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Meinhaftigkeit, Einhausen, Resonanz das sind Begriffe Kreativer Leibtherapie, die in diesem Buch erläutert werden. Sie haben für die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen große Bedeutung. "Endlich ist es da, d a s Lehrbuch für Kreative Leibtherapie! […] Therapeut/innen haben es mit "Endlich ist es da, d a s Lehrbuch für Kreative Leibtherapie! […] Therapeut/innen haben es mit Menschen zu tun und deren persönlichem Leid, ihrem Erleben. Deswegen stellt dieses Buch Theorien, Modelle und Methoden zur Verfügung, die der jeweiligen Wirklichkeit des Menschen angepasst werden können und somit helfen, den eigenen, individuellen Weg zur Veränderung zu finden." Eva-Maria Lütkemeyer, Vorsitzende der Assoziation Kreativer Leibtherapeut/innen (AKL), August 2012
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SEMNOS LEHRBUCH
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www.semnos.de
Udo Baer
Kreative Leibtherapie. Das Lehrbuch
Neukirchen-Vluyn:
Semnos Verlag 2012 / 1. Auflage
ISBN 978-3934933-37-8
© 2012 Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Elke Renz
Satz: TRITUM GmbH, Jena
Umschlaggestaltung: Christin Ursprung, Berlin
Titelfoto: jala / photocase.com
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
SEMNOS LEHRBUCH
Udo Baer
Kreative Leibtherapie Das Lehrbuch
SEMNOS
Udo Baer (Neukirchen-Vluyn – Jg. 1949)
Dr. phil., Dipl. Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mitbegründer, Geschäftsführer und Gesamt-Ausbildungsleiter der Zukunftswerkstatt therapie kreativ, Vorsitzender der Stiftung Würde, wissenschaftlicher Leiter des Institut für Gerontopsychiatrie (IGP) und des Kompetenzzentrums für Kinder und Jugendliche (KKJ), Autor.
Inhalt
1 Einführung − und was man vor dem Lesen wissen sollte
2 Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie
2.1 Der Leib
2.1.1 Annäherung und Begriff
2.1.2 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Geist”
2.1.3 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Körper”
2.1.4 Die Spaltung und ihre Aufhebung: Leib und „Umwelt”
2.1.5 Das Menschenbild der humanistischen Psychologie und das einfache Leibmodell der Kreativen Leibtherapie
2.2 Die Leibqualitäten
2.2.1 Meinhaftigkeit
2.2.2 Subjektivität
2.2.3 Räumlichkeit
2.2.4 Zeitlichkeit
2.2.5 Pulsieren
2.2.6 Zentralität
2.2.7 Intentionalität
2.2.8 Wirksamkeit
2.2.9 Zwischenleiblichkeit und Resonanz
2.2.10 Ähnlichkeit
2.3 Musterbildung und Leiblichkeit
2.4 Das Leibgedächtnis
2.5 Das ungelebte Leben
2.6 Person: Leiblichkeit und Exzentrizität
2.7 Person: Lebenswelt und Selbstbewusstsein
2.8 Die Dialektik der Leiblichkeit
2.9 Das Wunder des Ausdrucks – Leibtherapie ist Kreative Therapie
3 Muster
3.1 Muster und ihr Sinn
3.1.1 Begriffsklärung: Muster
3.1.2 Musterqualitäten
3.2 Muster und Diagnostik
3.2.1 Die phänomenologische Methode
3.2.2 Die phänomenologische Untersuchungsmethode
3.2.3 Leiborientierte Diagnostik
3.3 Musterbildung
3.3.1 Leiborientierte Entwicklungspsychologie
3.3.2 Leiblichkeit und kindliche Entwicklung
3.3.3 Die sieben Lebensherausforderungen
4 Komplexe Theoriemodule: the Big Ten
4.1 Die Zimmer der Big Ten und ihre Zugänge
4.2 Erregungskonturen
4.2.1 Ein Modell des Erlebens
4.2.2 Diagnostik
4.2.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.3 Pulsierende Räumlichkeit und Verraumen
4.3.1 Ein Modell des Erlebens
4.3.2 Diagnostik
4.3.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.4 Bedeutungsräume
4.4.1 Ein Modell des Erlebens
4.4.2 Diagnostik
4.4.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.5 Affektive Regungen
4.5.1 Modelle des Erlebens
4.5.2 Diagnostik
4.5.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.6 Richtungs-Leibbewegungen
4.6.1 Modelle des Erlebens
4.6.2 Diagnostik
4.6.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.7 Konstitutive Leibbewegungen
4.7.1 Ein Modell des Erlebens
4.7.2 Diagnostik
4.7.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.8 Primäre Leibbewegungen
4.8.1 Ein Modell des Erlebens
4.8.2 Diagnostik
4.8.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.9 Tridentität
4.9.1 Ein Modell des Erlebens
4.9.2 Diagnostik
4.9.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.10 Körpererleben: Leibinseln, Körperbild, Körperschema
4.10.1 Ein Modell des Erlebens
4.10.2 Diagnostik
4.10.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
4.11 Resonanzen
4.11.1 Ein Modell des Erlebens
4.11.2 Diagnostik
4.11.3 Therapeutik – Wege der Veränderung
5 Exemplarische Pathologie
5.1 Affektive Störungen, Depression
5.2 Schizophrenie
5.3 Persönlichkeitsstörungen
5.4 Suchterkrankungen
5.5 Angst-/Zwangsstörungen
5.6 Traumafolgen
5.7 Die vier Monster, die drei Leeren und die olympischen Ringe
6 Einige besondere Aspekte leibtherapeutischer Prozesse
6.1 Die Ich-Du-Perspektive und die therapeutische Beziehung
6.2 Spiel, Experiment, Coping
6.3 Perspektiv- und Haltungswechsel und Verwandlungsprozesse
6.4 Zwischenleiblichkeit und leibliche Berührung
6.5 Integration, Verstehen und Verständnis
6.6 Macht und Klient/innen-Kompetenz
6.7 Übertragung, Szene, Gegenübertragung
6.8 Modi und Interaktionen
6.8.1 Therapeutisches Handwerkszeug: Sharing, Feedback, Fragen
6.8.2 Therapeutische Interaktion nach dem Tridentitätsmodell
6.8.3 Die drei Modi der therapeutischen Begegnung
6.9 Anti-Ideologie: Ideale, Haltungen und Werte
7 Weitere Quellen
7.1 Neurobiologie
7.1.1 Neurobiologie und Körperbild
7.1.2 Neurobiologie und Erregungskonturen
7.1.3 Neurobiologie, Spiegelneuronen und Resonanz
7.1.4 Neurobiologie und Verraumen
7.1.5 Neurobiologie und Menschenbild
7.1.6 Neurobiologie und Veränderung
7.2 Was den Künsten innewohnt
8 Kreative Leibtherapie als Verfahren tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie
9 Würde und würdigen: Kreative Leibtherapie und Gesellschaft
Literaturverzeichnis
Stichwort- und Personenverzeichnis
Dieses Lehrbuch erscheint zum 25. Jahrestag der Gründung der Zukunftswerkstatt therapie kreativ bzw. ihrer Vorläuferin, der „Zukunftswerkstatt Tanz e.V.” im Jahr 1987. Zwei Jahre zuvor hatten sich meine Frau Gabriele Frick-Baer und ich sowie einige Kolleg/innen aus dem sozialpädagogischen Bereich zusammengetan, um die Zukunftswerkstatt e.V. zu gründen. Wir alle arbeiteten damals in sozialen Berufen, überwiegend bei Wohlfahrtsverbänden, und waren es irgendwann überdrüssig, uns selbst und andere immer wieder sagen zu hören: „Man müsste mal …” Um dieses „Man müsste mal …” nicht immer wieder in die ferne Zukunft zu verschieben, sondern die Gestaltung der Zukunft in der Gegenwart anzupacken, gründeten wir die Zukunftswerkstatt e.V. Wir waren neben unseren sozialen Berufstätigkeiten alle kreativ tätig, im tänzerischen und musikalischen Bereich, im Theater, in der künstlerischen Gestaltung, und machten dabei zahlreiche und intensive Erfahrungen, wie der künstlerische Prozess das Erleben und Verhalten verändern kann. Wir wollten dies für unsere sozialen Projekte nutzbar machen und mit unseren sonstigen Aktivitäten verbinden.
Von Therapie war in diesem Zusammenhang noch kaum die Rede, auch wenn meine Frau und ich uns damals in therapeutischen Ausbildungen befanden bzw. diese absolviert und therapeutische Erfahrungen gesammelt hatten. Viel gesprochen wurde aber schon von Werten wie Aufrichten, Beziehung und Würde.
Mit der Zukunftswerkstatt e.V. gründeten wir zahlreiche Projekte: ein Gesundheits- und Bewegungszentrum im Duisburger Norden, in dem wir mit schwer sozial benachteiligten Menschen gesundheitsfördernde Angebote durchführten (z. B. „Herzbegleitung” für Menschen nach einem Herzinfarkt, „Rund um die gestresste Wirbelsäule” für Menschen mit Rückenbeschwerden, „Anti-Kopfschmerz-Gruppen”). Wir gründeten eine mobile Orientierungsschule für altersverwirrte Menschen, in der wir Konzepte erarbeiteten und erprobten, Elemente des Tanzes und der Musik in die Arbeit mit Demenzkranken zu bringen. (unter dem Motto „Ich bewege mich – ich lasse mich bewegen”). Wir verknüpften Berufsfortbildungen für türkische junge Frauen mit tänzerischen Angeboten, die im geschützten Rahmen das Selbstbewusstsein stärken halfen). Weil die Erfahrungen dafür sprachen, wurden wir immer mutiger darin, therapeutische Elemente in unsere sozialpädagogische Arbeit zu integrieren, zum Beispiel mit schwer psychisch erkrankten Menschen. Dabei merkten meine Frau und ich, dass vieles von dem, was wir sowohl im Studium als auch in den therapeutischen Aus- und Fortbildungen gelernt hatten, nicht ausreichend „passte” und wir neue Methoden entwickeln mussten. Wir brauchten schließlich auch mehr Kolleginnen und Kollegen, die diese und viele andere Projekte durchführen konnten, und schufen dafür eine einjährige Vollzeitfortbildung, die vom damaligen Arbeitsamt finanziert wurde: die Tanz-Sozialtherapie. Dafür wurde schließlich die Zukunftswerkstatt Tanz e.V. gegründet. Die Ausweitung von deren Aktivitäten auf andere künstlerische Schwerpunkte fand schließlich in der Namensänderung zu „Zukunftswerkstatt Tanz Musik Gestaltung” ihren Ausdruck, bis sie letztendlich mit ihrer zunehmenden Ausrichtung zum Ausbildungsinstitut für leiborientierte Therapie in die „Zukunftswerkstatt therapie kreativ” umbenannt wurde.
Wir verschwendeten in diesen Anfangsjahren keinen Gedanken daran, neue therapeutische Modelle oder gar Verfahren schaffen zu wollen. Das wurde im Laufe der Zeit anders, weil wir unsere Erfahrungen und damit die Notwendigkeiten der Anpassung der Theorie an unsere Praxis nicht ignorieren konnten. In den Anfangsjahren verstanden sich meine Frau und ich als kreative Gestalttherapeut/innen, fußend auf unsere von uns geschätzten Ausbildungen beim Fritz-Perls-Institut, die durch zahlreiche andere Inputs fachlich ergänzt wurden, die wir uns zielgerichtet suchten. Basierend auf den Wurzeln einer humanistischen Psychotherapie bestand der Schwerpunkt unseres Interesses darin, Elemente all dieser therapeutischen und kreativen Kompetenzen für das soziale, pädagogische und Gesundheitsfeld nutzbar zu machen. Wir wussten, dass die Möglichkeiten des Tanzes, des Musizierens und der künstlerischen Gestaltung dazu einladen, Erfahrungen leiblicher Veränderungen zu machen. Wer einmal in einer Theatergruppe intensiv erlebt hat, wie es ist, aufrecht und würdevoll durch die Welt zu schreiten, wird sich nicht mehr mit der geduckten Haltung begnügen. Wir erlebten, dass Menschen mit Demenz, die mit Worten nicht oder kaum noch ansprechbar waren, über kreative Dialoge Fähigkeiten zeigten, die niemand mehr vermutet hätte. Doch all solche Erfahrungen und Veränderungsprozesse zu begleiten, bedurfte therapeutischer Kompetenzen, die über die künstlerischen Fähigkeiten hinausgingen. Wir nannten diese Kompetenzen, die wir entwickelten und vermittelten, damals Kreative Sozialtherapie und initiierten dafür auch die Gründung eines Verbandes gemeinsam mit anderen Ausbildungsinstituten, die in den 90er-Jahren Therapie für die Arbeit im sozialen Feld nutzbar machen wollten.
Die Erweiterung unserer Praxis im Gesundheitsbereich sowie im Bildungsund Sozialwesen konfrontierte uns in der Folgezeit mit zwei Schwierigkeiten. Die erste bestand darin, dass wir oft mit dem uns zur Verfügung stehenden methodischen Repertoire nicht zufrieden waren und neue Wege beschreiten mussten. Wir gaben uns auch nicht damit zufrieden, wie es damals üblich war, kreative Methoden vor allem als Warm-Ups zu benutzen, um dann die „eigentliche” therapeutische Arbeit mit den klassischen Methoden der Gestalttherapie oder anderer Verfahren durchzuführen. Wir waren uns sicher und die Erfahrungen bestätigten uns, dass in den künstlerischen Prozessen viel mehr therapeutisches Potential vorhanden war, als damals genutzt wurde, und versuchten, dieses zu entwickeln. Die zweite Schwierigkeit bestand darin, dass im zunehmenden Maße die theoretischen Modelle mit den Erfahrungen, die wir machten, nicht mehr übereinstimmten. Viele Worte passten nicht und wir suchten neue Begriffe. Viele Erklärungszusammenhänge und handlungsleitende theoretische Modelle erwiesen sich bezogen auf unsere Erfahrungen als unzureichend. Dies umso mehr, als unsere Aktivitäten sich damals verstärkt auf das Feld der Psychotherapie erweiterten und nun auch Angebote im klinischen Kontext stattfanden.
So fand dieser Entwicklungsprozess um das Jahr 2000 herum seinen Ausdruck darin, dass wir unseren Ansatz als „Kreative Leibtherapie” bezeichneten. Die Bezeichnung „kreative Gestalttherapie” passte nicht mehr, wir hatten uns aus der Gestalttherapie heraus entwickelt. Parallel dazu hatte sich das theoretische Konzept des Fritz-Perls-Instituts zur Integrativen Therapie entwickelt und das FPI sich in seinem Selbstverständnis aus der humanistischen Psychologie verabschiedet – ein Weg, den meine Frau, ich und unsere engsten Kolleg/innen nicht mitgehen wollten. Wir publizierten Praxisberichte und theoretische Beiträge auch unserer Kolleg/innen und Fortbildungsteilnehmer/innen 15 Jahre lang in unserer Zeitschrift (erst „Sozialtherapie”, später „therapie kreativ”) und gaben Sammelbände wichtiger Artikel heraus. 1999 erschien schließlich mein erstes Fachbuch („Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder ...”), das nicht nur ein Sammelband war, sondern unseren damaligen theoretischen Stand beschrieb und vor allem die von mir entwickelten kunst- und gestaltungstherapeutischen Methoden vorstellte. In die späteren Auflagen (und die folgenden Fachbücher) flossen die nach der Erstausgabe entwickelten leibtherapeutischen Modelle ein.
Ich war vorher schon intensiv auf der Suche nach einer für uns und in sich stimmigen Theorie gewesen und fand 2000 mit dem damals erschienen Buch „Leib-Raum-Person” von Thomas Fuchs einen uns überzeugenden philosophischen Boden. Hier und im Gefolge dessen in zahlreichen anderen Werken der Leibphänomenologie, die wir teilweise über die Auseinandersetzung mit dem Leibbegriff Hilarion Petzolds kannten, aber jetzt noch einmal in dem neuen Kontext studieren konnten, fanden meine Frau und ich Ansätze und Begrifflichkeiten, um unsere praktischen Erfahrungen in Worte zu fassen. Diese leidenschaftliche Auseinandersetzung war ein Ringen um Worte, die den inneren Zusammenhang dessen, was wir praktisch-therapeutisch taten, ausdrückten. Wir merkten, dass mit jeder „gelingenden” Begrifflichkeit auch unsere Praxis besser wurde und wir uns Klient/innen wie auch Teilnehmer/innen unserer Fortbildungen verständlicher machen konnten. Parallel beschäftigte ich mich mit der modernen Neurobiologie, der Säuglingsforschung und der sonstigen Entwicklungspsychologie und arbeitete die Erkenntnisse heraus, die für die therapeutische Praxis und Theoriebildung relevant und nützlich waren und sind. Gleichzeitig setzten meine Frau und ich unsere eigenen Untersuchungen zu den Erlebensprozessen künstlerischer Aktivitäten fort, um das Potenzial zu benennen und therapeutisch zu nutzen, das künstlerischen Prozessen innewohnt. All dies fand seinen Niederschlag in den nach 2001 erschienenen Lehr- und Studienbüchern, wobei sich unser Ansatz der „Kreativen Leibtherapie” immer mehr herausschälte.
Im Jahr 2011 entstanden der Wunsch und die Aufforderung, die Modelle und theoretischen Grundlagen der Kreativen Leibtherapie zusammenzufassen und als Lehrbuch zu veröffentlichen, das nun, 2012, erscheint.
Zu Inhalt, Struktur und Gestaltung dieses Lehrbuches ist einiges voranzuschicken:
Da es sich um ein Lehrbuch handelt, das vor allem die theoretischen Grundlagen und Essenzen Kreativer Leibtherapie zur Verfügung stellen soll, sind viele Inhalte knapp dargestellt. Es gibt weniger Praxisbeispiele und methodische Darstellungen als in den bisherigen Veröffentlichungen. Diesbezüglich möchte ich auf unsere anderen Publikationen verweisen.
Ich beginne im Aufbau des Buches mit dem Herzstück, meinem Leibverständnis und dessen Konsequenzen für die Therapie. Üblicherweise entwickeln sich Lehrbücher über Darlegungen zur Wissenschaftstheorie von der Vorgeschichte zu den therapeutischen Quellen allmählich hin zu den Kerninhalten. Wer diesen Weg der Annäherung vorzieht, möge bitte die Lektüre mit Kapitel 7 und 8 beginnen. Ich schlage vor, sich gleich in das Zentrum des Denkens und Geschehens zu begeben, und habe deswegen die Gliederung gewählt, mit dem Kapitel über „Leiblichkeit – Menschenbild und Therapie” zu beginnen, das die weitreichendste Relevanz für die Entwicklung der Kreativen Leibtherapie hat. Beide Wege sind möglich.
Therapie dient der Veränderung von Mustern, unter denen Menschen leiden. Im Kapitel 3 finden Sie unser Verständnis von Musterbildung und Musterveränderung und dabei auch unsere leiborientierten Entwicklungsmodelle, die der Theorie und Praxis Kreativer Leibtherapie zugrunde liegen.
Üblicherweise gibt es in therapeutischen Lehrbüchern getrennte Kapitel über die theoretischen Modelle des Menschen, dann über die Diagnostik, dann über die Therapie. Eine Besonderheit Kreativer Leibtherapie besteht darin, dass in unseren therapeutischen Modellen diese verschiedenen Aspekte miteinander verknüpft sind: Sie sind gleichzeitig Landkarten für Erlebensprozesse, diagnostische Zugänge und therapeutische Pfade. Ich habe deswegen das Bild eines Hauses gewählt, das aus zehn Räumen besteht. In jedem dieser Räume ist ein zentrales Modell der Kreativen Leibtherapie enthalten, und Sie können sich den Räumen dieses Hauses über verschiedene Türen und damit Zugängen nähern, über den theoretischen, den diagnostischen und den therapeutischen. Deswegen folgt auf die Beschäftigung mit der Leiblichkeit und damit den Verbindungen von Menschenbild und Therapie das Kapitel der „Komplexen Theorie-Module: The Big Ten”, das die zehn wesentlichen Modelle der Kreativen Leibtherapie darstellt und dabei gleichzeitig deren theoretischen Hintergrund, den diagnostischen Nutzen und die Bedeutung in der Therapie erläutert.
In Kapitel 5 gehe ich auf einige häufige Pathologien von der Depression bis zu den Traumafolgen ein und beschreibe ein leibphänomenologisches Verständnis und daraus abgeleitete spezifische Wege therapeutischer Begleitung. Diese beziehen jeweils mehrere der Big-Ten-Modelle ein.
Ich werde mich dann in Kapitel 6 mit Wegen der therapeutischen Veränderung und Elementen des therapeutischen Prozesses beschäftigen, um dabei spezifische, kreative leibtherapeutische Erfahrungen, Vorstellungen und Konzepte darzustellen. Dies ist notwendigerweise unvollständig, weil es sonst den Rahmen dieses Buches sprengen würde. Ich habe diejenigen Themen ausgewählt, die wesentlich und charakteristisch für die Kreative Leibtherapie sind.
Zum Schluss, nach dem Kapitel über Quellen Kreativer Leibtherapie, werde ich in Kapitel 8 zusammenfassend darstellen, dass und warum Kreative Leibtherapie ein Verfahren tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie ist. Im Ausblick (Kapitel 9) werde ich mich mit den uns zentralen Themen „Würde und Würdigung” auseinandersetzen.
Was fehlt in diesem Buch zugunsten einer Konzentration auf das theoretisch Wesentliche? Es fehlen Darlegungen der leiborientierten Tanztherapie, Musiktherapie und Kunsttherapie, also der Kreativen Leibtherapie mit unterschiedlichen medialen Schwerpunkten. Dazu sind jeweils leiborientierte Fachbücher erschienen: „Klingen, um in sich zu wohnen” (Musiktherapie), „Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder” (Kunsttherapie), „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde” (Tanztherapie). Fachbücher zur Poesie- und Theatertherapie sowie zur leiborientierten kreativen Supervision werden folgen. Es fehlt ferner eine zusammenfassende Darstellung der Psychopathologie. Veröffentlichungen über spezifische Pathologien und spezifische Therapien für Themen- und Klient/innengruppen sind zum Teil vorhanden (Demenz: „Innenwelten der Demenz”, Kriegstraumata: „Wo geht’s denn hier nach Königsberg?”, Kinder suchtkranker Eltern: „Hören, was niemand sieht”, ADS/ADHS: „Jetzt reden wir” , Essstörungen: „Das große Verschwinden und die Ge-Wichtigkeit”, Traumatherapie: „Aufrichten in Würde” und transgenerative Traumaweitergabe: „Wie Traumata in die nächste Generation wirken” − die Autor/innen entnehmen Sie bitte der Literaturliste). Weitere werden folgen. Mehrere Forschungsprojekte und Studien sind gegenwärtig in Arbeit.
Ebenfalls fehlt noch eine zusammenfassende Darstellung der leiborientierten kreativen Therapie mit Kindern und Jugendlichen in Theorie und Praxis. Sie ist uns ein besonderes Anliegen und deshalb in Vorbereitung.
In der Praxis der Kreativen Leibtherapie nennen wir Therapeut/innen die Menschen, die wir begleiten, manchmal Klient/innen, manchmal Patient/innen, je nach klinischem oder psychosozialem Kontext. Der Einfachheit halber verwende ich hier durchgehend die Bezeichnung Klient/innen. Bitte denken Sie die andere Bezeichnung, die Sie bevorzugen, jeweils mit.
Ein Wort zum Schluss des Anfangs: Die Tatsache, dass ich mich hier an einer zusammenfassende Darstellung des gegenwärtigen Entwicklungsstandes Kreativer Leibtherapie versuche, ist kein Schritt zur Kanonisierung, zu einer Festschreibung ihrer Inhalte und Methoden. Kreative Leibtherapie, die diesen Namen verdient, atmet den Geist phänomenologischer Forschung, ist aus ihr entstanden und wird durch sie weiterentwickelt. Kreative Leibtherapie ist ein offenes System, offen in zweierlei Hinsicht: offen für neue Erfahrungen und Modelle sowie offen für Anregungen und Inspiration durch andere Methoden, Modelle und Verfahren, die das Erleben der Menschen würdigen, die Aufrichtung des Menschen, seine Würde achten und fördern und gegen Würdelosigkeit und Erniedrigung in menschlichen Begegnungen theoretisch und praktisch Stellung beziehen. Was wir in einer früheren Veröffentlichung schon formuliert haben, gilt auch hier: Unsere Abgrenzung gilt nicht anderen Verfahren, sondern Verletzungen der Würde.
Jeder Therapeut, jede Therapeutin arbeitet auf der Grundlage eines Menschenbildes. Es mag bewusst oder unbewusst sein, in jedem Fall ist es wirksam. Jedem therapeutischen Verfahren liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde, und es ist notwendig, dieses Menschenbild explizit zu formulieren. Nur dann kann es sich der kritischen Auseinandersetzung stellen, und nur dann können sich Therapeutinnen und Therapeuten in ihrer Arbeit an diesem Menschenbild orientieren.
Das Bild vom Menschen ist Teil des Weltbildes. Wie Therapeut/innen die Welt sehen und welche Haltung sie ihr gegenüber einnehmen, bestimmt auch die Haltung gegenüber den Klient/innen und gegenüber sich selbst. Das Verständnis der Welt ist grundlegend eine Angelegenheit der Philosophie, das Menschenbild ist Inhalt eines Teilbereichs der Philosophie, der Anthropologie. In diesem Buch werde ich deshalb deutlich auf philosophische Fragen Bezug nehmen und die dieser Veröffentlichung zugrunde liegenden Haltungen öffentlich machen.
Wie später ausgeführt werden wird, ist ein der Kreativen Leibtherapie zugrunde liegender Aspekt des Menschenbildes die Würdigung seiner Individualität und Subjektivität. Viktor von Weizsäcker forderte die „Wiedereinführung des Subjekts” in die Wissenschaft. Der Platz des Subjekts darf aber nicht, wie oft geschehen, nur darin bestehen, dass ü b e r Subjekte und Subjektivität anderer Menschen geschrieben wird und ansonsten so getan wird, als sei es der Wissenschaftlichkeit geschuldet, die Subjektivität der Autor/innen und anderer Beteiligter auszuklammern.
Ich werde meine Beteiligung als Subjekt deutlich machen und nicht verschweigen. Dies geschah bereits in der Einleitung, und dies zeigt sich daran, dass ich „ich” schreiben werden, wenn ich „ich” meine – auch wenn dies nicht dem akademischen Brauch entspricht. Wenn ich die Bezeichnung „wir” benutze, meine ich meine Frau Gabriele Frick-Baer und mich. Wir haben gemeinsam viele Modelle Kreativer Leibtherapie entwickelt, wobei ich mehr für die Strukturierung und Systematisierung und sie mehr (d.h. nicht ausschließlich!) für die Konkretisierung und praxis-bezogene Weiterentwicklung tätig war. Wenn ich die zahlreichen Kolleginnen und Kollegen sowie engagierten Teilnehmer/innen unserer Fortbildungen meine, formuliere ich „meine Kolleg/innen und ich” oder z. B. „wir Kreativen Leibtherapeut/innen”.
Und noch eine subjektive Anmerkung: Ich habe mich immer geärgert, wenn mir theoretische Zusammenhänge komplizierter als nötig vorgestellt wurden. Ich ärgere mich immer noch über Bücher bzw. eine Fachsprache, deren Unverständlichkeit eher dem Ego der Autor/innen als dem Gegenstand geschuldet sind. Als Therapeut und Dozent bin ich bemüht und mittlerweile gewohnt, Theorie so vorzustellen, dass in der Sprache die Einheit von Theorie und Praxis deutlich wird und komplexe Zusammenhänge möglichst einfach dargestellt werden. Das gelingt nicht immer, da wir auf philosophische und andere Fachsprachen Bezug nehmen müssen. Doch Verständlichkeit, Transparenz und Einfachheit sind für mich kein Ausdruck von Theorieferne, sondern Ergebnis des Wertes, die Leser/innen ernst zu nehmen. Insofern spiegelt sich darin auch das Menschenbild, auf dem Kreative Leibtherapie fußt. Meine Fachbegriffe, wie sie sich vor allem in Kapitel 4 wiederfinden, verstehen sich wie die philosophischen Fachbegriffe nicht „von selbst”, sondern bedürfen der Erklärung und Definition. Aber auch sie spiegeln meine und unsere Absicht, dass sie sich dem Verständnis erschließen und als sinnvoll verstanden werden können.
Welches Bild vom Menschen einer therapeutischen Theorie und Praxis zugrunde liegt, ist wesentlich für die therapeutische Haltung und Methodik. Wir sind der sicheren Überzeugung, dass alle therapeutischen Verfahren und Strömungen relevante Beiträge zur Entwicklung der Psychotherapie geleistet haben, und bemühen uns, deren kompatible Aspekte in die Kreative Leibtherapie einzubeziehen. Gravierende Unterschiede beruhen unseres Erachtens vor allem auf unterschiedlichen und vor allem einseitigen Bildern vom Menschen und dem sich daraus ergebenden Verständnis von dessen Leiden und den Wegen der Veränderung. Wenn Syndrome oder Erkrankungen wie Posttraumatische Belastungsstörungen, Depression oder Panikattacken wie in der traditionellen Verhaltenstherapie vor allem auf falsches oder unvollständiges Lernen der betroffenen Klient/innen zurückgeführt werden, dann beruht dies auf dem Menschenbild, das die Entwicklung des Menschen in erster Linie als einen Lernprozess begreift, in dem durch Umlernen Veränderungen hervorgerufen werden können. Therapie wird unseres Erachtens so auf Pädagogik reduziert und ignoriert oder relativiert die Erfahrungen des Beziehungserlebens in Biografie und Therapie. Oder wenn in klassischen, fundamentalistisch formulierten, systemischen Positionen der Mensch als eine „Blackbox” verstanden wird, dessen Gefühle und andere Empfindungen nicht messbar und daher irrelevant sind, weil nur systemische Zusammenhänge Symptome hervorrufen und nur über systemische Veränderungen Symptome verändert werden können, dann liegt auch hier ein Menschenbild dem therapeutischen Verfahren zugrunde, das dem individuellen Erleben und seiner biografischen Entwicklung keinen Raum gibt. Oder wenn in Veröffentlichungen über die Traumafolgen und deren Therapie das Leiden der traumatisierten Menschen ohne jede Verbindung zu Gesellschaft und sozialem Umfeld beschrieben wird, als wäre es nur von innen heraus entstanden und nur oder vor allem Ausdruck der persönlichen Verfasstheit, dann wird darin ein Menschenbild impliziert, das den Menschen ausschließlich individualisiert und nicht als soziales Wesen sieht.
Oft lassen sich solche, manchmal rigide formulierten Menschenbilder mit all ihren Konsequenzen in der Praxis selbst von ihren Vertreter/innen nicht halten, so dass die Abgrenzungen zwischen den Menschenbildern und damit auch zwischen den Verfahren weicher werden, doch enthebt uns dies nicht der Pflicht und Notwendigkeit, das der Kreativen Leibtherapie zugrunde liegende Menschenbild explizit zu formulieren und jeweils die daraus folgenden Konsequenzen für die therapeutische Haltung, Theoriebildung und Methodik zu benennen.
Der Kreativen Leibtherapie liegt die Anthropologie zugrunde, wie sie in der Leibphänomenologie vor allem von Maurice Merleau-Ponty und Thomas Fuchs formuliert wurde, wobei wir wichtige Verständnismodelle der anthropologischen Medizin Viktor von Weizsäckers integriert haben. In den folgenden Kapiteln werden wir diese philosophischen Grundlagen im Hinblick auf die Relevanz für die Kreative Leibtherapie präsentieren. Natürlich machen die Fülle und die Komplexität des Themas eine Auswahl und Vereinfachung nötig. Zu bemerken ist weiterhin, dass ich zwar von der Leibphänomenologie spreche, es diese aber nicht als geschlossenes System mit klar definierten Begriffen gibt. Vielmehr ist sie eine lebendige und damit auch in sich widersprüchliche Strömung. Wer weiß, dass allein über sieben deutlich unterscheidbare Definitionen dessen, was unter „Leib” verstanden wird, zu finden sind, die sich teilweise auch noch bei den einzelnen Autoren in unterschiedlichen Texten unterscheiden, wird die Problematik erahnen. Die Ausführungen über die Leibphänomenologie sind also nicht nur Wiedergabe, sondern überall dort, wo ich nicht zitiert oder ausdrücklich auf die Literatur verwiesen habe, eigene Zusammenfassung, Auswahl, Definition und Weiterentwicklung.
Das Wort „Leib” mutet altertümlich an. Manche denken an Formulierungen aus alten Bibelübersetzungen wie den „Leib Christi” oder vermuten unter dieser Bezeichnung ein altertümliches Wort für Körper. Wir benutzen das Wort „Leib” als eine Kategorie der phänomenologischen Philosophie.
Richtig an den Vermutungen ist, dass das Wort „Leib” sehr alt ist. Es stammt aus dem indogermanischen Wort „lib”, das „Leben” bzw. „lebendig” bedeutet und in diesen beiden Worten ebenfalls enthalten ist. In der Redewendung „bei leibe nicht” klingt der Sinn „um‘s Leben nicht” an.
Was ist nun gemeint mit „Leib” oder „Leiblichkeit”? Beginnen wir mit den philosophischen Definitionen.
„Wir können uns diesen Begriff auf unterschiedliche Weise annähern. Unser Ausgangspunkt ist das alltägliche, unreflektierte Erleben: Wenn wir aufstehen, uns ankleiden, essen, trinken, laufen, einer Arbeit nachgehen, anderen Menschen begegnen, mit ihnen sprechen, uns freuen oder ärgern, müde werden, schlafen. All diese Bewegungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Begegnungen und Worte bringen uns, solange wir nicht über sie reflektieren, keine Unterscheidung von ‚Körper‘ und ‚Seele‘ zur Erfahrung. Wir vollziehen und erleben sie gleichermaßen aus unserem Zentrum heraus und nirgends zeigt sich eine räumliche oder zeitliche Trennung von ‚Geistigem‘, ‚Seelischem‘ und ‚Leiblichem‘. Im alltäglichen Leben trennen wir auch nicht zwischen uns selbst und unserem Körper, als trügen wir ihn mit uns herum, (…) sondern erfahren uns ohne weiteres als leiblich daseiend. Auch im Kranksein und Leiden, wenn Leibliches und Seelisches störend, schmerzend, peinigend in den Vordergrund tritt, bleibt es doch meine Existenz. Kein Patient sagt: ‚Mein Körper ist erschöpft‘ oder ‚krank‘, ‚meine Seele hat Angst‘, ‚meine Seele ist niedergeschlagen‘; sondern ‚ich bin erschöpft‘, ‚krank‘, ‚ich habe Angst‘, ‚ich bin niedergeschlagen‘. Mit ‚Ich‘ meint er auch nicht ein ‚Ich‘, eine absolute innerliche Instanz oder was immer Philosophen und Psychologen darunter verstehen wollen, sondern einfach sich selbst als Mensch, der leiblich da ist und existiert.” (Fuchs 2000b, S. 88)
Robert Spaemann betont in der Tradition Heideggers den Aspekt der Leiblichkeit als das Gestimmtsein, das immer schon vorhanden ist und jedes konkrete Handeln prägt:
„Was heißt ‚Erleben‘? Heidegger hat hier wohl den Weg gezeigt, wenn er als grundlegendes Phänomen des Daseins das ‚Gestimmtsein‘ bezeichnete, durch das für uns überhaupt erst eine Welt ist und wir in dieser Welt sind. Gestimmtsein ist keine Leistung, es ist überhaupt nicht ein distinktes Ereignis, sondern liegt all diesem voraus. Bewusstsein, Streben, Wollen, Wissen sind nur, was sie sind, wenn sie in ein solches Gestimmtsein eingebettet und von diesem geprägt sind.” (Spaemann 2006, S. 52)
Hermann Schmitz fokussiert den Leib auf das Spüren oder Sich-Wahrnehmen, das nicht nur dem Bewusstsein, sondern auch dem sinnlichen Spüren vorgeschaltet ist: „Jedermann macht die Erfahrung, dass er nicht nur seinen eigenen Körper mit Hilfe der Augen, Hände und dergleichen sinnlich wahrnimmt, sondern in der Gegend dieses Körpers auch unmittelbar, ohne Sinneswerkzeuge zu gebrauchen, etwas von sich spürt: z. B. den Hunger, Durst, Schmerz, Angst, Wollust, Müdigkeit, Behagen. Im Gegensatz zu anderen modernen Sprachen besitzt die deutsche zwei Worte, die es leicht machen, den gemeinten Unterschied zu benennen: ‚Körper‘ und ‚Leib‘. Das sinnlich Wahrgenommene könnte ‚körperlich‘ und das in der Gegend des eigenen Körpers als zum eigenen Wesen gehörig unmittelbar (unsinnlich) Gespürte oder Empfundene ‚leiblich‘ heißen.” (Schmitz 1998, S. 5) Dieser Differenzierung folge ich nicht. Ich führe sie nur als Beispiel dafür an, wie unterschiedlich Leiblichkeit auch innerhalb der Phänomenologischen Philosophie verstanden wird.
Bei Thomas Fuchs begegnen wir gelegentlich einer doppelten Bedeutung des Wortes „Leib”. Mit ihm wird das grundlegende unreflektierte Erleben bezeichnet und somit der Leib als Oberbegriff für alle Aspekte dieses Erlebens. Innerhalb dessen werden wir aber auch besonderen Aspekten begegnen wie dem Körper oder der Exzentrität, denen Fuchs dann die „unmittelbare Leiblichkeit” gegenüber stellt. „Mein Leib ist eine schwer fassbare Zwischenzone zwischen mir und der Welt. Er gehört mir nicht, sondern ich bin selbst mein Leib – doch ist er auch wie ein Stück der Außenwelt, ein Körper, den ich ‚habe‘. Bezogen auf die Welterfahrung bedeutet dies: Der Leib vermittelt mir die Welt, ich erfahre sie immer nur durch ihn hindurch – solange er selbst im Hintergrund bleibt.” (Fuchs 2000b, S. 3)
Vielleicht wird schon bei diesen wenigen Zitaten, die ich unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit ausgewählt habe, deutlich, wie vielschichtig man sich dem Leibbegriff annähern kann. Doch hier geht es mir nicht um eine differenzierte philosophische Betrachtung, sondern um das Menschenbild Kreativer Leibtherapie. Und dafür ist vor allem wichtig, dass mit Leib kein Objekt, kein Ding bezeichnet wird, sondern ein „Modus unserer Existenz”, die „grundlegende Weise des menschlichen Erlebens” (Fuchs 2000a, S. 15). „Der Leib ist das selbstverständliche Medium unserer Existenz.” (Fuchs 2008b, S. 17)
Der Leib ist die Art und Weise unseres Erlebens, unseres Spürens und Fühlens. Das deutsche Wort „fühlen” ist vieldeutig. Mit Fühlen bezeichnen wir sowohl Sinneswahrnehmungen als auch Empfindungen sowie emotionale Regungen. So vielseitig und ineinander verknüpft sind auch die Aspekte des Erlebens.
Vielleicht mögen Sie ein kleines Experiment ausprobieren: Schließen Sie für eine Minute die Augen und spüren Sie sich selbst. Vielleicht nehmen Sie Unruhe wahr oder Gelassenheit, vielleicht fühlen Sie sich eng oder eingeengt, wach oder beschwingt, möglicherweise sind Sie müde oder traurig, ärgerlich oder entspannt … Nehmen Sie wahr, was ist, ohne es zu bewerten oder ohne darüber nachzudenken. Spüren Sie nur sich selbst, wie Sie sich gerade spüren können …
Sie haben damit den einfachsten Zugang zum Erleben, zur Leiblichkeit gefunden. Dieses Erleben verändert sich in jedem Moment und in fließenden Übergängen, und deswegen ist die Leiblichkeit kein fester Zustand, sondern ein dynamischer Prozess. „Der Leib ist kein Gegenstand, ja nicht einmal ein momentaner Zustand, denn er ist letztlich die Bewegung des Lebens selbst.” (Fuchs 2000a, S. 124)
Leiblichkeit ist vorhanden, bevor wir über sie und die Welt reflektieren. Dies gilt im doppelten Sinn. Neugeborene und Säuglinge erfahren die Welt leiblich in ihrer „Bewegtheit” und ihren Impulsen, im Greifen nach der Mutter, im Hinein und Hinaus, in Stimmungen und Atmosphären, im Spüren des Miteinander des Lachens und vielem anderen mehr. Bei aller Kompetenz und Komplexität frühkindlicher Entwicklung beginnt die Selbstreflektion erst ab dem dritten Lebensjahr, sich zu entwickeln und zu entfalten. Vorher leben die Kinder in primärer Leiblichkeit.
Doch auch später, wenn sich die reflektierende Bewusstheit der Person selbst und ihre Beziehungen zur Welt entwickeln, ist die Leiblichkeit als erlebender Grund des Reflektierens vorhanden. Als René Descartes seinen berühmten Satz „Ich denke, also bin ich” schrieb, war er auch als leibliches Wesen vorhanden. Er hatte vielleicht vorher Hunger und aß etwas, spürte einen Bewegungsdrang und ging ein wenig sinnierend auf und ab, bevor er sich setzte und diesen Satz aufschrieb. Während des Schreibens war er möglicherweise stolz auf diese prägnante Formulierung, die ihm gelungen war, und machte sich danach Sorgen über die Reaktion der königlichen und kirchlichen Obrigkeit auf diese Kampfansage gegen den damaligen Aberglauben und das christliche Monopol der Weltdeutung … Er konnte „Ich denke, also bin ich” nur schreiben, weil er zuvor, dabei und danach in seiner Leiblichkeit existierte.
Leiblichkeit ist nicht alles, aber ohne Leiblichkeit ist nichts.
Dieses Verständnis des Menschen hat weitreichende Konsequenzen für die therapeutische Haltung, die der Kreativen Leibtherapie zugrunde liegt: Das Erleben der Menschen muss als ihre grundlegende Existenzweise gewürdigt werden. Dabei werden wir Menschen uns nur in seltenen Ausnahmesituationen als leibliche Wesen „ganz” spüren. Zumeist nehmen wir wechselnde leibliche Regungen wahr – ein Gefühl, einen Hunger, eine Resonanz mit einem anderen Menschen, einen Schmerz ... –, die abwechselnd in den Vordergrund unseres Gewahrseins treten. Wir können unsere Leiblichkeit deshalb auch als Gesamtheit unserer leiblichen Regungen bezeichnen.
Als Therapeut/innen begegnen wir auf vielfache Weise der Hemmung, Einschränkung, Tabuisierung und Verkümmerung des Erlebens, z. B.:
„Ich stehe neben mir.”
„Wenn mich mein Kollege anspricht, erstarre ich und fühle nichts mehr.”
„Sie schauen mich so an, das ist komisch. Dann verschwimmt alles, und ich habe Angst mich aufzulösen.”
Ganz „verschwunden” ist die Leiblichkeit auch in solchen Äußerungen nicht. Solange Menschen leben, erleben sie: oft sehr schmalspurig oder auch Teile ihrer Leiblichkeit bekämpfend, manchmal bestimmten Aspekten ihres Erlebens ausgeliefert, die wie die Angst weite Bereiche sonstigen Erlebens überfluten können. Sie leiden an solchen Deformierungen und Pathologisierungen der Leiblichkeit und suchen deshalb therapeutische Unterstützung. Unsere Hilfe besteht dann darin, sie auf der Suche nach weiteren, differenzierten Möglichkeiten des Erlebens zu begleiten. Was und wie sie sich und ihre Welt erleben, ist ihre eigene, höchstpersönliche Angelegenheit. Kreative Leibtherapie wirkt dabei parteilich für die Entfaltung der Möglichkeiten der Leiblichkeit.
Grafik 1
Leib ist
» Der Mensch ist immer Leib. Leib ist Erleben.
» Leib ist, was immer schon da ist. Leiblichkeit ist präreflexiv.
» Leib ist die Summe unserer leiblichen Regungen.
Der Satz von Descartes „Ich denke, also bin ich” wurde zum Kampfprogramm der Aufklärung. Einerseits war er gegen den damals vorherrschenden Aberglauben und das Monopol von Kirche und Königtum an der Deutung der Welt gerichtet, andererseits galt er als programmatische Ermutigung und Erlaubnis zu naturwissenschaftlicher Forschung und technischer Entwicklung. Das denkende Bewusstsein wurde zum revolutionären Programm technologischer und wissenschaftlicher Umwälzungen, die bei all den auch negativen Folgen immerhin die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen seit dieser Zeit verdreifacht haben. Dieses denkende Bewusstsein, sei es „Geist”, „Vernunft” oder „das Denken” genannt, wurde dabei im Menschenbild vom Erleben abgespalten. Der „menschliche Geist” wird als „reine Substanz” (Descartes 2009, S.15) verstanden, auch „sinnliche Wahrnehmungen” sind in diesem Verständnis „nichts anderes als Denken” (a.a.O. S. 33). Als Menschenbild folgt daraus: „Was bin ich demnach? Ein denkendes Ding.” (a.a.O. S. 32) (Zur Trennung vom Körper siehe das nachfolgende Unterkapitel.)
Solche Abspaltungen sind nicht nur Thema theoretischer Auseinandersetzungen, sondern begegnen uns konkret als Dissoziationen im therapeutischen Kontext:
Eine mehrfach traumatisierte Klientin hatte ihr psychisches Überleben dadurch gemeistert, dass sie ihre Emotionalität bis auf wiederkehrende Angstattacken „wegsperrte”, wie sie immer sagte. Gefühle in der Begegnung mit anderen Menschen tauchten nicht auf, stattdessen durchdachte die Frau jeden ihrer Schritte im sozialen Kontakt und kontrollierte ihre Äußerungen und ihr Verhalten. Sie beherrschte dies in hoher Perfektion und war beruflich sehr erfolgreich. Sie kam in die Therapie, weil sie nicht mehr wusste, warum es sich lohnen sollte, weiterzuleben …
Das, was uns hier als Traumafolge und Leiden entgegentritt, beherrschte das Menschenbild der europäischen und europäisch beeinflussten Philosophie: Das Bewusstsein wurde und wird auf das Denken verkürzt, die Vernunft soll herrschen und das Erleben, vor allem das emotionale, kontrollieren, so es sich überhaupt noch rührt. (Die Gegenbewegung dazu finden wir in romantischer Literatur und Filmen usw.)
Wird bei Descartes aus dem leiblichen Sehen und Berühren „das Denken des Sehens und Berührens”, so setzt sich diese Verschiebung, um nur ein Beispiel zu nennen, in weiten Teilen der Emotionspsychologie fort. Der große Psychologe William James, der viele wertvolle Erkenntnisse und Anregungen hinterlassen hat, reduzierte in einem ersten Schritt das emotionale Erleben auf die damit einhergehenden körperlichen Reaktionen und setzte im zweiten Schritt die Gefühle mit dem Denken über die Gefühle gleich: „Meine Theorie dagegen ist die, dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsachen folgen, und dass das Bewusstsein vom Eintritt eben dieser Veränderungen die Gemütsbewegung ist.” (James 1950, Band II, S. 449). Daraus folgen seine Leitsätze: „Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen. Wir sind (...) wütend, weil wir zuschlagen.” (a.a.O. S. 550) Solche Denkweisen werden heute im Konstruktivismus fortgeführt, dem die Auffassung zugrunde liegt, dass jeder Mensch seine Realität im Kopf konstruiert. Wäre dem so, müsste man nur die Denkkonstrukte im Kopf verändern, worum sich die davon beeinflusste therapeutische Strömung bemüht. Doch Liebe ist mehr als Herzklopfen und etwas anderes als das Denken über die Liebe! Hunger ist mehr als das Denken über den Hunger. Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist mehr als das Denken über diese Begegnung. Wir Menschen erleben, spüren, fühlen uns in unserer Welt, und das ist mehr als das Denken über die Welt. Zu diesem Erleben können Denkweisen gehören, die auch die Wahrnehmung von uns und der Welt beeinflussen oder gar prägen. Doch das ist nur ein Aspekt, der keineswegs isoliert oder verabsolutiert werden darf. Eine Vergewaltigung ist reales Erleben und nicht nur das Konstrukt einer Realität. So richtig es ist, das Opfer darin zu unterstützen, sich nicht nur als Opfer zu betrachten, so entwürdigend wäre und ist es, die Opfererfahrung zu negieren und der betroffenen Person „einfach” eine andere Sicht der Welt vorzuschlagen.
Die therapeutische Relevanz der behandelten Thematik liegt auf der Hand. Werden Erfahrungen des Erlebens nur als Denken über diese Erfahrungen betrachtet, braucht nur das Denken verändert werden, nicht die Erfahrung, nicht das Erleben. Werden zum Beispiel Gefühle nur als kognitives Denken über körperliche Veränderungen verstanden, dann können Veränderungen z. B. von Angstzuständen nur über körperliche Interventionen, wie z. B. Entspannungstechniken, und vor allem über Änderungen des Denkens erfolgen. Kreative Leibtherapie nutzt selbstverständlich Entspannungsverfahren und strebt auch Änderungen des Denkens an, wenn die Klient/innen dies wünschen, vor allem die Leid- und Leitsätze und Botschaften, die „mitgegeben” wurden und die Lebendigkeit hemmen. Doch die Verabsolutierung des vernunftgeleiteten Denkens in der kognitiven Psychologie und Psychotherapie beinhaltet eine Abspaltung des Denkens von den Erlebensprozessen, was unserem Menschenbild widerspricht.
Gefühlsmäßige Veränderungen fließen als Konsequenz aus dem Menschenbild der kognitiven Psychologie kaum oder gar nicht in das Verständnis psychischer Erkrankungen ein. In der klinischen Beschreibung der Demenz werden z. B. Erlebensprozesse kaum benannt. Gefühle wie Scham, Angst und Einsamkeit, die bei den meisten Menschen mit der Demenz einhergehen, werden nicht erwähnt, dafür aber eine „Verschlechterung der emotionalen Kontrolle” (ICD-10 2010, S. 60). In der psychiatrischen Klassifizierung DSM-IV-TR werden die Demenz-Erkrankungen sogar ausschließlich als „kognitive Defizite” (2003, S. 81) bezeichnet.
Die Ausgrenzung emotionalen Erlebens und die Abspaltung des Denkens vom Leiblichen wird in großen Teilen der Neurobiologie fortgesetzt und auf die Spitze getrieben. Da wird das Gehirn zu einer Art U-Boot-Kommandant im Menschen erklärt, der Informationen sammelt, verarbeitet und entsprechende Entscheidungen trifft. Das Erleben wird dann zu einem „Selbstmodell” erklärt, das vom Gehirn geschaffen wird: „Wir sind mentale Selbstmodelle informationsverarbeitender Biosysteme (...) Werden wir nicht errechnet, gibt es uns nicht.” (Metzinger 1999, S. 284). Unser Erleben als individuelles Subjekt wird dann zu einem „Traum” erklärt: „Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist – wenn man es etwas poetisch ausdrücken will – eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum, nichts wissen können.” (Roth 1997, S. 253)
Werden solche Vorstellungen, in denen die individuelle Subjektivität als bloßer „Traum” ausgeblendet wird, therapeutischen Interventionen zugrunde gelegt, dann erscheinen letztlich nur biologische Interventionen mit Medikamenten oder anderen Eingriffen als sinnvoll.
Unsere Grundhaltung in der Kreativen Leibtherapie besteht darin, sich an diesen Abspaltungen des „Denkens” bzw. des „Geistes” vom Erleben nicht nur nicht zu beteiligen, sondern im Gegenteil solchen Vereinseitigungen und Abspaltungen entgegenzuwirken. In der Reflektion über einen philosophischen Text oder bei der Lösung einer Mathematikaufgabe steht das Denken im Vordergrund, aber auch hier fließen Aspekte des Erlebens mit ein wie Neugier oder Müdigkeit, Angst vor Versagen oder Aufregung. Wenn wir noch einmal auf das Beispiel der Liebe zurückkommen, sehen wir, dass das Denken über die Liebe eingebettet ist in Empfindungen und Gefühle. Diese Gefühle äußern sich in Tausenden von Briefen und Tagebucheintragungen, in Gedichten und Romanen. Liebe kann sprachlos sein, aber auch sehr beredt. Es gibt neben dem Denken, das mit dem Erleben verbunden ist, auch ein Denken der Gebrauchsanweisungen und der Reglementierung, welches das Fühlen der Liebe durch das Denken über die Liebe zu ersetzen und die liebenden leiblichen Regungen dadurch zu kontrollieren versucht. Wenn Menschen unter dem Denken über Gefühle leiden und Hilfe in der Therapie suchen, versuchen Kreative Leibtherapeut/innen zu helfen, indem sie die Klient/innen darin begleiten, Erfahrungen zu machen, die solche Spaltungen überwinden.
Das Denken dem Erleben gegenüber zu stellen, ist die Verallgemeinerung einer pathologischen Sondersituation, aber nicht Ausdruck alltäglicher Erfahrung. „Geistige Akte der Person gibt es nur, sofern sie erlebt werden, also seelische Ereignisse sind.” (Spaemann 2006, S. 170)
Das Denken ist eingebettet in das Erleben – dieses Sprachbild beschreibt den Zusammenhang am treffendsten. Die Gegenüberstellung von „Kopf” und „Bauch” war einige Jahre lang in manchen therapeutischen Strömungen populär. Die Befürworter der Herrschaft des „Bauches” wandten sich gegen die Abwertung und Unterordnung der Gefühlswelten unter intellektuelle Vorgaben, die Gegenposition forderte die Herrschaft wissenschaftlicher Vernunft gegenüber bloßer Impulsivität. Beide Alternativen sind nicht die Position Kreativer Leibtherapie. Kreative Leibtherapie geht vom Eingebettet-Sein des Denkens im Erleben aus und unterstützt Klient/innen darin, Abspaltungen ihres Denkens oder einzelner Denksätze entgegenzuwirken und diese wieder in ihre Leiblichkeit zu reintegrieren. Bestimmte Denkweisen, wie sie sich in Leitsätzen äußern wie „Du darfst nicht widersprechen” oder „Wenn du es dir gut gehen lässt, wirst du dafür bezahlen müssen”, sind aus Erfahrungen des Erlebens entstanden und nie nur „reines” Denken. Nur im Kontext leiblicher sozialer Erfahrungen können sie verstanden, ihrer Macht beraubt und verändert werden.
René Descartes als Begründer des aufklärerischen bürgerlichen Denkens bezeichnete wie erwähnt den Menschen als „denkendes Ding”. In der Abgrenzung zum Körper differenziert er, der Mensch sei – als geistiges Wesen – ein „denkendes, kein ausgedehntes Ding”, während der Körper „lediglich ein ausgedehntes, kein denkendes Ding” ist (Descartes 2009, S. 85). Er schrieb, er sei sich „sicher, dass ich von meinem Körper tatsächlich unterschieden bin und ohne ihn existieren kann” (a.a.O.). Diese Spaltung zwischen Geist und Körper zog sich von dort an durch das abendländische Denken. Der Körper wurde als „Maschine der Körperteile” bezeichnet, „wie sie sich auch an einem Leichnam zeigt und die ich mit dem Namen Körper betitele” (a.a.O., S. 29). Der Körper wird zu etwas Objektivem, Unbeseelten, das sich nicht bewegt, sondern bewegt wird.
Der Körper taugt so allenfalls als Behälter des Bewusstseins, so wie auch heute in manchen Strömungen der Neurobiologie der Körper nur noch als Organ betrachtet wird, dem vor allem oder ausschließlich die Funktion zukommt, das Gehirn von einem Ort zum anderen zu transportieren – als ob es ein „Gehirn” ohne Körper und ohne Leiblichkeit geben könnte.
Dagegen setzt die Leibphänomenologie die Auffassung, dass es keine Leiblichkeit ohne Körper und keine Körperlichkeit ohne Leib gibt. Der Körper ist im Leibsein eingebettet. Wenn ein Mensch eine Haltung des aufrechten Ganges einnimmt, dann spannt er wahrscheinlich seine Rückenmuskulatur an, hebt seinen Kopf und streckt seine Glieder nach oben und unten. Und gleichzeitig spürt er sich aufrecht und aufrichtig, fühlt sich vielleicht erhaben und nimmt seine Umwelt anders wahr, so wie er anders wahrgenommen wird, als wenn er gebeugt durchs Leben gehen würde. Das Bild des Eingebettet-Seins ist stimmig. Wenn ein Mensch sein Bett verlässt, in das er sich eingekuschelt hatte, sind beide nicht mehr dasselbe, weder der Mensch noch das Bett. Auch das Bild, als Mensch in seiner Leiblichkeit „verwurzelt” zu sein, ist hilfreich. Eine Wurzel und das umgebende Erdreich sind miteinander verwoben, ein gemeinsamer Organismus. Wird die Wurzel aus dem Erdreich entfernt, verliert sie ihre Bedeutung und wird zu bloßem Holz oder Gemüse.
Hellmuth Plessner, der sich in seiner „philosophischen Anthropologie” um die Aufhebung der Körper-Geist-Seele-Spaltung seit Descartes bemüht, spricht von der „Doppelnatur des Menschen, die nicht statisch zu fassen ist, sondern eine ständig zu durchlebende und zu vollziehende Verschränkung des Leibes mit dem Körper bedeutet.” (Plessner 2003, S. 396)
Körperlichkeit und Leiblichkeit sind untrennbar verwoben. U n d es gibt eine Unterscheidung. Um ihr nahe zu kommen, bitte ich Sie um ein Experiment:
Strecken Sie eine Hand aus und betrachten Sie sie. Betrachten Sie ihre Form und ihr Aussehen. Unterscheiden Sie zwischen der Hand und ihrer Umgebung. Sie können ihre Hand wiegen und vermessen. Sie können ihre Muskulatur trainieren, sie pflegen und – bei Verletzungen – operieren lassen. Das ist der körperliche Aspekt, den Sie wahrnehmen.
Und nun schließen Sie die Augen und spüren Sie Ihre Hand. Vielleicht fühlt sie sich leicht oder schwer an, anpackend oder zurückhaltend, sanft oder kräftig ... Vielleicht erinnern Sie sich an Berührungen, die diese Hand erfahren oder vorgenommen hat ... Sie werden merken, dass die Grenzen dieser Hand nach außen verschwimmen ... Das ist der leibliche Aspekt in der Körperwahrnehmung.
Sie können diese Unterscheidung noch deutlicher wahrnehmen, wenn Sie eine Hand auf ihr Herz legen und sich eine oder zwei Minuten der Achtsamkeit gönnen. Sie werden sich leiblich spüren, in Bildern und Erinnerungen, Gefühlen und diesen oder jenen Impulsen. Mit dem EKG Ihres Herzens oder dessen Ultraschallbild dagegen betrachten Sie Ihr Herz von außen. Beides gehört zusammen, ist Teil ihrer Person, Ihres Menschseins, und beides beeinflusst sich gegenseitig – Panik und Druck können den Herzrhythmus beschleunigen und Herzrhythmusstörungen werden bei den meisten Menschen Angst hervorrufen. Doch das vermessene Herz des EKG („Körper”) und das spürende Herz („Leib”) sind zwei unterschiedliche und unterscheidbare Aspekte menschlichen Seins.
Menschen haben einen Körper, verhalten sich zu ihm, trainieren ihn, bewegen ihn, behandeln ihn bei Krankheiten und anderen Störungen usw. Und Menschen sind der Leib, sind leiblich. Immer und ohne etwas dafür tun zu müssen. „Diesen Körper habe ich; ich bin aber mein Leib.” (Gabriel Marcel 2001, zit. nach Frick 2009, S. 125)
Wird der Körper nur als „Ding” oder als „Maschine” behandelt, dann mag das für manche Berufe und Tätigkeiten sehr sinnvoll sein, z. B. bei chirurgischen Eingriffen. Doch im Alltagsleben beinhaltet solche Objektivierung des Körpers eine Verkümmerung des Lebens und der Lebendigkeit und führt zu Leiden. Gerade wenn es um Krankheit und Gesundheit geht, ist ein Verständnis der Doppelnatur von Leib und Körper hilfreich und notwendig. So betont Hermann Schmitz, dass „ein großer Teil der heute ‚psychosomatisch‘ genannten Krankheiten, (...) seinen Sitz weder im Körper noch in der Seele (hat), sondern im Leib (Gegenstandsgebiet des eigenleiblichen Spürens), von wo er auf den Körper ausstrahlt.” (Schmitz 1989, S. 16) Und Thomas Fuchs beklagt die Beschränkung der Medizin und der medizinischen bzw. psychiatrischen Forschung auf den Körper: „Unsere Leiberfahrung in Gesundheit und Krankheit geht der Erkenntnis des Organismus immer voraus. Die Leiblichkeit ist selbst der Rahmen, innerhalb dessen der menschliche Körper erst zum Gegenstand von Spezialwissenschaften werden kann. Um ihn zu erforschen, müssen sie das Leibsubjekt auf das Körperobjekt reduzieren, den Leib aus seiner gelebten Situation isolieren und in bestimmte wiederholbare Untersuchungsschemata bringen. Dabei entgleitet ihnen jedoch der Leib als Leib, in seinen Vollzügen und Funktionen. Sie können nur die organismischen Bedingungen dieser Funktionen erforschen und feststellen, nicht jedoch das Sehen, Hören, Sich-Bewegen als solches. Aber Kranksein ist leibliches Erleben, und so muss der Arzt immer wieder zum Erleben des Kranken zurückkehren, von dem er ausgegangen ist.” (Fuchs 2000b, S. 10) Der Rückbezug auf die Leiblichkeit ist nicht nur notwendige Aufgabe, wenn es um psychosomatische Störungen geht, sondern muss alle Heilungsprozesse und Heilungserfahrungen betreffen. Eine „Körpertherapie”, „Tanztherapie” oder „Bewegungstherapie”, die die leiblichen Zusammenhänge ignoriert, widerspricht der Leibhaftigkeit von Erkrankungen und von Gesundungsprozessen.
In der Therapie leidender Menschen begegnen wir Therapeut/innen den Trennungen des Körpers vom Leib in zwei Extremen: Entweder wird der Körper ignoriert und missachtet oder er wird als Behandlungsobjekt vergöttert, mit Medikamenten, Trainings, Operationen und Diäten. (Nichts grundsätzlich gegen Medikamente, Trainings usw. – es geht hier um die H a l t u n g dem Körper gegenüber!) Absicht der Kreativen Leibtherapie ist folglich oft, Körperlichkeit und Leiblichkeit wieder zu versöhnen und zu reintegrieren. Denn es gibt viele Aspekte des auch körperlichen Lebens, die sich der Objektivierung und Behandlung auf Dauer entziehen. Dazu gehört die Sexualität und der Schlaf, dazu gehört auch das Lachen und Weinen, in denen Körper-Haben und Leib-Sein mineinander verschmelzen. Schlaf und Sexualität sind leibliche Zustände, die heute auch chemisch zu steuern versucht werden. Das gelingt zeitweise, aber nicht auf Dauer und immer auf Kosten der Leiblichkeit. „Die Objektivierung des Leibes zum beherrschbaren Körper hat also zur paradoxen Konsequenz, dass ich das selbstverständliche Zuhausesein in ihm verliere.” (Fuchs 2000a, S. 133)
Ein Klient ging täglich eine Stunde Laufen und dann ins Fitnessstudio. Auf die Frage, wie es ihm gehe, konnte er nicht antworten. Als ich ihn einmal bat, eine Hand auf sein Herz zu legen und zu spüren, was er fühle, antwortete er: „Mein Herz ist jetzt im Ruhepuls.”
Die theoretische Abspaltung des „Körpers” – also vor allem der Körperempfindungen und des Körpererlebens – vom „Rest” des Menschen begegnet uns in der Therapie als pathologischer Ausdruck individuellen Leidens. Ein Versuch, körperliche Regungen nicht mehr zu spüren oder durch Kontrolle der Beherrschung zu unterwerfen, ist immer Produkt sozialer Erfahrung. Solche Versuche entstehen als Notwehr-Reaktionen auf ein Erleben, das unaushaltbar war. Werden z. B. nach einer Erfahrung sexueller Gewalt Ekel und Schmerz übermächtig, kann die Entfremdung des Körpererlebens als Schutz sinnvoll und wirksam sein. Das Problem besteht meist darin, dass die betroffenen Menschen allein gelassen bleiben und sich die ursprünglich als Notwehr fungierende Körper-Dissoziation chronifiziert und so zu einem Teil des Leidens wird.
Thomas Fuchs geht in der Verknüpfung zwischen Körper und Leib noch weiter als Plessner. Er spricht im Gefolge von der „Koextension” und „Korrespondenz” von Leib und Körper: Streicht eine Hand über die Haut, dann sehe ich die Hand und spüre subjektiv gleichzeitig das Streichen oder Streicheln. Bedeutsam für die therapeutische Arbeit halte ich seine über Plessner hinaus gehende Differenzierung zwischen Körper und Leib, die er mit den Ebenen A bis D beschreibt:
Da gibt es die Ebene A, den „unwillkürlich fungierenden, präreflexiv gelebten Leib” (2000a, S. 136), also die Leiblichkeit, die immer vorhanden ist, solange ein Mensch lebt, als Grundqualität, als Grunderleben seines Daseins.
B erscheint, wenn diesem Leib Achtsamkeit geschenkt wird; er wird dann zum „erlebten, gespürten (...) Leib” (s.o.).
Als Ebene C führt er den „in der Negativität (als Gegenstand, Hindernis u.a.) erscheinenden Körper, der mir als mein Körper bewusst und als Instrument verfügbar wird (körperlicher Leib)” auf. Dies wird z. B. dann deutlich, wenn der Körper trainiert wird oder der Bauch sich in einer zu engen Hose befindet oder der Arm schmerzt.
Schließlich folgt auf der Ebene D der „reine Körper der Anatomie oder Physiologie”.
Um die Bedeutsamkeit dieser vier Ebenen am Beispiel des aufrechten Gangs zu erläutern: Auf der Ebene D ist die Physiologie des aufrechten Ganges sicherlich naturwissenschaftlich zu untersuchen: Veränderungen des Blutbildes, des Blutdrucks, des Energiehaushaltes usw. Über das Erleben des aufrechten Ganges sagt dies genauso wenig aus wie die Ebene A, die präreflexive Leiblichkeit. In der therapeutischen Arbeit setzen wird uns vor allem mit den beiden mittleren Ebenen auseinander, den Ebenen B und C. Wir Kreative Leibtherapeut/innen fragen z. B. nach Bildern und Vorstellungen eines aufrechten Ganges (B) oder bitten darum, mit dem Körper so zu experimentieren, dass eine als aufrecht gespürte Haltung entsteht (C). Dabei geht es hier nicht darum, den Körper als defizitär oder hinderlich zu erfahren oder gegen ihn zu kämpfen, sondern ihn als Impulsgeber der Veränderung und Potential neuer Körpererfahrungen zu erleben (C), die zu neuem Erleben führen können (B). Dieser Prozess kann dann in den Alltag integriert werden und durch Wiederholungen so selbstverständlich werden, dass sich die Anatomie (z. B. Muskulatur) eines Menschen verändert (D) und der aufrechte Gang, seine Art des aufrechten Ganges, zu einem Teil der selbstverständlichen Leiblichkeit (A) wird.
Kreative Leibtherapie ist in diesem Sinne immer auch Körpertherapie. Doch der Körper steht weder in seiner Funktionalität noch in seiner Formbarkeit als Objekt im Vordergrund. Im Vordergrund steht das Körpererleben, das sich in den Big Ten vor allem in der leiblichen Körperbildarbeit wie auch in allen anderen Hauptmodellen der Kreativen Leibtherapie wiederfindet. In der Krankengymnastik ist es meist notwendig, „richtige” Bewegungen zu üben, um Störungen der Körperlichkeit zu beheben (aber auch da sind die Zuwendungen und die Freundlichkeit der Physiotherapeut/innen oft genauso heilend wie die Bewegungen). In der Kreativen Leibtherapie einschließlich der leiborientierten Tanz- und Bewegungstherapie geht es nie um „richtige” oder „falsche” Bewegungen, sondern um das Körpererleben, um die Erweiterung der Möglichkeiten der Leiblichkeit. Nach einer Lungenoperation kann es zum Beispiel notwendig sein, über bestimmte Übungen den Atemraum zu erweitern. Aber selbst dabei können die Grundsätze der leiborientierten Atemtherapie den Heilungsprozess fördern. Wir unterstützen die Achtsamkeit für das Atmen, so dass die meisten Menschen, mit denen wir arbeiten, unmittelbar einen Zugang dazu haben, wie sie sich und ihren Atem erleben: eingeengt oder weit, offen oder abgehackt, hechelnd oder friedlich, kraftvoll oder sich verlierend ... Jede Einengung der Beschäftigung mit dem Atmen nur auf die körperlichen Funktionen oder andererseits z. B. nur auf die Gefühle, die beim Atmen entstehen, ohne das Körpererleben einzubeziehen, würde die Erfahrungsmöglichkeiten der Klient/innen einengen. Die Einbettung des Körpers in die Leiblichkeit verschafft viele Möglichkeiten der Erfahrung und Veränderung.
In dem Verständnis der klassischen Psychoanalyse wurde der Mensch als für sich zu betrachtendes und aus sich heraus wirkendes Wesen betrachtet und seine psychischen Instanzen als „Organe” der Seele oder des „psychischen Apparats” angesehen. Sicherlich waren in dieser Sichtweise auch gesellschaftliche Wirkungen relevant, aber nur oder zumindest überwiegend in ihrer psychischen Repräsentation z. B. als Über-Ich.
Gegen diese Individual-Psychologie und -Psychotherapie entwickelte sich seit den 1950er, vor allem seit den 1970er Jahren eine Gegenbewegung, aus der die systemische Theorie und Therapie entstand. Hier soll es weder um eine Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse noch mit der systemischen Therapie gehen, was angesichts der Vielfalt und auch Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Strömungen gar nicht möglich wäre. Diskutiert werden soll die Gegenüberstellung von Person und Umwelt oder sozialem System, die m. E. in beiden therapeutischen Richtungen zu einer Abspaltung sozialer Bezüge von der Leiblichkeit geführt hat.
Die Auseinandersetzung mit Haltungen, die den Menschen aus seinen sozialen Bezügen herauslösen und diese ignorieren, werde ich an anderer Stelle führen (Kap. 2.7), nachdem ich die Qualitäten des Erlebens herausgearbeitet habe und darauf Bezug nehmen kann. Hier geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit einem Menschenbild, das die Trennung von Leib und Umwelt zugunsten einer Verabsolutierung der sozialen Welt zur Grundlage macht und das menschlichen Seins darauf reduziert, ein Teilchen sozialer Systeme zu sein. Gegen diese Reduktion wende ich mich und stelle das Menschenbild der Kreativen Leibtherapie dagegen.
So verdienstvoll der systemische Hinweis auf die Zusammenhänge der Probleme einzelner Menschen mit ihren Familien- und sonstigen Systemen war und ist, so gefährlich sind die Trennungen und Gegenüberstellungen. Grundauffassungen der Systemischen Therapie bestehen darin, dass soziale Systeme eine eigenständige Kraft und Wirkungsweise haben. Psychische Leiden einzelner Personen sind so ausschließlich Ergebnis systemischer Wirkungen. In den krassesten Annahmen spielen deshalb Gefühle und andere leibliche Regungen keine Rolle, in abgeschwächteren Varianten wird formuliert: „Immer mehr setzte sich die Überzeugung durch, dass es einfacher und erfolgreicher ist, ein Interaktionssystem zu therapieren statt eines Individuums. Denn es ist relativ einfach möglich, die Interaktionsregeln eines Systems direkt zu beobachten, während die intrapsychischen Vorgänge eines Individuums, seine Gedanken und Gefühle lediglich mit Hilfe sehr unsicherer hypothetischer Konstrukte zu erschließen sind.” (Webseite der DGSF, 2011)
Entscheidend ist hier, dass das „System” und die „intrapsychischen Vorgänge eines Individuums” als voneinander getrennt betrachtet werden. Die leibphänomenologische Auffassung und damit die Grundhaltung Kreativer Leibtherapie ist eine andere: „Der Leib steht dem Umraum nicht gegenüber; er ist nicht Dingliches, Gegenständliches, das sich auf den Raum des Körpers begrenzen ließe. Leiblichkeit bedeutet vielmehr ein lebendiges Geschehen, nämlich den fortwährenden Prozess der Vermittlung zwischen den Polen von Leib und Welt, die nicht voneinander zu trennen sind.” (Fuchs 2000b, S. 12)
Wir begegnen den Abspaltungen zwischen der Person und dem Umraum bei einzelnen Klient/innen:
„Nein”, sagte eine Klientin, „wie es mir geht, das kann ich niemandem erzählen. Ihnen schon, ein bisschen, denn Sie werden ja dafür bezahlt. Aber anderen? Das interessiert doch keinen. Das ist doch normal.”
Die Verbindung zwischen dem eigenen Spüren und der Umgebung ist unterbrochen, die Fähigkeit zum Mitschwingen im Umraum gestört. Vielleicht sind die Belastungen aus dem sozialen Umfeld so unerträglich geworden, dass die Betroffenen sich aus Selbstschutz abschotten mussten. Vielleicht sind sie mit ihren leiblichen Impulsen so oft ins Leere gegangen oder beschämt worden, dass sie ihre Impulse abbremsen. Aus welchen Gründen auch immer, die Trennung zwischen individueller Leiblichkeit und sozialem Umfeld ist ein Faktor des Leidens und nicht der Normalität.
Wird diese Trennung als gegeben hingenommen und zum Ausgangspunkt der Therapie gemacht, muss dies schwerwiegende Konsequenzen haben. Ein Beispiel: „Paarbeziehungen, Familien und Organisationen bestehen in dieser Sicht aus Kommunikationszusammenhängen, und wenn diese Kommunikationszusammenhänge pathogene Folgen haben, müssen nicht die Gedanken der Klienten verändert werden, sondern es genügt, die entsprechenden Kommunikationsmuster zu verändern.” (von Ameln 2004, S. 164) Dieses Konstrukt widerspricht unserer Erfahrung menschlichen Lebens, denn es kann keine getrennte Veränderung von Kommunikationsmustern und Gedanken geben. An der Kommunikation mit anderen sind die eigenen Selbsteinschätzungen, Gedanken, Gefühle und anderen Regungen beteiligt. Es gibt keine Person ohne Kommunikation und keine Kommunikation ohne Person.
In der systemischen Theorie etwa von Niklas Luhmann werden dann konsequenterweise Personen völlig entpersonalisiert und entleiblicht. Unter Personen werden Einheiten verstanden, die von einem sozialen System konstruiert werden, das „Verhaltenserwartungen an die betreffenden Einzelmenschen bündelt” (a.a.O., S. 138, s.a. Luhmann 1984). Die Person verliert das Eigene, wird nur noch zum Sammelbecken der Erwartungen anderer. Was nach meinem Verständnis pathologisch ist, wird zum gesunden Zustand der Menschen erklärt. Solche pathologischen Zustände kennen wir von manchen Klient/innen, die darunter leiden, dass sie ihren Sinn für das Eigene verloren haben. Wenn sie sich nur noch als Mülleimer oder „Bündelung” von Erwartungen anderer fühlen, dann ist der Kern der Person, die Meinhaftigkeit (siehe Kap. 2.2.1) verloren gegangen oder zumindest gefährdet.
Da nimmt es nicht wunder, wenn den Gefühlen in diesen Theoriekonstrukten keine oder kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bei Niklas Luhmann werden Gefühle als unspezifische „Immunreaktion” verstanden, die auftreten, wenn die sogenannte „Selbstproduktion des Bewusstseins” gefährdet ist. „Die bekannte Vielfalt unterschiedlicher Gefühle (...) kommt erst sekundär, erst durch kognitive und sprachliche Interpretation zustande; sie ist (...), wie aller Komplexitätsaufbau sozialer Systeme, sozial bedingt.” (Luhmann 1984, S. 372) Da müssen schon gewaltige gedankliche Verrenkungen unternommen werden, um die Gefühle vom Leib zu trennen und ausschließlich als eine Funktion sozialer Systeme zu deuten. Ganz gleich, wie systemisch-konstruktivistisch argumentiert und konstruiert wird: Den Unterschied zwischen meiner Trauer und meiner Freude spüre ich – dazu brauche ich keine „kognitive und sprachliche Interpretation”.
Was bei den systemischen Reduktionen verloren geht, ist eine wesentliche Eigenschaft der Leiblichkeit und insbesondere der Gefühle: ihre Intentionalität. Sie haben Bedeutung und sie schaffen Bedeutung. Sie zeigen mir die Richtung meiner Absichten. Wenn ich neugierig auf eine Person bin, habe ich eine andere Haltung ihr gegenüber, als wenn ich sie liebe oder auf sie zornig bin. „Leiblichkeit ist das Medium zur Welt: Meine Empfindungen, meine Sinne, meine Triebregungen und Stimmungen erschließen mir die Welt, etwa als ‚angenehm‘ oder ‚unangenehm‘, als ‚nützlich‘ oder ‚schädlich‘.” (Fuchs 2000b, S. 3)
Wird die Leiblichkeit des Einzelnen vom sozialen Zusammenhang abgetrennt und interessiert nur das pathogene System, wird alles wertfrei. Jedes Verhalten kann dann Sinn machen und positiv bewertet werden. In einem Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung wird als theoretische Grundlage der Methode des „Reframing” (= Umdeuten) formuliert: „Jedes Verhalten macht Sinn, wenn man den Kontext kennt. Es gibt keine vom Kontext losgelösten Eigenschaften einer Person. Jedes Verhalten hat eine sinnvolle Bedeutung für die Kohärenz des Gesamtsystems. Es gibt nur Fähigkeiten. Probleme ergeben sich manchmal daraus, daß Kontext und Fähigkeiten nicht optimal zueinander passen. Jeder scheinbare Nachteil in einem Teil des Systems zeigt sich an anderer Stelle als möglicher Vorteil.” (Schlippe/Schweitzer 1996, S. 179)
Nur „vom System aus” betrachtet mögen diese Aussagen stimmig sein. Doch wir arbeiten mit Menschen, mit lebenden und leidenden Menschen. Wenn eine Klientin vom Vater vergewaltigt wurde, dann mag dieser „scheinbare Nachteil” durchaus ein „möglicher Vorteil” für die Aufrechterhaltung des Familiensystems gewesen sein und dafür „Sinn” gemacht haben. Als leibhaftige Menschen, die in der therapeutischen Praxis anderen leibhaftigen Menschen begegnen, sind wir allerdings empört und parteilich. Wir haben und zeigen Mitgefühl, und das ist uns (und den Klient/innen) wichtiger als jede „Sinnhaftigkeit” für irgendein System. Nur wenn die leiblichen Regungen einer Person mit ihrem sozialen Umraum verknüpft bleiben, ist es möglich, eine Haltung einzunehmen, die an der Seite der Leidenden bleibt und nicht auf einem scheinbar objektiven Beobachter-Standpunkt. Um es noch einmal zu sagen: Ich weiß, dass Therapeut/innen im Rahmen der systemischen Familientherapie würdigende Arbeit machen. Ihnen gilt keine Abgrenzung. Unsere Abgrenzung gilt einem Menschenbild, welches das Leid der Menschen den Systemen gegenüber stellt und Parteilichkeit für die leidenden Menschen zugunsten eines scheinbar „objektiven” Beobachter-Standpunkts verlässt.
Aus der Tradition der Humanistischen Psychologie und den daraus erwachsenen Therapien ist ein Modell des Leibverständnisses bekannt, das den Leib als Einheit von Körper, Seele und Geist versteht. Unter „Seele” werden dabei die emotionalen Empfindungen verstanden und unter „Geist” das Denken und die Imaginationen. Dieses Menschenbild wurde oft als „ganzheitlich” bezeichnet, um den Reduzierungen des Menschen zum Beispiel auf seine kognitiven Fähigkeiten entgegenzuwirken. Mit diesem Modell haben wir traditionell viel und erfolgreich gearbeitet, wobei wir immer die vierte Dimension Kontakt bzw. soziale Interaktion mit der Umwelt hinzugenommen haben.
Mit diesem Modell ergeben sich einfache Möglichkeiten, die vielfältigen Phänomene eines Menschen zu ordnen und die Kommunikation in der Therapie zu strukturieren: Was denken Sie? Was fühlen Sie? Was spüren Sie körperlich? Wie ist gerade der Kontakt zu mir? Vor allem ist dieses Ur-Modell der Leiblichkeit in der Therapie ein großer Schritt gegenüber der Negierung der Körperlichkeit oder der Gefühle bzw. weg von der Aufspaltung einzelner Aspekte menschlicher Lebendigkeit.
Grafik 2: Das Menschenbild der humanistischen Psychologie