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Band 4 der Bestseller-Reihe. Callum und Tamara haben einen schrecklichen Verlust erlitten. Sie wissen zwar endlich, wer im Magisterium ihr Gegenspieler ist. Aber sie können sich nicht sicher sein, wer sich im Kampf auf ihre Seite schlagen wird. Während sich die Kräfte des Bösen weiter im Hintergrund sammeln, gerät Callum immer stärker in eine Zwickmühle. Da er das Erbe des Feindes des Todes in sich trägt, könnte er dessen dunkle Gabe nutzen und für sich und seine Freunde geliebte Menschen vom Tod zurück ins Leben holen. Doch welchen Preis muss er zahlen, wenn er sich wirklich mit dem Bösen einlässt?
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Seitenzahl: 279
Veröffentlichungsjahr: 2018
Holly Black & Cassandra Clare
Die silberne Maske
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anne Brauner
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischsprachigen Originalausgabe:
»Magisterium – The Silver Mask«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2017 by Holly Black and Cassandra Clare LLG
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO
Umschlagmotiv: © shutterstock/Tairy Greene, © Airin.dizain/shutterstock; Christos Georghiou/shutterstock
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-5776-9
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Elias Delos Churchill, der vielleicht der böse Zwilling ist
So hatte Call sich das Leben im Gefängnis nicht vorgestellt.
Er hatte sich ausgemalt, dass ein wortkarger Zellengenosse ihm zeigte, wie es lief und wie er echte Muckis vom Gewichtheben bekäme – so kannte er es aus dem Fernsehen. Dementsprechend war er darauf eingestellt gewesen, dass er das Essen hassen würde. Und er hatte sich vorgenommen, sich auf keinen Fall mit irgendwem anzulegen, weil der ihn sonst mit einer schlau zurechtgebogenen Zahnbürste abstechen würde.
Doch tatsächlich gab es nur eine Sache, die das magische Gefängnis mit dem Fernsehen gemeinsam hatte: Dem Hauptdarsteller wurde ein Verbrechen in die Schuhe geschoben, das er überhaupt nicht begangen hatte.
Callum wurde morgens wach, wenn das Licht im Panoptikum von dämmrig auf grell geschaltet wurde. Gähnend sah er zu, wie die anderen Gefangenen (er schätzte ihre Anzahl auf fünfzig) Ausgang bekamen. Sie schlurften davon, wahrscheinlich zum Frühstück, während zwei Wachposten Calls Tablett persönlich zu ihm brachten. Der eine blickte böse, der andere ängstlich.
Call, der sich nach sechs Monaten Haft gründlich langweilte, schnitt eine Grimasse, damit der Angsthase sich noch mehr fürchtete.
Niemand sah den Fünfzehnjährigen in ihm, den Jungen. In jedermanns Vorstellung war er der Feind des Todes, sonst nichts.
In der ganzen langen Zeit hatte er keinen Besuch bekommen. Weder von seinem Vater noch von seinen Freunden. Call redete sich ein, dass man es ihnen verboten hatte, doch das tröstete ihn auch nicht – im Gegenteil. Wahrscheinlich steckten sie in großen Schwierigkeiten und wünschten, sie hätten noch nie von Callum Hunt gehört.
Er aß noch ein bisschen von dem Fraß auf seinem Tablett und putzte sich die Zähne, um den Geschmack wieder loszuwerden. Dann kamen die Wachposten zurück, denn es war Zeit fürs Verhör.
Jeden Tag brachten sie ihn in einen fensterlosen Raum mit weißen Wänden, in dem ihn drei Abgeordnete des Präsidiums mit Fragen zu seinem Leben bombardierten. Das war die einzige Unterbrechung im Einerlei seiner Tage.
Was ist deine erste Erinnerung?
Wann hast du gemerkt, dass du böse bist?
Ich weiß, du behauptest, du könntest dich nicht daran erinnern, wie es war, Constantine Madden gewesen zu sein, aber kannst du dir etwas mehr Mühe geben?
Wie oft hast du Master Joseph getroffen? Was hat er zu dir gesagt? Wo ist sein Stützpunkt? Was hat er für Pläne?
Jede seiner Antworten nahmen sie bis ins Detail auseinander, bis Call völlig verwirrt war. Andauernd warfen sie ihm vor zu lügen.
Manchmal, wenn er es satthatte und sich langweilte, erlag er beinahe der Versuchung, wirklich zu lügen, weil es so offensichtlich war, was sie von ihm hören wollten. Es erschien einfacher, es ihnen einfach zu sagen. Doch er log nicht, weil er seine Kriegstreiberliste wieder aktiviert hatte und sich Punkte gab, wenn er etwas annähernd Kriegstreiberisches tat. Lügen zählte dazu.
Es war leicht, im Gefängnis auf viele Kriegstreiberpunkte zu kommen.
Die Abgeordneten sprachen viel und gern davon, wie umwerfend charmant der Feind des Todes gewesen war. Deshalb durfte Call nicht mit seinen Mitgefangenen reden, damit er sie ja nicht zu seinen bösen Plänen verführte.
Call wäre glatt geschmeichelt gewesen, hätte das alles nicht vor allem deutlich gemacht, dass sie glaubten, er würde genau diesen Zug seiner Persönlichkeit vor ihnen verbergen. Constantine Madden hatte unglaubliches Charisma besessen, und ihrer Meinung nach war Call das genaue Gegenteil von ihm. Sie freuten sich nicht darauf, ihn zu sehen – er war allerdings auch nicht scharf auf die tägliche Begegnung.
Doch an diesem Tag erlebte Call eine Überraschung. Als er zum Verhör erschien, erwartete ihn nicht die übliche Versammlung. Stattdessen saß Master Rufus an dem weißen Schreibtisch. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und sein kahler brauner Schädel glänzte im grellen Schein der Lampe.
Es war so lange her, seit Call irgendjemanden gesehen hatte, den er kannte. Am liebsten wäre er über den Schreibtisch gesprungen und Master Rufus um den Hals gefallen, obwohl sein ehemaliger Lehrer ihn böse anschaute und grundsätzlich wenig für Umarmungen übrighatte.
Call setzte sich ihm gegenüber. Er konnte ihm nicht einmal zuwinken oder die Hand schütteln, weil seine Hände vorn mit einer leuchtenden Fessel aus unfassbar hartem Metall zusammengebunden waren.
Er räusperte sich. »Wie geht’s Tamara?«, fragte er. »Ist alles in Ordnung?«
Master Rufus sah ihn eindringlich an. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das überhaupt sagen soll«, meinte er schließlich. »Ich weiß nicht genau, wer du bist, Call.«
Das versetzte ihm einen Stich in die Brust. »Tamara ist meine beste Freundin. Ich möchte wissen, wie es ihr geht. Und Mordo. Und sogar Jasper.«
Es fühlte sich merkwürdig an, Aaron nicht aufzuzählen. Obwohl er wusste, dass Aaron tot war, und obwohl er die Umstände seines Todes immer wieder durchgegangen war, vermisste Call ihn immer noch ganz schrecklich. So sehr, dass es sich eigentlich so anfühlte, als wäre er noch da.
Master Rufus legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sein Kinn darauf. »Ich würde dir gern glauben«, sagte er. »Aber du hast mich zu lange angelogen.«
»Ich hatte keine andere Wahl!«, protestierte Call.
»Oh doch. Du hättest mir jederzeit verraten können, dass Constantine Madden in dir weiterlebt. Seit wann weißt du es? Hast du mich schon mit einem Trick dazu gebracht, dich zu meinem Lehrling zu erwählen?«
»Bei der Eisernen Prüfung?« Call war fassungslos. »Damals wusste ich doch noch gar nichts! Ich habe versucht, durchzufallen – auf keinen Fall wollte ich ins Magisterium.«
Master Rufus blickte ihn weiterhin skeptisch an. »Genau darum bist du mir ja aufgefallen – weil du es nicht schaffen wolltest. Constantine hätte das gewusst. Er hätte gewusst, wie er mich manipulieren kann.«
»Ich bin aber nicht er«, erwiderte Call. »Kann sein, dass ich seine Seele habe, aber deswegen bin ich noch lange nicht Constantine.«
»Das wollen wir mal hoffen, in deinem Sinne«, sagte Master Rufus.
Auf einmal war Call hundemüde. »Warum sind Sie gekommen?«, fragte er seinen Lehrer. »Weil Sie mich hassen?«
Die Frage verschlug Master Rufus kurz den Atem. »Ich hasse dich nicht.« In seiner Stimme lag mehr Trauer als Zorn. »Mit der Zeit habe ich Callum Hunt liebgewonnen – sehr sogar. Aber Constantine Madden hatte ich früher auch sehr gern … und er hat uns beinahe alle vernichtet. Vielleicht ist das der Grund für meinen Besuch: zu sehen, ob ich meiner Menschenkenntnis vertrauen kann … oder ob ich den gleichen Fehler zweimal gemacht habe.«
Er sah so müde aus, wie Call sich fühlte.
»Die Verhöre sind abgeschlossen«, fuhr Master Rufus fort. »Jetzt müssen sie eine Entscheidung fällen, wie weiter mit dir verfahren werden soll. Ich habe vor, bei der Anhörung vorzubringen, was du gerade selbst gesagt hast – dass du nicht automatisch Constantine bist, nur weil du seine Seele besitzt. Trotzdem musste ich das erst mal mit eigenen Augen sehen, um es zu glauben.«
»Und?«
»Er war deutlich charmanter als du.«
»Das sagen alle«, murrte Call.
Master Rufus zögerte. »Möchtest du das Gefängnis verlassen?«
Das hatte Call bisher niemand gefragt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er nach kurzem Nachdenken. »Ich – ich habe dazu beigetragen, dass Aaron getötet wurde. Vielleicht habe ich es verdient, hier zu sein. Vielleicht sollte ich hierbleiben.«
Nach diesem Eingeständnis war es sehr lange still. Dann stand Master Rufus auf. »Constantine hat seinen Bruder geliebt«, sagte er. »Aber er hätte niemals gesagt, dass er eine Strafe verdient hätte, weil er seinen Tod verursacht hatte. Immer war jemand anders schuld.«
Call schwieg.
»Wer Geheimnisse hat, leidet mehr, als man denkt. Ich habe immer gewusst, dass du etwas verschweigst, Callum, und ich hatte gehofft, du würdest dich mir eines Tages offenbaren. Hättest du das getan, wäre einiges anders gelaufen.«
Call schloss die Augen, weil er befürchtete, Master Rufus könnte recht haben. Er hatte seine Geheimnisse für sich behalten und später Tamara, Aaron und Jasper gezwungen, das Gleiche zu tun. Wäre er doch nur zu Master Rufus gegangen. Hätte er sich doch nur an irgendwen gewandt, dann wäre es vielleicht wirklich nicht so schlimm gekommen.
»Und du hältst immer noch etwas vor mir geheim«, fuhr Master Rufus fort. Verdutzt öffnete Call die Augen und sah ihn an.
»Heißt das, Sie glauben auch, dass ich lüge?«
»Nein«, antwortete Master Rufus. »Aber dies könnte die letzte Gelegenheit sein, mir dein Herz auszuschütten. Und vielleicht meine letzte Chance, dir zu helfen.«
Call dachte an Anastasia Tarquin und ihr Geständnis, Constantines Mutter zu sein. Damals hatte er nicht gewusst, was er davon halten sollte. Zu der Zeit war er noch ganz erschüttert gewesen von Aarons Tod, erschüttert von dem Gefühl, alle, an die er glaubte, hätten ihn verraten.
Doch wäre es gut, Master Rufus davon zu erzählen? Call würde es nicht helfen. Es würde nur jemand anderen verletzen, eine Person, die ihm vertraute.
»Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte«, sagte Master Rufus. »Es war einmal ein Magier, ein Mann, der sehr gern unterrichtete und anderen seine Liebe zur Magie vermittelte. Er hielt große Stücke auf seine Schüler und auf sich selbst. Als eine schwere Tragödie diesen Glauben ins Wanken brachte, begriff er, dass er einsam war –, dass er sein ganzes Leben dem Magisterium gewidmet und es nichts anderes gegeben hatte.«
Call blinzelte. Er war sich ziemlich sicher, dass es in der Geschichte um Master Rufus selbst ging, und musste zugeben, dass er noch nie auf die Idee gekommen war, dieser könnte ein Leben außerhalb des Magisteriums haben. Er hatte auch noch nie darüber nachgedacht, dass sein Lehrer Freunde oder Familie haben könnte, geschweige denn jemanden, den er in den Ferien besuchen oder mit dem Tornado-Telefon anrufen konnte.
»Sagen Sie doch einfach, dass die Geschichte von Ihnen handelt«, empfahl Call seinem Lehrer. »Das Gefühl kommt trotzdem rüber.«
Master Rufus warf ihm einen säuerlichen Blick zu. »Na gut«, sagte er. »Es war nach dem Dritten Magischen Krieg, als mir die Einsamkeit des Lebens, das ich erwählt hatte, bewusst wurde. Und wie das Schicksal es so wollte, habe ich mich kurz darauf verliebt – in einer Bibliothek, wo ich alte Dokumente prüfte.« Er lächelte verhalten. »Doch er war kein Magier und wusste nicht das Geringste über die geheime Welt der Magie. Und ich konnte es ihm nicht erzählen. Hätte ich ihm unsere Welt erklärt, hätte ich gegen alle Gesetze verstoßen, abgesehen davon, dass er mich für verrückt gehalten hätte. Also behauptete ich, ich würde im Ausland arbeiten und nur in den Ferien nach Hause zurückkehren. Wir haben viel geredet, aber im Endeffekt habe ich ihn angelogen. Das wollte ich zwar nicht, aber ich habe es trotzdem getan.«
»Ist das jetzt nicht eine Geschichte, die beweist, dass Geheimnisse einen gewissen Sinn haben?«, fragte Call.
Master Rufus ließ wieder einmal auf seine unnachahmliche Weise seine Augenbrauen tanzen und senkte sie zu einem beeindruckend bösen Blick. »Die Geschichte soll dir zeigen, dass ich mich ebenfalls mit Geheimnissen auskenne. Ich verstehe, dass man damit Menschen schützen kann, aber auch, wie viel Leid sie dem Geheimnisträger selbst zumuten. Wenn es irgendetwas gibt, was du mir sagen willst, Call, sag es mir, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dir zu helfen.«
»Ich habe keine Geheimnisse«, erwiderte Call. »Nicht mehr.«
Master Rufus nickte und seufzte schließlich.
»Tamara geht es gut«, verriet er Call. »Im Unterricht fühlt sie sich ohne dich und Aaron recht einsam, aber ansonsten ist sie gut dabei. Mordo vermisst dich natürlich. Was Jasper angeht, kann ich nur raten. Er hat in letzter Zeit seltsame Dinge mit seinen Haaren angestellt, aber das muss nicht unbedingt etwas mit dir zu tun haben.«
»Okay«, sagte Call etwas benommen. »Danke.«
»Und Aaron wurde mit allem Prunk beerdigt, der einem Makar gebührt«, berichtete Master Rufus. »Alle Präsidiumsmitglieder und das gesamte Magisterium haben an der Bestattung teilgenommen.«
Call nickte und senkte den Blick. Aarons Beerdigung. Irgendwie fühlte es sich für Call wirklicher an, als Master Rufus das sagte, noch dazu mit tiefem Schmerz in der Stimme. Dies würde für immer die bestimmende Tatsache in seinem Leben bleiben: dass sein bester Freund noch leben würde, wenn er, Call, nicht gewesen wäre.
Master Rufus ging zur Tür, doch auf dem Weg blieb er noch kurz stehen und legte Call die Hand auf den Scheitel. Auch wenn das Ganze nur eine Sekunde dauerte, war Call überrascht, wie sehr es ihm die Kehle zuschnürte.
Als man ihn in seine Zelle zurückbrachte, wartete bereits die nächste Überraschung dieses Tages auf ihn. Sein Vater Alastair stand davor und sah ihm entgegen.
Als Alastair zaghaft winkte, schwenkte Call seine gefesselten Hände. Er musste ganz schön blinzeln, sonst hätte sich der umwerfend böse Charme des Feindes des Todes in Tränen aufgelöst.
Calls Wachposten begleiteten ihn bis in die Zelle und nahmen ihm erst dort die Fessel ab. Nachdem Calls Hände frei waren, legten sie ihm eine Fußschelle aus Metall an, die über eine Kette mit einem Wandhaken verschweißt war. Die Kette erlaubte ihm, sich in seiner Zelle zu bewegen, doch sie war nicht so lang, dass er bis zum vergitterten Fenster oder an die Tür gelangen konnte.
Dann verließen die Wachposten die Zelle, schlossen ab und zogen sich in die Dunkelheit zurück. Doch Call wusste, dass sie nicht weit waren. Im Panoptikum wurde man rund um die Uhr bewacht.
»Wie geht es dir?«, fragte Alastair schroff, sobald die Magier gegangen waren. »Haben sie dir wehgetan?«
Er sah aus, als wollte er Call packen und auf Verletzungen abtasten, wie früher, wenn er von der Schaukel gefallen oder mit dem Skateboard gegen einen Baum geprallt war.
Call schüttelte den Kopf. »Sie haben keinen Versuch gemacht, mir körperlich wehzutun«, antwortete er.
Alastair nickte. Seine Augen waren schmal und müde hinter den Brillengläsern. »Ich wäre schon viel eher gekommen«, sagte er und setzte sich auf den Eisenstuhl, den die Wachposten auf die andere Seite des Gitters gestellt hatten und der vermutlich unbequem war. »Aber du durftest keinen Besuch bekommen.«
Die Erleichterung, die Call plötzlich erfüllte, war grenzenlos. Irgendwie hatte er sich eingeredet, sein Vater wäre froh darüber, dass man ihn gefangen hielt. Oder zumindest nicht unglücklich, ihn los zu sein. Er freute sich wahnsinnig, dass es nicht so war.
»Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt«, sagte Alastair.
Call wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Ihm fehlten die Worte dafür, wie leid es ihm tat. Er verstand auch nicht, warum er nun auf einmal Besuch empfangen durfte … es sei denn, das Präsidium konnte nichts mehr mit ihm anfangen.
Vielleicht waren dies die letzten Besucher in seinem Leben.
»Master Rufus war heute hier«, erzählte er seinem Vater. »Er meinte, die Verhöre wären vorbei. Heißt das, sie bringen mich jetzt um?«
Alastair sah ihn schockiert an. »Das können sie nicht machen, Call. Du hast doch nichts verbrochen.«
»Sie glauben, ich hätte Aaron getötet!«, rief Call. »Ich sitze im Gefängnis! Sieht doch ein Blinder, dass sie meinen, ich hätte etwas verbrochen.«
Und das habe ich wirklich, fügte er gedanklich hinzu. Auch wenn letztendlich Alex Strike Aaron getötet hatte, war es nur dazu gekommen, weil Aaron Calls Geheimnis bewahrt hatte.
Alastair schüttelte den Kopf und wies Calls Einwand zurück. »Sie haben Angst – Angst vor Constantine, Angst vor dir – und suchen daher nach einer Ausrede, mit der sie dich hierbehalten können. In Wirklichkeit glauben sie nämlich nicht, dass du die Schuld an Aarons Tod trägst.« Alastair seufzte. »Und falls dich das nicht tröstet, überleg mal – da sie nicht begreifen, wie Constantine seine Seele in dich hineinversetzt hat, wollen sie sicherlich nicht riskieren, dass du deine Seele jemand anderem einpflanzt.«
Calls Dad hasste die Welt der Magier und war ohnehin alles andere als ein Optimist, doch in diesem Fall fühlte Call sich angesichts seiner Verbissenheit besser. Außerdem hatte er recht. Call war noch gar nicht darauf gekommen, dass er seine Seele in einen anderen Menschen verpflanzen könnte oder dass die Magier sich deswegen Sorgen machen könnten.
»Dann lassen sie mich also hier, eingesperrt«, erklärte Call. »Und dann werfen sie den Schlüssel weg und vergessen mich.«
Als Alastair nach diesen Worten lange Zeit schwieg, war das deutlich weniger beruhigend.
»Seit wann weißt du es?«, platzte Call heraus, weil er Angst hatte, das Schweigen könnte noch länger dauern.
»Seit wann weiß ich was?«, fragte Alastair.
»Dass ich nicht dein Sohn bin.«
Alastair runzelte die Stirn. »Du bist sehr wohl mein Sohn, Callum.«
»Du weißt, was ich meine«, erwiderte Call seufzend, obwohl er nicht leugnen konnte, wie gut es ihm tat, dass Alastair ihm widersprochen hatte. »Wann hast du gemerkt, dass ich seine Seele in mir trage?«
»Schon früh«, antwortete Alastair zu Calls Überraschung. »Ich habe es erraten. Schließlich wusste ich, woran Constantine forschte. Ich hielt es für möglich, dass er seine Seele in deinen kleinen Körper versetzt hatte.«
Call fiel die vernichtende Botschaft wieder ein, die seine Mutter Alastair hinterlassen und die Master Joseph – der Lehrer und ergebenste Gefolgsmann des Feindes des Todes – ihm gezeigt hatte. Sein Vater hatte ihm diesen Teil der Geschichte bisher verschwiegen:
TÖTET DAS KIND.
Call wurde immer noch kalt bis auf die Knochen, wenn er sich vorstellte, wie seine Mutter diese Worte mit der letzten Kraft einer Sterbenden geschrieben hatte oder wie sein Vater die Botschaft lesen musste – mit Call als schreiendem Baby auf dem Arm.
Wenn Alastair gewusst hatte, was es bedeutete, hätte er die Höhle einfach verlassen können. Die Kälte hätte dem Baby den Rest gegeben.
»Warum hast du das getan? Wieso hast du mich gerettet?« Call wollte es wirklich wissen, doch er wollte eigentlich nicht so wütend klingen. Andererseits war er wirklich wütend, obwohl ihm klar war, dass er damals gestorben wäre, wenn sein Vater die Forderung erfüllt hätte.
»Du bist mein Sohn«, antwortete Alastair hilflos. »Du magst noch alles Mögliche andere sein, für mich bist du in erster Linie mein Kind. Seelen sind geschmeidig, Call, nicht in Stein gemeißelt. Ich dachte, wenn ich dich anständig großziehe … wenn ich dir die richtigen Werte vermittle … wenn ich dich genug liebe, dann würde aus dir schon etwas Gutes werden.«
»Und das ist dabei rausgekommen«, sagte Call.
Ehe sein Vater etwas erwidern konnte, erschien ein Wachposten vor der Zelle und verkündete, dass die Besuchszeit vorbei sei.
Nachdem Alastair aufgestanden war, sagte er noch etwas, ganz leise. »Ich weiß nicht, ob ich irgendetwas richtig gemacht habe, Call, aber wenn du mich fragst, ich finde, du bist super geraten.«
Mit diesen Worten ließ er sich von einem weiteren Wachposten aus dem Panoptikum geleiten.
Seit seiner Ankunft im Gefängnis hatte Call nicht mehr so gut geschlafen. Das Bett war schmal, die Matratze flach, und es war kalt in der Zelle. Wenn er nachts die Augen schloss, träumte er immer das Gleiche, nämlich wie Aaron von dem magischen Strahl getroffen wurde. Wie Aaron durch die Luft geschleudert wurde, bevor er hart aufprallte. Wie Tamara sich schluchzend über ihn beugte. Und eine Stimme sagte, das ist deine Schuld, das ist deine Schuld.
Doch in dieser Nacht träumte er nicht, und als er aufwachte, stand bereits ein Wächter mit dem Frühstückstablett vor seiner Zelle. »Du hast schon wieder Besuch«, sagte er mit einem Seitenblick zu Call. Er war sich ziemlich sicher, dass das Wachpersonal immer noch damit rechnete, von seinem Charisma dahingemetzelt zu werden.
Call setzte sich hin. »Wer ist es denn?«
Der Wachposten zuckte die Achseln. »Jemand aus deiner Schule.«
Calls Herz schlug schneller. Es war Tamara. Es musste Tamara sein. Wer sollte ihn sonst besuchen?
Er merkte kaum, dass der Wächter das Frühstück durch die kleine Luke unten in der Tür schob. Call war zu sehr damit beschäftigt, sich gerade hinzusetzen und mit den Fingern seine zerzausten Haare zu glätten, während er gleichzeitig versuchte, sich zu beruhigen und zu überlegen, was er zu Tamara sagen sollte. Hey, wie geht’s, tut mir leid, dass ich nichts dagegen tun konnte, als unser bester Freund getötet wurde …
Dann ging die Tür auf, und sein Besuch wurde von zwei Wachposten links und rechts in die Zelle begleitet. Es war jemand aus dem Magisterium – das stimmte.
Aber nicht Tamara.
»Jasper?«, fragte Call ungläubig.
»Ich weiß.« Jasper hob die Hände, als wollte er sich seiner Dankbarkeit erwehren. »Offenbar bist du völlig überwältigt, weil ich so freundlich bin, dich zu besuchen.«
»Äh«, sagte Call. Master Rufus hatte nicht übertrieben – Jaspers Haare sahen aus, als hätte er sich seit Jahren nicht gekämmt. Die Frisur stand in alle Richtungen ab. Call war ernsthaft verblüfft. Hatte Jasper das wirklich extra so gestylt? »Du bist doch bestimmt gekommen, um mir brühwarm zu berichten, dass ich von der ganzen Schule gehasst werde.«
»So viele Gedanken machen sie sich jetzt auch nicht um dich«, log Jasper ganz offensichtlich. »Es gibt wichtigere Themen. Sie trauern vor allem um Aaron, dich sehen sie eher als seinen Kumpel, also eher im Hintergrund.«
Sie sehen seinen Mörder in dir, war Jaspers eigentliche Botschaft, auch wenn er es nicht aussprach.
Nach diesem Wortwechsel hatte Call nicht mehr die Kraft, sich nach Tamara zu erkundigen. »Habt ihr richtig Ärger bekommen?«, fragte er stattdessen. »Meinetwegen, meine ich.«
Jasper wischte die Hände an seiner Designerjeans ab. »Sie wollten vor allem wissen, ob du uns mit Flüchen in deinem dunklen Bann hältst. Ich habe geantwortet, dass du dafür als Magier nicht gut genug bist.«
»Danke, Jasper«, sagte Call mit einem Anflug von Ironie.
»Und wie ist es denn so im guten alten Panoptikum?«, fragte Jasper und ließ den Blick schweifen. »Es sieht, äh, sehr steril aus. Hast du schon richtige Verbrecher kennengelernt? Und dir ein Tattoo besorgt?«
»Echt jetzt?«, fragte Call. »Du besuchst mich, weil du wissen willst, ob ich neuerdings ein Tattoo habe?«
»Nein«, antwortete Jasper und ließ alle Vorwände sausen. »Ehrlich gesagt bin ich hier, weil – also – weil Celia mit mir Schluss gemacht hat.«
»Was?!«, fragte Call ungläubig. »Das glaube ich jetzt nicht.«
»Das kann ich gut verstehen«, erwiderte Jasper. »Ich glaube es ja selbst nicht!« Er sank auf den unbequemen Besucherstuhl. »Wir waren einfach das perfekte Paar!«
Call wünschte, er könnte den Abstand überbrücken und Jasper erwürgen. »Nein, was ich meine, ist, dass du sechs Kontrollen und eine wahrscheinlich nicht gerade angenehme Leibesvisitation in Kauf genommen hast, nur um herzukommen und dich über dein Liebesleben zu beklagen!«
»Ich kann mit niemand anderem reden, Call«, sagte Jasper.
»Weil ich an den Fußboden gekettet bin und nicht weglaufen kann?«
»Genau«, antwortete Jasper sichtlich erfreut. »Alle anderen hauen direkt ab, wenn sie mich sehen. Die verstehen das einfach nicht. Ich muss Celia zurückerobern.«
»Jasper«, sagte Call. »Ich möchte, dass du mir eine Frage beantwortest, und zwar bitte ehrlich.«
Jasper nickte.
»Gehört das zu einer neuen Strategie des Präsidiums, mich zu foltern, um Informationen aus mir herauszukitzeln?«
Während er sprach, stieg auf einmal eine dünne Rauchfahne aus dem Erdgeschoss auf. Als kurz darauf auch Flammen loderten, ging eine Sirene los.
Im Panoptikum war ein Feuer ausgebrochen.
Die beiden Wachposten, die Jasper zu Calls Zelle geleitet hatten, begannen, leise aufeinander einzureden. Von der anderen Seite kam lautes Geschrei, das abrupt abbrach.
»Ich glaube, ich gehe lieber.« Jasper stand auf und sah sich nervös um.
»Nein!«, schnauzte ihn einer der Wächter an. »Das ist ein Notfall. Besucher dürfen sich nicht allein im Gelände bewegen. Zu deiner Sicherheit musst du mitkommen, während wir den Gefangenen zu einem Evakuierungsfahrzeug bringen.«
»Sie wollen mich in die Nähe des Feindes des Todes lassen, wenn er außerhalb seiner Zelle herumläuft?«, rief Jasper, als müsste er sich ernsthaft Sorgen machen. »Was ist daran sicher?«
Call verdrehte die Augen.
Der andere Wächter schaltete einen Teil der Elementarmauer aus und betrat Calls Zelle mit neuen Handschellen. »Komm«, sagte er. »Du gehst zwischen uns, und der Lehrling geht vorneweg.«
Call stemmte die Füße in den Boden. »Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte er.
»Da könntest du recht haben«, erwiderte Jasper mit einem Blick vor die Zellentür. »Es brennt nämlich.«
Call ließ sich nicht mundtot machen. »Seit Wochen erzählen mir die versammelten Magier, wie uneinnehmbar dieser Ort hier ist, und dass niemand ihn zerstören kann. Hier dürfte es nicht brennen.«
Die Wachposten verloren allmählich die Nerven. »Ruhe jetzt. Mitkommen«, sagte der eine und zerrte Call am Arm aus seiner Zelle.
»Feuer will brennen«, sagte Jasper und sah Call eindringlich an. Das war ein Zitat aus dem sogenannten Cinquain, das in fünf Zeilen elementare Magie beschrieb. Die Wächter warfen ihm einen neugierigen Blick zu. Offenbar erinnerten sie sich aus ihrer Schulzeit daran.
Vor Calls Zelle wurde es immer heißer. Mittlerweile liefen schreiende Menschen durch die Gänge. Alle anderen Zellen waren bereits leer, und die Häftlinge marschierten in langen Schlangen zu den Notausgängen.
»Schon klar«, sagte Call. »Aber das Panoptikum darf nicht brennen.«
»Man hat uns vor deiner silbernen Zunge gewarnt«, sagte der eine Wächter und schubste Call vor sich her. »Schnauze!«
Als nun Felsgestein und Metall schmolzen und in großen Brocken vom Dach fielen, beschloss Call, sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, warum es brannte. Das größere Problem war, lebend rauszukommen. Er rannte mit den beiden Wächtern und Jasper durch den Gang, in dem es sekündlich heißer wurde. Call humpelte, so schnell er konnte, doch sein schlimmes Bein brannte vor Schmerzen. So weit war er seit Monaten nicht gelaufen.
Es krachte. Weiter vorn verwandelte sich der Fußboden in eine Fontäne, die Schlackestücke und brennendes Gestein spuckte. Call konnte den Blick nicht abwenden, denn er war sicher, dass er recht hatte – das war kein normales Feuer.
Er konnte nur hoffen, dass er so lange lebte, um Siehst du zu sagen.
Als ihn die Wachposten losließen, dachte er einen Augenblick lang, sie würden einen anderen Weg durch das Gefängnis nehmen. Doch tatsächlich machten sie sich aus dem Staub und rannten Jasper dabei fast um. Als der Fußboden endgültig nach unten wegbrach, sprangen die beiden Männer gerade noch rechtzeitig auf die andere Seite. Dort standen sie auf und wischten den Staub von ihren Uniformen.
»Hey!«, rief Jasper fassungslos. »Sie können uns doch nicht einfach zurücklassen!«
Der eine Mann setzte eine beschämte Miene auf, doch der andere sah die Jungen nur böse an. »Meine Eltern sind beim Eismassaker gestorben«, sagte er. »Wenn es nach mir geht, kannst du in den Flammen abkratzen, Constantine Madden.«
Call wich zurück.
»Und ich?!«, schrie Jasper ihnen nach, während sie davonliefen. »Ich bin doch nicht der Feind des Todes!«
Weg waren sie. Jasper drehte sich hustend um und sah Call vorwurfsvoll an.
»Das ist alles deine Schuld«, sagte er.
»Schön zu sehen, wie tapfer du dem Tod entgegentrittst, Jasper«, erwiderte Call.
Das war das Gute an Jaspers Besuch, dachte er, dass er in seiner Gegenwart nie ein schlechtes Gewissen hatte, selbst wenn es angebracht wäre. Er war einfach felsenfest davon überzeugt, dass Jasper alles Schlechte verdient hatte, was ihm zustieß.
»Nutze deine Chaosmagie!«, sagte Jasper hustend und spuckend. Die Luft war voller Rauch und Ruß. »Verschling die Wände oder das Feuer oder so!«
Call drehte die Handflächen nach oben. Er trug Handschellen, und ein Magier seines Niveaus konnte ohne seine Hände keine Magie ausüben.
Jasper fluchte und ließ seinen Arm vorschnellen, bis die Luft weiter vorn vibrierte und feste Form annahm. Schimmernd hing eine Brücke über dem eingebrochenen Fußboden.
Call hätte verwundert feststellen können, dass Jasper tatsächlich einmal etwas Nützliches zustande gebracht hatte – und sogar etwas, das nicht nur nützlich, sondern wahrhaftig beeindruckend war. Doch stattdessen lief er lieber los, so schnell ihn sein verletztes Bein tragen wollte, und verschob die Bewunderung auf später.
Weder Call noch Jasper wussten, wo ein Ausgang war, doch das Feuer ließ ihnen ohnehin keine große Wahl. Sie rannten dorthin, wo der Weg frei schien. Call biss die Zähne zusammen und gab sich äußerste Mühe, nicht zu stolpern. Die Luft war so heiß, dass es bereits schmerzte, wenn man den Mund aufmachte.
Sie gelangten an eine angelehnte Tür, die so schwer, magisch und undurchdringlich aussah, dass sie sicher nicht weitergekommen wären, wenn sie geschlossen gewesen wäre. Erleichtert kämpften sie sich hindurch, indem Jasper wegräumte, was im Weg lag, und die Tür hinter sich zuwarf. Er hatte ihnen eine kurze Pause von der Hitze und dem Rauch verschafft.
Außer Atem stützte Call die Hände auf die Knie. Anscheinend befanden sie sich in einem der hinteren Geheimgänge im Panoptikum. Es roch nach Bleichmittel und Waschpulver, vermischt mit Rauch und Feuer. Flure führten in alle Richtungen, Fenster gab es nicht. Und direkt vor ihnen ragte plötzlich eine Brandsäule auf.
Jasper taumelte schreiend zurück.
Sie waren erledigt. In einer Falle zwischen Feuersbrünsten würden sie in den Flammen den Tod finden. Das erinnerte Call daran, wie er im Vorjahr das brennende Labyrinth gemeistert hatte, indem er das Chaos angezapft hatte, um die Luft aus dem Raum zu saugen – ein Akt der Verzweiflung, mit dem er zwar dem Feuer die Nahrung genommen hatte –, doch sich selbst und allen anderen auch den Sauerstoff zum Atmen. Wäre Aaron damals nicht eingeschritten, wären sie alle gestorben.
In diesem Moment wünschte Call seine Magie herbei, sehnlichst, obwohl er sie missbraucht hatte.
Feuer will brennen. Wasser will fließen. Luft will schweben. Erde will verbinden. Chaos will verschlingen.
Die Zeile nicht zu vergessen, die er aus Spaß für sich hinzugefügt hatte: Call will leben.
Dieser Zusatz verfolgte ihn. Er wehrte sich gegen seine Fesseln, doch sie waren so unnachgiebig wie zuvor und machten es ihm unmöglich, seine Magie zu gebrauchen. Vor ihnen wand sich das Feuer wie eine Schlange, wuchs in die Höhe, immer weiter und breitete sich oben aus wie die Haube einer Kobra.
Dann setzte sich im Feuer ein Gesicht zusammen – ein bekanntes Gesicht, das eines Mädchens, einzig aus Flammen bestehend.
»Makar«, sagte Tamaras Schwester Ravan. Sie war vom Feuerelement verzehrt worden und lebte als eine Verschlungene des Feuers, eine Elementarierin ohne menschliche Seele. Vor einiger Zeit war Call mit Aaron und Tamara in ein Elementariergefängnis eingebrochen und hatte dort die Verschlungenen der Luft und des Feuers, der Erde und des Wassers gesehen. Soweit er wusste, hatte es noch nie einen Verschlungenen des Chaos gegeben. Was für eine entsetzliche Vorstellung!
»Ihr habt keine Zeit zum Trödeln«, mahnte Ravan. »Durch die dritte Tür auf der rechten Seite lauft raus und sucht das Weite.«
Dann verschwand ihr Gesicht wieder, ihre Züge verschwammen in den Flammen. Das Feuer veränderte sich und bildete einen Funken sprühenden, lodernden Torbogen.
»Was. Ist. Das?«, fragte Jasper verwundert.
»Eine Feuerelementarierin«, sagte Call, der Tamara nicht ins Spiel bringen wollte, ehe er wusste, was eigentlich los war. »Ich kenne sie. Sie lebt im Magisterium.«
»Soll das heißen, du brichst aus dem Gefängnis aus? Und du zwingst mich, dabei mitzumachen?!«, schrie Jasper. Seine Stimme überschlug sich. »Das ist wirklich alles deine Schuld, Call. Ich …«
»Halt’s Maul, Jasper«, sagte Call und schob ihn zu der dritten Tür auf der rechten Seite. »Das kannst du mir alles erzählen, wenn wir draußen sind, wo es nicht mehr brennt.«
»Und wieder einmal vom grausamen Besen des Schicksals dahingefegt«, murmelte Jasper, während sie weitereilten.
Sie folgten Ravans Anweisung und liefen rasch durch den Gang rechts zu einer Flügeltür mit einem langen Holzriegel, der quer darüberlag. Mit beiden Händen riss Jasper den Riegel nach links, während Call sich gegen die Tür warf, die sofort aufsprang.
Sonne und Luft. Jasper rannte hinaus, dann schrie er. Ein dumpfes Geräusch war zu hören. »Stufen!«, rief er. »Pass auf, da ist eine Treppe.«
Hinter Call stand alles in Flammen. Er holte tief Luft und folgte Jasper ins Freie. Tatsächlich führte unmittelbar hinter der Tür eine kurze Treppe nach unten. An ihrem Fuß lag Jasper und rieb sich das Knie. Doch Call nahm auch den Sonnenschein wahr, die frische Luft, Wolken und vieles andere, das ihm lange verwehrt gewesen war. Er atmete in tiefen, gierigen Zügen.
»Komm weiter«, sagte Jasper. »Bevor dich jemand sieht.«
Je weiter sie sich vom Gefängnis entfernten, umso dünner wurde der Rauch. Call warf einen Blick zurück. Das Panoptikum, ein weites gemauertes Rund, sah aus wie ein umgedrehter Eimer. Aus den Fenstern und dem Dach züngelte orangefarben das Feuer.
Jasper und Call liefen weiter zu einem grünen Rasenstreifen. In Calls Zelle hatte es keine Fenster gegeben, sonst hätte er auf eine grüne Fläche blicken können, die in der Ferne von einem Zaun begrenzt war. Dahinter standen Bäume.
Im Augenblick herrschte dort unvorstellbares Chaos. Wachposten liefen im Kreis um die Gefangenen, die in Gruppen aneinandergekettet waren. Andere wurden in Lieferwagen fortgebracht. Magier in den olivgrünen Präsidiumsuniformen liefen kopflos über den Rasen, wedelten mit den Armen und versuchten, die entsetzten Wächter, die Sicherheitsbeamten und Gefangenen in unterschiedliche Richtungen zu schicken.
Plötzlich wurde Call von einem Präsidiumsabgeordneten erkannt, der lauthals nach dem Wachpersonal rief.
»Wo kann ich mitfahren?«, fragte Jasper keuchend. »Ich muss hier weg.«
»Willst du mich etwa hierlassen?«, fragte Call.
»Ich weiß, was passiert, wenn ich mit dir zusammen bin«, antwortete Jasper. »Da werde ich gleich in die nächste Horrorgeschichte reingezogen, komplett mit abgehackten Köpfen und Chaosbesessenen. Nein, danke. Ich muss Celia zurückerobern. Und ich will nicht sterben.«
»Nimm mir wenigstens die hier ab.« Call streckte seine gefesselten Hände aus. »Gib mir eine Chance, Jasper.«
Mittlerweile waren mehrere Wachposten auf dem Weg zu Call und riefen sich etwas zu, als planten sie, wie sie ihn wieder einfangen wollten. Da sie jedoch sehr langsam vorankamen und Call ihnen den Rücken zukehrte, konnten sie nicht sehen, was Jasper vorhatte.