Mailen, chatten, zoomen: Digitale Beratungsformen in der Praxis (Leben Lernen, Bd. 323) - Birgit Knatz - E-Book

Mailen, chatten, zoomen: Digitale Beratungsformen in der Praxis (Leben Lernen, Bd. 323) E-Book

Birgit Knatz

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Beschreibung

Unabhängig von Zeit und Ort: Psychologische Beratung mit dem Smartphone oder Laptop - Die Autoren sind seit 1996 in der Online-Beratungs- Ausbildung tätig und sind die Pioniere der Online-Beratung im deutschsprachigen Raum. Sie sind aktiv in Weiterbildung, Schulung, Expertisen und Vorträgen. - Online-Beratung gehört mit in die Angebote von Beratungsstellen. Neu gegründete Beratungsstellen müssen Online-Beratung anbieten können. Die heute selbstverständlich gewordene Nutzung des Internets hat bereits seit längerem auch die psychologische Begleitung von Menschen verändert. Doch erst durch die Corona-Krise wurde deutlich, wie unverzichtbar die digitalen Medien in Beratung, Psychotherapie, Coaching und Supervision geworden sind. Mail, Chat, Voicemail, Videocall und Apps sind die aktuell gängigen digitalen Beratungsformate, die, flexibel eingesetzt, die face-to-face-Beratung ergänzen und auch als eigenes Beratungsformat wirken. Das Buch erklärt anschaulich und anhand von Fallbeispielen die Merkmale und Besonderheiten und vermittelt Praxisanleitungen und technisches Knowhow für virtuelle Beratungsstellen und Praxen. Ebenso teilen die Autoren ihre inhaltlichen Erfahrungen zu besonders häufigen Themen und Problemen und verraten, wie der Beziehungsaufbau ebenso gut gelingt wie in der realen Praxis. Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Schulen - Beratende PsychologInnen

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Seitenzahl: 371

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Birgit Knatz

Bernard Dodier

Mailen, chatten, zoomen

Digitale Beratungsformen in der Praxis

Zu diesem Buch

Durch die Corona-Krise wurde deutlich, wie unverzichtbar die digitalen Medien in Beratung, Psychotherapie, Coaching und Supervision sind. E-Mail, Chat, Voicemail, Videocall und Apps sind die aktuell gängigen digitalen Beratungsformate, die, flexibel eingesetzt, die Face-to-Face-Beratung ergänzen. Das Buch, das auf der Pionierarbeit beider Autoren, dem 2003 erschienenen Buch »Hilfe aus dem Netz« aufbaut, erklärt anschaulich und anhand von Fallbeispielen die Merkmale und Besonderheiten und vermittelt Praxisanleitungen und technisches Know-how für virtuelle Beratungsstellen und Praxen. Ebenso teilen die Autoren ihre inhaltlichen Erfahrungen zu besonders häufigen Themen und Problemen und verraten, wie der Beziehungsaufbau ebenso gut gelingt wie in der realen Praxis.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter: www.klett-cotta.de/lebenlernen

Impressum

Leben Lernen 323

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von @ michael dziedzic on Unsplash

Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-89272-7

E-Book: ISBN 978-3-608-12129-2

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20500-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Dank und Vorbemerkungen

Kapitel 1

Online-Beratung 2020

1.1 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Beratung

1.1.1 Auswirkungen auf die Beratungsstellen

1.1.2 Auswirkungen auf die Psychotherapeutinnen und Berater

1.1.3 Auswirkungen auf Klientinnen, Ratsuchende und Patientinnen

1.2 Die Situation vor der Pandemie im psychosozialen Bereich

Kapitel 2

Online-Beratungsformate

2.1 Die Rolle des Smartphones für die Ratsuchenden

2.1.1 Digitale Beratungsformate haben eine hohe Akzeptanz

2.1.2 Online-Beratung als eigenständige Beratungsform

2.1.3 Überblick über die Beratungsformate

2.2 Beratung per Mail

2.2.1 Schreiben zu jeder Tages- und Nachtzeit

2.2.2 Schreiben als Ressource – Das Schreiben ist hilfreich

2.3 Chat-Beratung

2.4 Beratung über Sprachnachrichten

2.5 Video-Beratung: Hören Sie mich? Sehen Sie mich?

2.6 Apps

2.6.1 TK-DepressionsCoach

2.6.2 Moodgym App

2.6.3 HelloBetter

2.6.4 deprexis APP

2.6.5 Novego

2.6.6 Selfapy

2.6.7 ProPerspektive.online

2.6.8 APP CoachPTBS

2.6.9 KrisenKompass App

2.6.10 Cyber-Mobbing App

2.6.11 Lola App

2.6.12 mbeon-App

Kapitel 3

Besonderheiten der Online-Beratung

3.1 Smartphone

3.1.1 Bedeutung für Beratung

3.1.1.1 Die Monitorgröße

3.1.1.2 Monitore und Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig

3.2 Anonymität und innere Niederschwelligkeit

3.2.1 Bedeutung für die Beratung

3.2.1.1 Enthemmung

3.3 Fakes

3.4 Trolle

3.5 Der Nickname

3.5.1 Bedeutung für die Beratung

3.6 Die Kanalreduktion

3.6.1 Bedeutung für die Beratung

3.6.1.1 Die schriftliche Kommunikation

3.6.1.2 Emoticons, Inflektive und Akronyme

3.7 Lesen und Schreiben

3.7.1 Worte: Grundkurs für Schreibende

3.8 Die Nivellierung sozialer Hintergründe

3.8.1 Bedeutung für die Beratung

3.9 Äußere Niederschwelligkeit und zeitliche Flexibilität

3.9.1 Bedeutung für die Beratung

3.9.1.1 Ortsunabhängig

3.9.1.2 Schreiben und Sprechen zu jeder Zeit, auch in der Nacht

3.9.1.3 Zeitliche Flexibilität

3.10 Merkmal: Nähe durch Distanz

3.10.1 Bedeutung für die Beratung

3.11 Merkmal Stimme

3.12 Merkmal Video-Beratung

3.12.1 Bedeutung für die Beratung

Kapitel 4

Wie aus Daten Beziehungen werden

4.1 Beziehung

4.2 Beratungsverständnis

4.2.1 Klientenzentrierter Ansatz nach Carl Ransom Rogers

4.2.2 Lösungsorientierter Ansatz von Steve de Shazer

4.2.2.1 Besucherinnen oder Besucher

4.2.2.2 Klagende oder Klagender

4.2.2.3 Kundin oder Kunde

4.3 Beratungshaltung: Die großen Sechs

4.4 Beratungsrolle – Rollenverständnis

4.4.1 Vereinbarungen, Absprachen und zeitlicher Rahmen

4.5 Wie aus Daten Beziehungen werden

4.5.1 Zur Anrede und Ansprache

4.5.2 Das Vier-Folien-Konzept – theoretisch

4.5.2.1 Die 1. Folie – Der eigene Resonanzboden

4.5.2.2 Die 2. Folie – Das Thema und der psychosoziale Hintergrund

4.5.2.3 Die 3. Folie – Die Diagnose

4.5.2.4 Die 4. Folie – Die Intervention

4.5.3 Das Vier-Folien-Konzept – praktisch

4.5.3.1 Anfrage

4.5.3.2 Ein weiteres Beispiel

4.5.4 Wie aus Daten Beziehungen werden – Das Fünf-Phasen-Modell im Chatdialog

4.5.4.1 Eröffnung: Anrede – Begrüßung – Vorstellung

4.5.4.2 Fragen Sie nach dem Anliegen – Auftragsklärung

4.5.4.3 Abschluss eines Chats

4.5.4.4 Verabschiedung und eventuell weiteres Angebot

4.5.4.5 Beispiele von Chatverläufen

4.5.5 Wie aus Daten Beziehungen werden: Sprachnachrichten

4.5.6 Video-Beratung

4.5.6.1 Das Vier-Folien-Konzept für die Video-Beratung

4.5.7 Apps: Da gibt es doch eine App für

Kapitel 5

Ausgewählte Themen

5.1 Einleitung

5.2 Suizid

5.2.1 Verstehen! Keine Appelle – keine Moral – kein Druck

5.2.2 Und jetzt ganz konkret

5.2.3 Anwendung der KrisenKompass App

5.2.4 Safety Plan – Notfallplan

5.2.4.1 Gemeinsam einen Sicherheitsplan erstellen

5.2.5 Rechtliche Aspekte

5.3 Depressionen

5.3.1 Hier einige Beispiele aus der Online-Beratung

5.3.2 Symptome einer Depression

5.3.3 Wie kann ich intervenieren?

5.4 Ängste

5.4.1 Wo hört normale Angst auf, wo fängt die Erkrankung an?

5.4.2 Panikattacken

5.4.3 Wie können Sie unterstützen? Durch Schreiben!

5.5 Posttraumatische Belastungsstörung

5.5.1 Hilfe in der Mail- und Chat-Beratung

5.5.2 Der innere Ort der Geborgenheit

5.6 Essstörungen

5.6.1 Wie kann Hilfe in der Online-Beratung aussehen?

5.7 Sexualisierte Gewalt

5.7.1 Täterstrategien: Wie gehen Täter und Täterinnen vor?

5.7.2 Interventionsvorschläge bei (aktueller) sexualisierter Gewalt

5.8 Cyber-Mobbing

5.8.1 Beispiele

5.8.2 Was tun?

5.9 Aufschieberitis oder Prokrastination

Kapitel 6

Virtuelle Beratungsstelle

6.1 Wie funktioniert Online-Beratung konkret?

6.2 Berufliche Voraussetzungen für Online-Beraterinnen und -Berater

6.3 Der Zugang zur Online-Beratung

6.4 Suchen und finden

6.5 Institutionelle Bereitschaft

6.6 Organisatorische Rahmenbedingungen

6.7 Organisationsmodelle

6.7.1 Zusammenschluss verschiedener Stellen zu einer virtuellen Beratungsstelle

6.7.2 Reine Online-Beratungsstelle

6.7.3 Online-Beratung als weiteres Format

6.8 Homeoffice

6.8.1 Die Platzauswahl für die videogestützte Beratungsarbeit

6.8.2 Technik

6.8.3 Persönliches

6.8.4 Psychohygiene

6.9 Beraterische Fachkompetenz

6.9.1 Fähigkeit zur Krisenintervention

6.9.2 Rechtliche Rahmenbedingungen

6.9.3 Ethische Fragen

6.9.4 Datenschutz

6.9.5 Und wie alle anderen Formate braucht Online-Beratung Qualitätssicherung

Kapitel 7

Beispiele von virtuellen Beratungsstellen

7.1 TelefonSeelsorge

7.2 Dargebotene Hand-Tel 143

7.3 Notruf 142 – Die Telefonseelsorge Österreich

7.4 Caritas

7.5 Diakonie

7.6 pro familia Online-Beratung

7.7 bke-Onlineberatung

7.8 AWO

7.9 Online-Beratung der Aidshilfe

7.10 Online-Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus

7.11 Online-Beratung für pflegende Angehörige

7.12 Landeskoordinierungsstelle Glücksspielsucht NRW

7.13 Online-Beratung der Drogenberatung e. V. Bielefeld

7.14 Schattenriss

7.15 Online-Beratung im Kölner Studierendenwerk

7.16 ONBERA

7.17 Peer-Beratung

7.17.1 Youth-Life-Line

7.17.2 DA-SEIN.DE – DIGITAL NAH SEIN

7.17.3 Leuchtturm ON

7.17.4 [U25]

7.18 Kommerzielle Plattformen

7.18.1 Instahelp

7.18.2 Mentavio

7.18.3 Talknow

7.18.4 Theratalk

Internetquellen

Literatur

Dank und Vorbemerkungen

An einem Buch sind immer mehr Menschen beteiligt als die, die es schreiben. Und so danken wir den Mitarbeitenden unseres Verlags, ohne die dieses Buch nicht hätte erscheinen können. Schon 2003, als die Online-Beratung noch in den Kinderschuhen steckte, war Klett-Cotta offen für neue Beratungsformate und veröffentliche »Hilfe aus dem Netz«, das heute zum Standardwerk der Online-Beratung gehört. 2021 erscheint mit: »Mailen, chatten, zoomen: Digitale Beratungsformen in der Praxis« ein Erfahrungsbericht aus 18 Jahren Online-Beratung und ein Ausblick auf die nächsten Jahre. 18 Jahre braucht es, bis man volljährig ist und von Rechts wegen als erwachsen gilt ;-) Das erleben wir auch in der Online-Beratung, die als weiteres Beratungsformat in vielen Beratungsstellen, Einrichtungen, Fachverbänden und psychologischen Praxen etabliert ist. Wir sind sicher, hätte es nicht die Entschlossenheit von Klett-Cotta, sich als renommierter Verlag dem Thema zu widmen, gegeben, stände die Online-Beratung nicht da, wo sie heute steht. Im Verlag gehört unser besonderer Dank unserer Lektorin Frau Dr. Christine Treml, die uns fachlich und grammatikalisch ;-) zur Seite stand. Wir werden ihre freundlichen Mails, wie es uns geht, ob sie uns unterstützen kann und wie es vorangeht, vermissen. Danke.

Dann bedanken uns bei den Beraterinnen und Beratern, Psychologinnen und Psychologen und Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die wir ausgebildet haben und supervidieren. In den Ausbildungen und Supervisionen konnten wir unsere Konzepte überprüfen, nachbessern, aktualisieren und konkretisieren. Denn wie sagte schon der hinduistische Mönch, Swami und Gelehrte Vivekananda: »Eine Theorie, die nicht praktisch im Leben Anwendung finden kann, ist wertlose Gedankenakrobatik.«

Wir danken auch all den Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, die sich an eine Online-Beratungsstelle gewandt und uns ihre Zustimmung gegeben haben, ihre Geschichte (natürlich anonymisiert) zu veröffentlichen. Mit ihrer Beherztheit, sich ihrem Problem in dieser Form zu stellen, haben sie vielleicht Modellcharakter!

Und natürlich geht unser Dank auch an unsere Liebsten zu Hause: an meinen Mann Bernd Hoch, meine Frau Uschi Dodier, die in der Zeit des Schreibens öfter zurückstecken mussten.

Ich danke meinem Mann, der sich, während ich schrieb, um mein leibliches Wohl sorgte. Ich empfehle sein Kochbuch: »Während sie schrieb ;-)« Und auch seine Anregungen und Nachfragen haben mir geholfen.

Ich danke meiner Frau Uschi für ihre Rolle als Sparringspartnerin für widerstreitende Gedanken und den Erfahrungsaustausch bei gemeinsam durchgeführten Fortbildungen.

Ein wesentliches Werkzeug in der Online-Beratung ist unsere Sprache. Bekanntermaßen bildet sie unsere Gedanken und Gefühle ab. Sie beeinflusst unser Denken und schafft und prägt unsere Wirklichkeit. Unsere Sprache aktiviert in unserem Denken einen Wissens- und Deutungsrahmen. Diese bilden den Hintergrund, von dem aus wir die Wörter analysieren und verstehen. Sie formt somit unsere Lebensanschauungen und Einstellungen. Durch Benennen oder Nicht-Benennen werden Vorstellungen davon, was normal ist, aufgerufen und bestätigt. Im generischen Maskulinum, welches häufig in Fachbüchern gebraucht wird, werden Mädchen und Frauen unsichtbar. Daher haben wir uns entschieden, Mädchen und Frauen, Jungen und Männern in unserem Buch Raum zu geben und sie auch wechselnd zu benennen.

Die Fallbeispiele, die wir verwenden, sind anonymisiert! Wenn Sie sich in einem der Beispiele wiederfinden, liegt es vielleicht daran, dass Sie mit Ihren Nöten und Anliegen nicht alleine sind.

Die Mails, Chats und transkribierten Sprachnachrichten zitieren wir und haben nur an einigen Stellen, der besseren Lesbarkeit wegen, grammatikalisch eingegriffen.

Birgit Knatz & Bernard Dodier, im Januar 2021

Kapitel 1

Online-Beratung 2020

Als wir im November 2019 die Idee hatten, unsere seit dem Erscheinen des ersten Buches »Hilfe aus dem Netz« gemachten Erfahrungen zu veröffentlichen, war die Welt noch in Ordnung. Wir wollten die Kenntnisse aus unserer Beratungsarbeit, den durchgeführten Aus- und Fortbildungen und unsere Erfahrungen mit einer langsam, aber stetig wachsenden Zahl von Online-Beratungsstellen zusammenfassen und so einen Überblick über den Ende des Jahres 2019 festzustellenden Stand der Online-Beratung geben. Doch es kam anders als gedacht!

Am 31. Dezember 2019 wurde die WHO über Fälle von Lungenentzündung mit unbekannter Ursache in der chinesischen Stadt Wuhan informiert. Daraufhin identifizierten die chinesischen Behörden am 7. Januar 2020 als Ursache ein neuartiges Corona-Virus, das später die Bezeichnung »COVID-19-Virus« erhielt. Am 30. Januar 2020 wurde die Corona-Virus-Pandemie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur »Gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite« erklärt. Am 27. März 2020 trat das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Kraft.

https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19/novel-coronavirus-2019-ncov

Damit beschlossen Bund und Länder Mitte März 2020 weitgehende Einschränkungen für das öffentliche Leben, wie gleichzeitig fast alle anderen Länder weltweit. Am 16. März wurden die Schulen geschlossen. Wir verzichten darauf, die Entwicklung der Pandemie und der darauffolgenden Maßnahmen näher zu beschreiben. Sie ist bekannt und in ihrem Einfluss täglich zu spüren. Mitte Dezember 2020, mit stetig steigenden Zahlen der Infizierten, wird sichtbar, dass angesichts des erneuten Lockdowns uns alle die Corona-Pandemie noch lange beschäftigen wird.

So können wir nicht anders, als auch in diesem Buch die Frage zu stellen, welche Auswirkungen dieses Ereignis auf die psychosoziale (Online-)Beratung und auch auf Beratungsleistungen insgesamt heute und in Zukunft hat. Egal wie diese weltweite Pandemie durch unsere Gesellschaften und ihre Verantwortlichen gemeistert werden wird, sind die Auswirkungen auf die Beratung schon jetzt deutlich zu erkennen und von weitreichender Tragweite.

1.1 Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Beratung

1.1.1 Auswirkungen auf die Beratungsstellen

Mitte März 2020 sind alle in der Beratung Tätigen, unabhängig ob psychosoziale Beratung oder eine andere Form der Beratung, von der unerwarteten, bisher undenkbaren, aber dadurch eben brutal ernüchternden Erkenntnis getroffen worden, dass nicht mehr in der persönlichen Begegnung gearbeitet werden konnte und durfte. Bestehende Termine wurden abgesagt und vielerorts die Beschäftigten ins Homeoffice geschickt.

COVID-19 hat von einem Tag auf den anderen die Beratungs- und Therapielandschaft gründlich verändert und die so selbstverständlich gehandhabten persönlichen Begegnungen, Beratungen und Therapiesitzungen weitgehend tabuisiert.

Dass in diesen Krisenzeiten, in denen Beratung und Beistand dringend notwendig sind, die Beratungsstellen und Psychotherapie-Angebote mit ihren an Face-to-Face gebundenen Methoden völlig bedeutungslos und außen vor sind, ist beispiellos. Das zurückbleibende Gefühl der Hilflosigkeit bei den handelnden Personen hat für manche ein traumatisches Erleben zur Folge. Ein Kriterium für potentiell traumatisierendes Erleben von professionell Helfenden ist die Hilflosigkeit angesichts einer Katastrophe, in der sie nicht handeln können, lahmgelegt sind, tatenlos zuschauen müssen. Dies trifft gleichermaßen auf alle Beratenden, gleich zu welchem Thema, zu. So konnten Banken und Versicherungen keine persönlichen Beratungen mehr durchführen, Ämter und Behörden duften nicht mehr aufgesucht werden und die Beratungsleistungen von Gesundheitseinrichtungen, Ärztinnen und Krankenhäusern, selbst Reha-Einrichtungen, wurden stark eingeschränkt.

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) schreibt dazu: »Beratende und andere Fachkräfte erleben derzeit eine nie dagewesene Herausforderung, da ihre eigene Lebenssituation und zugleich die Lebenswelt ihrer Klienten sich von einem auf den anderen Tag grundlegend geändert hat. Dabei besteht eine doppelte Herausforderung, nämlich den eigenen Alltag jenseits früherer Routine zu meistern und zeitgleich in einer neuen beruflichen Situation den Fragen und Problemen oft sehr verunsicherter Klienten gerecht zu werden.« https://www.dgsf.org/ueber-uns/gruppen/fachgruppen/online-beratung/krisenberatung-am-telefon-und-per-video-in-zeiten-von-corona

Nicht nur, dass mit dem Lockdown die Beratungen im vertrauten Face-to-Face-Format nicht mehr möglich waren, auch die Erreichbarkeit der Stellen war nicht mehr gegeben, da sich Psychotherapeutinnen und Berater von jetzt auf gleich im Homeoffice wiederfanden.

Von dort aus konnten sie nur bedingt und oft auch nur zögerlich ihre Arbeitsfähigkeit auf technisch-organisatorischer Ebene wiederherstellen und sicherstellen.

Die Auswirkungen auf die Träger von Beratungsangeboten sind grundlegend. Ihre angebotenen Leistungen konnten in der bisherigen Komm-Struktur nicht mehr angeboten werden. Die verordneten Kontaktbeschränkungen und Hygienevorschriften erlaubten es nicht mehr, die Klientinnen und Klienten zu empfangen und für die Beratungen zu sehen. Was für die Beratungen zutrifft, gilt ebenso für Psychotherapie-Sitzungen im Einzelkontakt und natürlich erst recht für Gruppensitzungen und sich selbst organisierende Selbsthilfegruppen.

Die baulichen Gegebenheiten und Bedingungen in den Räumen erlauben nicht die Einhaltung der Abstandsgebote und entsprechen nicht den neu erlassenen Hygienevorschriften. Den beruflichen Alltag unterstützende kollegiale Zusammenkünfte wie Supervision, Intervision und auch Aus- und Fortbildungen konnten und können derzeit nicht mehr in Kopräsenz durchgeführt in werden.

Der von Beratungsträgern gestartete Versuch, alternativ zu persönlichen Treffen Telefonkonferenzen, Online-Supervisionen und auch Fortbildungen zu organisieren, scheiterten und scheitern immer noch an nicht vorhandenen technischen Voraussetzungen sowohl in der Hardware als auch in den Leitungskapazitäten. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass durch die von den jeweiligen IT-Sicherheitsbeauftragten implementierten Schutzfunktionen oft ein Arbeiten der Beratenden im Homeoffice unmöglich gemacht wurde. Was für fiktive Angreifende unüberwindlich und DGSVO-konform erdacht und konstruiert wurde, ist auch für Mitarbeitende aus dem Homeoffice unüberwindlich. Zugänge von außen waren nicht vorgesehen. Ein leitender Psychologe eines großen Trägers klagte, dass er eine Fortbildung in Online-Beratung technisch nicht realisieren könne, da ihre Technik veraltet und schon gar nicht auf Videokonferenzen ausgelegt sei. Die einzige Möglichkeit sei, dass die Mitarbeitenden von zu Hause mit ihrem privaten Notebook oder Rechner teilnehmen könnten. Das wiederum würde ihren Sicherheitsbeauftragten aber große Bauchschmerzen bereiten. Das generell bestehende Problem zwischen einem möglichst technisch niederschwelligen Beratungsangebot einerseits und den Wünschen und Vorstellungen der IT-Sicherheitsbeauftragten und der DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) ist sehr deutlich.

Bernd Jacob, Geschäftsführer der Internetagentur für nachhaltige Digitalisierung AYGOnet (www.aygonet.de), die eine webbasierte Software für eine professionelle und individuelle Online-Beratung anbietet, antwortete auf unsere im Oktober 2020 gestellte Frage bezüglich neuer Erkenntnisse und Erwartungen an die zukünftigen Entwicklungen zum Thema Online-Beratung in technischer Hinsicht: »Insgesamt zeigt Corona aber auch die Rückständigkeit in der technischen Infrastruktur in Deutschland. Videokonferenzen gelingen technisch auf Grund geringer Bandbreite nicht reibungslos, die versprochenen Leitungskapazitäten der Netzbetreiber werden nicht annähernd konstant erreicht. Die Erfahrungen des Homeschoolings zeigen, dass es in unserer Gesellschaft einen Technologie-Gap gibt, der im starken Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation der Familien steht. Ich denke, dass wir ein neues Grundrecht benötigen, das den Privathaushalten freien Zugriff auf ein Mindestmaß an technischer Infrastruktur zusichert. Man kann nur hoffen, dass der Glasfaser-Netzausbau zügig vorangeht und preislich attraktiv und auch für wirtschaftlich schwache Familien erschwinglich angeboten wird. Wenn sich an der Infrastruktur nichts ändert, findet die Online-Beratung in ihrer Weiterentwicklung eine große technische Hürde vor.« https://www.diemedialen.de/

In der Tat liegt Deutschland bei den Glasfaseranschlüssen auf Platz 34 der OECD-Staaten. Nur in vier OECD-Staaten ist der Anteil der Glasfaseranschlüsse noch geringer als bei uns, dies in Österreich, Großbritannien, Belgien und Griechenland. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/415799/umfrage/anteil-von-glasfaseranschluessen-an-allen-breitbandanschluessen-in-oecd-staaten/

Oder die Forderung der Bundespsychotherapeutenkammer in einer am 5. 11. 20 herausgegebenen Studie über Videobehandlung: »Es müssen dringend die ausreichenden technischen Voraussetzungen für eine störungsfreie Behandlung per Video geschaffen werden. Der fehlende Ausbau des Internets ist das größte Hindernis für eine Digitalisierung der Gesundheitsversorgung. https://www.bptk.de/praesenz-und-videobehandlung-kombinieren/

Die Pandemie hat unsere nicht ausreichend ausgebaute Infrastruktur von einem Moment zum anderen an ihre Grenzen geführt. Dieser Stresstest hat das offensichtlich gemacht, was schon davor zu beobachten war; Chats sind abgebrochen, Videokonferenzen kamen ins Stottern, was zum Stresstest sowohl für Beratende als auch für die Klientinnen, Patienten und Ratsuchenden führte.

1.1.2 Auswirkungen auf die Psychotherapeutinnen und Berater

Die Herausforderungen an die Fachkräfte waren und sind enorm. Sie stellten fest, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind, die die neue Beratungssituation stellt. Ihre über viele Jahre erworbenen Fähigkeiten, Erfahrungen und bewährten Strategien in Face-to-Face-Beratung und Therapie waren nicht mehr die verlässliche Basis zur Bewältigung von Online-Beratungsanfragen in der Krisensituation. Ganz abgesehen von den beschriebenen technischen und organisatorischen Herausforderungen mussten sie sich auch ihrer Skepsis und inneren Widerständen gegen »Online« stellen. Nicht aus innerem Wandel oder erarbeiteter Überzeugung, dass Online-Beratung und Online-Therapie ein adäquates Format für Beratung und Therapie darstellen, sondern aus dem Druck heraus, nichts anderes anbieten zu können.

Interessant ist, dass die inneren Barrieren gegen Online-Beratung nach dem ersten Lockdown überwiegend sehr schnell aufgegeben wurden und dass zuvor hochgehaltene Anforderungen an Sicherheit und Datenschutz plötzlich nicht mehr so wichtig waren. Noch vor der Corona-Pandemie wurde die Online-Beratung von vielen Beraterinnen und Therapeuten abgelehnt. Nach wie vor gab es eine Skepsis gegenüber den über Face-to-Face-Beratung hinausgehenden Formaten, da es nicht vorstellbar war, auf die ganze Bandbreite der Sinneseindrücke zu verzichten. Und es gab Unsicherheit und Angst nicht ausreichend qualifiziert zu sein. Durch die Corona-Pandemie wurde ein Wandel sichtbar. Plötzlich wurde es möglich und gewünscht, Beratung und Therapie online anzubieten.

Als Beratende, Therapeutinnen und Therapeuten nun mehr oder weniger zwangsweise erste Schritte in Richtung Online-Beratung/Therapie gingen, übertrugen sie ihre Vorgehensweisen, Methoden und Erfahrungen eins zu eins auf die Online-Beratung. Das geht allerdings nicht. Manches aus der Face-to-Face-Methodenkiste ist für »Online« brauchbar und gut geeignet, anderes passt überhaupt nicht, da sich viele Methoden und Verfahren auf die physische Anwesenheit gründen und darauf angewiesen sind. Diese sind, logischerweise, nicht für eine Online-Beratung oder Therapie nutzbar. Alle auf sprachlicher Kommunikation basierenden Verfahren sind allerdings potentiell für die Umsetzung in die Online-Beratung geeignet. Für die schnelle Umstellung auf Online-Beratung und Therapie war neben den schon beschriebenen technischen Hürden auch das Fehlen von online-spezifischen methodischen Skills hinderlich.

1.1.3 Auswirkungen auf Klientinnen, Ratsuchende und Patientinnen

Die Ein- und Beschränkungen technischer Art gelten auch auf Seiten der Ratsuchenden, Klientinnen und Patienten. Viele Familien konnten an den Angeboten der Schulen für ihre Kinder nicht partizipieren, da ihnen schlichtweg der Internetzugang, die Hardware und/oder das Minimum an Know-how fehlten.

Die Coronakrise hat in ihren Auswirkungen großen Einfluss und durchdringt alle unsere Lebensbereiche; die Gesundheit, die Familie und Partnerschaft, unsere sozialen Beziehungen, Beruf und Finanzen und unsere Auseinandersetzung mit Fragen nach Sinn, Leben, Tod und Glaube. Viele dieser Bereiche sind mittelbar oder unmittelbar betroffen. Unsere gewohnten Lebensabläufe sind gestört, die sozialen Beziehungen eingeschränkt. Die beruflichen Bedingungen sind durch Homeoffice andere und haben dadurch Einfluss auf unseren familiären und partnerschaftlichen Umgang miteinander. Letztlich sind auch unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit mittelbar in Gefahr.

Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Belastung über die lange Zeit anhaltende Krise mit einem schwankenden Verlauf. Dazu schreibt die Ärztin und Psychotherapeutin Dr. Mirriam Prieß in der Süddeutschen Zeitung: »Wie die ›Wiederholung‹ der Krise die Psyche belastet«: »Für die Psyche ist jedes Auf und Ab und jedes Hin und Her ein Problem. Je häufiger das stattfindet – von einem Extrem in das nächste Extrem –, umso belasteter ist die Psyche. Je widerstandsfähiger ein Mensch ist, umso mehr ist er in der Lage, Krisen und existenziellen Bedrohungen auf Augenhöhe zu begegnen und das Bestmögliche daraus zu machen. Je mehr aber diese Resilienz fehlt, umso eher reagiert er auf Krisen mit unterschiedlichen psychosomatischen Symptomen – mit Angststörungen oder Depressionen, aber auch mit Erschöpfungssyndromen bis hin zu einem Burnout.«

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-wie-die-wiederholung-der-krise-die-psyche-belastet-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201015-99-959901

Der Psychotherapeut Jörg Herrmann schreibt in seinem Erfahrungsbericht zur Coronakrise:

»Die Coronakrise verstärkt nicht selten bestehende Ängste und Rückzugsneigungen. Insbesondere psychisch erkrankte Menschen haben jetzt noch größere Schwierigkeiten, das innere Gleichgewicht zu wahren.« Viele (Telefon-)Gespräche führt die Beratungsstelle allerdings auch mit Eltern, die sich gerade trennen oder aushandeln, wann wer die Kinder sieht. Eine Mutter macht sich jetzt Sorgen, wenn sie das Kind zum Vater schickt. Die zweieinhalbjährige Tochter sollte Ostern zu ihm und das erste Mal übernachten. Die Großmutter, die zur Unterstützung kommen sollte, kann jetzt aber nicht anreisen, da das Infektionsrisiko für sie zu groß ist. Der Vater fragte sehr verzweifelt, ob er seine Tochter denn jetzt überhaupt noch sehen kann. »Die Eltern konnten untereinander keine Entscheidung fällen, wir haben zusammen nach Wegen gesucht«, berichtet Jörg Hermann. »Corona macht das Leben in Trennung noch komplizierter, als es ohnehin schon ist.« www.bptk.de/leben-in-trennung-ist-jetzt-noch-komplizierter

Interessant sind auch die Erfahrungen der Studierenden der sozialen Arbeit über die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Das Distanzierungsgebot hat Auswirkungen:

»Mit dem eingeführten Besuchsverbot habe ich zunehmend wahrnehmen können, dass die Klient*innen ein gesteigertes Bedürfnis an Nähe und eine höhere Mitteilungsbedürftigkeit hatten. Klient*innen, die vorher sehr wenig bis gar nicht mit Worten kommuniziert haben, suchten nun vermehrt das Gespräch und den Austausch. Außerdem habe ich während, aber auch außerhalb der Pflege häufig Situationen gehabt, in denen mich die Klient*innen überraschend umarmt haben. Dies ist vorher so nie vorgekommen.«

http://www.socialnet.de/materialien/29063.php

Die Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen sieht eine verstärkte Problematik und Handlungsbedarf für vulnerable Personengruppen, »insbesondere Personengruppen, die ohnehin bereits auf professionelle und/oder soziale Unterstützungssysteme zur Bewältigung ihres Alltags angewiesen sind, z. B. pflegebedürftige, von Behinderung bedrohte, psychisch erkrankte, obdachlose, suchtkranke oder suchtgefährdete Menschen, sind aktuell zusätzlich belastet und mit zunehmender Dauer der Krise wird sich deren Situation verschärfen. Gerade für die große Zahl alleinlebender Menschen nimmt die Vereinsamungsgefahr und die Angst vor Isolation durch die Regelungen zur sozialen Distanzierung zu. Dies kann besonders für psychisch erkrankte Menschen oder Menschen mit einer Suchtproblematik zu einer weiteren Verschärfung ihrer Situation und der ihrer Angehörigen führen. Auch die Gefahr häuslicher Gewalt kann in dieser Krisenzeit zunehmen, so dass z. B. für den Kinder-, Jugend- und Frauenschutz massiver Handlungs- und Regelungsbedarf besteht. Zudem sind zugespitzte Engpässe und Notsituationen für weitere Personengruppen zu konstatieren: Der Zugang zu regelhaften Beratungs- und Unterstützungssystemen ist unter anderem wegen der Quarantäneregelungen der dort Tätigen, wegen drohender überbeanspruchter Nutzung (z. B. bei Notunterkünften für wohnungslose Menschen) sowie wegen der Reduktion der Kontaktzahl oftmals erschwert. So sind beispielsweise Institutsambulanzen nicht mehr regelhaft für psychisch Erkrankte nutzbar, Beratungsstellen sehen sich gezwungen, persönliche Begegnungen zu reduzieren und Beratung online anzubieten, wobei dies wiederum nicht für jede*n leicht zugänglich ist (z. B. für obdachlose oder geflüchtete Menschen). Einrichtungen der Tagespflege schließen auf der Grundlage vorübergehender Ausnahmeregelungen den Betrieb und stationäre Pflegeheime nehmen mancherorts keine neuen Bewohner*innen mehr auf. Für Menschen, die dringend Unterstützung und Hilfe benötigen, drohen gewohnte oder akut erforderliche Versorgungsstrukturen wegzubrechen, gerade in einer Zeit, die für sie mit zusätzlichen Ängsten und Verunsicherungen verbunden ist.« https://dvsg.org/fileadmin/dateien/07Publikationen/01StellungnahmenPositionen/2020-03-31_DVSG_Statement_in_der_Coronakrise_final.pdf

Man darf also durchaus den Krisenbegriff für die Corona-Pandemie und deren Erleben gebrauchen, auch wenn »nicht jede gesellschaftliche Veränderung gleich eine Krise sein muss«, so Prof. Wilhelm Heitmeyer, Soziologe am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld: »Sondern erst dann – und da müssen zwei Kriterien zusammenkommen – wenn die Routinen, mit denen man politische, ökonomische und soziale Probleme bearbeitet hat, nicht mehr funktionieren, das ist das erste Kriterium. Das zweite ist, dass die Zustände vor den Krisen nicht wieder herstellbar sind.« (Smiljanic, 2020)

Da diese beiden Kriterien gelten, ist der Begriff zutreffend. Die Welt wird nach Corona nicht mehr so sein wie vorher. Was die Corona-Krise für Beratung und Therapie bedeuten könnte, hat der Zukunftsforscher Matthias Horx im März 2020 in einem fiktiven Rückblick aus der Position September 2020 versucht zu beschreiben: »Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser), stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.« www.horx.com

Ja, er hatte recht, bis auf die Tatsache, dass die Krise immer noch anhält und wir immer noch gezwungen sind, uns darauf einzustellen. In der Einleitung zu seinem Aufsatz schrieb er: »Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn ›vorbei sein wird‹, und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.« www.horx.com

Krisen nach der oben geschriebenen Definition von Heitmeyer führen immer zu Kontrollverlusten: »Diese Kontrollverluste können sich zeigen in den Biografien von Menschen, aber auch in den Handlungsweisen von Institutionen und Organisationen. Und man muss ja bezogen auf die Coronakrise auch sagen: Auch die staatlichen Institutionen hatten Kontrollverluste zu verzeichnen, und daraus entstehen dann bestimmte Bedrängungen und Irritationen, die darauf hinwirken, dass es in gewisser Weise eine gesellschaftliche Unordnung gibt …« https://www.deutschlandfunk.de/corona-und-die-gesellschaft-zukunftsvorstellungen-in-der.1148.de.html?dram:article_id=483546

Mit anderen Worten sagte es Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und Vizekanzler, während einer Pressekonferenz am 15. April 2020, auf der er die neuen Regelungen für das Leben in der Corona-Pandemie erläutert: »Wir bewegen uns in eine neue Normalität. Eine Normalität, die nicht kurz sein wird, sondern die längere Zeit anhalten wird, bis es uns gelungen ist, bessere therapeutische Möglichkeiten zu haben und auch Impfstoffe zu besitzen, die uns helfen, die Ausbreitung der Pandemie in Deutschland und andernorts zu verhindern.« https://www.deutschlandfunk.de/folgen-der-pandemie-wie-corona-die-deutsche-sprache.1148.de.html?dram:article_id=481524

Das nicht Denkbare wird also zur Normalität, bis die Zukunft neu gefunden wird. Der Blick in die Zukunft entscheide aber mit über die Bewältigung der Krise, so Lisa Suckert, Wirtschaftssoziologin am Max-Planck-Institut: »Wie wir denken, wie wir entscheiden und wie wir letztendlich auch handeln, ist geprägt von der Vergangenheit und der Gegenwart. Aber neben den Erfahrungen, die wir gemacht haben, die wir erlernt haben, beispielsweise den direkten Reaktionen von unseren Mitmenschen, wird unser Handeln, Denken und Entscheiden auch maßgeblich davon geprägt, wie wir uns die Zukunft vorstellen.« https://www.deutschlandfunk.de/corona-und-die-gesellschaft-zukunftsvorstellungen-in-der.1148.de.html?dram:article_id=483546

Der italienische Philosoph Antonio Gramsci nannte vor rund hundert Jahren diesen Zustand ein Interregnum: »Das, was bisher gegolten hat, gilt nicht mehr, aber das Neue kann noch nicht geboren werden. Das Resultat davon ist eben diese starke Verunsicherung, weil wir eben keine Orientierungspunkte haben, an denen wir unsere Zukunftserwartungen festmachen können. Wir verstehen sozusagen die Welt nicht mehr. https://www.deutschlandfunk.de/corona-und-die-gesellschaft-zukunftsvorstellungen-in-der.1148.de.html?dram:article_id=483546

Zukunftsforscher Matthias Horx schließt mit den Worten: »Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt. Aber sie kann sich neu erfinden. System reset. Cool down! Musik auf den Balkonen! So geht Zukunft«, meint Horx. www.horx.com/48-die-welt-nach-corona (Gemeint ist damit, dass die Italiener sich zu Zeiten des Ausgangsverbotes am Freitagabend zur gleichen Zeit mit Instrumenten oder singend auf ihre Balkone oder an die Fenster gestellt haben, um Lieder gegen Angst, Einsamkeit und Langeweile in der Isolation anzustimmen.)

Was haben wir aus Corona gelernt? Die Bedeutung von zwischenmenschlichen Kontakten ist bei allen wieder mehr in den Fokus gerückt. Das Miteinander, auf das wir immer noch verzichten mussten und vielleicht wieder müssen, hat an Gewicht gewonnen. Das System »Beratung und Therapie« hat im Lockdown der Coronakrise in weiten Teilen nicht mehr funktioniert. Das Problem ist nur, dass die Krise persistierte und sich tendenziell eher noch verschärfte. Der beraterische »Normalzustand« ist sehr fraglich. Dieser kann und darf nicht die Rückkehr in Vor-Corona-Zeiten bedeuten. Wir müssen gesamtgesellschaftlich und auch mit unserem speziellen Blick auf die Beratungs- und Therapiebedingungen dafür sorgen, dass wir die Voraussetzungen und Bedingungen schaffen, auch in Zukunft mit solchen oder ähnlichen Situationen fertigzuwerden.

Wir haben uns mit den Möglichkeiten der Online-Beratung beschäftigt, um ein Instrument und eine Methode zu haben, Menschen zu erreichen, denen es aus vielerlei inneren und äußeren Gründen nicht möglich ist, eine die persönliche Präsenz voraussetzende Beratung oder Therapie aufzusuchen. Wir, die Autorin und der Autor dieses Buches, haben genau aus diesen Gründen schon 1995 als Pionierin und Pionier in Deutschland die ersten Schritte und Erfahrungen in der Mail- und Chat-Beratung gemacht. Wir wollten damit Menschen erreichen, für die selbst die sehr niedrigschwellige telefonische Beratung der TelefonSeelsorge in Anspruch zu nehmen eine unüberwindliche Barriere war und ist. Wenn das telefonische, anonyme Beratungsangebot der TelefonSeelsorge schon eine zu hohe Hürde darstellt, werden diese Menschen die dargebotene Hand der Face-to-Face-Beratung und -Therapie erst recht nicht ergreifen können und wollen.

Vor der Corona-Krise waren Online-Beratungsangebote vor allem für folgende Zielgruppen gedacht, bzw. diese Gruppen haben die Online-Beratung in Anspruch genommen:

Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder Behinderungen, die aufgrund der Einschränkungen keine Beratungsstelle erreichen können.

Menschen, die aus geografischer Distanz eine Beratungsstelle nicht erreichen können (Auslandsaufenthalt, zu große Entfernung, fehlende oder unzureichende Bus-/Bahn-Verbindungen).

Menschen, deren Themen zu schambesetzt, strafrechtlich heikel sind oder denen es aus anderen inneren Gründen schwierig bis unmöglich ist, zur Beratung zu kommen (Aids-Beratung, Sexualberatung, Schuldnerberatung, Täterberatung usw.).

Menschen, deren Sprach- und Sprech-Barrieren zu hoch sind, um sich in eine persönliche Beratung zu begeben oder sie sich zuzumuten (Sprache/Muttersprache, Sprechbehinderung (Stottern usw.)).

Menschen mit psychischen Krankheiten und Phobien (z. B. Sozialphobien, Tourettesyndrom, Autismus, usw.).

Menschen mit sehr seltenen Krankheiten, die nur auf diesem Wege (z. B. Forum) Unterstützung, Beratung und Austausch mit anderen Betroffenen finden können.

Menschen mit physischen Auffälligkeiten, Verletzungen, Entstellungen usw., die aus Scham oder Rücksicht sich nicht optisch in einer Face-to-Face-Situation zumuten wollen.

Menschen, deren zeitliche Flexibilität nicht hinreicht, um Termine zu Bürozeiten in Beratungsstellen einzuhalten (z. B. pflegende Angehörige).

Menschen, deren öffentlicher Bekanntheitsgrad hinderlich ist, eine persönliche Beratung aufzusuchen (Wiedererkennung der Person selbst über die Stimme).

Online-Beratungsangebote stehen nicht in Konkurrenz zur Face-to-Face-Beratung und -Therapie, denn sie richten sich an Personen, die persönliche Präsenz-Beratung und -Therapie nicht aufsuchen. Der Online-Beratung ist es nie darum gegangen, die Qualität und Effizienz der Face-to-Face-basierten Beratung und Therapie in Frage zu stellen. Sie steht für eine Erweiterung des Angebotes für Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen der Präsenzberatung ablehnend gegenüberstehen oder sie nicht nutzen können.

Nun haben die Ereignisse den Katalog dieser Gründe erweitert. Niemand – bis auf wenige dringend begründete Ausnahmen – konnte eine Präsenzveranstaltung aufsuchen. Selbst Ärztinnen und Ärzte und Krankenhäuser konzentrierten sich nur noch auf dringend anzunehmende Notfälle. Alles andere wurde verschoben oder ausgesetzt. Über lange Strecken war es in manchen Bundesländen möglich, Face-to-Face-Therapien im Zweiersetting weiter durchzuführen, ansonsten konnte niemand ein auf physischer Begegnung von Personen basierendes Hilfeangebot in psychosozialen Bereich in Anspruch nehmen. Mit der Ausnahme von Online-Beratungsstellen und Psychologen und Psychotherapeutinnen, die Online-Beratung oder -Therapie als Bestandteil ihres Angebotes hatten.

1.2 Die Situation vor der Pandemie im psychosozialen Bereich

Die schon vor der Corona-Pandemie wachsende Zahl von Online-Beratungsstellen belegt, dass viele psychosoziale Einrichtungen im Verlaufe der letzten Jahre die Notwendigkeit gesehen haben, ein Online-Angebot zu machen. Die entsprechenden Aussagen der durch uns in den vergangenen 25 Jahren ausgebildeten Online-Beraterinnen und -Psychotherapeuten lassen erkennen, dass dieser Impuls unterschiedliche Auslöser hatte.

Aus einem Konkurrenzgedanken: Zum Beispiel, dass die Konkurrenz sich im Netz mit einem Online-Angebot schon positioniert hatte und dass man sich mehr oder weniger gezwungen sah, gleichzuziehen.

Aus knapper werdenden Finanzen: Die Errichtung einiger Online-Beratungsangebote wurde aus der Erkenntnis geboren, dass die Beratung im Face-to-Face-Format an Bedeutung abnimmt und/oder durch die Träger nicht weiter finanziert werden wird.

Wenn die Anzahl der für die Face-to-Face-Beratung zu motivierenden Klientinnen und Klienten zur Aufrechterhaltung des Beratungsangebotes nicht mehr ausreichend ist, muss eine Ausweitung stattfinden. Vor allem in kommunalen Strukturen ist immer wieder festzustellen, dass Zuschussgeber sich zurückziehen, weil sie Sparzwängen unterliegen und gerne damit argumentieren, dass das bisherige Beratungsangebot durch Online-Beratungsstellen abgedeckt wird.

Manche Online-Beratungsangebote sind dadurch entstanden, dass eine bestimmte Personengruppe – oft auf die Initiative selbst betroffener Menschen – einen dringenden und relevanten Beratungsdarf für ein umrissenes Problem, Situation, Erleben gesehen haben (Angehörige von krebskranken Kindern, von Suizid eines Elternteils betroffene Kinder, Betroffene von bestimmten sehr seltenen Krankheiten usw.). Solche Beratungsangebote können aber nur sinnvoll und finanziell tragbar sein, wenn sie einen größeren Kreis von Betroffenen erreichen als den, den sie mit einer Vor-Ort-Beratungsstelle bedienen können, also überörtlich tätig sind. Nur durch Nutzbarmachung und Erschließung eines größeren geographischen Raumes konnten sie einen sinnhaften und finanziell verantwortbaren, im wirtschaftlichen Sinne rentablen Betrieb dieser speziellen Beratung erreichen. Dies hat ihnen das Internet ermöglicht. Für die Ratsuchenden bedeutet dies, dass auch sie, dank der überörtlichen Erreichbarkeit, Rat und Hilfe zu ihrem – meist sehr speziellen – Problem bekommen können.

Für viele Beratungsstellen stellt sich am Anfang die Frage, welche Angebote sie machen wollen, an wen sich diese Angebote richten sollen und welche Medien sie dazu nutzen müssten, um diese Personengruppe auch zu erreichen. Eine genaue Analyse des Bedarfes wird vorangestellt.

Bei psychosozialen Beratungsstellen ist zunächst der alte Grundsatz der aufsuchenden Sozialarbeit zu berücksichtigen, der lautet, die Menschen dort aufzusuchen, wo sie sich aufhalten, etwa im öffentlichen Raum. »Zur Anwendung kommt die aufsuchende Soziale Arbeit vor allem in Fällen der gesellschaftlichen Marginalisierung von Menschen, z. B. aufgrund eines Suchtverhaltens, von Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Zugehörigkeit zu einer ausgegrenzten Minderheit, Opfer und Betroffenen von Gewalt und Menschenhandel, rund um die Prostitution und bei psychischen Problemen, aber auch bei Jugendlichen, wenn deren Verhalten gesellschaftlich problematisiert wird. Der öffentliche Raum stellt dabei oft den einzigen (Lebens-)Raum dar, den diese Menschen nutzen können und eine Alternative zu institutionellen Wohn- bzw. Beratungseinrichtungen. Dabei handelt es sich auch um gesellschaftliche Entwicklungstatsachen, welche öffentlich sichtbar werden (z. B. Prostitution als faktischer Bestandteil in Gesellschaften, oder Armut, die durch bettelnde Menschen sichtbar wird.)« (Krisch/Stoik/Benrazougui-Hofbauer/Kellner, 2011)

Der Wandel der Gemeinwesenarbeit in eine stadtteilorientierte Sozialarbeit und deren begriffliche Änderung in lebensweltorientierte Sozialarbeit hat die Regionalisierung in den Blick genommen, im Sinne einer Abkehr von Zentralisierung, hin zu einer Nutzbarmachung, Förderung und Stärkung lokaler Strukturen. Lokale Strukturen sind die sich in greifbarer Nähe der Menschen befindenden (Sozial-)Räume und (Lebens-)Welten. Damit verbunden ist die Orientierung am Lebensbedarf dieser Menschen, auch durch den Aufbau niederschwelliger Hilfsangebote und der Förderung von Aktivitäten. Dieses Konzept umfasst digitale Angebote erst einmal nicht.

»Durch die Digitalisierung erleben wir die Entgrenzung von Sozialräumen«, befindet der Vorstand eines Caritas-Ortsverbandes. »Wir müssen deshalb Antworten auf die Frage finden, was wir beispielsweise mit Klienten aus Bayern machen, die eine digitale Beratung bei uns hier am Niederrhein in Anspruch nehmen möchten. An diesem Punkt passt die historisch gewachsene Systematik der Refinanzierung sozialer Leistungen durch die Kommunen und Kreise vor Ort nicht mehr in die Lebenswirklichkeit. Wir brauchen eine Art digitalen Masterplan, der im sozialen Bereich neue Lösungen ermöglicht. Wenn wir nicht schnell die Voraussetzungen schaffen, dass die Menschen digitale Zugangswege zu sozialen Dienstleistungen erhalten, dann werden mehr Menschen durch das soziale Netz unserer Gesellschaft fallen, als wir es uns heute vorstellen.« (Döring, 2018)

Nun hat sich die Lage durch die Globalisierung und die Nutzbarkeit des Internets durch alle Bevölkerungsschichten erheblich verändert. Selbst die kleinsten analogen, lokalen Strukturen, Sozialräume und Lebenswelten sind durchdrungen von der Omnipräsenz des Internets und seiner Angebote. Es ist eine Frage, ob sie für alle gleichermaßen erreichbar und zu nutzen sind.

Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben die wesentlichen Handlungsfelder der digitalen Transformation im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im September 2017 unter der Überschrift »Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt« folgendermaßen abgesteckt:

»1.

Sozialraumorientierte soziale Arbeit: Ziel ist es, analoge Angebote durch digitale zu ergänzen und weiterzuentwickeln, um Beteiligung zu stärken und neue Formen des Engagements einzubeziehen. Virtuelle sozialräumliche Erfahrungsräume müssen für eigene verbandliche und weitere Angebote (über Portale oder Plattformen) erschlossen und integrativ so nutzbar gemacht werden, dass Zugangsbarrieren für Zielgruppen aus allen Generationen, Milieus und Lebenslagen abgesenkt werden.

2.

Freiwilliges Engagement und Selbsthilfe: Ziel ist es, Engagierten ein Forum für den Austausch im Netz und für digitale Formen der Mitwirkung zu bieten und sie zugleich in fach- und verbandspolitische Diskurse einzubinden. Dafür ist der digitale Aus- und Umbau der Engagementinfrastruktur (Wissensmanagement, Vernetzung und Koordination, Möglichkeiten des Online-Volunteerings, digitale Angebote von Moderation, Fortbildung und Begleitung) notwendig. Hierbei kommt z. B. der Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten und dem Empowerment von Selbsthilfegruppen eine große Bedeutung zu.

3.

Beratung und Therapie: Ziel ist es, die erfolgreichen Angebote der Online-Beratung auszubauen und konzeptionell weiterzuentwickeln. Grund sind die hohe Nachfrage und die sich verändernden Anforderungen an digitale Beratungsformate. Ihre strukturelle Vernetzung erfordert neue Formen der Zusammenarbeit unter Einbindung von Peer-to-Peer-Beratung. Hierzu gehört auch die Entwicklung neuer, digital basierter und begleiteter Betreuungs- und Begleitungskonzepte.

4.

Qualifikation und Bildung: Ziel ist es, dass sich haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende auf allen Ebenen der Verbände qualifizieren müssen im Umgang mit neuen Anforderungen, die sich in der Digitalisierung für die soziale Arbeit ergeben. Es geht dabei um das Verstehen der Erfordernisse digitaler Produkte, Prozesse und Organisation, um methodische Kenntnisse des vernetzten, kollaborativen Arbeitens sowie um die Fähigkeit zur Gestaltung von Veränderung. Es gilt nicht nur, die Qualität der sozialen Arbeit zu sichern, sondern damit gleichzeitig die Attraktivität der

SAGE

-Berufe zu erhöhen. Es wird zunehmend neue digitale und technikunterstützte Angebote in allen Bereichen der sozialen Arbeit geben. Hierfür gilt es neue Weiterbildungsformate zu entwickeln sowie in der Erstausbildung modulare

IT

-Qualifikationskonzepte zu integrieren. Die Zusammenarbeit mit Weiterbildungsinstitutionen und Akademien, Fachschulen und Fachhochschulen ist entsprechend dieser Anforderungen anzupassen und ein Theorie-Praxistransfer zu organisieren. Die Kompetenzaneignung der Beschäftigten ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass in der Arbeit mit Kindern und Älteren Kompetenz vermittelt werden kann, um so eine digitale Spaltung zu bekämpfen.

5.

Management und Innovation: Ziel der Freien Wohlfahrtspflege bleibt es, sozial innovative Dienstleistungsmodelle sowie neue Struktureinheiten zu entwickeln, die für zukünftige Herausforderungen adäquate Lösungsansätze ermöglichen und neuartige Kooperationen fördern. Methoden des Design Thinking und innovative

IT

-Lösungen können technische und organisatorische Entwicklungsprozesse synchron befördern.

6.

Potentiale digitaler Innovation nutzen und durch Personal- und Organisationsentwicklung implementieren: Ziel ist die organisatorische Anpassung von verbandlichen Prozessen, die durch digitale Innovationen erforderlich wird. Dabei sind strukturelle Agilität und neue Formen des Wissensmanagements zu entwickeln und zu fördern. Aufgabe der Freien Wohlfahrtspflege ist es, im Rahmen der Personal- und Organisationsentwicklung auf diese Entwicklung so zu reagieren, dass Lösungsansätze rasch erprobt und erfolgreich umgesetzt werden können.«

https://www.bagfw.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/positionen/detail/digitale-transformation-und-gesellschaftlicher-zusammenhalt-organisationsentwicklung-der-freien-wohlfahrtspflege-unter-den-vorzeichen-der-digitalisierung

Wir können feststellen, dass diese 2017 gesetzten Ziele in den nun vergangenen drei Jahren in vielen Bereichen zu Projekten und deren Umsetzungen geführt haben, zu denen wir eingeladen waren, unsere langjährigen Erfahrungen und Expertise mit einzubringen. Trotzdem sind diese Fortschritte langsam, weil die Strukturen von Anbietern und Trägern bei der Ideenfindung, Planung, Umsetzung, Gestaltung und Finanzierung von Projekten in keiner Weise mit der rasanten Entwicklung der Möglichkeiten durch das Internet Schritt halten können und sich die vor der Pandemie ausgearbeiteten Pläne als untauglich und undurchführbar erwiesen haben. Auf die persönliche Präsenz sich gründende Projekte, Tagungen, Veranstaltungen, Aus- und Fortbildungen, die diese Ideen und Digitalisierungsvorhaben zum Ziel oder Inhalt hatten, mussten ausfallen, umgearbeitet und angepasst werden. Für unsere Gesellschaft und die Beratungs- und Therapielandschaft bedeutet dies nicht nur ein Reset im Sinne eines Zurückgehens auf einen vorher definierten Ausgangszustand, da unser System nicht mehr ordnungsgemäß funktionierte. Nein, ein Soft-Reset genügt nicht mehr, es wäre zu kurz gegriffen, unser »Betriebssystem für Beratung und Therapie« in den alten vor-Corona-Bedingungen neu zu starten. Wir sollten alle Einstellungen überdenken und neu einrichten. Die Bedingungen sind andere als vor Corona. Online-Beratung und Online-Therapie müssen für alle, Anbieter und Nutzerinnen, Therapeutinnen und Therapeuten, Klientinnen und Klienten, Beratende und Ratsuchende auch in »Normalzeiten« zu den gleichen Bedingungen erreichbar sein wie die Face-to-Face-Beratung.

Der große Vorteil der Niederschwelligkeit darf weder durch die wirtschaftlichen Verhältnisse, technische Gegebenheiten, Einschränkungen, Bildungsstand oder sonstige denkbare Hürden zunichtegemacht sein. Der Zugang und die Nutzung von Online-Beratung und -Therapie (und auch zum Bildungs- und Schulbereich) müssen für alle kostenfrei möglich sein und in den technischen Voraussetzungen durch schnellsten, NOT-wendigen Ausbau der Leitungskapazitäten technisch störungsfrei stattfinden können.

Kapitel 2

Online-Beratungsformate

Menschen mit Beratungsbedarf bewegen sich in einer digitalen Welt. Daher liegt es nahe, dass Beratung und Psychotherapie auch digital (online) zur Verfügung stehen. Viele Jugendliche und junge Erwachsene werden durch klassische Beratungs- und Therapieangebote nicht mehr erreicht. Ihre vertraute Art zu kommunizieren ist online, und so suchen sie dieses Format auch für ihre Beratungsanliegen. Viele Menschen haben zudem Hemmungen, eine Praxis aufzusuchen, während ihnen die Kontaktaufnahme über Messenger leichtfällt. Es entspricht ihrer Form zu kommunizieren. Auch geflüchtete Menschen, die häufig unter Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, werden mit traditionellen therapeutischen oder beraterischen Formaten nicht erreicht, für sie ist das Smartphone das Kommunikationsmittel.

https://psylife.de/magazin/berufspraxis/online-therapie-jugendliche-erreichen

Da sowohl die beraterische als auch psychotherapeutische Versorgung weiter in Richtung Digitalität gehen wird, stellen wir Ihnen in diesem Kapitel sowohl die gängigen Online-Beratungsformate vor als auch die, die noch nicht so verbreitet sind. Wir geben einen Überblick über die Merkmale der Mail- und Chat-Beratung und wie diese für Beratung und Therapie zu nutzen sind. Wir zeigen die Eigenschaften von Sprachnachrichten für die Beratung, stellen dar, wie Video-Beratung gelingen kann, und beschreiben, wie Apps in der Beratung genutzt werden können.

2.1 Die Rolle des Smartphones für die Ratsuchenden

Wenn wir von Online-Beratungsformaten sprechen, heißt das in der Regel, die Ratsuchenden nutzen in erster Linie ihr Smartphone, wohl mehr als 75 Prozent, bei den jüngeren Nutzerinnen und Nutzern sind es fast 100 Prozent. Analysen der Online-Beratungsstellen und der OnlineSeelsorge bestätigen das. Das Smartphone hat unser Kommunikationsverhalten gänzlich verändert. Es ist selbstverständlicher Begleiter für alle Lebenslagen geworden; als Infozentrale, Fotoapparat, Navigationssystem, für Spiele, Fernsehen, Radio, Unterhaltung, Partnerinnen- und Partnersuche und vor allem als Kommunikationsmedium. Nicht nur Mädchen und Jungen pflegen ihre Freundschaften und Kontakte über das Smartphone. Die meisten Menschen schauen 88 Mal am Tag auf ihr Smartphone. Wir checken, ob eine neue Nachricht eingetroffen ist, googlen, chatten oder nutzen eine App. Alle 18 Minuten unterbrechen wir das, was wir gerade tun, und widmen unsere Aufmerksamkeit unserem Smartphone. Wie oft daddeln Sie? (Daddeln bedeutet so viel wie »Mit dem Computer spielen«) https://www.tagesanzeiger.ch/digital/mobil/smartphonenutzer-schauen-taeglich-88mal-auf-ihr-geraet/story/24730680

Viele Menschen haben eine persönliche Beziehung mit »emotionalen« Qualitäten zu ihrem Smartphone aufgebaut. Sie trennen sich nicht mehr von ihrem Gerät und sind dadurch jederzeit verbunden. Sie sind entspannter, da sie ständig auf dem neuesten Stand sind, und sie fühlen sich sicherer, wenn sie allein unterwegs sind. »Also, ich habe es schon mal zu Hause vergessen. Ich fand das relativ schlimm. Zum einen, weil ich ja wichtige Nachrichten über WhatsApp hätte kriegen können, was natürlich nicht der Fall ist, oder wenn ich jetzt zum Beispiel meine Bahn verpasse, meine Eltern anrufen muss«, beschreibt ein 14-Jähriger seine Beziehung zum Handy. (Calmbach et al. 2017)

Online- und Offline-Zeiten sind fließend und nicht voneinander zu trennen, da die Geräte nicht ausgeschaltet werden. Online-Sein wird kaum noch als technisch hergestellte Verbindung betrachtet, niemand »geht ins Internet«. Online zu sein gleicht eher einer Situationsbeschreibung, dem Normalzustand; das Internet ist die einfachste Lösung für die meisten Fragen und Probleme. Die Interaktion beschränkt sich nicht mehr auf das Senden und Empfangen von Mails. Soziale Netzwerke sind Teil des Lebens geworden. Die Kommunikation darin verlagert das private Gespräch in die Öffentlichkeit. (Calmbach et al. 2017)

Mailen, Text- und Sprachnachrichten über Messenger-Dienste und Videomeetings gehören, spätestens seit COVID-19, zum (Arbeits-) Alltag. Mit dem Smartphone kommen wir miteinander in Kontakt. Jede dritte Beziehung beginnt im Web. Wir reden oder schreiben über geschäftliche und private Dinge, tauschen uns aus, sprechen uns aus und suchen Rat und Hilfe!