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„Manchmal ist das Leben dünn“ beschreibt in fünf Erzählungen, wie verschiedene Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen auf ihre engen Spielräume und ihre eigenen Blockierungen aufmerksam werden. Mal sind es Lebenskrisen, mal äußere Ereignisse, die sie zur Auseinandersetzung mit sich und ihrer Welt herausfordern. Ob es um eine Kindergartenleiterin, eine Psychotherapeutin, eine ehemalige Lehrerin, einen Chemiker geht - die Frage ist dieselbe, ob und was sie verändern wollen und können. Sie helfen ihnen, sich ihre Verstricktheit einzugestehen. So können sie einerseits Bewährtes in ihrem Leben anerkennen und zusätzlich hinten angestellte Neigungen und Begabungen hervorholen und angehen. Das ermöglicht ihnen eine neue entspannte Balance. Eine besondere Rolle spielt dabei die Psychologie der Dinge.
Auf humorvolle sowie tiefsinnige Weise ringen die Protagonisten in Selbst- und Zwiegesprächen um klare Selbsterkenntnis und ein erfüllenderes Leben.
Renate Jachnow, geb. 1945, wuchs in Köln auf, wo sie ein Psychologiestudium mit Diplom und Promotion abschloss. Nach Unterrichtstätigkeit an verschiedenen Fachschulen, gründete sie 1975 ihre erste Psychologische Praxis in Köln, nach der Heirat im Stuttgarter Raum eine zweite. Seit Ende 1990 lebte sie mit ihrem inzwischen verstorbenen zweiten Mann im Markgräflerland, wo sie ihre dritte Praxis eröffnete, neben Psychotherapie Vorträge hielt und eigene Seminarreihen durchführte.
Neben ihrer Liebe zum Tanz liebäugelte sie schon immer mit dem Schreiben. Vor drei Jahren holte sie zwei Erzählungen aus der Schublade hervor, überarbeitete sie und fügte drei neue hinzu. Nach Aufgabe ihrer Praxis entschloss sie sich zur Veröffentlichung. In ihren Erzählungen lässt sie ihre psychologischen Erfahrungen einfließen mit der Absicht, seelische Webart zu verdeutlichen und beim Leser tieferes Verstehen dafür zu wecken.
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Renate Jachnow
Manchmal ist das Leben dünn
© 2022 Europa Buch | Berlin
www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220134163
Erstausgabe: Januar 2023
Coverbild „Busy dreaming” von Didier Lourenço
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Stampato presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Manchmal ist das Leben dünn
Für Cornelia in memoriam
Jedes Leben hat sein Maß an Leid. Manchmal bewirkt eben dies unser Erwachen.
Buddha
Der Lektorin Julia Heinecke, Freiburg, danke ich für ihre humorvolle Art der Unterstützung bei meinem Be-
mühen, die Thematik strikt im Auge zu behalten und die Personen „natürlich“ sprechen zu lassen.
Sie biss die Zähne zusammen, schnappte sich die Kehrschaufel, die sie mit dem Handbesen bereits vor einer Stunde neben die Balkontüre gelegt hatte. Nun gab es kein Aufschieben mehr. Die Wut gab Simone Steiner den Stoß, endlich die lästige Aufgabe Balkonfegen zu erledigen. Vorher war sie um ihren Mann im Wohnzimmer herumgeschwänzelt in der Hoffnung, er würde ihren kontaktsuchenden Blick auffangen und erwidern. Aber ihre Erwartung wurde zum zigsten Mal enttäuscht. Sie ärgerte sich auch über sich selbst, wusste sie doch, wie er war. Mehr als 25 Jahre kannte sie ihn.
Woher nehme ich bloß immer wieder die Hoffnung? Die Hoffnung, er könnte einmal wirklich meiner Erwartung entsprechen?
Was erhoffte sie sich so lange schon nahezu vergebens? Wohl gab es überraschende kurze Bestätigungen, dann aber – noch verlässlicher –wieder die Enttäuschung, leer auszugehen. Lag ihr Mann friedlich in seinem Sessel im Wohnzimmer, grunzte hin und wieder etwas, atmete vernehmlich, die Augenlider noch geöffnet, belebte dieser Anblick in ihr eine Sehnsucht nach Worten und Austausch, die unter dem Staub jahrelang angehügelter Enttäuschungen verdeckt war. Über die Jahre war sie schon sehr bescheiden geworden. Es war ihr nichts anderes geblieben, als diese Momente geblinzelter Offenheit zu orten und mit sanft angebotenen Worthäppchen, kleinen belanglosen Fragen oder Kommentaren, die er immerhin mit seinen Lippen stumm nachformte, so, als könne er sie erst dann richtig verstehen, in der Schwebe zu halten.
Aber auch er hatte mittlerweile spitz bekommen, dass ihm ihre locker zugeworfenen Worte keinen Schutz boten und er, ein schlauer Fuchs wie er war, sie mit raunzigen Mahnungen wie „Ich will jetzt meine Ruhe haben“ einfach energisch zum Rückzug auffordern konnte. Heute nun war der Anpfiff ihrerseits etwas stärker gewesen. Er wollte partout nicht mit ihr den Kostenvoranschlag des Malers für die zu renovierende Einliegerwohnung besprechen. „Das hat noch Zeit“, wiegelte er ab.
Diese Reaktion war ihr zur Genüge vertraut und ließ sie gereizt zurückfragen: „Warum nicht jetzt? Du gehst doch gleich wieder weg, und morgen fährst Du für zehn Tage ins Retreat. Du selbst hast ihn doch ein paar Mal angerufen, ihn um den Kostenvoranschlag gebeten, wir warteten schon so lange darauf. Wir werden sonst nicht fertig bis zu unserem Urlaub in fünf Wochen!“ entgegnete sie hilflos und vorwurfsvoll zugleich.
Sie wusste wohl, dass er jeden Tag seinen Liegesessel in der Wohnzimmerecke vor der Terrasse aufsuchte, um mehr als ein Nickerchen zu machen. Er brauchte seine Portion Schlaf als Folge einer chronischen Lebererkrankung. Aber Simone Steiner war der festen Überzeugung, dass in dieses krankheitsbedingte Bedürfnis auch viel Bequemlichkeit hineingeflossen war. Sie fühlte sicher daher auch etwas ausgenutzt, wenn die Erledigungen der häuslichen Belange vorwiegend an ihr hängenblieben.
„Nun gib schon Ruhe! Ich will jetzt schlafen.“ Seine Augen funkelten dunkel, die Stirn zog sich streng zu einem Gewehrlauf zusammen, seine Stimme schwoll bedrohlich an.
Sie drehte sich auf dem Absatz um, schloss die Wohnzimmertür mit hörbarem Nachdruck, stapfte in die Küche, fluchte und schickte sich an, die Küche aufzuräumen. Jedenfalls hier kann ich etwas klarstellen und in Ordnung bringen, dachte sie, während sie das leere Rotweinglas unter dem Wasserstrahl abspülte. Sie trocknete es mit dem Küchentuch ab. Ein wenig spürte sie dabei ihre dümmliche Verzweiflung. Sie schnürte das Handtuch zu einem gezwirbelten harten Schlauch und führte ihn in das zerbrechliche Glas ein, darauf bedacht, dass sie noch Kontrolle über die Sprungspannung der harten trockenen Tuchwurst behielt, so dass diese nicht den Glasrand sprengte. Vorsichtig verbreiterte sie den Wulst an der Glasöffnung, lockerte das Ende wieder zu einem Lappen, um mit Zeigefinger und Daumengriff den Glasrand völlig trocken zu reiben. Wie eine Kosmetikerin fühlte sie sich dabei. Es war ein Peeling für ihre angetrocknete Traurigkeit. Diesen beruhigenden Vorgang zelebrierte sie an ein paar weiteren Wassergläsern, die auf der Steinplatte rund um den Wasserhahn herumstanden.
Urplötzlich schoss ihr die Erinnerung an ein vertrautes Wortspiel zwischen ihnen beiden in den Sinn. „Warum stellst du die Gläser nicht in die Spülmaschine? Die verbrauchen doch weniger Wasser beim Spülen, als wenn du es mit den Händen tust! Das kostet doch dann weniger!“
„Ich weiß, aber du weißt auch, dass ich mir dabei die
Hände wasche!“
„Quatsch!“, schüttelte er immer wieder verständnislos den Kopf.
Dass ich aber auch nichts ungestört machen kann, ohne an ihn zu denken. Das ist Ehe, dachte sie spöttelnd, halb lachend, halb enttäuscht über sich selbst.
Sie wischte den großen Küchentisch, der ebenfalls eine schwarz gemusterte Steinplatte war, von den letzten Krümeln und Fettringen frei. Ein prüfender Blick in schräger Kopfhaltung, um die Platte im Profil besser auf Fleckenreste untersuchen zu können, versicherte ihr: Nein, kein Fettrand mehr, alles wieder in Ordnung. Sie streckte ihre Wirbelsäule.
Ihre zurückgewonnene Stabilität ermutigte sie, leise nach ihrem Mann zu schauen und ihm die Blätter mit dem Kostenvoranschlag des Malers neben den Sessel zu legen. Wie eine Katze schlich sie auf Socken ins Wohnzimmer zurück, in der Hand die liebevolle Attacke. Ihr Verantwortungseifer ließ ihr eben keine Ruhe. War es das, was ihn störte? Sie schüttelte leicht den Kopf und blies diesen kurzen Anflug von vernünftigem Abstand weg.
Seine Fluchtversuche vor ihr beantwortete sie meist mit hartnäckiger Verfolgung. Sie fand diesen Zug an sich selbst unangenehm. Klar, dass sie auch viel lieber Bequemlichkeitswünschen oder sonstigen spontanen Ideen nachgegangen wäre. Aber sie spürte den Drang, anstehende Fragen schnell zu beantworten. Im Nacken saß ihr eine unbestimmte Angst vor nicht wiedergutzumachenden folgenreichen Versäumnissen oder Verlusten.
Noch ausschlaggebender war, dass sie sich an ihn gebunden fühlte. Ja, ohne ihn wollte sie nicht entscheiden, nicht, weil sie sich zu eigener Entscheidung etwa unfähig fühlte. Sie fühlte sich nicht unsicher, ahnungslos oder zu ängstlich, um selbst Verantwortung mit allen Konsequenzen zu tragen. Nein, alles, was sie beide gleicherma-
ßen anging, ihr gemeinsames Leben bedrohte, bereicherte oder forderte, wünschte sie sich „demokratisch“, wie sie es nannte, im Für und Wider gemeinsamer Streitgespräche ausgefochten und gewachsen. Sie verglich diese Herangehensweise mit dem Kneten eines Mürbeteigs, geformt mit ihren beiden Köpfen, ihren beider Herzen. Sie liebte Mürbeteig, er war würzig, knusprig, buttrig, sandig. Kein Teig, der nur monotone geschmacksneutrale Grundlage für einen Fruchtbelag war. Nein, die obere und die untere Schicht, beide zusammen, machten den besonderen Genuss durch den kontrastreichen Geschmack aus. Ja, ein demokratischer Mürbeteig sollte es sein, der, nach einer gewissen Ruhezeit in gute Form gebracht, in den Backofen kommen sollte. So stellte sie sich in den ersten Ehejahren die gemeinsame demokratische Entscheidung vor. Jede einzelne dazu geeignet, ihr Lebensband enger zusammenzuschnüren. Nicht allein darum war es ihr gegangen. Sie hatte auch Spaß an dem spielerischen Charakter des Miteinanderaustragens der Argumente, des Hin und Her, des Für und Wider. Wie ein Tischtennisspiel mutete sie die Vorstellung an, wie sie sich die fliegenden knallig aufschlagenden, hingehuschten und verpassten, verirrten Wortbälle zuspielen würden.
So war ihre Erfahrung vor mehr als 20 Jahren, als sie zum Skifahren in die französischen Alpen gefahren waren – das erste Mal für sie, sie war zu dem Zeitpunkt sechsundvierzig Jahre alt – und im Hotel Tischtennis spielten. Dieses gemeinsame Spiel stand Pate für ihre damalige inbrünstige Hoffnung, sie könnte ihr Leben lang den Aufschlag ihrer Bälle hören und erwidern. Denn auch er hatte helle Freude an ihrer beider Ballspiel gezeigt. Er hatte sie jedes Mal innig umarmt und geküsst, ihre Schnelligkeit und überraschenden Coups gelobt. Sie fand ihn erotisch, wie er strahlend und lachend den rechten Arm weit ausholte, um ihre ins Nirwana springende Bälle aufzufangen und sie zu schlagen. Sie liebte solche Herausforderungen. Es machte ihr gar nichts, ihn im Vorteil zu erleben, wusste sie doch, dass er viel sportlicher war als sie. Er hatte früher als Jugendlicher und junger Mann viele Jahre lang Tennis gespielt. Wenn er im Eifer konzentriert war, fand sie ihn hinreißend, bestrickend, kurz, zum Verlieben. Lachte er dann noch, zeigte seine großen weißen blitzenden Zähne, fand sie ihn zum Anbeißen. Die Ehe duftete ihr anfangs wie ein Leckerbissen entgegen. Es war das zweite Ehejahr. Es waren diese Momente, in denen sie ihm erlag. Kein Schimmer böser Vorahnungen, kein Schimmer der Erinnerung an bereits bittere, tief kränkende Erfahrungen mit ihm zuvor. Sein zwinkernder Blick, seine samtweiche Stimme hüllte ihr Herz in ein goldenes Vlies. In seinem Charme sich zu wiegen war holde Wonne. Kein Gedanke, dass just diese innige Verbundenheit immer wieder wie aus heiterem Himmel ins krasse Gegenteil umschlagen könnte. Es konnte einfach nicht sein! Der Wunsch, dieses Glück weiter in körperlicher Verschmelzung auszukosten, drängte sich damals immer wieder nach vorn. Sie hatte Sehnsucht nach zärtlicher Berührung ihres Körpers, nach körperlichen Spielen mit ihm, nach erotischer Freude. Aber diese Freuden hatten seltene Gastspiele.
Ihr Wunsch war die Ehe durch geblieben, ihre Hoffnung hatte wacker weiter gelebt. Sie schaute in sein Gesicht. Es wirkte friedlich. Sein Ausatmen blähte die Oberlippe auf und pfiff mit hellem Ton aus. Irgendwie ein lustiger Anblick, sie lächelte liebevoll. Sie wollte ihn jetzt wirklich in Ruhe lassen.
Ganz leise und schnell verließ sie das Wohnzimmer und ging nochmal in die Küche.
Ein Blick auf die Uhr an der Wand, deren Ziffern zwölf verschiedene Singvögel waren und mit jeder neuen Stunde einen entsprechenden Vogelgesang tönen ließ, zeigte ihr an, dass sie nur noch 20 Minuten hatte bis zur nächsten Sitzung. Um 15 Uhr stand der nächste Patient auf dem Kalender. Um 16 und um 17 Uhr jeweils eine weitere Psychotherapiesitzung. Dann hätte sie mit den fünf Sitzungen am Morgen insgesamt acht Stunden therapiert.
Das reicht auch, vielleicht kann ich mich noch eine Viertelstunde hinlegen – eine kleine Ruhe für mich ganz allein, dachte sie.
Ach nee, geht ja nicht. Sie fuhr erschreckt zusammen. Hab ja ganz vergessen, den Balkon zu fegen. Da liegen so viele abgefallene Blüten herum, vom Wind auch noch hereingeblasener Dreck. Den Anblick kann ich mir und den Patienten nicht schon wieder bieten. Heute Morgen habe ich mich geradezu geschämt, dass die Patienten so einen Ausblick auf den unaufgeräumten langen Balkon hatten.
Bestimmte Vernachlässigungen empfand Simone Steiner als ‚lässliche Sünde‘, ganz im Sinne der katholischen Bußordnung, die sie zwar offiziell nicht mehr beherzigen musste, denn sie war schon vor Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten. Aber verinnerlicht war verinnerlicht. Im Unterschied dazu stand die gewichtigere Sünde, die ‚Todsünde‘. Eine Todsünde war für sie, vereinbarte Termine zu vergessen oder einem Patienten aus Versehen in unschicklicher Erscheinung zum verabredeten Termin zu begegnen. So streng hatte sie sich an die Kandare genommen, bis die Realität sie eines Tages, als sie schuldig wurde, eines Besseren belehrte. Ja, auch sie war lernfähig.
Zwei Varianten legten sich in ihrem Gedächtnis fest. An einem Morgen war sie, was lange nicht mehr der Fall gewesen war, länger im Bett geblieben in der Annahme, sie hätte erst um 9 Uhr die erste Sitzung. Um halb acht ging sie nach oben in die Praxis, ihre tägliche Morgengymnastik zu machen. Die brauchte sie, sonst, so fürchtete sie, würden ihre ständig lauernden Rückenschmerzen massiv hervorbrechen. Im Hintergrund mahnte sie hierzu regelmäßig die Drohkulisse des vor vielen Jahren erfahrenen nahezu unerträglichen Schmerzterrors, der sie damals zwang, auf allen Vieren zu kriechen. Aufrechter Gang war seinerzeit schier unmöglich gewesen. Ins Auto musste sie getragen werden. Um einem Wiederaufleben dieser Plage zu entgehen, hatte sie sich zu täglicher Rückengymnastik verpflichtet, die sie auch bei Hotelbesuchen, wie etwa bei ihren auswärtigen Vortrags- oder Seminarverpflichtigungen mit abgespecktem Programm eisern einhielt. Dieses Pflichtprogramm hatte sie auch an jenem Morgen im großen Therapieraum absolviert. Stolz darauf – denn es war zu frühmorgendlicher Stunde doch immer eine Überwindung, sich zu strecken und zu dehnen – war sie die Treppe hinuntergegangen, hatte die Tageszeitung aus der Zeitungsrolle vor dem Haus herausgenommen und wollte in der Küche die Schlagzeilen überfliegen. Da klingelte es. Über die Haussprechanlage fragte sie, wer da sei. Es war Frau B. Simone Steinert gab sich einen Ruck, drückte auf den Summer, trat tapfer in ihrem lachsfarbenen Bademantel durch die dünne Sperrholztür, die die Naht zwischen Privat- und Berufsbereich bildete, und begrüßte die Patientin im Warteraum, der gleich dahinter lag. Sie zuckte erschreckt zusammen, fing sich aber schnell und offerierte ihr Willkommenslächeln mit einer pflichtfertigen Entschuldigung beziehungsweise einem Schuldbekenntnis. Ihre Klientin schrak ebenfalls zusammen:
„Habe ich mich vertan? Aber auf meinem Zettel steht 8
Uhr.“
„Warten Sie, ich lauf schnell nach oben und schau in den Kalender und in Ihre Akte!“ Kalender und Karteiblatt gaben deutlich in ihrer Handschrift den eingetragenen Acht-Uhr-Termin wieder. Sie hatte sich wirklich vertan. Eilig lief sie nach unten, froh, dass sie der Klientin den Schrecken aus dem Gesicht nehmen konnte, beschämt darüber, dass sie nicht aufgepasst hatte. Die Klientin reagierte aber gar nicht entlastet, sondern bot an zu gehen, um sie ihrerseits aus der unangenehmen Situation zu befreien. Diese Wendung belastete Frau Steiner erneut, wollte sie doch alles andere als ihr Gegenüber beschämen. Sie saß kurz in einer ihrer bekannten Falle, in die sie mit ihrer Mutter jahrelang gelaufen war: den anderen durch sein Dasein oder Tun in eine schwierige Situation zu bringen, egal, ob schuldig oder unschuldig, aus der ein Versuch der Befreiung eine erneute Verschuldung hochzuspielen drohte. Das stellte von jeher eine große Bürde für sie dar. Die Verschuldung erwuchs aus dem Nichtertragen-Können des Leidens oder eines Nachteils für den anderen. Diese war die leidvolle „Mutterschraube“ im Getriebe des aktuell gemeinsamen Schicksals. Keine Beteuerung – „ist nicht schlimm“ oder „kann ich später machen“ – brachte die beiden in früherer Zeit auseinander. Zu stark war die Empathie, zu schwach die Bereitschaft, statt Schuld die Verantwortung für die Konsequenzen tapfer zu tragen und aushalten zu wollen. Dies hätte eben bedeutet zu ertragen, dass es dem anderen schlecht ergehen kann, während man selbst sein Vorhaben durchzog, man also selbst heil oder gewinnreich gewesen wäre. Eine Änderung des eigenen geplanten Vorhabens hätte das Leid des anderen nicht mildern können. Außer Mitgefühl und Anteilnahme zu zeigen war nichts zu machen.
Simone Steiner wurde sich der Verstrickung schnell bewusst und war entschlossen, den Faden schnell abzuschneiden. Sie wies die Patientin an, ein paar Minuten zu warten, sie käme dann gleich zu ihr.
Ein ähnliches Spiel wiederholte sich ein paar Wochen später. Es war ein Mann, ein Holländer, ebenfalls morgen um 8 Uhr. Sie kannte ihn, er war schon einige Male gekommen. Sie, wieder im Bademantel, begrüßte ihn mutig. Sie wollte die Regelung nicht ihrem Mann überlassen, der kurz den Kopf durch die Tür gesteckt und sie mit ein paar Worten entschuldigt hatte. Das war ihr nicht ehrenhaft genug. Der Holländer bot nicht an, gleich zu gehen. Er meinte sogar, seine Frau hätte ihn an den Termin erinnert. Jetzt wolle er auch die Stunde wahrnehmen. Er fände es gut, dass ihr die Verspätung passiert sei. Dann sei er also nicht allein mit seiner Vergesslichkeit. Sie lachten beide. Simone Steiner entwickelte fast Gefallen an der Situation. Was alles an Versionen möglich ist, mit solch einer Situation umzugehen, dachte sie. Außerdem bestätigte sich für sie, dass Holländer einfach umgängliche, lockere Menschen sind.
Mit dieser selbstbewussten Reaktion ihres Sparringpartners konnte sie wohl besser leben als mit einer bußfertigen. Zwar beurteilte sie ihre Terminverwechslung immer noch als unerwünscht und peinlich. Aber sie konnte leichter dazu stehen. Die Bezeichnung ‘Todsünde‘ wollte ihr nicht mehr über die Lippen kommen.
Wenn verschiedene Reaktionen auf ein gleiches Ereignis möglich sind, warum nicht die wählen, die einem den Umgang mit dem Geschehen erleichtert und einen fruchtbaren Fortgang ermöglicht? Es lohnt sich, immer nach Alternativen zu schauen, wenn man merkt, man ist festgefahren, hatte sie als Lehre daraus gezogen.
Die Erinnerung an diese Geschichten tauchte auch ihre geplante Kehraktion in ein anderes Licht. Der von Laub bedeckte Balkon berührte mehr ihre Eitelkeit. Sie wollte alles schön um sich herum haben. Nicht nur an sich selbst dachte sie daran. Auch der andere, Klient oder Besuch, sollte sich in ihrer Umgebung wohl fühlen. Eitelkeit und Ehrgeiz – sie wusste nicht genau, was überwog. Auf jeden Fall war es weder eine lässliche noch eine Todsünde.
Es war ja meistens bei ihr sauber.
Mit der Kehrschaufel und dem kleinen Kehrbesen stapfte sie die Treppe hoch zur Praxis. Durch die offen stehende Bürotür neben dem Therapieraum fiel ihr Blick auf ein neues Fax. Sie ging durch das Therapiezimmer, entriegelte das Einbruchsschloss und stellte die Tür zum Balkon auf. In den Türspalt steckte sie einen Gummistopper, der sehr elegant im Paisleymuster geformt war. Diese selbst ausgewählten ästhetischen kleinen Dinge des Alltags waren ihre Blickbonbons, die ihr halfen, langweiligen Kommunikationen oder dem Zuhören eines nöligen Patienten-Singsangs durch einen Blick darauf kurz zu entweichen, mal gezielt, mal nebenbei. Diese Selbsterfrischungen gestattete sie sich. Das fand sie durchaus vertretbar angesichts der Anstrengung, über acht Sitzungen voll wach zu sein. Immerhin war es ihre Aufgabe, verbale und nonverbale Informationsflut von anderen Menschen zu ertragen, aufzunehmen, zu verarbeiten und darüber zu entscheiden, wie sie diese für den Patienten nützlich machen könnte.
Süßes bot ihr ebenfalls eine kurzweilige intime Pause. Am liebsten war ihr Schokolade. Kakao-trinken jeden Nachmittag war ein Ritual, mit dem sie sich ein Stück Privatsein zwischen den Therapiesitzungen gönnte.
Sie trat auf den gefliesten hausbreiten Balkon. Das vor ein paar Monaten frisch gestrichene braune Balkongeländer hing mit sieben Balkonkästen mit rosafarbenen Hängegeranien und lilablauen Fünffingerblumen üppig voll. Am Boden lagen verblühte Blüten und Erdkrumen, die der Wind aus den Kästen geblasen hatte, zudem Staub von den Kastanienkerzen. Auch abgestorbene Blätter waren über den Balkon verstreut.
Nein, das ist doch zu schmutzig, sagte sie zu sich, ich hole den Besen, um alles auf einmal zusammenzukehren. Gedacht, getan. Sie schaute sich den Balkondreck an, nickte unmerklich, fegte alles zusammen auf das Plastikblech und brachte es runter in den Biomüll in der Küche. Sie ging wieder nach oben, überflog mit einem Blick den Balkonboden dahingehend, ob das Kehren reichte oder der Boden eventuell sogar noch aufgewischt werden müsste, als sie ihr Telefon klingeln hörte. Sie hob den Hörer ab.
„Hallo, Frau Dr. Steiner, ich bin es, Brigitte Furner, ich habe gleich einen Termin bei Ihnen, um 16 Uhr. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, ich hänge noch auf der Autobahn.“
„Ja, das verstehe ich, das tut mir leid. Was glauben Sie, wie lange Sie noch brauchen?“
„Das weiß ich nicht.“
Frau Furner schwieg eine Weile.
„Sollen wir den Termin verschieben?“
„Ja, das können wir. Um eine Ausfallgebühr zu vermeiden, sollte der ausgefallene Termin in derselben Woche nachgeholt werden, wenn dieser Termin am Anfang der Woche steht, wie jetzt. Also, in derselben Woche habe ich morgen um 17 Uhr und am Freitag um 9 Uhr noch eine Stunde frei.“
„Ja, morgen wollte ich mal mit meiner Tochter in die Stadt und am Freitag, da kann ich nicht, da ist meine Mutter zu Besuch.“
„Und einen der beiden Termine können Sie nicht um gut eine Stunde verschieben oder die Treffen überhaupt etwas anders legen oder einen Kompromiss mit einer der beiden aushandeln? Es besteht ja auch die Möglichkeit, dass Ihre Mutter oder Ihre Tochter unten im Wartezimmer auf sie wartet oder etwas im Kurpark spazieren geht?
„Ach, nein, das möchte ich nicht. Ich würde halt gerne mal wieder mit meiner Tochter ohne Zeitdruck shoppen gehen. Da möchte ich keinen Termin im Rücken haben. … Ja, und meine Mutter hat sich so auf das Wiedersehen gefreut.“
„Ja, nun gut. Wie lange bleibt Ihre Mutter?“
„Eine Woche, und die anderen Tage habe ich schon verplant. Wir haben ja nächste Woche um die gleiche Zeit wieder einen Termin. Da komme ich dann.“
„Ja, wenn da mal nicht wieder ein Stau ist“, entgegnete Simone Steiner, „also, dann ist die Ausfallgebühr fällig.
Okay für Sie?!“
„Wie meinen Sie okay?“
„Ja, dann habe ich keine weiteren Ausweichtermine mehr. Dann ist Ihre Sitzung erst nächste Woche. Es fällt für Sie dann nur die Ausfallgebühr für die jetzige Stunde an.“
„Nein, wieso? Es ist ja nicht meine Schuld, wenn ich hier auf der Autobahn festhänge.“
„Ja, das ist wohl wahr, dass Sie für den Autobahnstau nichts können. Drum biete ich Ihnen ja auch Ersatztermine an. Für mich ist mein Angebot auch ein Kompromiss. Ich hatte diese Alternativzeit auch anders verplant. Wenn Sie diese nicht wahrnehmen möchten, muss ich leider die Ausfallgebühr in Rechnung stellen, wie es in unserem Therapievertrag steht.“
„Och ja, wirklich?“
„Wie Sie sich vielleicht noch an unsere ersten Gespräche erinnern, räume ich eine zahlfreie Mindestzeit bis zum fälligen Termin ein. Das sind zwei Werktage. Ausnahmen sind: Sie sind aktuell in Lebensgefahr oder draußen ist Glatteis. Beides ist bei Ihnen jetzt nicht der Fall. Spielraum haben Sie mit meinem Angebot eines Ersatztermins in derselben Woche oder ich kann selbst für eine kurzfristige Besetzung der Stunde sorgen. Letzteres ist mir
momentan nicht möglich.“
„Mhm, mhm.“
„Wie gesagt, all das habe ich Ihnen zu Beginn der Behandlung ausführlich erläutert. Sie haben die Einverständniserklärung, die diese Punkte aufführt, unterschrieben. Ich habe eine Kopie davon. Schauen Sie zuhause mal nach, Sie müssten das Original noch haben.“
„Ja, aber, wenn ich doch nicht kann?!“
„Frau Furner, es ist Ihre Entscheidung, wie Sie Ihre Interessen gewichten, und auch, wie flexibel Sie mit veränderten Situationen umgehen, ob Sie den Einkaufsbummel mit ihrer Tochter anders legen, Kompromisse machen oder eben nicht kommen und die Gebühr zahlen. Im Übrigen verlange ich nicht mal das ganze Therapiehonorar, sondern nur einen Teil davon.“
Simone bewunderte ihre eigene Geduld. Am liebsten hätte sie aufgelegt. Aber sie sah sich in der therapeutischen Pflicht, die Gelegenheit als Muster für Klärung von Grenzen und Verantwortung nicht unter den Tisch fallen zu lassen, denn Frau Furner – das wusste sie aus den bisherigen Sitzungen – litt unter den Folgen ihrer häufig sich windenden Art, für irgendetwas oder für ihr Tun Verantwortung zu übernehmen.
Würde sie, so dachte Simone, hier nicht konsequent bleiben, würde sie Frau Furner um eine Lernchance bringen, und zusätzlich ihre therapeutische Autorität aufs Spiel setzen.
„Hallo, Frau Furner, sind Sie noch da?“
„Ja, ja, ich guck, dass ich es noch schaffe.“
„Okay, ich warte auf Sie.“
Simone war froh, bei ihrer Forderung geblieben zu sein und hatte sich nicht weich klopfen lassen. Im Gegenteil – diese Geschichte stärkte ihr den Rücken. Frau Furner traf nur ein paar Minuten später zum verabredeten Termin um 16 Uhr ein.
„Na, sind Sie jetzt geflogen?“
„Nein, nein. Auf einmal löste sich der Stau schnell auf.
Von dort bis zu Ihnen sind es ja nur wenige Minuten.“
Simone war richtig stolz auf sich, nicht mit nachgiebiger Nettigkeit reagiert zu haben. Konsequenz lohnt sich, behalte ich bei, sprach sie zu sich.
Vor dem Furner-Termin wies sie ihr Blick auf die Uhr an, ihrerseits auf ein Nickerchen zu verzichten. Die Zeit war zu knapp. Schnell trug sie die Kehrschaufel in die Besenkammer der unten liegenden Privatwohnung. Dabei oblag sie der Versuchung, noch einmal nach ihrem Mann zu schauen: Schläft er noch oder schon wieder? In dem Moment erhob er sich aus dem Sessel, warf mit der rechten Hand die Mohairdecke zur Seite, schaute sie fragend an:
„Ja, was ist?“
„Ich geh’ jetzt nach oben. Heute geht’s bis 18 Uhr.“
„Aha.“
Vorher prüfte sie noch ihr Erscheinungsbild im Spiegel. Sie vermisste ihr Goldcollier auf dem rostbraunen Pullover.
Ein Griff in die Schatulle und sie legte es um ihren Hals, ein warm zierender Schmuck.
Das Collier erzählte auch eine Geschichte. Es hatte sie einiges gelehrt, vor allem über sich selbst. Das Collier erinnerte sie daran, dass sie durchaus „sich selbst auch mal von der Schippe springen kann“, wie es ein früherer Studienfreund genannt hatte. Man müsse nicht jeden Glaubenssatz, den man sich mal zu eigen gemacht hat, auch glauben. Oft stecke dahinter ein nicht zugelassener Wunsch oder ein eitles Selbstbild. Allerdings bedarf eine solche Offenheit sich selbst gegenüber meist eines Anschubsers. Es braucht dann noch einige gedankliche Klimmzüge und Umwege, bis man sich selbst ganz „nackt“ erkennen kann. Diese Erkenntnis, dass Seelisches Zeit braucht, begleitete sie ab da noch wirksamer durch ihren therapeutischen Alltag, als sie es schon vorher beherzigt hatte.
Im Falle von Simone war der Anschubser der Tod ihrer Mutter.
In deren Testament hatte sie gelesen, dass diese ihr Goldcollier ihrer früheren Schwiegertochter vermachen wollte. Simone hatte einst die Anfrage der Mutter, ob sie sich freuen würde, das Collier zu erben, verneint. Die Mutter entschied sich dann für die Schwiegertochter, was Simone völlig in Ordnung gefunden hatte. Der Schmuck schien ihr damals zu bürgerlich. Der Mutter war ihre Einstellung schon bekannt, aber sie hatte sie nicht einfach übergehen wollen.
Simones abfällige Meinung über den mütterlichen Schmuck basierte auf ihrer Einschätzung der Mutter als etwas spießig.
Dabei hatte die Mutter es locker geschafft, sie mit dem Gegenteil zu verblüffen. Sie war durchaus in der Lage gewesen, kühne Meinungen zu vertreten und anders denkenden Menschen vorbehaltlos zu begegnen. Auch war es für sie in den fünfziger und sechziger Jahren ganz normal, wenn Simones Bruder, der damals in Brüssel lebte, schwarze Freunde mit nach Hause brachte, für die damalige Zeit schon etwas ungewöhnlich. Auch das hatte Simone gut gefunden. Aber diese Erfahrung hatte ihren leichten Dünkel nicht aufgeweicht.
Die Mutter verstummte manches Mal, wenn Simone in verschiedenen Diskussionen die Mutter in etwas scharfem Ton belehrend zurechtwies, wie „Das habe ich jetzt schon x-mal erklärt!“ oder „Dass du das logisch findest, ist doch kein Beleg dafür, dass es so war!“
Hin und wieder wehrte sich die Mutter: „Ja, Frau Lehrerin.“
Beim Lesen des Testaments hatte Simone seinerzeit ein merkwürdiges Kreisen im Magen verspürt. Sie hatte sich die kleinen eng ineinander gefügten kleinen Goldteilchen des Colliers in Ruhe angeguckt. Unerwartet fühlte sie sich mehr und mehr angezogen von dem festen und zugleich biegsam fließenden Lauf des Kettenflusses. Die Kette lebte auf einmal. Sie lag nicht mehr am Hals ihrer Mutter. Sie entdeckte es als eigenes freies Schmuckteil.
Sie entdeckte es neu.
Nun wollte sie es haben. Sie war überrascht und auch beschämt gewesen, dass sie sich den Wunsch eingestehen musste, das Goldcollier der Schwägerin nicht zuschicken zu wollen. Sie beschwichtigte sich: Ja, es steht mir zu. Denn ich und meine Mutter stehen uns letztlich näher als Nine. Ich entspreche damit im Grunde ihrem ersten Wunsch. Ich war vorher verstockt. Jetzt bin ich es nicht mehr. Jetzt finde ich das Collier schlicht und elegant, zu allen Gelegenheiten passend. Ich bin sicher, Mutti würde sich freuen, dass ich es jetzt schön finde und ich sie darin bestätige. Aber irgendwie krumm würde sie meinen Meinungsschwenk auch finden.
Ja, Simone bestärkte sich regelrecht in ihrer etwas unehrenhaften Kehrtwende mit verschraubter Begründung. Simone glaubte mit diesem Jiu-Jitsu-Argumentihre verhakte Beziehung zur Mutter wieder in die ursprüngliche, natürliche Form zu verkehren und sich von einem unterschwellig schlechten Gewissenbefreien zu können. Das Collier war von der Mutter gelöst, aber auch die Mutter vom Collier. Simone erkannte ihre Mutter nun genauer. Sie war beileibe nicht spießig gewesen. Sie hatte viel Zivilcourage.
Dankbarkeit und auch ein gewisser Stolz auf sie machten sich in ihr breit. Sie erkannte, wieviel Rückhalt ihr die Mutter in Kindheit und Jugend bei all den schlimmen familiären Ereignissen und auch in ihren beiderseitigen Auseinandersetzungen gegeben hatte. Sie schaute auf das Collier. Es wurde ihr ab da zum Symbol fast unauffällig von einfacher, schöner Wahrheit, die den Alltag schlicht adelte.
Wenn Simone dieses Goldcollier in der Praxis trug, spürte sie um den Hals den mütterlichen Schutz, federleicht. Sie war mit ihr wieder im Einklang.
Selbsterkenntnisse müssen nicht notwendigerweise über Debatten erfolgen, stellte Simone vergnügt fest. Dabei streichelte ihr Blick im Spiegel das eng anliegende Collier. Sie schüttelte ihre Haare, so, um sich wieder in die Gegenwart zu rütteln.
Simone, nun klar im Kopf, ging nach oben, um den Klienten um 15 Uhr zu empfangen.
Eine andere Einsicht, schmerzlich gewonnen, war ein stützender Begleiter im Alltag von Simone Steiner geworden. Auch dabei hatte Schmuck, besser dessen Verlust, eine korrigierende Rolle bekommen.
Bei einem Besuch mit ihrem Mann bei seinem Kindergartenfreund in Boston Ende der neunziger Jahre besuchten sie das dortige Museum.
Zu der Zeit hatte sie etwas Geld zur Seite gelegt, was ihr das Gefühl von größerer Freiheit gab und damit auch Sicherheit. Nicht, dass sie es um jeden Preis für Konsum ausgeben oder im Hinblick auf bestimmte Ziele ansammeln wollte außer als Rentenrücklage, aber sie gestattete sich im Unterschied zu früher, als sie jeden Pfennig umdrehen musste, doch schon mal ein attraktives Kleidungsstück.
Beim Besuch des Bostoner Museums landete sie in dessen hübschem Kunstshop.
Sie schaute in eine Vitrine und fühlte sich magisch von einem Ohrsteckerpaar angezogen. Ihr wurde gesagt, es sei ein Unikat, entworfen von einer japanischen Kunstprofessorin an der hiesigen Universität. Jeder Ohrring war von zwei halben silbernen Blättern geformt, gegeneinander versetzt, eins länger als das andere, eine Hälfte vergoldet, die andere silbern belassen. Die Blätter liefen kurvig in dreieckigem Grundriss spitz nach unten zu. An der Spitze war eine sehr große tropfenförmige rosafarbene Perle fixiert.
Im Spiegel fand sie sich bestätigt. Sie standen ihr ausgezeichnet. Sie konnte sie sich leisten, für sie auch ein Zeichen ihrer finanziellen Unabhängigkeit. Diese Ohrringe blieben lange ihr wichtigster Schmuck, er passte zu allem. Sie liebte sie.
Jahre später kam sie mit ihrem Mann gegen 19 Uhr von einem Besuch bei Freunden am ersten Weihnachtsfeiertag nach Hause. Sie hatten lecker zu Mittag gegessen und den Nachmittag mit gemütlichem Geplauder verbracht. Es war kalt und vom Himmel hatte es nur so geschüttet. Ihr Mann war schon ins Haus gegangen, während sie noch mit Einparken in die Garage beschäftigt war. Zwei Minuten später stürzte er herunter zu ihr: „Bei uns ist eingebrochen worden. Komm schnell!“
Sie glaubte, er wollte sie auf den Arm nehmen. Eher gemächlich war sie die Treppenstufen hochgestiegen. Dann stockte ihr der Atem. Ihr Schlafzimmer war verwüstet, Schubläden herausgerissen, einzelne Schmuckstücke – es war alter Modeschmuck, kaum mehr getragen, lagen auf dem Boden herum, ebenso viele Pullover, ihr Bett durchwühlt, der Boden voll mit nassen Erdklumpen, Drecksspuren, die sich durch die ganze Wohnung zogen. Auch die Kleiderschränke im Arbeitszimmer ihres Mannes standen offen. Sie lief nach oben in die Praxis. Auch offen stehende Schubläden! Gott sei Dank, der Laptop mit allen Patientendaten stand wie unberührt an seinem Platz, ebenso der tiefe große Schubkasten mit den aktuellen Patientenakten! Das war zunächst mal das Wichtigste. Dann lief sie wieder in ihr Schlafzimmer, um nachzuprüfen, was von ihren Schmuckstücken weggekommen war. Neben einem kleinen goldenen Ohrring mit LapislazuliPerle fehlten das goldene Collier ihrer Mutter und ihre Lieblingsohrringe aus Boston sowie anderer liebgewonnener Schmuck. Weiß im Gesicht fiel sie in sich zusammen. Tiefe Traurigkeit ermattete sie.
Sie wusste, dass Menschen, deren Intimsphäre auf diese Weise verletzt worden war, oft traumatisiert waren, sie ihre Zimmer nicht mehr betreten wollten, sich therapeutische Hilfe suchten. Der wesentliche Schaden war vorwiegend symbolischer Natur. Die geraubten Gegenstände standen für persönliche Geschichten, waren persönliche Wegbegleiter. So war es auch bei ihr. Bestürzung, Wut und Trauer hatte sie in Gedanken auf die Diebe geworfen, gleichsam, um diesen auch Löcher, Einbrüche in den Kopf zu hämmern. Diese Reaktionen versprachen ein Gegengewicht gegen den Schlag, den sie als Opfer bekommen hatte. Aber so richtig hatte sich ein Gefühl der Erleichterung nicht einstellen wollen. Rache versprach ihr keine rechte Erleichterung oder Genugtuung. Dennoch wollte sie sich um keinen Preis geschlagen geben. Auch wenn die Diebe sie in dieser Situation nicht sehen konnten, wollte sie zumindest nicht das Gefühl einer Niederlage oder Ohnmacht haben. Ihre Selbstsicherheit zu rauben, gestattete sie ihnen nicht.
Es half ihr zu wissen, dass jeder Mensch das Potenzial zu bösen Handlungen hat. Nicht jeder wird zum Dieb oder zum Mörder, aber es gibt Konstellationen, in denen der
Mensch vorher verpönte Dinge tut. Und letztlich, das war für sie noch entscheidender, sind alle Menschen miteinander verwandt, alle aus einem Grundstoff. Diese Besinnung ließ Trauer und Wut ein wenig schrumpfen. Die unbekannten Täter traten mehr in ihr Visier. Die Spuren ihres Einbruchs wollte sie sich nochmal genauer anschauen. Sie trat an das Fenster, durch das eingebrochen war. Der Holzrahmen war geborsten. Das Fenster hatte etwas aufgestanden. Auf dem Fenstersims verteilten sich kleine nasse Erdklumpen und erdige Wischspuren und Sohlenspuren, so klein, wie sie nur von einem Kind stammen konnten. Simone rätselte.
Es war in der Gegend bekannt, dass ausländische Familienbanden aus dem nahen Nachbarland Raubzüge machten. Sie schickten ihre Kinder voran. Die Spuren sprachen dafür, dass das auch hier der Fall war. Dem Kind muss beigebracht worden sein, andere Menschen hinterhältig zu schädigen. Es war darin bearbeitet worden, Vertrauen zu missbrauchen, hatte Simone resümiert. Das Kind war ebenso Opfer! Inwieweit hatte dieses Kind wohl selbst noch Mut zu vertrauen? Wie stark waren bei ihm schon Gefühle und Werte durcheinandergeraten? Diese Erwägungen hatten beinahe jegliche Wut auf den oder die Einbrecher schmelzen lassen. An die Stelle trat Mitleid, eine Traurigkeit für das fremde Kind.
Wohl war Simone klar, dass der Schmuck, darunter war auch wertvoller Erbschmuck gewesen, ein für allemal weg war. Wehmütig und dankbar winkte sie allen gestohlenen Schmuckstücken in der Vorstellung nach. Sie spürte, es zählte nicht in erster Linie das Haben. Nur das Erlebte zählte. Sie erinnerte sich der Freude, die sie mit ihnen gehabt hatte, in welchen Situationen sie Ketten, Armbänder, Ohrringe getragen hatte.
Die Erkenntnis war:
Nichts bleibt. Es bleibt nur, den Augenblick beim Schopf zu packen und Neues entstehen zu lassen. Nicht hängenbleiben, hadern, aufbegehren, sich verkriechen, das Leben nicht bremsen. Das schafft nur Raum für Angst und ergebnislose schmerzende Verkettung mit dem Verlust. Schauen, was jetzt möglich ist.
Die Lücken in ihren Schmuckbeuteln- und dosen - so viele waren es letztlich auch nicht – mahnten sie seitdem jeden Tag daran, wenn sie sich morgens anzog und wenn sie Konzerte oder besondere Termine hatte. Nicht immer bewirkte der Blick in die Lücke oder in die Vergewisserung – Ach ja, die Kette, die mir meine Mutter mir mal auf Kreta geschenkt hatte! – ist ja auch weg! auf Anhieb Beruhigung. Es brauchte der wiederholten Vergewisserung.
Die letzte Patientin war gegangen, das Stundenprotokoll geschrieben, der Arbeitstisch weitestgehend aufgeräumt, ein paar E-Mails noch verfasst. Simone packte ihren Hausschlüssel und ging nach unten. Ihr Mann war weg, das Wohnzimmer leer, sie ließ die Rollos herunter und holte die Fernbedienung für die 19-Uhr-Nachrichten. Da hörte sie seinen Schlüssel das Schloss umdrehen. Sie ging auf den Flur.
Er breitete die Arme aus, sie ebenso, und sie umarmten sich. Der Verdruss vom Nachmittag war in den Hintergrund getreten. Das Wiedersehen war innig, genauso wie vor 35 Jahren, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Dieser Augenblick war nicht stehen geblieben, er hatte mit allem Schritt gehalten. Trotz allem.
Ihre sicherste Ressource für den Alltag.
Als Kind träumte sie davon, Pianistin zu werden. Die Werke der großen Meister spielen zu können, das stand ganz groß in ihrem Kinderhimmel. Sie liebte Musik und spielte auch nicht schlecht angesichts der Tatsache, dass sie seit ihrem 15. Lebensjahr keine Klavierstunden mehr nahm und nur zwei-bis dreimal in der Woche eine knappe halbe bis ganze Stunde für sich allein im Wohnzimmer musizierte.
Dies jedoch auch nur ab dem Frühjahr – sofern es warm war – bis in den späten Sommer. Im Winter suchte sie ihr Instrument noch weniger auf. Denn Sibylle Marquardt, 57 Jahre alt, von Beruf Erzieherin und Leiterin eines Kindergartens, seit zweieinhalb Jahren vorzeitig im Ruhestand, gestattete sich diese Neigung nur, wenn sie sicher war, dass sich ihr 84-jähriger Vater unten im Garten aufhielt und die Pflanzen versorgte.
Kam ihr Vater hoch – sie bewohnten zusammen die zweite Etage im eigenen Haus, unten wohnte ihr drei Jahre älterer Bruder mit seiner Familie –, meinte er anerkennend: „Du hast aber schön gespielt. Ich habe dich gehört.“ Und setzte verwundert hinzu: „Du spielst immer nur, wenn ich nicht da bin.“ Mehr sagte er nicht. Ohne ihr einen Blick zuzuwerfen, ging er ins Badezimmer. Sie sagte nichts, schaute nur kurz hoch, ohne den Kopf nach ihm zu wenden.
Ohnehin fanden zwischen ihnen nicht viele Gespräche statt. Ihr Vater war schon immer einsilbig gewesen, neigte von jeher zu stillem Grübeln, außer, wenn er glaubte, die Familie stünde nicht loyal zu ihm. Das meinte er dann, wenn die Frau oder die Kinder seinen Anweisungen nicht folgten. Aber das war schon einige Jahre her. Als die Kinder erwachsen geworden waren, zog er sich mehr und mehr zurück. Die Distanz zwischen ihm und den Kindern blieb. Seine Grübelneigung schaffte eben auch nicht mehr an Nähe. Sibylle Marquardt hatte es mit den Jahren längst aufgegeben, ihn durch wiederholte Ansprachen gesprächiger und mitteilsamer zu machen. Auch ihre Mutter hatte die Schweigsamkeit ihres Mannes, als sie noch lebte, bedauert.
Aber Mutter und Tochter verstanden es, diese Lücke für sich selbst zu überbrücken. Sie hatten sich über alles Mögliche austauschen können. Die Mutter war seit elf Jahren tot. Seitdem fühlte sich Sibylle recht einsam. Eine enge Freundin hatte sie nicht. Die Erinnerung an die Mutter rüttelte sie meist dann schmerzlich, wenn es zwischen ihr und ihrem Vater dann doch zu ein paar Worten mehr kam. Einerseits erfreulich, andererseits betonten die knappen Wortwechsel diesen Kontakt nur als gelegentlich und nicht als fließende Verbundenheit.
Der Tod der Mutter hatte sie seinerzeit in schwere Depressionen gestürzt. Ihr Weggang bedeutete keine Erleichterung, keine Entlastung von ihrer bis dahin übermäßigen Fürsorge für sie, hatte die Mutter doch bis zuletzt mit der ihr noch vorhandenen Kraft versucht, Tochter und Ehemann mit Anteilnahme an deren Leben von deren eher dunklen, pessimistischen Lebensgestimmtheit mit ihrer lebensoffeneren Laune zu erheitern. Trotz ihrer lähmenden und oft auch schmerzhaften Erkrankung war und sorgte die Mutter mit ihrer freundlichen geduldigen Art für den Zusammenhalt der Familie. Sie hatte es in ihren letzten Lebensjahren geschafft, die gespannte ängstliche Familienatmosphäre zu wenden. Die väterliche bestimmende bis bedrohliche Art hatte in der Vergangenheit immer für Spannung und Beklommenheit gesorgt. Ein Widersetzen in Form anderer Meinung oder gar leiser Verweigerung hätte den Angstfrieden maßgeblich aufs Spiel gesetzt. Auch die Mutter hatte sich nie ernsthaft dagegengestemmt. Sie blieb beharrlich in ihrer ruhigen ausgleichenden Zuwendung. Dafür waren ihr alle dankbar und fühlten sich in ihrer Bewunderung für sie einander zugehörig.
Neben der Kindergartenleitung hatte Frau Marquardt die aufopfernde Pflege ihrer Mutter als ihre zweite Lebensaufgabe betrachtet. Sie hatte darin eine Möglichkeit gesehen, ihrer Mutter ihre Dankbarkeit zu erweisen und einen kleinen Teil ihres Schuldgefühls abzutragen; denn in ihrem tiefsten Inneren war ihr klar, dass die Mutter ihr eine Lebenstüchtigkeit geschenkt hatte, zu der sie sich selbst nicht aufzuraffen vermochte.
All ihre Fähigkeiten, ihre Fantasien, ihre Liebe schenkte sie ihrer Mutter und „ihren Kindern“. Solange ihre Mutter bettlägerig war – und das waren immerhin sieben Jahre – hatte sie mittags, nachdem alle Kinder abgeholt waren, schnell den Kindergarten verlassen, um heimzufahren und ihre Mutter neu zu betten, ihr bei der Toilette behilflich zu sein, ihr Bett zu richten und für sie, ihren Vater und sich zu kochen. Diese Verrichtungen hatten in der Regel knapp zwei Stunden in Anspruch genommen. Danach war sie wieder zu ihrem grasgrünen Auto gehastet und zurück zu ihrem Arbeitsplatz gebraust. Ohne Rast hatte sie sich dann den Kindergruppen gewidmet, nachgeschaut, ob ihre Wochenpläne für die Erzieherinnen auch in die Tat umgesetzt waren –hierfür lagen Protokolle im Büro vor –, und vor allem, ob die Kinder nach dem Mittagsschlaf glückliche Mienen aufsetzten. Ihre Sache war es nicht gewesen, zunächst für sich zu sorgen. Sie sorgte sich zuerst und zuletzt um andere, für andere. Für andere da zu sein war ihr Hier-sein.
Für jedes Kind hatte sie ein Auge und ein Ohr. Auf jedes ging sie mit Nachfragen nach seinem Befinden, seinen Interessen, seinem Wehweh liebevoll ein. Mit viel Geschick gelang es ihr, mit den Kindern wundervolle und fantasiereiche Mal- und Bastelarbeiten anzufertigen. Zu Weihnachten entstanden wahre Backkunstwerke. Die Elternabende glichen kleinen Vernissagen. Von ihren geheimen Ängsten vor jedem dieser Abende ahnte niemand etwas. Schweiß und Mühe waren der Preis für diese sorgfältig vorbereiteten Veranstaltungen. Jede Begrüßungsrede studierte sie Tage vorher ein. Kein Elternabend, der nicht unter einem ausgewählten Thema stand. Trotz jahrelanger Erfahrung und Übung, trotz Bestätigung und Anerkennung war jedes Hinstehen eine Qual für sie gewesen, die sie zitternd bewältigt hatte. Angst vor Versagen hatte ihr jedes Mal die Kehle zugeschnürt. Aber trotzdem suchte sie nie nach einer Ausrede, um den Kelch an sich vorübergehen zu lassen. Keine einzige Aufgabe wollte sie an jemand anderen übertragen. Ihre Stellvertreterin witterte ihre Ängstlichkeit, bot sich an, einzuspringen. Frau Marquardt ergriff auch deren helfende Hand nicht.
Sich nützlich, unverzichtbar zu machen stand für sie außer Frage. Egal, wie sie beieinander war, kränklich oder gesund, ohne nach links oder rechts zu schauen, war dieses Bestreben ihr Hunger und ihre Lebensnahrung zugleich.
Sie war morgens die Erste, die kam, abends die Letzte, die ging. Wenn sie die Tagesstätte verließ, lagen alle Spielzeuge aufgeräumt an ihrem Platz, noch akkurater, als die Kinder und die Erzieherinnen sie bereits geordnet hatten. Sie wischte noch einmal alle Räume durch, obwohl dies in der Regel bereits geschehen war. Ihr Schreibtisch war blank, keine Post, die unerledigt blieb. Ihr Kindergarten war ihr Knusperhäuschen. Wenn sie beim Einkaufen auf der Straße eine Mutter traf, deren Kind ihren Kindergarten besucht hatte, wurde sie mit Lob und schwelgenden Erinnerungen an ihre bunten lebendigen Kinderfeste bedacht. Kinder und Eltern waren sich einig: „Tante Bille ist wundervoll!“ Solches Echo war für sie wie eine Oscarverleihung. Es machte sie glücklich und trieb sie weiter an.
Die wenigen freien Abendstunden, in denen sie sich mal nicht um Hausarbeit und die kranke Mutter kümmerte, verbrachte sie mit vereinzelten Konzertbesuchen oder mit Handarbeiten.
Die offiziell zuerkannten Urlaubstage nutzte sie nur in geringem Maße. Wenige Urlaubstage verbrachte sie mit ihrer Nichte und ihrem Neffen. Sie reiste mit ihnen meist nach Bayern, weil sie die grünen, weit schwingenden Matten so liebte. Sie waren wie Musik für sie. Den Kindern finanzierte sie den Aufenthalt, für sie eine Pflicht als Patentante.
Einmal hatte sie ihnen zu Weihnachten eine komplette Skiausrüstung geschenkt. Sie selbst fuhr nicht Ski, begleitete die Kinder nur zum Kurs und zum Skilift. Nach ein paar Tagen fuhr sie schnell wieder heim, unsicher, ob ihr Bruder und die Schwägerin sich gewissenhaft um die Eltern kümmerten.
Daher kam es für sie auch nicht in Betracht, für mehr als eine Woche, geschweige denn vierzehn Tage allein Urlaub zu machen und den Bruder und seine Frau zu bitten, sie zu vertreten. Ihren Bruder empfand sie als zu sorglos. Trotz dieser Kritik beneidete sie ihn auch um seine damit verbundene Unbefangenheit. Doch der Groll, auch eine gewisse Verachtung überwogen.
Kurzweilige Erschöpfungen weckten wohl Wünsche nach Pausierung. Aber eine fremde Person als Betreuung für ihre Eltern zu suchen, ließ sie erschauern. Jede Menge Verdächtigungen stiegen in ihrem Kopf hoch und hielten Entspannungswünsche in Schach.
Abstand zu gewinnen, sich auf sich zu besinnen, neue Umgebungen zu entdecken, vielleicht auch neue Menschen kennenzulernen, andere Gespräche zu führen – all das waren für sie keine Anreize. Um den Kopf freizubekommen, reichte ihr ein Spaziergang im nahen Umkreis, ebenso das Fernsehen, um etwas von der Welt außerhalb ihrer eigenen kleinen mitzubekommen. Ihr Ein und Alles waren ihre Eltern und ihr Kindergarten.