Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Mord an einer jungen Frau - auf der Treppe zum Kräutergarten von Kloster Eulenberg. In der Hand hält die Tote ein Büschel Majoran. Kräuterexperte und Hobbydetektiv Pater Gwendal ist gefragt. Einerseits hat er wenig Zeit, denn er übt auf seiner Rockgitarre Led Zeppelins »Stairway to heaven« fürs bevorstehende Klosterfest. Andererseits will er unbedingt den Mord aufklären. Schließlich bringt ihn zweierlei auf die richtige Spur: Einsicht in die Geschichte der Rockmusik und viel Wissen über die Geheimnisse von Kräutern.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 266
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Manfred Baumann
Majoran, Mord und Meisterwurz
Kräuter-Krimis
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Backgroundy / shutterstock.com und iMarzi / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7558-0
Impressum
Inhalt
Abb. Majoran
Majoran
Abb. Teufelsbart
Teufelsbart
Abb. Frauenmantel
Frauenmantel
Abb. Schnittlauch
Schnittlauch
Abb. Melisse
Melisse
Abb. Tollkirsche
Tollkirsche
Abb. Meisterwurz
Meisterwurz
Lesen Sie weiter …
Majoran, Origanum majorana, auch: Bratenkräutel, Wurstkraut, Kuttelkraut, Meiran, Mussaröl, Badkraut. War in der Antike der griechischen Liebesgöttin Aphrodite geweiht. Frisch verheirateten Paaren hängte man Girlanden aus Majoran um. Im Mittelalter galt Majoran als probates Mittel gegen Angstzustände. Majoran ist appetitanregend, wirkt beruhigend. Gilt in der Küche als beliebtes Gewürz für deftige Speisen.
Die ersten vier Töne gelangen gut. Aufsteigende Melodie. Er lachte, presste am siebten Bund fest an, beließ den Mittelfinger vibrierend auf der G-Saite der E-Gitarre. Der durch den Kirchenraum gellende Ton konnte ruhig etwas länger nachhallen. Es machte ihm Spaß. Auch der Gottesmutter nahe am Seitenaltar schien es zu gefallen. Ihr Lächeln kam ihm in diesem Moment noch eine Spur freudvoller vor als sonst. Herzerfrischend. Also dann! Jetzt die Finger in exakter Reihenfolge über die Saiten wirbeln lassen. Der anschließende Lauf musste gut gelingen, sollte einigermaßen nach Rockmusik klingen. Doch schon beim dritten Ton griff er daneben, rutschte ab. Und dabei hatte er noch gar nicht die Geschwindigkeit gewählt, die beim Auftritt nötig war. Bei Weitem nicht. Auch in diesem langsamen Tempo gehorchten seine Finger nicht, taten nicht, wie er wollte. Pater Gwendal seufzte. Er musste sich eben noch eine Spur mehr Zeit lassen. Er holte tief Luft, konzentrierte sich. Dann schickte er wieder die linke Hand über die Saiten. Dieses Mal kam er weiter. Immerhin traf er sieben Töne richtig. Dann gerieten ihm erneut die Finger durcheinander. Er hob langsam seine Linke, betrachtete sie wie ein Stück altes Holz. Die Hand kam ihm vor wie einer der morschen Äste, die er heute am Birnbaum abgeschnitten hatte. Ein weiterer Seufzer entwand sich seiner Brust. Vielleicht hätte ich heute doch nicht so lange im Garten arbeiten sollen, überlegte er. Das wäre zumindest den Fingern besser bekommen. Doch es gab gerade in diesen Tagen viel zu tun. Die großzügig angelegten Klostergärten von Stift Eulenberg brauchten ohnehin immer viel an Pflege und Aufmerksamkeit. Arbeit, die zu erledigen war, gab es reichlich. Und jetzt erst recht. Also dann, ächzte er, auf zum nächsten Versuch. Die Klosterkirche war Gott sei Dank baulich in ausgezeichnetem Zustand. Tore und Fenster schlossen dicht. Das war beruhigend für ihn. Nur so konnte er sich immer wieder mal nachts in die Kirche zurückziehen, um auf seiner Rockgitarre zu üben. Der Lärm drang nur gedämpft nach außen. Die anderen hätten ihn allerdings auch nachts in der Kirche Rockgitarre spielen lassen, wenn das Gotteshaus weniger gut abgedichtet wäre. Selbst wenn die fetzigen Rockklänge krachend und ungeschützt bis in ihre Schlafgemächer gedrungen wären, hätten die Mitbrüder das geduldig hingenommen. Gwendals Enthusiasmus war ihnen gut bekannt. Sie nahmen dessen Leidenschaft fürs Gitarre spielen gerne hin. Gwendal war ein großer Fan von Brian May, dem ehemaligen Leadgitarristen von Queen. So wie sein Vorbild spielte Gwendal auch auf einer Red Special. Natürlich nicht auf dem Original, sondern auf einem sehr gelungenen Nachbau, den er sich vor vielen Jahren gekauft hatte. Er hatte lange darauf gespart. Und wenn ihm danach war, dann schnappte er seine Red Special und spielte, wozu er gerade Lust hatte. Jetzt komm, Gwendal, ermahnte er sich selbst. Denk daran, wie lange du gebraucht hast, um den Anfang des Solos aus »Bohemian Rhapsody« wenigstens halbwegs hinzubringen. Also reiß dich am Riemen! Allerdings war es keine Queen-Nummer, an der er jetzt übte, sondern ein alter Hit von Led Zeppelin. Angefangen hatte alles, weil er für Dagmar etwas Gutes tun wollte. In drei Wochen sollte der neue Klosterladen eingeweiht werden. Zu diesem Anlass wollten sie im Kloster einen Tag der offenen Tür anbieten und zu einem großen Fest einladen. Gwendal hatte Dagy gefragt, ob sie nicht bei diesem Fest mit der Rockband auftreten wolle, in der sie zusammen mit ihrem Bruder spielte. Anfangs hatte Dagy gezögert. Doch dann hatte sie sich auf die Idee eingelassen und schließlich ihren Bruder ins Kloster mitgebracht. Der hatte sofort Gefallen an Gwendals Vorhaben gefunden. »Aber wir machen das nur, wenn Sie bei diesem Gig mitspielen, wenigstens bei einer Nummer.« Darauf hatte Arne bestanden. Er wusste durch seine Mutter von Gwendals Gitarrenleidenschaft. Die Mutter der Geschwister hatte vor Jahren eine Zeit lang in der Küche des Klosters gearbeitet. Gwendal hatte sich bei Arnes Vorschlag anfangs gewunden. »Ich bin nur ein kleiner Ordensbruder, der hin und wieder zur Gitarre greift. Ihr spielt in einer richtigen Rockband, Arne. Ihr seid gut. Da kann ich bei Weitem nicht mithalten.«
»Ein Klosterbruder, der leidenschaftlich gerne Rockgitarre spielt«, hatte Arne gelacht, »das allein ist schon ein Hit. Das bekommt man auch nicht alle Tage geboten. Und Sie, Pater Gwendal, sind einer, der sogar nachts in der Kirche heimlich übt. Auch das hat mir meine Mama erzählt.« Gwendal hatte sich lange gesträubt, versucht, diesen Kelch an sich vorüberziehen zu lassen.
»An welches Stück denkst du, bei dem ich mitspielen könnte, Arne?«
Der junge Mann hatte nur kurz gezögert, dann mit den Fingern geschnippt.
»›Stairway to Heaven‹ von Led Zeppelin. Das wollte ich immer schon einmal machen. Die Art, wie Robert Plant das singt, taugt mir. Da kann ich mir viel abschauen. Und ›Stairway to Heaven‹ passt schon vom Titel her gut in ein Kloster.« Gwendal kannte diesen Led Zeppelin-Klassiker. Die Art, wie Jimmy Page Gitarre spielte, gefiel ihm. Mit dem Text hatte er noch nie viel anfangen können. Ein wenig verworren, seltsame Bilder, ziemlich überladen. Vielleicht sollte er sich den Text einmal genauer anschauen.
»Also, Pater Gwendal, give me five.« Arne hatte ihm die offene Hand hingestreckt. Gwendal hatte schließlich eingeschlagen. Der Kelch war also nicht vorübergezogen. Jetzt musste er ihn austrinken. Deshalb stand er spätnachts in der Kirche und übte das Gitarrensolo. So bravourös wie Jimmy Page würde er es nicht einmal im Traum auch nur annähernd hinbekommen. Das war ihm schon klar. Aber Gwendal würde üben, üben, üben. Immerhin waren ihm eine gewisse Beharrlichkeit und Eifer eigen. »Ehrgeiz ist eine Mutter aller Ketzereien«, soll Augustinus gesagt haben. Zumindest behauptete das Martin Luther. Gwendal glaubte das nicht. Luther hatte mit dem bedeutenden Theologen und Philosophen Augustinus wohl einen prominenten Zeugen für seine eigene Sicht in Stellung bringen wollen. Obwohl Gwendal mit den Ansichten von Martin Luther in vielen Bereichen übereinstimmte, wollte er ihm beim Thema Ehrgeiz nicht folgen. Für Luther war Ehrgeiz eine große Sünde, ein »subtiles Gift«, wie er es formulierte. Gwendal hatte dabei immer die Stimme seines Großvaters im Ohr. Gesunder Ehrgeiz hat noch keinem geschadet, hatte der immer behauptet. Und Gwendals Großvater war erfolgreicher Gastwirt und Weinbauer gewesen. Auch Gwendal verspürte einen gewissen Ehrgeiz in sich. Dem Drang, sich zu verbessern, konnte er viel abgewinnen. Zumindest, was das Spiel auf seiner Red Special anbelangte, war er extrem ehrgeizig. Und das mit großer Lust. Schließlich wollte er sich bei »Stairway to Heaven« nicht blamieren. Und seine Mitspieler in der Band schon gar nicht. Am allerwenigsten Dagy. Arne und er hatten sich zusammen einige der alten Aufnahmen angehört und angesehen. Die Aufnahme des Konzerts von Led Zeppelin 1975 in London hatte es ihnen besonders angetan. Nach längerer Absenz war Led Zeppelin wieder in England aufgetreten, im Earls Court Exhibition Centre, einem riesigen Veranstaltungszentrum im Südwesten der englischen Hauptstadt. »Stairway to Heaven« dauerte bei Led Zeppelin in dieser Aufnahme rund zehn Minuten. So lange würden sie es keinesfalls spielen, darauf hatten Arne und Gwendal sich geeinigt. Und das bekannte Gitarrensolo von Jimmy Page in der Länge von gut drei Minuten würden sie stark kürzen. Selbst für nur eine einzige Minute Solo dieses Rockklassikers musste Gwendal intensiv üben. Also stand er jetzt in der Kirche. Er schüttelte seine Linke, platzierte die Gitarre kurz auf dem mitgebrachten Ständer. Er näherte sich dem Seitenaltar. Er blickte zum Madonnenbild. Für ein paar Sekunden senkte er den Kopf. Dann blickte er auf, legte die Linke behutsam auf das Tuch der Altarplatte. Er begann, die Finger zu bewegen. Erst langsam, dann immer schneller. Hinter diesem Vorhaben steckte kein religiöser Kniff oder irgendeine Form liturgischer Praxis. Das Trommeln auf das Tuch, das die harte Altarplatte bedeckte, würde der Beweglichkeit seiner Finger guttun. Davon war er überzeugt. Er ließ die Finger mehrere Minuten auf und ab schnellen. Dabei blickte er ab und zu auf das Marienbild, schmunzelte. Schließlich wandte er sich ab und griff zur Gitarre. Sekunden später sprühten wieder die Töne aus der Red Special, erfüllten jede Nische des Kirchenraumes. Nun hörten die Klangfolgen sich schon etwas geschmeidiger an. Das Tempo wurde rasanter. Eine halbe Stunde würde er noch üben, beschloss Gwendal. Mindestens. So würde er gewiss einiges weiterbringen. Dann konnten Arne und Dagy bei der nächsten Probe mit ihm zufrieden sein. Er blinzelte zum Marienbild. Ob es ihr auch gefiel? Zumindest ihr Lächeln war weiterhin herzerfrischend.
Er übte bis weit nach Mitternacht. Zurück in seinem Zimmer, aktivierte er den Computer, suchte im Internet nach dem Text von »Stairway to Heaven«. Hier wurde von einer Frau erzählt, von einer Lady, die davon überzeugt ist, dass alles, was glitzert, Gold ist. Und die sich eine Treppe kauft, die zum Himmel führt.
And she’s buying a stairway to heaven. Und dann sieht diese Lady auch ein Zeichen an der Wand, there’s a sign on the wall. Später taucht ein Pfeifer auf, der zur Vernunft ruft, eine Maienkönigin verbirgt sich in Hecken, die Treppe ruht auf einem flüsternden Wind. Rätselhafte Bilder gab es viele im Text. Alles ein wenig überladen und für meinen Geschmack zu geheimnisvoll, urteilte Gwendal. Schließlich schaltete er den Computer aus und begab sich zu Bett. Er spürte die Müdigkeit in seinen Knochen. Es dauerte nicht lange, dann schlief er ein. Als er sich nach kaum vier Stunden Schlaf erhob, fühlte er sich erstaunlicherweise frisch. Keine Spur von Müdigkeit. Er stellte sich unter die Dusche. Die Morgenandacht begann um 6 Uhr. Doch an diesem Morgen würden sie zu keiner Andacht kommen. Was Gwendal noch nicht wusste, als er seine Zelle verließ. Er betrat den Andachtsraum. Dort hatten sich bereits zwei der Mitbrüder eingefunden, Roland und Dagobert. In dem Augenblick, als Gwendal die Schwelle überschritt, hörten sie einen Schrei. Er kam von draußen. Der Schrei war laut, grell, klang hysterisch. Alle drei erschraken. Es war eine Männerstimme, die schrie. Die Ordensbrüder verließen den Raum, hetzten hinaus. Im Freien sahen sie, dass jemand durch den Innenhof auf sie zueilte.
»Aber das ist ja Bruder Emanuel!«, rief Roland. Der Herbeieilende stoppte ab. Die Augen entsetzt aufgerissen, versuchte er, etwas zu sagen. Doch seinem Mund entwich nur hilfloses Gestammel. Gleichzeitig deutete der Mönch nach hinten, wies hektisch zu den Garteneingängen. Gwendal startete los, erreichte als Erster die mittlere der drei Treppen. Kein stairway to heaven, schoss ihm durch den Kopf. Hier waren keine Stiegen, die nach oben führten. Im Gegenteil. Diese Treppen führten alle in die Tiefe. Hinab zu den Gärten, die sich auf verschiedenen Terrassen nach unten bis zum See zogen. Ein Stück weiter unter sich, im oberen Drittel der Treppe, erkannte Gwendal eine Gestalt. Sie lag zusammengekrümmt auf den Stufen. Er hastete hinunter. Bruder Roland war dicht hinter ihm.
»Mein Gott!«
Beide erkannten sofort, um wen es sich handelte. Roland tastete nach dem Puls der jungen Frau. Es war nichts zu spüren. Die klaffende Wunde am Hinterkopf unterstrich den Eindruck, den beide schon hatten, als sie sich neben der Gestalt niederknieten. Die Frau war tot. Das Blut an der tiefen Wunde war eingetrocknet. Vor ihnen lag die Leiche von Celine Brimisch. Seit gut einem halben Jahr war die junge Frau bei ihnen im Kloster tätig gewesen. Celine hatte sich vor allem um die Neuerungen des Klosterladens gekümmert. Über ihnen ertönte wieder die Stimme, die sie vor wenigen Augenblicken aus dem Andachtsraum geschreckt hatte. Sie blickten nach oben. Bruder Emanuel stand wimmernd neben Bruder Dagobert am Beginn der Treppe.
»Bruder Roland, kümmere dich bitte zusammen mit Dagobert um den bedauernswerten Emanuel. Ich komme hier schon zurecht.« Roland nickte und stieg nach oben. Gwendal schloss die Augen, spürte in sich hinein. Dann sprach er ein Gebet für die Seele von Celine Brimisch. Er ließ sich wieder in der Hocke nieder. War die junge Frau auf der Treppe gestürzt? Ein Unfall? Die Position des Körpers und vor allem die auffallend klaffende Wunde am Hinterkopf deuteten auf anderes hin. Es schien, als hätte Gewalteinwirkung von außen zum Tod geführt. Er spürte ein beklemmendes Gefühl in sich hochkriechen. Lag gar ein Verbrechen vor? Erst jetzt fiel ihm auf, dass die junge Frau etwas in der rechten Hand hielt. Der Arm war vom Oberkörper halb verdeckt, deshalb sah man es nicht gleich. Gwendal beugte sich vor. Die Finger der toten Celine waren um ein paar Strünke einer krautigen Pflanze geschlossen. Das war Majoran. Kein Zweifel. In den bis zum See abfallenden Klostergärten gab es Majoransträucher an den verschiedensten Stellen. Auch im neuen Klosterladen würden sie Majoran anbieten. Zum Verkauf. Zusammen mit anderen Gewürzpflanzen. Er befühlte vorsichtig die Blätter und Stängel. Die Strünke waren nicht mehr ganz frisch, also schon vor einiger Zeit abgeschnitten. Stammten sie von den neu angelegten Beständen im bald zu eröffnenden Klosterladen? Oder waren sie von einem der Sträucher in den Gärten abgeschnitten worden? Spielte eine mögliche Antwort überhaupt eine Rolle?
Wie war Celine Brimisch zu Tode gekommen? Er löste einen Stil samt Blättern aus den Fingern der Toten, steckte ihn ein. Er richtete sich langsam auf. Ein tiefer Seufzer entfuhr seiner Brust. Ihm graute davor, was jetzt zu tun war.
»Wir haben Bruder Emanuel ein Beruhigungsmittel verabreicht. Dagobert bleibt bei ihm.« Roland kam Gwendal entgegen. Er war um etliche Jahre jünger als die meisten der anderen Mönche.
»Wir müssen die Polizei verständigen.« Gwendals Stimme hörte sich belegt an. Er räusperte sich leise. Roland nickte. »Ich kümmere mich darum.« Er machte kehrt, hielt auf das Verwaltungsgebäude zu.
»Was ist passiert?« Gwendal wandte sich um. Dagmar eilte auf ihn zu.
»Guten Morgen, Dagy. Etwas Furchtbares ist passiert.« Er berichtete ihr vom Auffinden der toten Celine. Einzelheiten erwähnte er keine. Die junge Frau zeigte sich erschrocken.
»Ein Unfall?« Gwendal gab keine Antwort. Dagmar blickte zum Verwaltungsgebäude, in dem Bruder Roland eben verschwunden war.
»Ich verstehe, Pater Gwendal. Dass Pater Roland Dringenderes zu erledigen hat, als zusammen mit den anderen die Leiche der armen Celine zu bergen, sagt wohl einiges aus. Nichts allzu Gutes, vermute ich.«
Sie blickte ihn an. »Wenn ich irgendwie helfen kann, Pater Gwendal, dann teilen Sie mich bitte ein. Egal, was es für mich zu tun gibt.«
Das hatte Gwendal gleich zu Beginn ihrer Begegnung an Dagmar Bitterberg geschätzt. Sie redete nie lange um den heißen Brei herum, sie kam direkt auf den Punkt. Dazu hatte sie eine erfreulich schnelle Auffassungsgabe. Auch jetzt hatte sie die Zusammenhänge sofort richtig eingeschätzt.
»Danke, Dagy, das werde ich machen.«
Eine halbe Stunde später traf die Polizei ein. Gwendal und Pater Roland hatten inzwischen alle anderen über den schrecklichen Vorfall informiert.
»Mord im Kloster? Was sagt man dazu? Das klingt nach einer Fernsehserie. Hauptabendprogramm. Tolle Einschaltquoten. Wer schreibt das Drehbuch, Kollegen?« Die Stimme der Frau war nicht zu überhören. Sie fegte wie eine Sirene durch das Klosterareal. Nach jedem zweiten Satz lachte sie. Sie gab sich leutselig.
»Das ist überwältigend, Pater Gwendal. Einen tollen Klostergarten haben Sie hier. Überall Kräuter. Und wie das alles duftet. Einfach herrlich.«
Ja, und inmitten all dieser Herrlichkeit lag eine junge Frau. Tot. Offenbar erschlagen.
Darauf versuchte er sie mehrmals hinzuweisen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Pater. Darum kümmern wir uns schon. Deswegen sind wir ja hier.« Wieder kicherte sie, boxte ihm in die Seite. »Und dieser entzückende kleine See da unten. Sind da auch Fische drin? Forellen? Karpfen?«
Ja, Forellen hatten sie einige. Er ertappte sich bei dem Gedanken, dass ihm jetzt Blauhaie lieber wären. Dann könnte er die dahinplappernde Polizistin ein wenig ärgern. Sie vielleicht sogar beißen lassen. Schnell verwarf er den Gedanken.
»Die Umstände, die zum Tod der jungen Frau geführt haben, erscheinen mir auffällig, allein aufgrund der Kopfverletzung …« Weiter kam er nicht, schon wedelte die Polizistin wieder mit den Händen.
»Papperlapapp, verehrter Herr Pater. Vergessen Sie das Auffällige. Das ist unsere Sache. Und merken Sie sich: Die Geheimnisse liegen oft im Verborgenen. Aber das werden Sie als Kirchenmann sicher besser wissen. Also, Sie kümmern sich um Ihre Geheimnisse und die prächtigen Pflanzen in diesem paradiesischen Garten. Das andere überlassen Sie uns.«
Er schnaufte tief durch. Er hätte nie gedacht, dass er sich einmal nach Chefinspektorin Sybille Knauss förmlich sehnen würde. Mit Sybille Knauss hatte er schon zu tun gehabt und dabei gewiss nicht die besten Erfahrungen gemacht. Aber gegen diese dahinplappernde Sirene war die mürrische Sybille Knauss der reinste Segen. Er hatte erwartet, dass die ihm vertraute Chefinspektorin im Kloster auftauchen würde. So wie schon bei zwei tragischen Ereignissen zuvor, mit denen Gwendal verbunden war. Stattdessen war diese Quasselkrähe erschienen. »Kontrollinspektorin Tabea Rollner«, hatte sie sich vorgestellt. Gwendal versuchte es nochmals, wollte nicht lockerlassen. »Sie müssen wissen, Frau Kontrollinspektorin, Celine Brimisch arbeitete schon seit einiger Zeit bei uns. Ich kannte die Tote gut. Wenn ich also irgendetwas beitragen kann, das zur Aufklärung der mysteriösen Umstände …«
»Klar können Sie das, verehrter Pater. Sie tragen bei, indem Sie uns die Sachen der Toten zeigen. Wir sind die Profis, wir schauen uns das an. Und Sie können sich gleich wieder Ihrem Hallelujahsingen widmen. Oder was halt sonst für Sie nötig in Ihrem altehrwürdigen, wunderschönen Kloster ist.«
Am Nachmittag war eine leichte Brise aufgekommen. Vielleicht gibt es bald Regen, dachte Gwendal. Das würde den Pflanzen guttun. Die Trockenheit der letzten Tage hatte manchen der empfindlichen Kräuter zugesetzt, trotz verstärkter Bewässerung. Er atmete tief durch, ließ den bunten Schwall aus Düften tief in sich hineinströmen. Er saß auf den Stufen der mittleren Treppe, die zu den Gärten hinabführte. Der auf ihn einströmende Duftreigen wurde überstrahlt von einem intensiven Aroma, das an Kamille erinnerte. Gwendal wusste genau, woher dieser Duft kam. Schon vor drei Wochen hatte das Mutterkraut, bekannt als Falsche Kamille, auf den Terrassen des Kräutergartens zu blühen begonnen. Gwendal schloss die Augen, schmeckte dem nach, was ihm der Wind zutrieb. In diesem Duftnotenpotpourri war deutlich der Vanilleton der Prachtnelken auszumachen. Gwendal liebte diese Momente. Er begab sich nachts gerne in die Kirche, um seiner Gitarre rockige Töne zu entlocken. Aber mindestens so gerne, wenn nicht sogar noch lieber, setzte er sich in die Weite der Klostergärten und genoss die Umgebung. Dabei wurde er eins mit der üppigen Pracht der Bäume, Blumen und Kräuter rings um ihn. Er liebte diese Geschenke Gottes. In den Gärten fühlte er sich auf besondere Art verbunden mit der Schöpfung. Die Farbenpracht der Blüten, der Duftzauber der Kräuter, das waren für ihn Gebete, belebend wie himmlischer Gesang. Er schaute nach rechts. Von dort strahlte ihm die gelbe Pracht des Johanniskrauts entgegen. Er wandte sich der Pflanze daneben zu. Er streckte die Hand aus. Behutsam strich er über die leuchtend blaue Blütenähre. Gwendal hatte den Lippenblütler an viele Stellen des Kräutergartens pflanzen lassen. Ysop ist stark mit Öldrüsen versehen. Den Geruch, den er zu verbreiten vermag, ist intensiv. Dieser Geruch hält Fressschädlinge ab, Schnecken, Kohlweißlinge und viele andere. Das kommt Pflanzen zugute, die neben dem Ysop wachsen. Ein treuer Wächter. Ein Beschützer. Aber dass die bedauernswerte Celine hier zu Tode kam, gleich neben dir, das hast auch du nicht verhindern können, mein aufrechter Hüter. Noch einmal ließ er die Hand über die kleinen Blüten gleiten, dann stand Gwendal schweren Herzens auf. Es gab viel zu tun. Er machte sich auf zum Gebäudekomplex des Klosters. Schon am Vormittag hatte Gwendal zu einer Besprechung gebeten. Er war zwar nicht der Vorstand des Klosters. Doch der Prior war hochbetagt, fühlte sich meist schwach und hatte vor einem halben Jahr ersucht, dass Gwendal sich verstärkt um die Führung des Klosters kümmere. Die anderen hatten zugestimmt. Zur einberufenen Besprechung waren fast alle verfügbaren Mönche eingetroffen. Nur der Prior und Bruder Emanuel hatten gefehlt. Zudem waren alle in Eulenberg beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geladen. Bis auf zwei konnten es sich alle einrichten. Zunächst hatten sie gemeinsam ein kurzes Gebet für die am Vortag Verstorbene gesprochen, danach ein paar Minuten in Stille verhalten.
»Ja, ich bin überzeugt, dass unsere gute Celine sicher nicht wollte, dass wir unsere Planungen einfach abbrechen. Sie wäre die Erste, die uns mit der Begeisterung, die wir alle an ihr so schätzten, mit Fröhlichkeit in der Stimme aufforderte, alles zu tun, damit der neue Klosterladen genauso festlich eröffnet wird, wie wir das vorhatten.« Es hatten nicht alle sofort zugestimmt. Doch nach einer Weile waren auch die wenigen Zweifler davon überzeugt, dass Celine Brimisch das genauso gewollt hätte. Also hatten sie sich schnell darauf geeinigt, den erforderlichen Tagesgeschäften wie gewohnt nachzugehen. Stift Eulenberg war nicht nur Zuhause für eine Gruppe von Benediktinermönchen. Das Kloster war auch ein wichtiger Arbeitgeber, ein gern gesehener Wirtschaftsfaktor in der Region. Dazu war es erforderlich, dass das Kloster Geld einbrachte. Neben dem, was das Gesundheitsangebot im Ottilienzentrum abwarf, und ein paar geringen Einnahmen aus Pachten für kleinere Liegenschaften, war es vor allem der neue Klosterladen, bei dem man in Eulenberg künftig auf entsprechende Umsätze hoffte. Also durften sie da nicht lockerlassen. Die Eröffnung würde wie geplant stattfinden. Auch der Tag der offenen Tür sollte abgehalten werden. Wie das Fest aussehen könnte, das sie ursprünglich geplant hatten, darüber wollten sie später beraten. Es blieb ja noch Zeit.
»Gott zum Gruße, Pater Gwendal, ich bin gleich für Sie da.« Brigitte Grundtners Stimme war zwar zu vernehmen. Aber sie selbst war nicht zu sehen. Gleich darauf tauchte die etwas pummelig wirkende Frau hinter einem hoch aufgetürmten Stapel Kartons auf. In der Hand hielt sie eine offene Schachtel. Darin waren Kräuterbücher zu erkennen. Schon bei der Vormittagsbesprechung hatte Gwendal Brigitte Grundtner gefragt, ob sie sich ab sofort um die Geschicke des Klosterladens kümmern könnte. Um Einrichtung, Ausstattung, Warenangebot und alles, was für die Eröffnung notwendig wäre. Die Frau Anfang 50 hatte schon mitgeholfen und Celine in einigen Bereichen unterstützt. Brigitte Grundtner war im alten, um vieles kleineren Klosterladen tätig gewesen. Eine überschaubare Aufgabe. Aber jetzt hätte sie einen weitaus aufwendigeren Bereich vor sich.
Sie wäre auf sich alleine gestellt, müsste voll anpacken und alleinverantwortlich Entscheidungen treffen. »Trauen Sie sich das zu, Frau Grundtner? Selbstverständlich werde ich Sie unterstützen, soweit es meine Zeit zulässt.« Ein wenig hatte Brigitte Grundtner gezögert. Schließlich hatte sie zugestimmt.
»Wenn es Ihnen recht ist, dann bestelle ich gleich eine größere Lieferung von Kräuterbüchern nach. In erster Linie Ihre Bücher, Pater Gwendal. Denn die werden uns die Besucher am Tag der offenen Tür förmlich aus der Hand reißen. Alles, was Sie machen, mögen die Leute besonders. Sie sind unser Wundermann.«
»Es gibt nur einen Star, wegen dem die Leute in Scharen nach Stift Eulenberg strömen.« So hatte es vor einiger Zeit eine junge Frau ausgedrückt. Irina Stuck, die ein paar Monate in der Verwaltung tätig war. »Ich bin so froh, dass ich mit Ihnen zusammenarbeiten darf«, hatte Irina hinzugefügt und ihm sogar einen Kuss auf die Wange gedrückt. Er musste lächeln, wenn er daran dachte. So wie Irina Stuck und auch Brigitte Grundtner seine Rolle empfanden, sah er das selbst keineswegs. Er fühlte sich als nichts Besonderes. Zugegeben, er war ein wichtiges Rad im großen Getriebe, sorgte dafür, dass alles einigermaßen reibungslos ablief. Das schon. Aber Star war er keiner. Und schon gar kein Wundermann. Aber dass Irina Stuck ihn damals bei dieser leicht peinlichen Begebenheit mit »Pater Majoran« angeredet hatte, daran erinnerte er sich gerne. Das hatte ihn gerührt. Pater Majoran, so riefen ihn meist die Kinder im Ort. Dieser Spitzname war anlässlich eines seiner vielen Seminare aufgekommen. Denn er pflegte meist für die Teilnehmer bei Kursabschluss mit seinem beliebten Malzbiergulasch aufzuwarten. Er servierte es gerne mit Kümmel und Majoran. Und manchmal gab es hinterher Majoran-Birnenmus. Plötzlich spürte er einen Stich im Herz. Majoran! Mit Schreck fiel ihm ein, dass die tote Celine gestern ausgerechnet ein Büschel Majoran in der Hand gehalten hatte. War das ein Zufall? Oder gab es gar eine Verbindung zu ihm, zu seinem von Kindern und Seminarteilnehmern liebevoll genannten Spitznamen? Warum hatte er nicht gleich an diese Möglichkeit gedacht? Hatte er das absichtlich verdrängt?
»Und wir könnten in den Ausschreibungen und in der Werbung extra den Hinweis platzieren, dass Sie die gekauften Bücher persönlich signieren, Pater Gwendal. Das wäre ein effektvoller Anreißer.«
Anreißer? Signieren? Wovon sprach die Frau da? Er schüttelte sich, wischte alles beiseite, was ihm eben durch den Kopf gegangen war. »Lassen Sie uns das später durchdenken, Brigitte.«
»Wie Sie meinen, Pater.« Sie wuchtete den offenen Karton auf einen der Tische.
»Was ist das?« Gwendal kam erstaunt näher. »Das sieht hübsch aus.« Auf dem Tisch lag ein Stück Papier. Oder war der rechteckige Gegenstand aus Metall? Das Stück schimmerte jedenfalls goldfarben. Kräutersymbole waren darauf zu erkennen.
»Haben Sie das selbst gemacht?«
»Ja, das wollten wir für die Eröffnung verwenden. Das war Celines Idee. Sie hat auch eines angefertigt. Es wäre wohl Celines Entwurf geworden, der infrage gekommen wäre. Sie hatte das bessere Blatt.«
Da fiel ihm ein, weswegen er gekommen war.
»Sie wollten mir noch helfen, Celines Sachen durchzuschauen.« Die Polizei hatte gestern kurz in den Sachen der Toten gestöbert. Wir sind die Profis, wir schauen uns das an, hatte die Kontrollinspektorin großspurig hinausposaunt. Aber sie hatten sich nur wenige Minuten Zeit dafür genommen. Und mitgenommen hatten sie fast gar nichts. Und Gwendal wollte sich gewiss nicht dem Hallelujahsingen widmen, wie die Frau Kontrollinspektorin empfohlen hatte, sondern Celines Zimmer gründlich durchsuchen. Vielleicht hatte die Polizei einiges übersehen, das zur Aufklärung des rätselhaften Vorganges beitragen könnte. Brigitte Grundtner ging voraus. Er folgte.
Nicht alle, die von außen kommend im Stift Eulenberg einer Arbeit nachgingen, wohnten hier. Die meisten kamen ohnehin aus der unmittelbaren Umgebung, wo sie auch wohnten. Celine Brimisch war aus dem Burgenland gekommen. Sie hatte vorgezogen, ein Zimmer im Gästehaus zu bewohnen, ehe sie sich etwas Eigenes suchte. Der große Raum war geschmackvoll eingerichtet. Dennoch wirkte er unordentlich. »Das waren garantiert diese Rüpel von der Polizei«, bemerkte Brigitte Grundtner. »Alles durcheinandergeworfen. Celine pflegte stets gründlich aufzuräumen.« Vermutlich hatte die Mitarbeiterin recht.
»Dann schauen wir uns ein wenig um. Beginnen Sie mit den Taschen und den Kleidern, Brigitte. Wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt, sagen Sie es gleich.«
Gwendal wandte sich dem Bücherregal und dem Schreibtisch zu. Einen Bildband über die Museen und Sakralbauten von Eisenstadt hielt er länger in der Hand. Der gefiel ihm. Das Buch hatte eine Widmung. Doch die war schwer zu entziffern. Er forschte weiter durch die Hinterlassenschaft. In einer der Schreibtischschubladen entdeckte er, was er in ähnlicher Gestalt vorhin im Klosterladen bei Brigitte Grundtner gesehen hatte. Die Grafik mit den Kräutersymbolen. Allerdings nicht goldfarben, sondern in Silber. Er nahm sie hoch. Ja, Frau Grundtner hatte recht. Dieses Blatt war besser. Das silberfarbene Material, aus dem es bestand, fühlte sich hochwertiger an. Er legte das Blatt zurück. Dann öffnete er weitere Schubladen, schaute vorsichtig hinein, was sie enthielten. Er ließ sich Zeit. Es galt, gründlich zu sein. Nur nichts übersehen.
»Sehen Sie, Pater Gwendal, was ich hier habe.«
Er wandte sich um. Brigitte Grundtner wies auf eine der Taschen. Darin hatte sie das Kuvert gefunden, das sie ihm entgegenhielt. Gwendal nahm den Umschlag. Er enthielt eine Fotografie. Sie zeigte einen Mann mittleren Alters zusammen mit einem etwa zehnjährigen Mädchen. Gwendal betrachtete die Farbfotografie. Irgendetwas an dem Mann kam ihm bekannt vor. Aber er wusste nicht, was. Das Mädchen hatte er garantiert noch nie gesehen. Er drehte das Bild um. »Für Onkel Hans«, stand auf der Rückseite in leicht ungeübter Kinderschrift. Er hielt Brigitte Grundtner die Fotografie hin. »Haben Sie das schon einmal gesehen?« Sie schüttelte den Kopf. Gwendal dachte nach. Woher kannte er diesen Mann? Kannte er ihn überhaupt? Oder sah er nur jemandem ähnlich, den er kannte? Er legte das Bild auf den Schreibtisch. Er würde das Foto hernach mitnehmen. Jetzt würden sie sich den restlichen Sachen widmen. Sie machten das. Gründlich. Doch es kam nichts Auffälliges mehr zum Vorschein. Gut möglich, dass Celines Zimmer doch Wesentliches enthalten hatte und die Polizei das mitgenommen hatte. Gwendal bedankte sich bei Brigitte Grundtner für die Hilfe und kehrte zurück in seinen Wohnbereich. Die Farbfotografie hatte er mitgenommen.
Sie hatten eben die Abendandacht beendet, waren auf dem Weg ins Refektorium.
Gwendal freute sich schon auf das Abendessen. Einen pikanten Hirseauflauf würde es heute geben. Mit Karotten und Brokkoli. Gewürzt mit erlesenen Kräutern. Die hatte er persönlich in die Küche gebracht. Darunter Rosmarin von einem besonderen Strauch, den einer seiner Vorgänger vor vielen Jahren aus Portugal mitgebracht hatte. Doch dann erschienen zwei Autos, blieben mitten im Klosterhof stehen. Polizei. Einem der Wagen entstieg Frau Kontrollinspektorin Tabea Rollner. Sie hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf. Sie gab Anweisungen. Zwei ihrer Beamten marschierten los. Wenig später tauchten die beiden Polizisten wieder auf. Zwischen sich hielten sie Dagmar an den Armen. Die junge Frau war kreidebleich. Sie zerrten das Mädchen zu einem der Polizeiwagen, schoben es hinein.
»Was hat das zu bedeuten, Frau Kontrollinspektorin?«, protestierte Gwendolin. »Was wollen Sie mit unserer Dagy?«
»Sie sollten sich besser vorher erkundigen, wem Sie da in Ihrem beschaulichen Kloster Zuflucht gewähren, Pater Gwendal«, blaffte die Polizistin.
»Zuflucht?«
»Dass Sie keine Ahnung davon haben, ist offensichtlich. Aber ich sage es Ihnen.«
Tabea Rollner ließ ihren ausgestreckten Zeigefinger Richtung Polizeiauto schnellen.
»Wissen Sie, wen Sie da beherbergen? Dieses Mädchen macht nur auf unschuldig. In Wahrheit ist sie ein raffiniertes, durchtriebenes Luder. Die Göre hat Vorstrafen. Und das nicht zu knapp. Zudem spielt sie in einer üblen Rockband. Schlagzeug! Das sagt alles. Auch ihr Bruder werkt in der Band. Den werden wir uns noch holen.« Sie schnippte mit den Fingern direkt vor Gwendals Gesicht. »So schaut die echte Wirklichkeit aus, von der Sie in Ihrer klösterlichen Idylle wenig Ahnung haben. Und jetzt vertschüssen wir uns. Und zwar mit Halleluja!«
Gwendal wollte etwas erwidern. Doch er kam gar nicht dazu. Schon saß die Frau Kontrollinspektorin im Auto, und der Polizeitrupp raste davon.
»Was ist denn passiert?«, entfuhr es Bruder Roland völlig entgeistert.
»Das wüsste ich auch gerne«, flüsterte Gwendal und schüttelte fassungslos den Kopf.
Der Appetit auf schmackhaften Hirseauflauf war ihm jedenfalls gründlich vergangen. Den meisten der Mitbrüder ebenfalls. Was passierte hier?
Die Göre hat Vorstrafen, und das nicht zu knapp. Natürlich war ihm das bekannt. Das war der Hauptgrund, warum er Dagmar einen Job im Kloster angeboten hatte. Das Mädchen war auf die schiefe Bahn geraten. Und das nicht erst seit dem Tod ihres Vaters. Sie hatte einiges ausgefressen: Ladendiebstähle, ein Moped geklaut, war sogar mit Drogen erwischt worden. Dagmars Mutter Marianne war händeringend bei Gwendal aufgetaucht. Der Jugendrichter, der für Dagmar zuständig war, war Gwendal bekannt. Er suchte ihn auf, redete mit ihm. Die beiden vereinbarten, dass Dagmar nicht in die Jugendstrafanstalt musste, wenn sie bereit wäre, eine Art Ersatzdienst zu leisten. Wenn sie bereit war, etwas für die Allgemeinheit zu tun, sich einem karitativen Zweck widmete. Es sollte eine Mischung werden aus Therapie und Strafersatz. Gwendal hatte dem Richter zugesagt, sich persönlich darum zu kümmern, dass Dagmar diese Chance erhalte. Er würde sie im Kloster arbeiten lassen. Zweimal in der Woche musste Dagmar Dienst im Kindergarten tun, der mit dem Kloster verbunden war. Als der Richter Dagmar diese Aussicht anbot, hatte die junge Frau sich zunächst gesträubt. »Das mache ich nicht. Ich ziehe doch nicht in ein Kloster!«