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Würde ist nicht gegeben, Würde entsteht, wenn Menschen andere würdigen und wenn sie von anderen gewürdigt werden. Das gilt für Männer wie Frauen. In seinem Buch wird Udo Baer an konkreten Beispielen von 20 Männern vorstellen, welche Erfahrungen sie mit Entwürdigung haben und wie sie den Weg der Würdigung beschreiten können. Thematisiert werden u.a.: Würde allein durch Leistung; Aufwachsen ohne Vatervorbild; Belastungen durch das Kriegserbe; die Pflicht, immer stark sein zu müssen; Opfer oder Täter; Verletzungen durch Mütter; Bewältigung von Traumata; Umgang mit Scham; das Damoklesschwert der Wirksamkeit; das Widerspiel der Werte; die Ambivalenz der Aggressivität …
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Seitenzahl: 327
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Udo Baer
Männerwürde
Laut und leise, stark und zart – ein Handbuch
Dieses Werk wurde vermittelt durch
Aenne Glienke | Agentur für Autoren und Verlage,
www.AenneGlienkeAgentur.de
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara
Umschlagkonzeption: Verlag Herder
ISBN ePub 978-3-451-82206-3
ISBN E-Book PDF 978-3-451-82469-2
ISBN Print 978-3-451-03277-6
1. Männer – Würde – Eigensinn
2. Entwürdigung und Männerwürde
„Es ist nie genug!“
Gewalt, Aggression, Würde
Giftige Atmosphären und die „Würde-Pause“
Die Leere in mir und die Leere um mich herum
Die zwei Leben: „Ich glaub, ich bin ein Fake.“
Vaterlos ohne Vater, vaterlos trotz Vater
Laut und leise, stark und zart
Dunkel und schwer
Leitplanken ohne Ausfahrt
Das ungelebte Leben, das leben möchte
Die Wirksamkeit und die Tomatensuppe
Die Dialektik der Werte: Leit-Sätze statt Leid-Sätze
Männerverachtung – Makel von Geburt an
Zigarettenpause ohne Zigarette – der Weg der Männerwürde ist Würde-Achtsamkeit
Mein Würde-Ich
Not – Ton
Dämonen und Kobolde, Engel und Bengel
Versöhnen
Das kleine und große Ja bzw. Nein
Verantwortung ohne Antworten
Zähne zusammenbeißen und Körperkult
Das gebrochene Herz
Kalte Erziehung
Gegen Druck hilft Drücken
3. Männergefühle
Haben Männer weniger Gefühle?
Das Kriegserbe in den Eltern und in uns
Beschämung und die Folgen: Annahme verweigert!
Schuld ohne Schuldgefühle, Schuldgefühle ohne Schuld
Dürfen Männer aggressiv sein?
Die Sehnsucht der Männer
Die geheimen Ängste der Männer
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Tränen?
Die Verwüstungen des Verrats
Die schleichende Müdigkeit
Trost für Ungetröstete
Herzens-Einsamkeit
Von der Sinnlosigkeit, vom Unsinn und vom Sinn
4. Wenn es in der Partnerschaft knirscht und bricht
Wenn die Resonanzen verrücktspielen
Wenn die (Ver-)Bindung nicht gelingt
Wenn ich mich missbraucht fühle
Wenn ich im Zeitkollaps gefangen bin
Wenn ich und andere nachtragend sind
Wenn die sexuellen Bedürfnisse im Ungleichgewicht sind
Wenn die Liebe still geworden ist
Wenn Sie Freundschaft vermissen
Anderen zuliebe, sich zuliebe, der Beziehung zuliebe
5. Männer-Fallen
Lösungen – sofort und perfekt
Ich will so werden, wie ich sein soll
Alle retten, außer sich selbst
Nur auf das Zuviel schauen
Sich nicht ernst nehmen. Körperlich und seelisch
Der passende Moment und der Friedensnobelpreis
Verzeihen?
Selbstoptimierung und Meinhaftigkeit: der Ich-Steckbrief
6. Väter, Söhne und Töchter: „Ich will ein guter Vater sein!“
Vater sein und Würde
Ich war auch Sohn
Ich bin Vorbild
Parteilichkeit
Liebe, Freude, Stolz
Handeln und Spielen
Vater-Sein in der Partnerschaft
Nähren, Spiegeln und ein Gegenüber sein
Vaterwürde – Kinderwürde
7. Der Weg der Männerwürde
Männliche Identität
Meine Wunden
Meine STOPP-Liste
Meine UND-Liste
Meine sieben Kostbarkeiten als Mann
Meine Belastungspyramide
Mein Starksein
Mein Weg der Männerwürde
Anmerkungen
Üben der Autor
Ich bin ein 71-jähriger Mann, der sich bis auf den heutigen Tag Neugier und Interesse und Freude an Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen aller Generationen bewahrt hat. Persönlich als Großvater von drei männlichen Enkeln und Vater einer Tochter und zweier Söhne. Beruflich als Pädagoge, Therapeut, Autor, Publizist: rund um Menschenwürde, spezifisch Kinderwürde, Würde alter und traumatisierter Menschen. Besonders in den letzten Jahren durfte ich erleben, wie groß das Bedürfnis von Männern ist (nicht nur in meinen Begegnungen mit einzelnen Männern, sondern auch in Gruppen), um ihre Würde zu ringen. Mir geht es vor allem darum, dass Männer sich das Recht nehmen, sich selbst ernst zu nehmen, auf sich zu achten und sich zu achten, sich in dem, was und wie sie sind, wertzuschätzen, zart, zärtlich und stark, laut und leise, streng und unsicher, wirksam und bedürftig … Kurz: eigensinnig zu sein im Sinne von eigen-sinnig, den Sinn für Eigenes entwickeln und ihm trauen.
Die Beschäftigung mit der Würde hat mein Leben verändert und kann auch Ihr Leben verändern. Und Ihre unmittelbare Lebensumwelt.
Das Ringen um die Männerwürde ist nicht leicht und wirft viele Fragen auf. Eine Kernfrage lautet:
„Ich bin meine Rollen. Ich bin meine Anstrengung. Wer ich eigentlich bin? Das weiß ich nicht.“
Viele Männer bemühen sich, die Erwartungen anderer zu erfüllen. „Ich gebe mir unheimlich Mühe, es allen recht zu machen. Auf der Arbeit, in der Familie, bei Freunden, im Sport, überall. Ob ich das an mir wertschätze? Keine Ahnung. Ist halt so.“ Das entspringt einem familiären und gesellschaftlichen Druck von außen, der zu einem inneren geworden ist, und gleichzeitig ihrer Wertschätzung für andere Menschen in Familie und Beruf. Doch: Wer schätzt sie wert? Das fragen sich viele. Diese Frage bleibt für viele Männer offen.
Das Wort „Würde“ entspringt demselben Wortstamm wie „Wert“. Würde ist der Wert, die Wertschätzung, die einem Menschen erwiesen wird. Die Wertschätzung vieler Männer für sich selbst ist verloren gegangen oder zumindest unsicher geworden. Denn Würde ist keine Eigenschaft, die einfach vorhanden ist, ist kein gegebenes Attribut, sondern ein Verb. Würde entsteht, wenn Menschen andere würdigen und wenn sie von anderen gewürdigt werden. Würde ist konkretes Würdigen oder nichts.
Das gilt für Männer wie für Frauen und andere Geschlechtsidentitäten. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist keine Zustandsbeschreibung, sondern, wie in den folgenden Paragrafen ausgeführt wird, ein Programm und ein Bekenntnis „zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“. Dieses Bekenntnis im Grundgesetz der Bundesrepublik und in den Verfassungen vieler anderer Staaten und der UN-Menschenrechtscharta entstand vor dem Hintergrund der grauenvollen systematischen Menschenrechtsverletzungen des Nationalsozialismus. Begründet wurden Menschenrechte und die Forderung, dass die Würde jedes Menschen als unantastbar anerkannt werden muss, in den bürgerlichen Revolutionen. Vorher war der Wert eines Menschen davon abhängig, wie viel Land oder Geld er besaß, welcher Religion er angehörte, ob er adelig war oder nicht usw. Nun hieß es, dass jeder Mensch ein Recht auf die Menschenrechte hat, einfach, weil er ein Mensch ist. Dass dagegen immer noch und häufig verstoßen wird, steht außer Frage. Insbesondere die Forderung nach Anerkennung der Menschenrechte für Frauen und Kinder, für Menschen mit Behinderung, für ethnische, religiöse und kulturelle Minderheiten, für die vielfältiger werdenden Minderheiten der sexuellen Orientierung etc. wird erst später laut.
Der programmatische Grundsatz, dass jeder Mensch ein Recht auf Würdigung hat, weil er ein Mensch ist, ist und bleibt revolutionär. Für ihn einzutreten, ist Grundlage dieses Buches. Insofern ist die Forderung nach Männerwürde keine wie auch immer geartete Reaktion auf die Frauenbewegung. Frauen werden seit Jahrhunderten – mehr oder weniger gewaltsam, mehr oder weniger perfide – unterdrückt und benachteiligt. Dass sie nicht müde werden, für ihre Rechte zu kämpfen, ist ermutigend für alle Menschen und alle genannten Minderheiten. Der Kampf um Leben und Würde unter der Parole „Black Lives Matter“, der sich im Sommer 2020 in den USA und anderen Ländern ausbreitet, ist sinnvoll, ja großartig. Er darf nicht verwässert und negiert werden, indem „All Lives Matter“ dagegengehalten wird, wie es einige Rassisten in den USA versuchen. Selbstverständlich zählen alle Menschenleben, selbstverständlich zählt die Würde aller Menschen. Wer aber über Jahrzehnte und Jahrhunderte besonders unterdrückt wurde, hat das Recht, in besonderer Weise darauf aufmerksam zu machen.
Für die Männerwürde einzutreten, ist keine Reaktion auf die Bestrebungen, für die Würde der Frauen, für ihre Würde zu kämpfen, sondern entspringt dem Leid von entwürdigten Männern. Dieses Leid existiert. Nicht bei allen Männern, aber bei vielen. Es verdient Respekt und Beachtung.
Ich bin in meiner therapeutischen Arbeit und meiner Seminartätigkeit zahlreichen Männern begegnet, die um ihre Würde ringen. Die Verunsicherung ihrer Würde entspringt oft Erfahrungen, die sie mit Entwürdigung gemacht haben. Wenn Sie sich damit beschäftigen, Ihren Weg der Würde gehen zu können, werden Sie wahrscheinlich auch den Erfahrungen der Entwürdigung begegnen. Meine Erfahrungen zeigen, dass es notwendig ist, sich den Erfahrungen der Entwürdigungen zu stellen, um den Weg der Würde zu gehen.
Ich werde in diesem Buch Männer mit ihren Erfahrungen der Entwürdigung vorstellen und beschreiben, welche Schritte sie auf ihrem Weg der Würde und der Würdigung gegangen sind, dass sie sich zumindest auf diesem Weg aufgemacht haben. Dies wird, so hoffe ich, eine Anregung für Sie, den Leser sein, Ihren eigenen Weg der Würde zu beschreiten. Denn die Formen der Entwürdigung und die Folgen sind so unterschiedlich, wie auch der Weg der Männerwürde differenziert sein muss, je nach Umständen, je nach biografischen Erfahrungen, je nach Persönlichkeit.
Gegenwärtig sind viele Männer verunsichert. Manche sind und bleiben Machos, die sich über Frauen, Kinder, Menschen mit anderen Geschlechtsidentitäten und andere Männer erheben, um zu herrschen, um über ihre Dominanz ihr eigenes Ich zu stärken. Andere passen sich an das an, was sie meinen, vor allem von der Frauenbewegung als Erwartung an sie verstanden zu haben – ein Versuch, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt ist, weil es „die“ Frauenbewegung nicht gibt –, erklären sich selbst zu Feministen und sind dabei in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Doch viele, die meisten Männer, die ich kenne, ringen um ihre Identität:
„Ich will kein Macho sein, aber wer bin ich dann?“
„Ich will meine Lust, mit (m)einer Frau, (m)einem Mann zu schlafen, zeigen. Aber wie darf ich das, ohne sie/ihn zu bedrängen oder zu erniedrigen?“
„Ich will nicht den Vorbildern der männlichen Superhelden folgen, aber wem dann?“
„Ich will die Frauenbewegung akzeptieren und mit ihr Solidarität zeigen, doch wo ist der Platz zwischen Feminismus und Machoarroganz? Wo ist mein Standort, mein Standpunkt? Was ist mein Weg?“
Ich selbst bin diesen Weg der männlichen Identitätssuche gegangen. Diese Suche ist nicht beendet. Ich brauche dazu auch die wohlwollende Unterstützung von Frauen, von den unterschiedlichen Menschen, und ich brauche andere Männer, die solidarisch sind. Ich benötige Worte, die das ausdrücken, was ich fühle und möchte, und ich brauche Anregungen. Worte und Anregungen möchte ich in diesem Buch zur Verfügung stellen. Nicht in abgeklärter Weisheit, sondern als Anregung, nicht als Forderung, sondern als Unterstützung. Das kann kleinere und größere Veränderungen bewirken, zumindest aber kann es helfen, sich selbst als Mann besser zu verstehen.
Ich werde mit der Erläuterung dessen beginnen, wie sich die Monster der Entwürdigung bei zahlreichen Männern, deren Namen selbstverständlich anonymisiert sind, zeigen und wie diese einen Anfang gefunden haben, um ihre eigene Männerwürde zu entwickeln. Danach werde ich mich mit einigen Querschnittthemen auseinandersetzen, die immer wieder auftauchen. Dazu gehört der Mythos, dass Männer weniger Gefühle haben als Frauen. Ich werde beispielhaft auf einige Gefühle von Männern eingehen und anregen, wie sie mit diesen Gefühlen angemessen umgehen können. Besonders oft wurde mir von Problemen in Partnerschaften berichtet, weshalb ich auch diesen ein Kapitel widme. Und schließlich werde ich auch einige Männerfallen beschreiben, Fallen, in die Männer häufig – wie ich an anderen und manchmal auch an mir beobachtet habe – hineintappen und damit ihre eigene Würde schädigen. Da viele Männer Väter sind und danach suchen, wie sie ihre Rolle als Vater würdigend ausfüllen können, werde ich im darauffolgenden Kapitel dazu von Erfahrungen berichten und einige Hinweise geben. Zum Schluss habe ich Vorschläge und Hilfen zusammengestellt, die Sie als Leser selbst sortieren und gewichten können, je nachdem, was Ihnen aktuell und individuell auf Ihrem Weg der Männerwürde eine Bereicherung sein könnte. Die einzelnen Themen lassen sich nicht immer eindeutig abgrenzen. Wenn es kleinere Überschneidungen gibt, bitte ich um Nachsicht. Wenn ein Scheinwerfer auf eine Person oder einen Gegenstand auf einer Bühne gerichtet wird, gerät oft auch das eine oder andere am Rande ins Licht.
Ich spreche in diesem Buch von „Männern“ und meine damit all jene, die sich in ihrer Selbstdefinition als Männer verstehen. Ihre Beziehungsmenschen (Frauen, Männer und andere Geschlechtsidentitäten) nenne ich in der Mehrzahl „Partnerinnen und Patner“. Und ich spreche in diesem Buch die Männer an, denen ihre Würde und die Würde ihrer Mitmenschen, denen ein würdiges und würdigendes Miteinander ein hohes Gut ist.
Ich bitte Sie, den Leser, darum, den Inhalt dieses Buches wie ein Buffet zu behandeln. Manches wird Ihnen schmecken, anderes nicht. Nehmen Sie auf Ihren Teller, was für Sie bekömmlich ist und was Sie, auch wenn Sie es nicht kennen, vielleicht einmal ausprobieren möchten. Nutzen Sie es als Handbuch. Ein Handbuch lädt ein, zu handeln. Ein Handbuch ermutigt, das Leben, Ihr Leben, in die Hand zu nehmen. Diese Entscheidungen und diesen Weg des Suchens müssen wir Männer, wenn wir uns und unsere Würde entwickeln wollen, alle gehen, weil es keine Patentrezepte gibt, so sehr wir uns manchmal nach einfachen Lösungen sehnen. Finden Sie Ihren Weg der Männerwürde! Es lohnt sich!
„Ich strenge mich mein Leben lang an“, sagt Steffen M., „aber es ist nie genug. Ich habe mich so angestrengt, ein guter Sohn zu sein, aber das ist mir nicht gelungen. Und jetzt strenge ich mich an, ein guter Vater und ein guter Ehemann zu sein. Ich strenge mich an, die Familie zu ernähren, und haue rein im Beruf, in der Arbeit, und das noch und noch, um allen anderen Sicherheit zu bieten. Und dann halte ich mich noch fit. Wenn ich von der Arbeit komme, soll ich entspannt und offen sein. Dabei bin ich einfach nur platt. Irgendwie hören diese Anstrengungen nie auf.“ Geht es Ihnen auch so? Finden Sie sich in etwa in dieser Aussage wieder? Ist es für Sie auch nahezu selbstverständlich, sich anzustrengen? So geht es meiner Erfahrung nach vielen Männern. Für viele ist die Anstrengung schon selbstverständlich. Sie werden streng, auch sich selbst gegenüber (in dem Wort „Anstrengung“ ist das Wort „streng“ enthalten). Und sie fühlen sich – wenn sie denn dieses Gefühl bzw. den Gedanken zulassen – in ihren Bemühungen und Leistungen nicht oder nicht genug gewürdigt:
„Ich habe den Eindruck, dass mich da niemand sieht, dass niemand ernst nimmt, dass ich so viel tue. Irgendwie bin ich nur noch auf Leistung, und diese Leistung wird gar nicht gesehen.“
Dass Steffen M. dies ausspricht, fällt ihm nicht leicht. Er will nicht jammern. Das gehört nicht zu seinem Selbstverständnis. Doch wenn Männer wie er sich überanstrengen und darunter leiden, dann ist Jammern der erste Schritt, dass sie anerkennen, was ist, dass sie würdigen, was ist, dass sie ihr Leiden ausdrücken und hörbar machen. „Würdigen, was ist“ – das ist eine Haltung, alle Aspekte des Lebens und Erlebens wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Steffen M. begann damit, an einem Seminar für Väter und Söhne teilzunehmen. Aussprechen, was ist, ist nicht einfach und widerspricht den bisherigen Rollenbildern, mit denen Steffen M. und viele andere Männer aufgewachsen sind. Doch es ist der notwendige erste Schritt der Veränderung.
Zur Würde gehört, dass jeder Mensch das Recht hat, gewürdigt zu werden, dass jeder Mensch wertvoll ist. Der Mensch hat auch einen Wert, wenn er nichts leistet. Der Druck, etwas leisten zu müssen, um wertvoll zu sein, ist ein Drama, das oft in der Kindheit entstanden ist und sich dann im Erwachsenenleben fortsetzt. Als Steffen M. hörte und begriff, dass er ein Recht auf Würde und Würdigung hat, auch ohne viel zu leisten, begann er zu weinen. Ein großer Druck begann von ihm abzufallen. Eine grundlegende tiefe Anspannung in ihm löste sich. Dies war der Anfang eines längeren Prozesses mit vielem Auf und Ab und vor allem mit Unterstützung durch andere.
Er leistete gern und übernahm gern Verantwortung. Für seine Familie und auf seiner Arbeitsstätte, auch in seiner Nachbarschaft. Doch er begann den Unterschied zu spüren, ob er dies freiwillig tat oder als „Muss“. Mit dem „Muss“ war er aufgewachsen, er hatte es eingeatmet wie die Luft seiner Umgebung. Für seine Eltern waren „preußische Disziplin“ und „Pflichterfüllung“ das Größte. Gegen diese soldatischen Tugenden lehnte er sich auf, indem er zum Entsetzen seiner Eltern den Wehrdienst verweigerte. Doch das „Muss“ des Leistens und der Verantwortungsübernahme war in ihn hineingesickert und geblieben. Er hatte sich so daran gewöhnt, dass es für ihn, seine Leistungen, keine positiven Rückmeldungen gab, dass er ins Leere ging und er nicht gewürdigt wurde, dass es ihm selbstverständlich geworden war. Das konnte und wollte er nun nicht mehr aushalten.
Nach einiger Zeit in diesem Prozess begann er seine Sehnsucht zu spüren und fand auch Worte dafür:
„Ich möchte einfach so geliebt oder zumindest akzeptiert werden, wie ich bin, und nicht nur, wenn ich etwas tue und mich maßlos anstrenge. Ich wünsche mir so sehr, dass jemand einmal sagt: ‚Es ist genug, was du tust. Es reicht.‘“ Ihm konnte jetzt auch einfallen, dass er das durchaus schon von anderen, ihm vertrauten Menschen gehört hatte, aber er war bisher nicht in der Lage gewesen, es in sich einsickern zu lassen.
Er würdigte die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit als Teil seiner Persönlichkeit: Ich bin derjenige, der viel leistet und viel leisten kann, viel für sich, die Familie und die Gesellschaft tut UND der darin seine Wirksamkeit fühlt und sich spürt UND sich wünscht, darin anerkannt zu werden. Ich will mich nicht wegbremsen, denn das tut mir auch nicht gut, UND ich will mein eigenes Maß finden. Dazu brauche ich andere.
Ben A. wurde als Junge regelmäßig verprügelt. Das Spektrum der Gewalt, der er ausgesetzt war, reichte von Ohrfeigen bis zu Schlägen mit dem Ledergürtel. Die Anlässe waren beliebig. Ein Fleck in der Hose. Ein Widerwort. Eine nicht gemachte Hausaufgabe. Ein Trödeln beim Essen … Vor allem der Vater hatte geprügelt.
So früh er konnte, verließ Ben A. sein Elternhaus und legte möglichst viel Distanz zwischen sich und die Eltern. Doch die Erfahrungen der Gewalt und deren Folgen blieben, wie bei allen Menschen. Gewalt ist eines der Monster der Entwürdigung. Gewalt hinterlässt Spuren. Es gibt Männer, denen als Kind Gewalt angetan wurde und die später selbst zu Gewalttätern werden. Sie leben das, was sie kennen. Sie wollen nie mehr Opfer werden und werden im Umkehrschluss Täter. Kommt dann noch Alkohol dazu, führt das zu einem Verhalten, von dem Polizisten sagen: „Gewalt ist männlich und alkoholisiert.“ Manche dieser Männer verrohen so sehr, dass sie ihr Selbstwertgefühl nur noch mit systematischer Gewalttätigkeit gegen schwächere Menschen, meist Frauen und Kinder, aufrechterhalten. Wenn sich, wie zum Beispiel die Ermittlungen in Bergisch-Gladbach ergeben haben, 30 000 Männer an einem Kinderporno-Netzwerk beteiligen, dann macht mich das Ausmaß trotz allem Wissen aus meiner therapeutischen und pädagogischen Praxis fassungslos.
Doch auch Frauen können gewalttätig sein und sind es. Das sind viel weniger als unter den Männern, doch einem siebenjährigen Jungen, der von seiner Mutter regelmäßig geschlagen wird, ist die Statistik egal – er leidet.
Ben A. wollte den Weg, seine Gewalterfahrungen weiterzugeben, nicht gehen. Er schwor sich, nie so zu werden wie sein Vater. Also wich er allen Konflikten aus und versuchte immer wieder, zu versöhnen und zu beschwichtigen. Er erdrückte alle aggressiven Impulse in sich. Seine Lebenshaltung bestand in chronischer Zurückhaltung, außer beim Sport. Dort tobte er sich aus.
Der Schwur, nicht so zu werden wie die Täter und dafür jede Aggressivität zu unterdrücken, ist ehrenhaft und viel würdevoller, als selbst zum Täter zu werden. Denn dieser Weg entwürdigt keine anderen Menschen. Doch er schadet den Männern selbst, die ihn eingeschlagen haben, zumindest auf Dauer. Zu viel und zu oft hat der Vater von Ben A. immer noch die Macht über Ben A.s Leben, indem er seine Verhaltensweisen und seine Gefühle massiv beeinflusst. Ben A.s Weg der chronischen Zurückhaltung ging bis hin zur Selbstverletzung. Denn er fesselte sich und schränkte sich in seinem Leben ein.
Wer wie Ben A. Aggressivität nur als verletzend und destruktiv erfahren hat, lehnt Aggressivität oft grundsätzlich ab oder wird selbst wahllos aggressiv. Doch aggressive Gefühle können nützlich sein, wenn sie in konstruktives Verhalten münden. Zorn gegen Gewalt, die anderen Menschen angetan wird, ist gerecht und gerechtfertigt. Aggressive Gefühle können die Würde der Menschen verteidigen und schützen. Sie können Veränderungen hervorrufen. Werden Aggressionen nicht gelebt, bleibt vieles beim Alten. Letzten Endes wendet sich die Aggressivität dann gegen den Menschen selbst, wie bei Ben A. Er war immer wieder krank und begann mit sich zu hadern. Er machte sich selbst Vorwürfe, dass er sein Leben nicht besser hinbekam, und begann zu trinken. Er fand aus seiner Rolle als Opfer nicht heraus, zumindest gelang ihm das nicht allein. Erst als er nach einem Entzug Hilfe annehmen konnte, löste er sich aus seiner Opferrolle, ohne zum Täter werden zu müssen.
Es gibt nämlich einen dritten Weg zwischen Opfer bleiben und Täter werden. Das ist der Weg der Würde, der Männerwürde. Viele Männer fragen: „Wenn ich die Wut in mir spüre und aggressiv werde, wenn ich mich über meine Partnerin (oder meinen Partner) ärgere oder mit einem Kollegen schimpfe oder mit meinem Chef, bin ich dann nicht doch so wie mein Vater, der mich immer verprügelt hat?“ Ich frage dann zurück: „Bitte überprüfen Sie und sagen Sie mir: Wenn Sie mit einem Kollegen ärgerlich sind und ihn kritisieren, entwürdigen Sie ihn dann? Machen Sie ihn fertig? Fügen Sie ihm Gewalt zu? Erniedrigen Sie ihn? Nur dann kann ich Ihnen eine Antwort geben.“ Die Frage wird fast immer verneint. Dann reden wir darüber, dass eine Aggressivität gelebt werden kann, die andere Menschen würdigt. Wir können jemandem achten UND ihn oder sie kritisieren, jemanden lieben UND auf ihn oder sie sauer sein. Wir können jemandem sagen: „Ich möchte, dass du dein Verhalten änderst“, oder: „Ich möchte, dass du dies und jenes nicht mehr tust“ – und dies kann respektvoll geschehen und nicht herablassend, entwürdigend, gewalttätig.
Das Kriterium für eine Aggressivität, die würdigt, ist die Würde. Das ist ganz einfach und doch schwer. Die Gewalt, die Ben A. erdulden musste, war maßlos. Er kannte von seinem Vater nur maßlose Aggressivität. Die wollte er nicht. Da blieb er lieber Opfer. Er musste entdecken, dass es ein Maß gab, an dem er sich orientieren konnte: die Würde. Das gelang ihm nicht allein, dazu brauchte er die Unterstützung anderer. Sein Gefühl für seine eigene Würde war so sehr aus ihm herausgeprügelt worden, dass es unter dem Geröll der Schmerzen und Verletzungen verschüttet war. Doch er beschritt suchend den Weg, seine Männerwürde zu entdecken. Immer wieder fragte er sich: Will ich das oder nicht? Mag ich das oder nicht? Was ist mir dieses oder jenes wert? Das bezog sich nicht nur auf „große“ Entscheidungen, sondern auch auf viele Kleinigkeiten. Dabei merkte er, dass er sich auch über manche Verhaltensweisen anderer Menschen ärgerte. Er konnte anfangs seinen Ärger nicht zeigen, zu sehr verunsicherte ihn dieses so lange verdrängte Gefühl. Doch auch da bemühte er sich mit Unterstützung anderer um Veränderungen: „Da gibt es einen Kollegen“, erzählt Ben A., „der ist faul. Er schiebt mir immer die Arbeit zu, die er nicht machen will. Und dem Chef gegenüber gibt er dann an und tut so, als hätte er alles erledigt. Ich hab das immer hingenommen und dachte, na ja, er kann nicht anders. Aber jetzt hat mich das immer mehr geärgert. Ich wusste erst nicht, was ich da machen sollte. Als mir jemand den Vorschlag machte, ich soll ihm das doch einfach sagen, was mich ärgert, war ich erstaunt: Einfach so ihm das sagen? Dann probierte ich es. Ich sagte ihm, dass ich mit ihm reden will. Da war er schon mal erstaunt. Dann sagte ich ihm, was mich ärgert. Und ich erklärte ihm, dass ich seine Faulheit nicht mehr decken würde. Seitdem ist es besser. Mal sehen, wie lange. Egal: Das hat mir viel Mut gemacht!“
Entscheidend für Männer wie Ben A. ist, dass sie mit der Ablehnung von Gewalttätigkeit nicht auch jede Aggressivität ablehnen. Konstruktive Aggressivität kann und sollte gelebt werden. Der Unterschied zu der destruktiven Aggressivität, zu der Gewalttätigkeit, die viele Männer erfahren haben, besteht darin, dass sie andere Menschen und ihre Unversehrtheit grundsätzlich respektiert, während die Gewalt, die die Männer in ihrer früheren und frühen Lebensgeschichte erfahren haben, erniedrigend und entwürdigend, ja manchmal nahezu vernichtend war.
Auch giftige Atmosphären sind Monster der Entwürdigung. Erwin C. erzählt zum Beispiel: „In meiner Familie habe ich immer gewusst, dass etwas nicht stimmt. Aber was nicht stimmte, war mir nicht klar. Ich war in allem unsicher, hatte aber keine Ahnung, warum. Ich habe als Kind manchmal gedacht, dass ich adoptiert bin und man mir das nicht sagt. Ich gehörte irgendwie nicht dazu. Erst als ich neunzehn war, hörte ich von einem Onkel, dass sich mein Vater umgebracht hatte, als ich zwei Jahre alt war. Ich hatte vorher immer nur gehört, dass er an einer Krankheit gestorben war. Dieser Suizid war das Tabu, das durch die Familie waberte. Darüber durfte nicht gesprochen werden. Mein Vater wurde zu einem Heiligen hochstilisiert, unerreichbar für mich, unerreichbar für alle.“
Familien, in denen es starke Tabus gibt, produzieren einen giftigen Nebel. In diesem Nebel mussten und müssen viele Kinder aufwachsen. Das erste Buch von Harry Potter wurde nicht nur so erfolgreich, weil fantasievolle Abenteuer beschrieben wurden, sondern auch wegen der Eingangsszenen. Harry wohnt in einer Familie und fühlt sich dort nicht wohl. Er gehört nicht dazu, wird beschämt und erniedrigt. Er ist sich sicher, dass er nicht das Kind dieser Familie ist, sondern andere Eltern hat, die irgendwie gerade damit beschäftigt sind, die Welt zu retten, und deswegen nicht bei ihm sein können. Diese Fantasie haben viele Kinder in der einen oder anderen Form. Harry Potter wird gerettet und aus der Familie mit der giftigen Atmosphäre geholt. Andere Kinder nicht.
Gerd L. wuchs als Junge in einer männerverachtenden Atmosphäre auf. Er sah die Verachtung in den Blicken der Mutter. Er hörte die Veränderung in der Stimme, wenn sie mit ihren Freundinnen redete und dann ihn ansprach. Und ihm wurde durch das Verhalten und die Worte der Mutter nahegebracht, dass alle Männer potenzielle Täter sind und dass er wie alle Jungs entsprechend erzogen bzw. umerzogen werden müsse. Er wusste als Erwachsener nicht mehr, ob er das direkt an sich gerichtet gehört hatte, aber ganz sicher im Gespräch der Erwachsenen untereinander. Und vor allem war die gesamte Atmosphäre so, dass ihm dies vermittelt wurde. Daraus folgte natürlich eine existenzielle Verunsicherung als Junge: „Ich bin falsch!“ – Das war das, was bei ihm ankam und sich verfestigte. Es beeinflusste sein Verhalten gegenüber Frauen. Immer, wenn ihm eine Frau gefühlsmäßig näherkam, wenn er nicht mehr cool sein konnte, war dies ein Trigger, ein Auslöser für die Gewissheit, falsch zu sein. Ganz egal, wie er sich verhält. Ganz einfach, weil er ein Junge war bzw. nun ein Mann ist. Einfach weil er biologisch männlich ist. Er vermied konkrete Begegnungen mit Frauen, die über kollegial-freundschaftliche Bekanntschaften hinausgingen, und baute sich stattdessen Idealbilder voller Sehnsucht, bis auch diese irgendwann in Resignation versanken.
Konstantin A. litt ebenfalls darunter, dass es ihm nicht gelang, gleichberechtigte Beziehungen zu Frauen zu leben. Immer wollte er mögliche Partnerinnen beschützen und vor irgendetwas retten, ob sie dies wollten oder nicht. Das rief bei ihnen Widerstand hervor. Eine sagte: „Ich habe schon eine Mutter. Dazu brauche ich dich nicht auch noch.“ In der Therapie stellte sich heraus, dass er als kleiner Junge miterlebt hatte, wie sein Vater seine Mutter schlug. Er sah dies und konnte seiner Mutter nicht helfen. Er war über das Verhalten seines Vaters fassungslos. In diesem Ereignis verdichtete sich die Atmosphäre, die ihn prägte. Die Gewaltandrohung war Bestandteil dieser Atmosphäre und engte sein Atmen ein. Er wollte retten und seine Mutter beschützen, und gleichzeitig war der Vater durch sein Verhalten als Vorbild weggefallen. Er selbst fühlte sich schwach und hilflos, weil er nicht retten konnte. Die Ohnmacht blieb.
Atmosphären sickern ein. Ihre Giftigkeit ist oft schwer zu identifizieren, sie ist nicht greifbar und bleibt diffus. Gleichzeitig werden die Männer durch giftige Atmosphären vernebelt. Manchmal ekeln sie sich vor sich selbst. Immer machen solche Atmosphären Druck, ohne dass man sie identifizieren oder sich wirklich gegen sie wehren kann.
Allen drei erwähnten Männern half es, diese giftigen Atmosphären zu erkennen und als giftig zu bewerten. Das braucht Zeit und vor allem guten Kontakt zu Menschen, denen die Männer vertrauen. Wir Männer müssen uns bei anderen vergewissern, dass wir die Atmosphären richtig wahrnehmen. Oft sind sie so nebulös und ungreifbar, dass wir unseren Wahrnehmungen allein nicht trauen können. Oft bemerken wir giftige Atmosphären daran, dass uns unwohl wird. Wir sollten unsere Allergie gegen solche Atmosphären akzeptieren, weil diese Allergie oft schon seit langer Zeit besteht. Wenn irgendetwas in die Nähe der Atmosphären gelangt, wenn wir auch nur Teilaspekte dieser Atmosphären spüren, reagieren wir, als wären wir noch Kinder, die diesen Atmosphären hilflos ausgesetzt sind. Deswegen hilft es, sich selbst zum Atmosphärenschnüffler zu erklären. Das, was oft als Schwäche ankommt, dass wir diese Atmosphären gut erkennen und auf sie reagieren, sollten wir auch als positiv bewerten und sagen: „Ja. Ich reagiere auf solche Atmosphären allergisch und muss dies nutzen, um sie zu identifizieren.“ Um die eigene Würde wiederzugewinnen, ist es hilfreich, das, was die Atmosphären hervorruft, auch wirklich ernst zu nehmen.
Dann gilt es, sie zu meiden. So schnell und so gut es geht. Das ist nicht immer einfach. Da reagiert jeder Mann anders und nimmt individuell unterschiedliche Wege. Doch um die Atmosphären zu meiden, ist es notwendig, sie überhaupt erst zu identifizieren. Danach können weitere Schritte folgen. „Ich hab ziemlich schnell den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen“, erzählt Konstantin A. „Ich hab das irgendwann einfach aufgegeben. Vor einem Jahr hab ich wieder mal versucht, mich mit ihm zu treffen. Aber das ging gar nicht. Mir wurde nur schlecht, und ich wollte wegrennen. Auch sonst merke ich, dass etwas nicht stimmt, wenn mir übel wird. Manchmal merke ich das erst im Nachhinein. Egal, wann ich es merke: Es ist ein Zeichen, dass etwas giftig ist. Und dann bin ich weg. Das ist manchmal vielleicht zu schnell, aber es stimmt.“
Konstantin A. hat gelernt, giftige Atmosphären zu meiden. Das war schwierig und erfolgreich. Doch noch schwieriger war es für ihn, sich auf gute Atmosphären einzulassen. Es war so gewohnt, sich vor dem Gift zu schützen, dass er oft wie unter Hochspannung stand und nur sich selbst vertraute. Anderen zu vertrauen und sich auf sie einzulassen, fiel ihm zunächst schwer. Er witterte Verrat, Lüge, Vertuschung, Täuschung und anderes Gift. Das konnte er nicht einfach abstellen. Warum auch, sein Misstrauen hatte ihm geholfen, bis hierhin seelisch zu überleben. Auf dem neuen Weg wurde auch ihm seine Würde zu einem wichtigen Kompass: „Ich habe gelernt, meine Würde zu spüren. Am besten geht das, wenn ich meine Hand auf mein Herz lege und zwei, drei Atemzüge Pause mache. Wenn mir irgendetwas komisch vorkommt oder ich unsicher werde, dann mache ich meine ,Würde-Pause‘, wie ich sie nenne. Und dann weiß ich, was Sache ist. Was für mich gut ist.“ So fand er Kontakte mit anderen Menschen, die er als wahrhaftig erlebte. Letztlich war dieser Prozess eine Suche nach neuen Atmosphären, nach Atmosphären, die nicht giftig sind, sondern stärkend und würdigend.
Wenn ein Mann zum Beispiel eine Woche lang intensiv gearbeitet hat mit vielen Kontakten zu anderen Menschen, mit zahlreichen Aufgaben und Pflichten, dann sehnt er sich oft am Wochenende nach Leere: „Keine Mails, keine Anrufe, mit nichts mehr etwas zu tun haben, einfach frei und leer sein und leer werden …“ Diese Leere ist eine positive Sehnsucht – doch um sie geht es hier und jetzt nicht. Es geht um eine Leere, unter der Männer leiden, wie dies schon im Kapitel „Es ist nie genug!“ anklang.
Adam J. erzählt aus seiner Kindheit: „Wenn ich etwas gesagt habe, wurde mir nicht zugehört. Ich kam mir vor, als würde ich immer übersehen werden, als wäre ich nicht da.“
Wenn Kinder in der Leere aufwachsen, ins Leere greifen, dann entsteht in ihnen das Gefühl, dass sie es nicht wert sind, beachtet zu werden. Das ist dann nicht Erholung, sondern eine entwürdigende soziale Erfahrung. Wer überhört und übersehen wird, wer seine Arme nach Menschen ausstreckt, die ihn unterstützen und beschützen sollen, aber ins Leere greift, leidet als Folge solcher Erfahrungen oft dauerhaft. Ins Leere zu gehen ist wie das Aufwachsen in Gewalt ein Monster der Entwürdigung.
Manche Männer strengen sich an, wollen erzwingen, dass sie bemerkt und gewürdigt werden. Sie kämpfen und versuchen, möglichst viel zu leisten. Andere resignieren, geben auf, werden depressiv. Wieder andere versuchen, die Leere mit anderem zu füllen, oft mit Alkohol, mit übermäßigem Essen, mit sportlichem, zwanghaftem Training, mit immer neuen Sexualkontakten.
Dirk S. zum Beispiel war in vieler Hinsicht fähig und kompetent. „Ich habe vieles in meinem Leben fast geschafft. Immer wenn ich kurz davor war, dass mir etwas gelingt, kam mir etwas dazwischen. Manchmal wurde ich krank, manchmal gab ich auf, als ob ich Angst vor dem Erfolg hätte.“
Auch er hatte die Erfahrung gemacht, ins Leere zu greifen, und dann daraus ein Gefühl der Wertlosigkeit entwickelt, das immer mal wieder Macht über ihn gewann. Dieses Gefühl bestimmte nicht sein Leben. In mancher Hinsicht gelang ihm einiges, und er fühlte sich nicht grundlegend wertlos. Doch wenn es um den Erfolg ging, dann schlug die Leere zu, und in ihm wuchs das Gefühl der Wertlosigkeit als Reaktion auf dieses Monster der Entwürdigung. „Ich sollte einmal für meine Firma ein Zukunftskonzept entwickeln, für einen wichtigen Bereich. Ich recherchierte und dachte nach und schrieb. Verschiedene Szenarien, Versionen und Optionen, alle mit Für und Wider. Ich war richtig stolz. Ich wäre damit groß rausgekommen und sicher befördert worden. Doch dann wurde ich unsicher, je näher ich dem Abschluss kam. Ich begann zu zweifeln, ob das denn stimme, was ich entwickelt hatte, ob das nicht zu banal sei, ob ich mich nicht überschätze und ein Blender sei. Dann griff ich wieder zum Alkohol oder versank im Selbstmitleid. Zumindest schaffte ich es nicht, das Konzept zu Ende zu bringen, obwohl nur noch fünf Prozent fehlten. Ich wurde wieder zu einem Versager auf der ganzen Linie.“
Nur mit seinem Willen allein kam Dirk S. nicht weiter. Er musste sich erst mit seinen Erfahrungen der Leere auseinandersetzen und akzeptieren, dass sie in seinen Erfahrungen und seinem Erleben existierte.
Die Leere ist eine Erfahrung zwischen den Menschen. Eine soziale Erfahrung. Wenn ich nicht gehört werde, hört mich kein anderer Mensch. Wenn ich übersehen werde, machen mich andere Menschen zum Nichts. Wenn ich mich an einen anderen Menschen anlehnen möchte, und da ist niemand, ist das eine soziale Erfahrung. Ich rede deshalb auch von Beziehungsleere. Die Leere zwischen den Menschen hat oft die Auswirkung, dass sie auch zu einer inneren Leere wird: „Es ist so, als hätte ich zwei Schichten von Ichs“, sagt Dirk S. „Auf der Oberfläche ist viel da, im Alltag, in der Familie und im Beruf. Doch darunter ist so eine Leerstelle, so ein Loch. Da gucke ich nicht gerne hin. Das spüre ich auch nicht gerne, weil mir das Angst macht. Da verliere ich mich. Da habe ich Angst, mich aufzulösen. Ich versuche mich dann abzulenken. Aber das gelingt immer seltener.“
Die Leere zwischen den Menschen kann, wie gesagt, zu einer inneren Leere werden. Darunter leiden viele Männer. Manchmal wissen sie dann nicht mehr, wer sie sind und was sie wollen. Zumindest greift diese innere Leere oft in den Alltag hinein und schränkt ihre Lebensmöglichkeiten massiv ein.
Wenn wir Männer ab und zu mal ins Leere gehen, können wir das mehr oder weniger gut verkraften. Es entsteht ein unangenehmes Gefühl und ruft vielleicht Ärger oder Traurigkeit hervor. Doch viele von uns haben die Erfahrung der Leere nicht nur gelegentlich machen müssen, sondern wiederholt. Für manche ist die Erfahrung der Leere eine prägende Beziehungserfahrung geworden. Das hat Folgen wie bei Dirk S. Wie genau diese Folgen sich bemerkbar machen, ist unterschiedlich. Johannes N. zum Beispiel teilt mit: „Ich habe früher ab und zu mal in Pornos reingeschaut. Das war anregend und kein Problem. Wahrscheinlich war es einfacher für mich, als eine Frau anzusprechen. Jetzt ist das wie eine Sucht geworden. Ich komme davon nicht mehr los. Das wird schal, Sex ohne Anfassen reicht mir eigentlich nicht. Aber ich bleib da oft stundenlang vor dem PC …“ In der Therapie stellte sich heraus, dass die Pornosucht von Johannes N. weniger mit Sex zu tun hatte als mit seinen Leere-Erfahrungen. Die Pornografie schafft das Risiko ab, gegenüber anderen ins Leere zu gehen und verletzt zu werden. Sie gaukelt vor, dass immer alle zu allem bereit sind. Und gleichzeitig hinterlässt sie in den Männern mit Leere-Erfahrungen und Beziehungssehnsucht meist ein Gefühl der Leere, zumindest auf Dauer.
Wenn Männer sich mit ihren Leere-Erfahrungen beschäftigen, geschieht oft zweierlei. Viele sind erschrocken. Sie denken: „Kann das denn wahr sein?“ oder „Kann das denn stimmen, was ich spüre und woran ich mich erinnere?“ Und gleichzeitig öffnen sich oft viele Türen des Verstehens. Sie erkennen Zusammenhänge zwischen ihrem Denken, Fühlen, Verhalten und ihren Lebenserfahrungen mit und in der Leere. Das fördert das Verständnis für sich selbst.
Was hilft? Als Erstes ist es sinnvoll, diesen Zusammenhang zu verstehen. Kein Mensch schaut gerne auf die innere Leere. Doch wenn man weiß, welche starken Auswirkungen sie hat, welche Lebenskraft sie abzieht, dann fällt dies leichter, zumindest in vertrauensvoller Begleitung.
Dann ist es wichtig, zu begreifen, dass die innere Leere aus Leere-Erfahrungen mit anderen Menschen entstanden ist. Es müssen nicht immer nur die Eltern sein, die dafür die Verantwortung tragen. Solche Erfahrungen gibt es auch in anderen familiären Kontexten, auch in der Schule, auch mit Partnerinnen und Partnern. Männer mit solchen Erfahrungen sollten, meine ich, Beziehungen so gut wie möglich meiden, in denen sie nicht gesehen und gehört werden und wo sie sich nicht an andere Menschen anlehnen können und ins Leere greifen. Und umgekehrt tut es gut, nach Menschen zu suchen, die einen sehen und hören, die greifbar sind. Diese Menschen müssen Ihnen nicht in allem zustimmen, was Sie meinen, und Ihnen nicht jeden Wunsch erfüllen. Aber sie sollten sich mit Ihren Wünschen und Meinungen ernsthaft und gerne auseinandersetzen und Ihre Persönlichkeit nicht zu einer Leerstelle machen.
Außerdem hilft es, konkret zuzugreifen, gewissermaßen greifen zu üben. Beschäftigen Sie sich mit Dingen, die Sie verändern können. Mit Holz, mit Ton, mit Stoff, mit all dem, was greifbar ist und was Sie fassen können. Solche Erfahrungen sind insbesondere als erster Schritt sehr nützlich, wenn die Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen auf dem Hintergrund der Leere-Erfahrungen verkümmert sind. Meist fällt es leichter, nach einem Schraubenschlüssel oder einem Stück Holz zu greifen als nach einer anderen Person. Wir wissen aus der Kunsttherapie und anderen Bereichen, wie sehr Menschen ihre Selbstwertschätzung und -sicherheit stärken, wenn sie nach etwas Handfestem greifen. Sie nehmen auch im übertragenen Sinn etwas „in die Hand“ und sind nicht mehr ausgeliefert. Greifen hilft auch beim Be-Greifen. Auch Kinder entdecken ihre Welt, indem sie vieles anpacken, mit den Händen, dem Mund, den Füßen, je nach Alter. Sie erfahren damit, dass sie wirksam sind, etwas bewirken können. Diese Erfahrung nehmen sie dann mit in die Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen. Erfolgserlebnisse des Greifens fördern so die Beziehungskompetenz.
Ein weiterer Hinweis: Um der inneren Leere zu begegnen, um ihr etwas entgegenzusetzen, ist es sinnvoll, sich selbst Achtsamkeit zu schenken, sich den inneren Prozessen zuzuwenden, jede Regung so gut wie möglich ernst zu nehmen. Den Rat anderer: „Achte auf dich!“ anzunehmen, ist, wenn er ernst und wohlwollend und nicht abwiegelnd gemeint ist, richtig, Ja, das sollten wir tun. UND wir sollten uns nicht nehmen lassen, auch auf die anderen Menschen zu achten, UND vor allem sollten wir drittens den Beziehungen Achtsamkeit schenken. Wir sollten uns nicht nur fragen: Was brauche ich gerade? Oder: Was braucht die andere Person, mit der ich in Beziehung stehe? Sondern auch: Was braucht die Beziehung? Was kann ich für die Beziehung tun? Damit können Sie eine große Strecke auf dem Weg zur Männerwürde zurücklegen und sich selbst, die anderen und die Beziehungen bereichern. Das ist Ihre Alternative dazu, die althergebrachte Erfahrung, ins Leere zu gehen, als selbstverständlich zu akzeptieren und zu wiederholen. Geben Sie sich die Chance, andere Beziehungserfahrungen zu machen, indem Sie Beziehungen und Begegnungen würdigen.