisschen nervös.«
»Nur noch ein Jahr«, sagte Alastair, als sie auf die Straße abbogen, die zu den Höhlen führte, in denen die Schule untergebracht war. »Danach können die Magier nicht mehr behaupten, du wärst gefährlich, weil du nicht angemessen ausgebildet wärst, oder so einen Quatsch. Noch ein Jahr, dann bist du die Magier für immer los.«
Kurz darauf stieg Call aus und warf die Reisetasche über die Schulter. Als Mordo den Wind roch, sprang er ebenfalls aus dem Rolls-Royce, während ein Bus weitere Lehrlinge herankarrte, die frisch von der Eisenprüfung kamen. Sie sahen so klein und jung aus, dass Call sich geradezu Sorgen um sie machte. Einige von ihnen blickten aufgeregt zu ihm hinüber und flüsterten miteinander.
Auf der Stelle hörte er auf, sich Sorgen zu machen, und hoffte, dass Warren, eine merkwürdige Echse, die in den Höhlen lebte, sie in eine Erdspalte locken würde.
Damit hättest du dir jedenfalls ein paar von deinen Kriegstreiberpunkten verdient, sagte Aaron.
»Hör auf, in meinen Gedanken rumzustochern«, murrte Call leise.
Alastair kam um den Wagen herum, umarmte ihn zum Abschied und klopfte ihm auf die Schulter. Zu seiner Überraschung bemerkte Call plötzlich, dass sie mittlerweile fast gleich groß waren.
Überall tuschelten die anderen Schüler und starrten ihn und seinen Vater an. Als Alastair einen Schritt zurücktrat, sah Call, dass er angespannt die Zähne aufeinanderbiss. »Du bist ein guter Junge«, sagte Alastair. »Die haben dich gar nicht verdient.«
Als er abfuhr, schaute Call ihm seufzend nach und machte sich dann auf den Weg in die Höhlen des Magisteriums. Mordo trottete neben ihm her.
Alles fühlte sich vertraut und fremd zugleich an: der Geruch des Gesteins, der immer intensiver wurde, je tiefer er in das Labyrinth der Tunnel eindrang. Das Huschen kleiner Echsen und das Glühen des Mooses ebenso wie die Art und Weise der anderen Lehrlinge, ihn anzustarren und hinter vorgehaltener Hand zu lästern – wobei das ziemlich unangenehm war. Sogar einige Master beteiligten sich daran. Call erwischte Master Rockmaple, der ihn anglotzte, als er die Tür zu seinen Räumlichkeiten ansteuerte, und antwortete mit einer Grimasse.
Call hielt sein Armband an die Tür, und sie schwang auf.
Als er hineinging, war er überrascht, dass Tamara auf dem Sofa saß. Sie trug bereits die Uniform des Goldjahrgangs.
Wieso dachtest du, sie wäre nicht da?, fragte Aaron. Sie wohnt doch auch hier.
Ausnahmsweise antwortete Call ihm nicht laut. Doch das lag nur daran, dass es in seinen Ohren rauschte und er nur noch Tamara im Kopf hatte. Wie hübsch sie war und wie ihre Haare glänzten, die sie zu einem einzigen schweren Zopf geflochten hatte, und wie alles an ihr genau am richtigen Platz war, von der feinen Zeichnung ihrer Augenbrauen bis zu ihrer makellosen Uniform.
Das war komisch, sagte Aaron. Dein Verstand ist gerade irgendwie komplett in Rauch aufgegangen. Call? Erde an Call?
Er musste etwas sagen. Er wusste, dass er etwas sagen musste, zumal Tamara ihn immer noch ansah, als würde sie genau darauf warten.
Doch er fühlte sich zerlumpt, unbeholfen und total daneben. Außerdem hatte er keine Ahnung, wie er ihr erklären sollte, dass er vielleicht nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen hatte, die aber doch zu einem guten Ende geführt hatten, und dass er nicht sauer war, weil sie mit Jasper die Flucht ergriffen und ihn in der Zentrale der bösen Kriegstreiber mit Master Joseph und Alex zurückgelassen hatte; aber dann sollte sie auch nicht sauer auf ihn sein, weil er Aaron von den Toten aufgeweckt hatte …
Nein, das kannst du alles nicht sagen, unterbrach ihn Aaron mit fester Stimme.
»Wieso nicht?«, fragte Call, bis er merkte, dass er es schon wieder getan und laut gesprochen hatte. Er widerstand der Versuchung, die Hand vor den Mund zu schlagen, weil es dadurch nur noch schlimmer geworden wäre.
Tamara stand vom Sofa auf. »Wieso nicht? Mehr hast du mir nicht zu sagen?«
»Nein!«, rief Call, doch dann fiel ihm auf, dass er immer noch nicht wusste, was er eigentlich sagen sollte.
Sprich mir nach, sagte Aaron in seinem Kopf. »Tamara, ich weiß, du hast Grund genug, sauer auf mich zu sein, und ich weiß auch, dass ich um dein Vertrauen kämpfen muss, aber ich hoffe, dass wir eines Tages wieder Freunde sein können.«
Call holte tief Luft. »Ich weiß, du hast Grund genug, sauer auf mich zu sein«, sagte er und kam sich noch dämlicher vor, wenn das überhaupt ging. »Und ich weiß auch, dass ich um dein Vertrauen kämpfen muss, aber ich hoffe, dass wir eines Tages wieder Freunde sein können.«
Tamaras Miene wurde sanfter. »Wir können Freunde sein, Call.«
Call konnte es nicht fassen, dass seine Worte diese Wirkung hatten. Aaron wusste immer, was er sagen wollte, und da er jetzt in Calls Kopf steckte, würde er es auch wissen! Das war echt super.
»Okay«, sagte er nur, weil er keine weiteren Anweisungen von Aaron bekommen hatte. »Gut.«
Als Tamara sich bückte und das Fell an Mordos Hals zerzauste, ließ der Wolf vor Glück die Zunge heraushängen. »Er macht wirklich einen guten Eindruck ohne seine Chaosbesessenheit. Auch gar nicht so anders.«
Und jetzt sagst du ihr, dass du sie lieb hast und die falschen Entscheidungen der letzten Zeit bereust, riet Aaron ihm.
Ich denke nicht daran, das zu sagen!, feuerte Call in Gedanken zurück. Wenn ich ihr sage, ich hätte sie lieb, lacht sie mich doch aus. Aber wenn ich einfach nichts mehr sage, geht das alles vielleicht vorüber.
Daraufhin verfiel Aaron in Schweigen, in beleidigtes Schweigen.
»Ich habe dich lieb.« Als Call das sagte, richtete Tamara sich ruckartig auf und sah ihn genauso überrascht an wie Mordo. »Ich habe falsche Entscheidungen getroffen, so richtig falsche, also die schlechtesten, die man überhaupt treffen konnte.«
Jetzt übertreib mal nicht, Alter. Aaron klang erschrocken.
»Ich wollte, dass Aaron wieder da war«, sagte Call, woraufhin Aaron in seinem Kopf still wurde. »Du und Aaron – ihr seid die besten Freunde, die ich je hatte. Und Mordo natürlich. Aber der verurteilt mich nicht.«
Als Mordo bellte, zuckte Tamaras Lippe, als würde sie ein Lächeln unterdrücken.
»Ich will dich nicht bedrängen«, sagte Call. »Du kannst dir alle Zeit der Welt lassen, bis du dir über deine Gefühle im Klaren bist. Ich wollte dir nur sagen, wie leid es mir tut.«
Tamara schwieg lange. Dann kam sie auf ihn zu und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Call war so elektrisiert, dass er sich nur mühsam davon abhalten konnte, die Arme um sie zu schlingen.
Huch, sagte Aaron milde.
Tamara trat schnell einen Schritt zurück. »Das heißt nicht, dass ich dir alles verzeihe oder wir wieder da wären, wo wir vorher waren«, sagte sie. »Wir sind nicht zusammen, Call.«
»Das weiß ich«, erwiderte er. Obwohl er nichts anderes erwartet hatte, verspürte er ein dumpfes Gefühl in der Brust.
»Aber Freunde sind wir auf jeden Fall.« Ihre Augen funkelten. »Also, hier glauben inzwischen alle etwas anderes über dich. Dabei wissen sie nichts – also, dass Aaron von den Toten auferweckt wurde. Sie haben nur gehört, dass Master Joseph dich entführt hat und dass du behilflich warst, ihn und Alex zu besiegen.«
»Gut«, sagte Call vorsichtig. »Das ist doch gut, oder?«
»Allerdings ist nun auch allgemein bekannt, dass die Seele des Feindes des Todes in dir wohnt, Call. Das weiß jetzt jeder. Und ich habe keine Ahnung, ob sie in der Lage sind, zu verstehen, dass du nicht er bist.«
»Ich bleibe einfach das ganze Schuljahr in diesem Zimmer.« Call blickte sich um. »Ich kann mir etwas zu essen besorgen, indem ich Fleischwurst verzaubere, so wie Master Rufus, als wir im ersten Jahr hier ankamen.«
Doch Tamara schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage. Erstens haben wir keine Fleischwurst. Zweitens gehen wir hier raus und stellen uns den anderen. Du musst ein normales Magierleben führen können, Call. Du musst allen zeigen, dass du du bist, und nicht irgendein Ungeheuer.«
Vielleicht werde ich nie ein Magierleben führen, dachte Call. Vielleicht bleibt es bei dem hier.
Aaron in seinem Kopf reagierte nicht. Call war sich einigermaßen sicher, dass er Tamara lieber nichts von dem Vorschlag seines Vaters erzählen sollte, nicht ins Kollegium überzuwechseln und sich mit ihm aus der Magierwelt zu stehlen. Sowieso war er selbst noch gar nicht sicher, was er davon halten sollte.
»Okay«, sagte er. »Da mache ich mit. Wohin willst du zuerst? In die Galerie?«
»Zunächst muss ich dir noch etwas geben«, sagte Tamara zu seiner Überraschung. Sie ging mit wehendem Zopf in ihr Zimmer und kam mit einem Messer heraus – mit Calls Dolch, den seine Mutter geschmiedet hatte. Das Heft und die Scheide waren mit verschlungenen Mustern verziert.
»Miri«, hauchte er und nahm die Waffe entgegen. »Tamara – danke.«
Und wenn dir im Speisesaal jetzt jemand blöd kommt, kannst du ihm einfach den Kopf abschneiden, dachte Aaron fröhlich.
Call verschluckte sich, doch Tamara schob es darauf, dass er von seinen Gefühlen überwältigt wurde, und klopfte ihm auf den Rücken, bis es wieder ging.
Auf dem Weg zum Speisesaal hatte Call ein Gefühl, das an ein Déjà-vu grenzte. Es kam ihm vor, als wäre er an einem bekannten Ort, doch nichts sah richtig aus. Doch dann verstand er, woran das lag – er kannte kaum noch jemanden. Die Älteren waren von der Schule abgegangen, im Eisenjahrgang kannte er niemanden, im Kupfer- und Bronzejahrgang kaum einen, und selbst die Lehrlinge im goldenen oder silbernen Schuljahr hatten sich sehr verändert. Bei einigen war sogar bereits spärlicher Bartwuchs zu sehen.
Call hob die Hand an sein Gesicht. Er hätte sich morgens rasieren sollen, das hätte Tamara wahrscheinlich gefallen.
Konzentration, riet Aaron.
Wenn Aaron auch hier gewesen wäre, also in einem eigenen Körper, hätte er bestimmt daran gedacht, sich zu rasieren. Er hätte seine Gesichtsbehaarung mit dem für ihn typischen Selbstbewusstsein und Geschick behandelt, und alle hätten ihn dafür bewundert.
Wir werden bald einen Körper für mich finden, sagte Aaron.
Moment. Was?, dachte Call.
Doch bevor er länger darüber nachdenken konnte, schubste Tamara ihn zur Essensausgabe. Da ihm auf der Fahrt zum Magisterium beinahe übel gewesen war, hatte er nicht viel gegessen, aber mit Tamara an seiner Seite fühlte er sich so viel besser, dass er kurz vorm Verhungern war.
Er nahm grünliche Flechten, mehrere Scheiben von einem großen Pilz, violette Klöße und blaue Soße.
Nimm auch noch ein paar Rübenküchlein, sagte Aaron. Die sind lecker.
Für Karottenkuchen hatte Call nie viel übrig gehabt, weil der für seinen Geschmack aussah, als bestünde er aus augenlosen Fischen, doch er nahm trotzdem ein paar von den Küchlein. Dann holte er sich noch eine Tasse Tee und folgte Tamara zu ihrem Tisch. Sie hatte einen ausfindig gemacht, an dem sie allein sein konnten, und schaute sich herausfordernd um, während sie ihr Tablett abstellte – dass ja niemand wagte, ihnen zu nahe zu kommen.
Das tat auch niemand. Zahlreiche Lehrlinge schauten zu ihrem Tisch herüber und tuschelten, doch keiner setzte sich zu ihnen.
»Hey, äh, wie geht’s Kimiya?«, fragte Call schließlich, nur um etwas zu sagen.
Tamara verdrehte die Augen, aber zu seiner Überraschung grinste sie dabei. »Sie hat Hausarrest und ist ein ganzes Jahr vom Kollegium freigestellt, weil sie mit dem bösen Kriegstreiber Alex rumgemacht hat. Und weil sie in seine böse Armee des Bösen eingetreten ist.«
»Wow«, sagte Call.
Als er aufschaute, kamen drei Lehrlinge aus dem ersten Jahr an ihren Tisch: Ein Junge war blass und hatte weißblonde Haare, der zweite dunklere Haut und einen Lockenkopf, und der dritte war mit Sommersprossen übersät.
»Äh, hallo«, sagte der Blasse. »Ich heiße Axel. Bist du wirklich der Feind des Todes?«
»Er ist nicht der Feind!«, sagte Tamara.
»Tja«, antwortete Call. »Ich habe wohl seine Seele in mir, aber ich bin nicht er. Ihr müsst keine Angst vor mir haben.«
Als er angefangen hatte, mit ihnen zu reden, waren alle drei einen Schritt zurückgewichen, und er wusste nicht, ob er sie von seiner Harmlosigkeit überzeugen konnte. Sie sahen ihn an, als würden sie gleich gebleckte Zähne erwarten, doch dann tauchte Jasper hinter ihnen auf.
»Weg da, ihr Zwerge!«, schrie er, sodass sie kreischend zu ihrem Tisch zurückrannten.
Jasper lachte sich kaputt. Seine Frisur war noch irrer als je zuvor – irgendwie stachelig und verwuschelt zugleich –, und er trug eine Lederjacke über der Uniform.
»Das ist nicht gerade hilfreich«, warf Tamara ihm vor. »Wir müssen verständnisvoll die Fühler nach ihnen ausstrecken und sie nicht wie Kleinkinder auf einer Halloweenparty verschrecken.«
Jasper schnitt eine Grimasse. »Ich freue mich auch, euch zu sehen!«, sagte er dann und ging weiter zu Celia, die bei der Essensausgabe stand. Call konnte nicht anders, er sah Celia nach, die nun ein Haarband statt der alten Glitzerhaarspangen trug. Früher waren sie richtig gut befreundet gewesen, ja, sie hatte sich sogar ein Date mit ihm gewünscht. Jetzt würdigte sie ihn keines Blickes mehr.
»Hi!« Call drehte sich zu Gwenda um, die mit einem Tablett vor ihm stand. Sie setzte sich ihnen gegenüber und begann, in aller Ruhe zu essen. Call musterte sie verblüfft. Entweder hatte sie von dem ganzen Klatsch und Tratsch in der Schule nichts mitbekommen, oder ihr war einfach alles egal.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich bin der Feind des Todes«, antwortete Call für den Fall, dass sie es noch nicht gehört hatte.
Sie rollte mit den Augen. »Ich weiß. Weiß doch jeder. Schade um Alex – er war echt ein heißer Typ.«
»Er war nicht heiß, er war böse«, widersprach Tamara.
»Böse, stimmt. Das weiß auch jeder«, meinte Gwenda und winkte quer durch den Speisesaal. »Kai! Rafe! Hierher!«
Kai und Rafe beugten sich über eine gewaltige Suppenschüssel, tauschten einen Blick und kamen achselzuckend zu ihnen an den Tisch. Sie nickten Call zu, bevor sie sich über ihr Essen hermachten.
»Jasper und Celia sind wieder zusammen«, berichtete Gwenda und fuchtelte mit ihrer Gabel herum. Als Call ihrem Blick folgte, sah er, dass Jasper und Celia mit ihren Tabletts abseits saßen und an den Mündern zusammenklebten wie zwei Schnorchler. Jasper hatte die Hände in Celias blonden Haaren vergraben.
»Nach der Schlacht vor Master Josephs Stützpunkt hat Celia Jasper zum Helden erkoren«, berichtete Rafe. »Liebe auf den ersten Blick.«
»Zurück zur Liebe auf den ersten Blick«, verbesserte ihn Gwenda. »Davor hatte sie sich doch von ihm getrennt.«
Und schon unterhielten sie sich angeregt darüber, wer in der Schule mit wem Schluss gemacht hatte oder zusammengekommen war, wie die neuen Master hießen und welche Filme in der Galerie gezeigt wurden. Aaron hörte in Calls Kopf zu, ohne sich zu Wort zu melden. Es fühlte sich normal an – so normal, dass Call sich allmählich entspannte.
In diesem Moment löste sich Celia von Jasper und fing Calls Blick auf. Ihre Miene war eisig. Obwohl Jasper sie wieder an sich ziehen wollte, stand sie auf und stolzierte zu Calls Tisch.
»Du«, fauchte sie und zeigte mit dem Finger auf ihn. Alle verstummten, als hätten sie auf eine solche Szene nur gewartet. »Du bist der Feind des Todes, du Lügner.«
Tamara sprang auf. »Celia, du verstehst das nicht …«
»Oh doch, ich verstehe alles! Er hat uns angelogen. Constantine Madden war hinterhältig und böse, und Call hat sich jetzt ins Magisterium zurückgeschlichen. Nur wegen ihm ist Aaron Stewart tot!«
Nicht wegen dir, sagte Aaron still. Hör nicht auf sie.
Doch Call konnte nicht anders.
»Celia«, sagte Jasper, der ihr von hinten die Hände auf die Schultern legte. »Komm schon, Celia. Er ist doch eher der Freundfeind des Todes.«
Doch sie schüttelte ihn ab.
»Ich habe Verwandte, die heute noch leben würden, wenn du nicht gewesen wärst«, sagte Celia. »Constantine Madden hat sie umgebracht. Und das bedeutet, du hast sie umgebracht, genau wie Aaron.«
»Ich habe Aaron nicht getötet«, brachte Call mühsam heraus. Sein Gesicht brannte und sein Herz raste. In dem großen Speisesaal waren alle Blicke auf ihn gerichtet.
»Aber so gut wie!«, sagte Celia. »Die Chaosbesessenen und Gefolgsleute des Feindes des Todes haben alle auf dich gehört. Sie waren vollkommen auf dich fixiert. Du bist der einzige Grund, warum sie je im Magisterium waren.«
Call war so unglücklich zumute, dass ihm nichts dazu einfiel.
Es ist nicht deine Schuld, sagte Aaron, doch er irrte sich.
»Es tut mir leid«, erwiderte Call schließlich. »Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals jemand anderer als Call gewesen zu sein, aber ich würde alles dafür tun, wenn Aaron zurückkommen könnte. Ich würde alles dafür tun, wenn man die Zeit zurückdrehen könnte und er gar nicht erst hätte sterben müssen.«
Celia sah aus, als hätte er ihr den Wind aus den Segeln genommen, und ließ den Blick über die anderen Lehrlinge an Calls Tisch schweifen. Während sie Tamara ansah, glänzten Celias Augen verdächtig, als müsste sie die Tränen zurückhalten.
»Du versuchst, mich in ein schlechtes Licht zu rücken, als wäre ich hier die Böse«, sagte sie schließlich.
»Weißt du noch, wie du Gerüchte über Aaron verbreitet hast?«, fragte Tamara. »Du bist auch nicht perfekt, Celia.«
Celias Hals nahm eine quälend rote Farbe an. »Call ist der Feind des Todes. Er ist ein größenwahnsinniges Monster, aber da er offenbar nicht tratscht, ist er wohl aus dem Schneider.«
»Call ist ein guter Mensch«, sagte Tamara. »Er ist ein Held. Seinetwegen wurde die Armee des Feindes zerschlagen und Master Joseph getötet.«
Das war aber ich, sagte Aaron, woraufhin Call beinahe in erstauntes Gelächter ausgebrochen wäre. In dem Fall hätte wahrscheinlich das komplette Magisterium Celias Ansichten über ihn zugestimmt.
»Das ist ein Trick«, sagte Celia. »Ich weiß, dass es ein Trick ist, auch wenn ihr alle zu dämlich seid, ihn zu durchschauen.« Mit diesen Worten drehte sie auf dem Absatz um und stapfte aus dem Speisesaal.
»Wir, äh, arbeiten noch daran«, sagte Jasper und eilte ihr nach.
Call stand auf, weil er es am Tisch nicht mehr aushielt. Alle starrten ihn an, und er wollte eigentlich am liebsten nur zum Unterricht gehen und mit Tamara und Master Rufus allein sein. Es gelang ihm nicht, so zu tun, als wäre alles wie immer.
Plötzlich dröhnte eine Ankündigung durch den Saal: »Alle Lehrlinge werden in die Eingangshalle gebeten. Aufgrund einer Vollversammlung fällt der Unterricht heute in der ersten Tageshälfte aus.«
Call wurde bang ums Herz, weil er ahnte, dass es um ihn gehen würde.
In der großen Eingangshalle erinnerte Call sich, wie er zum ersten Mal dort gestanden und Master Rufus gelauscht hatte. Sein Herz schlug heute so heftig wie damals. Er wusste noch, wie er den schimmernden Fußboden aus Glimmer, die Sinterwände, die riesigen Stalaktiten und die hängenden Stalagmiten bewundert hatte. Der leuchtend blaue Fluss hatte sich durch die Halle geschlängelt, und man musste aufpassen, wo man hintrat, obwohl der Raum so weitläufig war.
Damals hatte er Angst vor augenlosen Fischen gehabt und befürchtet, er könne sich in den Tunneln verirren. Diese Sorgen schienen jetzt die einer anderen Person zu sein.
Zu seiner großen Überraschung nahm Tamara seine Hand und drückte sie.
Hieß das jetzt, dass sie ihn doch noch gernhatte? Oder dass sie irgendwann vielleicht wieder zusammenkamen? Jasper war auch wieder mit Celia vereint, und er war wirklich eine Nervensäge – insofern hatte Call vielleicht noch eine Chance.
Celia ist auch eine Nervensäge, sagte Aaron, was für seine Verhältnisse regelrecht gemein war. Sie hätte dir nicht diese Sachen an den Kopf werfen sollen.
»Ich dachte, du magst Celia«, sagte Call und erntete einen erstaunten Blick von Tamara. Er hatte zwar leise gesprochen, doch nicht leise genug.
»Stimmt«, sagt sie. »Ich mochte sie, aber nachdem sie das alles zu dir gesagt hat – ich meine, sie beleidigt uns doch alle. Ich weiß, dass sie uns für hirnlose Gefolgsleute hält.« Sie wurde rot vor Wut. »Celia kann meinetwegen einen augenlosen Fisch essen.«
Da immer mehr Schüler in die Eingangshalle strömten, musste Call näher an Tamara heranrücken, was ihm nicht das Geringste ausmachte. »Wie war das noch gleich, dass man verständnisvoll die Fühler ausstrecken soll?«
»Damit pausiere ich gerade«, entgegnete Tamara. »Wer weiß, vielleicht kommt Celia ja noch zur Vernunft, sie ist eben sehr …«
Ein Geräusch, das einem schweren Metallgong ähnelte, dröhnte durch den Raum. Metallmagie – Call spürte, wie Miri, die er an einem Gürtel um die Hüfte trug, die Vibration aufnahm. Rauschend wurde Luft verdrängt, und plötzlich schwebte Master Rufus über ihnen und schaute auf sie hinunter. Neben ihm hingen weitere Magier über ihnen, vertraute und unbekannte Lehrer. Auf der einen Seite rückte Master North näher, auf der anderen Master Rockmaple und Master Milagros.
Call hatte Master Rufus zuletzt auf dem Schlachtfeld gesehen. Diese Erinnerung jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre gestorben und hätte alles verloren, was ihm am Herzen lag.
»Schüler!«, dröhnte Master Rufus’ Stimme verstärkt durch die Boxen. »Wir haben euch hergebeten, weil wir wissen, dass ihr von Gerüchten und Ängsten geplagt seid. Die magische Welt befindet sich tatsächlich in einer beträchtlichen Schieflage. Master Joseph, ein Gefolgsmann des Feindes des Todes, hat versucht, im Namen von Constantine Madden die Welt der Magier zu zerstören. Doch er wurde besiegt.« Trotzig schallte das Wort durch die Halle. »Wir alle kennen wenigstens eine Person, die sich aus Egoismus und Angst auf die Seite des Feindes geschlagen hat.«
Es wurde gemurmelt. Als Call merkte, dass einige Blicke Jasper streiften, stand ihm plötzlich eine halb vergessene Erinnerung vor Augen: Wachposten des Präsidiums, die Jaspers Vater mit gefesselten Händen vom Schlachtfeld führten.
»Viele abtrünnige Magier wurden ins Panoptikum gesteckt oder befinden sich im Gewahrsam des Präsidiums. Wir bitten euch, den Verwandten jener, die in unsere Gesellschaft zurückgeführt werden, mitfühlend zu begegnen. Sie leiden schon genug darunter, dass die Menschen, die sie lieben, sie dermaßen enttäuscht haben.«
Jasper wurde dunkelrot und senkte den Blick.
»Aus dem Geschehenen sollten wir lernen, dass wir uns niemals von der Angst beherrschen lassen sollten«, fuhr Master Rufus fort. »Klatsch und Tratsch oder Misstrauen gegen Mitschüler – die Ursache ist Angst. Doch Furcht hat im Herzen eines Magiers nichts zu suchen. Die Angst vor dem Tod hat Constantine Madden auf diesen Weg gelockt. Wenn die Furcht die Oberhand behält, vergessen wir unser wahres Selbst. Wir vergessen, zu welch guten Taten wir fähig sind.«
Die Schüler waren verstummt.
»Es mag sein, dass unter uns einige sind, vor denen ihr euch fürchtet, weil ihr sie nicht versteht«, fuhr Master Rufus fort. »Aber unser Makar Callum Hunt hat uns dabei geholfen, das letzte Kapitel der tragischen Geschichte zu schließen, die uns der Feind des Todes hinterlassen hat. Als es darauf ankam, hat er sich auf die Seite von Recht und Gesetz, von Güte und Menschlichkeit geschlagen. Das Böse wird immer wieder aufstehen – aber das Gute wird es stets niederringen.« Master Rufus verschränkte die Arme vor der Brust. »Applaus für Callum Hunt.«