Was hochbelastete Kinder brauchen - Udo Baer - E-Book

Was hochbelastete Kinder brauchen E-Book

Udo Baer

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Beschreibung

- Was alle im Helfer- und Betreuer-System von »Problemkindern« wissen sollten - Mit vielen anschaulichen Beispielen - Praxisnaher, allgemein verständlicher Schreibstil »Problemkinder« fordern ihre Betreuer und Helfer meist maximal heraus. Lethargie, Selbstschädigung und Verschlossenheit finden sich auf der einen Seite des Spektrums, aggressive Verhaltensweisen bis hin zur Delinquenz auf der anderen. Dennoch sind dies Kinder, die wir nicht verlieren dürfen. Das Buch bietet eine umfassende Verstehens- und Praxishilfe für alle, die mit hochbelasteten Kindern umgehen oder arbeiten. Es zeigt, was diese Kinder brauchen, um ihre nicht selbst verschuldeten Defizite durch neue und bessere Beziehungserfahrungen abbauen zu können. Dazu gehören konstruktive Wirksamkeitserfahrungen, Spiegelung und Rahmensetzung und vor allem zugewandte Präsenz. Hochbelastete Kinder brauchen keine Checklisten und Manuale, sondern Menschen, die sie in all ihrem Schwierigsein verstehen und im lebendigen Kontakt bleiben. Dieses Buch richtet sich an - Pädagogisches Fachpersonal in sozialpädagogischen Einrichtungen und Jugendhilfe - ErzieherInnen - Kinder- und SchulpsychologInnen - Beratende PsychologInnen - Adoptiveltern, Pflegeeltern

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Seitenzahl: 197

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Udo Baer

Was hochbelastete Kinder brauchen

Praxishandbuch für die Begleitung und Betreuung

Impressum

Diese Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke / Agentur für Autoren und Verlage, http://www.aenneglienkeagentur.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wallbaum/ Weiß Freiburg

Unter Verwendung eines Fotos von © 2Design / Photocase

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96440-0

E-Book: ISBN 978-3-608-19168-4

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-29153-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhalt

Vorbemerkung

Teil A

Die acht Wege

1 Der erste Weg: Zur Quelle gehen – Diagnostik

1.1 Verständnis ist nicht Entschuldigung

1.2 Die vier Monster der Entwürdigung

1.2.1 Die Gewalt

1.2.2 Die Erniedrigung

1.2.3 Die Beschämung

1.2.4 Ins Leere gehen

1.3 Giftige Atmosphäre

1.4 Zugänge zum Verständnis

1.4.1 Die Belastungspyramide

1.4.2 Zu viel, zu wenig

1.4.3 Die Weisheit der Kinder

2  Der zweite Weg: Rahmung

2.1 Sichere Orte

2.2 Täterkontakt?

2.3 Strukturen

2.4 Gerechtigkeitssinn

2.5 Beziehungsprofessionalität

3 Der dritte Weg: Neue Beziehungserfahrungen statt Bindungsstörung

3.1 Bindungstheorie und Bindungsstörungen

3.2 Die drei Bindungsstörungen

3.2.1 Unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten

3.2.2 Unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten

3.2.3 Desorganisiertes Bindungsverhalten

3.2.4 Folgen von Bindungsstörungen

3.3 Was Kinder mit Bindungsstörungen brauchen

3.4 Meinhaftigkeit in der Zwischenleiblichkeit

3.5 Spürende Begegnungen

3.6 Triangel und andere Zwischenschritte

3.7 Wie geht Trösten?

4 Der vierte Weg: Tridentität – Nähren, Spiegeln, Gegenüber-Sein

4.1 Das Tridentitätskonzept

4.2 Das Nähren

4.3 Das Spiegeln

4.4 Das Gegenüber-Sein

4.5 Tridentitäts-Diagnostik

5 Der fünfte Weg: Ich-Aufbau

5.1 Bedeutungsräume

5.2 Die fünf wichtigsten Bedeutungsräume

5.3 Verletzungen und Schutz des öffentlichen Raums

5.4 Verletzungen und Schutz des persönlichen Raums

5.5 Verletzungen und Schutz des intimen Raums

5.6 Stärkung des inneren Kerns

5.7 »Ich bin ich« und andere Wege der Ich-Stärkung

6 Der sechste Weg: Konstruktive Wirksamkeitserfahrungen

6.1 Das Gefühl chronischer Wirkungslosigkeit

6.2 Die Folgen

6.3 Destruktive und konstruktive Wirksamkeitsbemühungen

6.4 Quellen der Aggressivität, Umgang mit Aggressivität

6.4.1 Fluch und Segen der Aggressivität

6.4.2 Quellen überbordender Aggressivität

6.4.3 Erregungsdiagnostik

6.4.4 Deeskalation

6.5 Verkehrsschilder und Stopp-Übungen

6.6 Beziehungswirksamkeit

7 Der siebte Weg: Das große

UND

7.1 Widersprüchlichkeiten akzeptieren und leben

7.2 Partielle Offenheit

7.3 Synchrontransfer

7.4 Die Beziehungsraute

7.5 Das

UND

-Triptychon

8 Der achte Weg: Worte und mehr für Gefühle und Beziehungen

8.1 »Brutal«, »krass« und andere Nicht-Worte

8.2 Gefühlssterne

8.3 Musik

Teil B

Zur diagnostischen Vertiefung: das Trauma-Differenzierungsmodell und mehr

1 Belastung und Hochbelastung

2 Hochbelastung und Trauma

3 Hochbelastung, Trauma und Komplextraumata

4 Komplextraumata und Intensivpädagogik

Teil C

Selbstfürsorge der Begleiter/innen

1 Resonanz und Zwischenleiblichkeit – würdigen, was ist

2 Wer tröstet die Tröstenden?

3 Mein sicherer Ort

4 Meine Fallen

5 Fachkompetenz und Herzkompetenz

Literatur

Vorbemerkung

Was sind hochbelastete Kinder? Vergleichen wir drei gleichaltrige Kinder.

S. ist sieben Jahre alt. Seine Eltern leben seit einem Jahr im Streit. Sie haben immer weniger Zeit für ihn. Vor allem belastet ihn die schlechte Atmosphäre in der Familie. Nun trennen sich seine Eltern. Stefan ist traurig und ärgerlich. Oft weiß er gar nicht mehr, was er fühlt. Er zieht sich immer mehr vor den Eltern und Freunden zurück, spielt sehr viel an der Playstation, redet weniger, wirkt niedergeschlagen.

Y. ist acht Jahre alt. Sie lebt mit der Mutter allein in einer kleinen Wohnung. Die Mutter ist Gelegenheitstrinkerin, zieht dann »durch die Kneipen«: »Ich muss doch auch mal was vom Leben haben«, sagt sie dann. Sie lässt die Tochter allein, manchmal zwei bis drei Tage lang. Y. hat selbst sexuelle Gewalt erfahren von einem früheren Partner der Mutter. Sie schwankt zwischen extremen aggressiven Ausbrüchen und totalem Verstummen. Sie wirkt sehr selbstständig und sagt, sie »komme klar«, wenn die Mutter unterwegs ist. Sie isst kaum noch, wird immer dünner. In der Schule lügt sie. Sie schwindelt auch ihre Mitschüler/innen an, sodass keiner ihr noch etwas glaubt.

M., ebenfalls acht Jahre alt, stammt aus Syrien. Auf der Flucht hat er seinen Bruder verloren, er ist ertrunken. Wo seine Eltern sind, weiß er nicht. Er wurde aus Syrien zum Onkel geschickt, damit er aus der Kriegshölle herauskommt. Ob die Eltern noch leben, ist unbekannt. Bei seinem Onkel hat er massive Gewalt erfahren, musste ins Krankenhaus und kam danach in die Betreuung des Jugendamtes. Seitdemist er völlig verstört. Er wechselt zwischen einer Wohngruppe oder anderen Jugendeinrichtung zur nächsten.

Alle drei sind verletzte Kinder, doch der Grad der Verletzung und die Schwere der Folgen sind unterschiedlich.

S. ist verletzt durch die Trennung, an deren Vorgeschichte er leidet, und braucht Unterstützung. Mit solchen Kindern haben wir und wahrscheinlich Sie viel zu tun, nicht so sehr in der Jugendhilfe als fast alltäglich in Schule, Kindergarten, Beratungsstellen und anderen Einrichtungen.

Y dagegen ist ein hochbelastetes Kind. Es hat mehrere schwere Belastungen einschließlich Traumatisierungen erfahren: durch den Alkoholismus der Mutter, durch die sexuelle Gewalt, durch das Allein-gelassen-Werden und vielleicht noch mehr. Hier sind sozialpädagogische oder therapeutische Hilfen notwendig. Nicht alle diese Kinder erfahren solche Unterstützung. Oft begegnen wir ihnen auch in Schule und Kindergarten. Doch in jedem Fall gilt: Ihr Ich ist beschädigt. Ihr innerer Kern ist oft existenziell verletzt. Ihnen fehlen Orientierung und Halt.

M. ist ebenfalls hochbelastet. Doch hier kann man sogar von einem komplex-traumatisierten Kind sprechen. M. hat nicht nur ein Trauma erlebt, sondern mehrere. Keiner kommt an ihn »heran«. Er wirkt verloren. Er erlebt seine gesamte Welt als feindlich.

Komplex traumatisierte Kinder sind eine Sondergruppe unter den hochbelasteten Kindern.

Selbstverständlich sind die Grenzen zwischen diesen drei genannten Kategorien – verletzte Kinder, hochbelastete Kinder, komplex traumatisierte Kinder – fließend. Das Thema dieses Buches sind vor allem die hochbelasteten Kinder. Die Differenzierungshilfen zu den anderen beiden Gruppen werden in Teil B herausgearbeitet.

S., Y. und M. brauchen unterschiedliche Hilfen. Für jedes einzelne Kind gilt – nicht nur für diese drei –, dass eine individuelle Diagnostik herausgearbeitet werden muss und individuell auf das einzelne Kind bezogene Hilfekonzepte erarbeitet werden müssen. Damit dies gelingen kann, werde ich im Folgenden acht Wege praxisnah beschreiben, mit denen hochbelastete Kinder unterstützt werden können und sollen. Das breite Büfett von Hilfsmöglichkeiten in diesen acht Wegen zusammenzufassen, dient der Orientierung.

In Teil B stelle ich ein Modell vor, wie verletzte, hochbelastete und komplex traumatisierte Kinder und Jugendliche zu unterscheiden sind. Diese Differenzierung ist wichtig und notwendig, um aus dem speziellen Verständnis des Leidens der Kinder differenzierte und passgenaue Hilfsmöglichkeiten anzubieten.

Hochbelasteten Kindern zu helfen, belastet die Helfenden. Deshalb gehe ich in Teil C darauf ein, was Menschen, die hochbelastete Kinder und Jugendliche begleiten, brauchen. Ob als Eltern, Erzieher/innen, Pädagog/innen, Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen oder in anderer Funktion.

Bei alldem sind mir zwei Grundsätze wichtig.

Erstens geht es um die Würde der Kinder. Jedes Kind muss als menschliches Wesen gewürdigt und in seinen Besonderheiten geachtet werden. Es geht auch um die Würde der Begleitenden, ganz gleich, ob Sie Eltern, Sozialpädagogen/innen oder Mitarbeiter/innen in Kita oder Schule, Jugendamt oder Jugendhilfeeinrichtungen sind. Auch Ihre Würde ist wichtig. Nur wenn sowohl die Kinder als auch wir, die Begleitenden, gewürdigt werden, kann Unterstützung gelingen. Besonders wichtig ist es mir, das Augenmerk darauf zu richten, dass die Beziehung zwischen Kindern und uns Begleitpersonen gewürdigt wird. Jedes hochbelastete Kind hat Beziehungsverletzungen erlebt, ist alleine gelassen, gequält, geschlagen worden … All das sind Beziehungsverletzungen. Und Beziehungsverletzungen brauchen Beziehungswürdigung und Beziehungsheilung. Deswegen zieht sich die Würdigung der Beziehung wie ein roter Faden durch alle Kapitel.

Der zweite Grundsatz lautet: Es gibt keine einfachen Lösungen. Dieses Buch ist kein Rezeptebuch. Ich verspreche Ihnen nicht, dass Sie für jedes Kind eine adäquate Hilfe finden werden. Es sind Anregungen und Möglichkeiten, die Sie unterstützen werden, zu suchen und zu versuchen und sich um jedes einzelne Kind zu bemühen.

Und noch drei Hinweise:

Wenn ich von Kindern sprechen, meine ich immer auch Jugendliche.

Die Praxisbeispiele sind selbstverständlich anonymisiert.

Dies ist ein Praxisbuch mit theoretischem Hintergrund. Ich möchte vor allem den Menschen etwas an die Hand geben, denen ich in meiner Praxis, meinen Seminaren, Beratungen und Vorträgen begegnet bin und die meine Erfahrungen, Konzepte und Methoden nützlich fanden und finden. Deswegen steht die Praxisorientierung im Vordergrund. Da, wo es sinnvoll scheint, habe ich meine theoretischen Modelle erläutert. Zur Vertiefung verweise ich auf meine anderen Veröffentlichungen. Wenn ich ohne konkreten Bezug von »wir« rede, meine ich meine Frau Gabriele Frick-Baer und andere Kolleg/innen in leiborientierter Therapie und Pädagogik. Literaturhinweise habe ich deshalb sparsam verwendet.

Auf die Arbeit mit Familien gehe ich nicht ein. Hier verweise ich auf mein Buch »Familientherapie«.

Für Rückmeldungen zu dem Veröffentlichten bin ich dankbar. Schreiben Sie mir über [email protected].

Teil A

Die acht Wege

1 Der erste Weg: Zur Quelle gehen – Diagnostik

1.1 Verständnis ist nicht Entschuldigung

Viele Verhaltensweisen der Kinder, um die es in diesem Buch geht, sind uns Erwachsenen unverständlich. Sie werden als »schräg«, »gaga«, »krankhaft«, »pathologisch«, »verrückt« oder »anders« bezeichnet. Ich gehe davon aus, dass jedes Verhalten von Kindern und Jugendlichen ursprünglich einen Sinn hatte. Dieser Sinn mag verloren gegangen sein, doch den Kontext des Verhaltens, seine Vorgeschichte zu erkunden und zu verstehen, ist wichtig, weil es das Verständnis für diese Kinder und Jugendlichen erweitert.

Ein Beispiel:

M. ist ein »Abhauer«, wie die anderen Kinder sagen. Bei Stress rennt er immer weg und versucht, sich zu verbergen. Der Sozialpädagoge N., der M. betreut, hat sich überlegt, mit ihm eine Fahrradtour zu unternehmen. Er geht zu ihm und erzählt ihm von seiner Idee. M. blickt verwundert und erschrocken. Dann läuft er weg. N. beklagt sich: »Warum läuft er vor mir weg? Ich wollte mit ihm doch etwas Schönes unternehmen!?«

M.s Geschichte ist eine Geschichte mit vielen Erfahrungen des Weglaufens, des Verlassens und des Verlassen-Werdens. Sein Vater hatte die Familie kurz nach seiner Geburt verlassen. Er kennt ihn nicht. Die Mutter wurde Alkoholikerin. Als Quartals-Trinkerin hatte sie gute Phasen – und dann war sie plötzlich wieder weg. Sie ging auf »Sauftour«, mehrere Tage lang, manchmal sogar zwei Wochen. M. hat also erlebt, dass andere vor ihm weglaufen und er allein zurückbleibt. Er fühlte sich immer schuldig, wenn die Mutter plötzlich nicht mehr da war. Das fühlen auch viele andere Kinder, denen etwas widerfährt, das sie sich nicht erklären können. Dass andere verschwinden, dass andere sich entfernen, das war M. vertraut, das hat sich in ihm eingehaust und wurde selbstverständlich.

Hinzu kam sein Misstrauen. M. lebte als Kind in der Hochspannung, dass immer plötzlich etwas passieren konnte. Jeden Moment konnte die Mutter weg sein. Er beäugte ihr Verhalten misstrauisch, achtete auf jedes Anzeichen. Selbst wenn die Mutter nett zu ihm war, war er misstrauisch, ob das nicht gleich wieder umkippte und die Mutter wieder weg war.

Deswegen hat sich bei M. das Muster entwickelt, dass er bei Stress wegläuft. Das gilt bei negativen Belastungen, aber auch bei positivem Stress. Das Angebot seines Betreuers hat ihn einerseits misstrauisch gemacht: Kann das denn ernst gemeint sein? Und es hat ihn aufgeregt und positiven Stress hervorgerufen. Also läuft er weg.

Ein Verhalten wie von M. kennen wir von vielen Kindern und Jugendlichen. Wenn Kinder weglaufen, fliehen sie vor etwas, das sie nicht aushalten. Wenn Kinder weglaufen, dann wollen sie, dass wir nach ihnen suchen. Wenn M.s Mutter weg war, war er besorgt und suchte nach ihr, zumindest als er älter war. Doch vergeblich.

Wir kennen von vielen Kindern, dass das Weglaufen ein Signal ist, dass sie sich nicht genug gesehen fühlen, dass sie gesucht und gefunden werden wollen.

Diesen Zusammenhang zu verstehen hilft N., Verständnis für M. zu entwickeln. Er bleibt gekränkt, dass M. auf sein Angebot so reagiert, UND er hat Verständnis dafür, dass M. ein solches ihm vertrautes Muster des Verhaltens entwickelt hat und lebt. Er sagt ihm das: »Du bist oft verlassen worden. Ich kann verstehen, dass du misstrauisch bist und wegläufst. UND ich will das nicht.« Sie redeten eine Weile, stritten sich, versöhnten sich. N. blieb bei seinem UND. Und dann fuhren sie gemeinsam weg.

Auf die Haltung des UND werde ich in diesem Buch häufig zurückkommen. Hier ist sie mir vor allem wichtig, damit deutlich wird, dass Verständnis für die hochbelasteten Kinder nicht damit gleichzusetzen ist, die Verletzungen, die sie uns zufügen, zu entschuldigen. Wer verletzt – ob Kind oder Erwachsener –, trägt dafür Verantwortung. Verletzungen schmerzen, egal, von wem sie zugefügt werden. Das darf und muss auch den Kindern gegenüber deutlich werden. UND wir sollten uns bemühen, die Quellen verletzenden und anderen Verhaltens dieser Kinder und Jugendlichen zu verstehen. Nur dann finden wir einen Zugang zu ihrem Leid. Nur dann kann es gelingen, sie nicht lediglich zu disziplinieren, sondern ihnen nachhaltig zu helfen.

Ich werde deshalb in diesem Kapitel die vier »Monster der Entwürdigung« und andere Quellen des Verhaltens und Fühlens hochbelasteter Kinder und Jugendlicher vorstellen, um dann später Konsequenzen daraus abzuleiten. Die Suche nach den Quellen des Verhaltens hochbelasteter Kinder ist Diagnostik in einem bestimmten Verständnis. Mit Diagnostik wird üblicherweise ein »Urteil« gemeint, wie auch die Übersetzung dieses Wortes aus dem Lateinischen lautet, und damit die Zuordnung der Kinder und Jugendlichen zu vorgegebenen Störungen und Pathologien. Doch das Wort Diagnostik enthält auch das griechische Wort »gnosis«, und das bedeutet Einsicht, Verständnis, Erkenntnis. Das ist meine Definition von Diagnostik: Einsichten in die Zusammenhänge des Verhaltens hochbelasteter Kinder und Jugendlicher zu gewinnen. Klassifizierungen und pathologische Störungsbilder können dabei allenfalls unterstützen und Anhaltspunkte bieten, dürfen aber diesen Prozess, diese Suche nicht ersetzen.

1.2 Die vier Monster der Entwürdigung

1.2.1 Die Gewalt

Wenn Kinder und Jugendliche Gewalt erfahren, dann ist das eine Entwürdigung. Um welche Art von Gewalt es dabei geht, ist zweitrangig. Die Gesichter der Gewalt können nämlich vielfältig sein. Kinder werden geschlagen oder erleiden sexuelle Übergriffe. Es gibt verbale Gewalt, und es gibt Gewalt durch Handlungen und Unterlassungen von Handlungen, durch Blicke, durch den Klang einer Stimme und viele andere Formen mehr. Es gibt viele Versuche, »Gewalt« zu definieren. Meines Erachtens sind sie nicht sehr erfolgversprechend, weil sie sich vor allem auf die Formen und die Quantität gewalttätiger Aggressivität beziehen. Entscheidend ist aber, dass sich Kinder und Jugendliche durch Angriffe verletzt fühlen, und das massiv und nachhaltig. Deswegen ist Gewalt ein Monster der Entwürdigung, deswegen ist Gewalt in jeder Form abzulehnen und zu verurteilen.

Keine Gewalt hat einen »pädagogischen« Nutzen, ganz gleich wie oft auch behauptet wird: »Eine Ohrfeige hat mir auch nicht geschadet!« Oder: »Es ist doch nur zu deinem Besten!« Solche Sprüche sind Tarnung. Gewalt ist nichts anderes als Gewalt, und Gewalt entwürdigt und ist Ausdruck der Selbsterhöhung oder Hilflosigkeit und Überforderung der Täter/innen oder des Sadismus derjenigen, die sie ausüben.

Die Kinder und Jugendlichen, die hochbelastet sind, haben nicht nur einmal, sondern mehrmals Gewalt erfahren. Die Gewalt hat sich in ihnen »eingehaust«. Die Gewalterfahrungen sind fortlaufend, das Leiden an der Gewalt chronifiziert. Gewalt zu erleben, ist für diese Kinder und Jugendlichen selbstverständlich geworden und alltäglich.

Y. wird immer wieder geschlagen. Er ist elf Jahre alt und lebt bei seinen Eltern, bis das Jugendamt eingeschaltet wird. Wann Y. das erste Mal geschlagen wurde, weiß er nicht, weiß niemand. Wenn man ihn fragt, sagt er: »Schon immer.« Er wird geschlagen, er wird angeschrien, er wird mit »bösen Blicken« betrachtet. Wenn Y. von der Schule kommt, dann lauscht er an der Tür und versucht herauszufinden, ob es gleich Prügel gibt oder ob er diesmal davonkommt. Er lebt in ständiger Hochspannung. Sein Körper ist sehr angespannt, um sich gegen Schläge zu wehren und so zu versuchen, den Schmerz zu lindern. Vor allem aber besteht die Spannung in der ständigen Erwartung von Gewalt. Gewalt in jeder Form ist sein Alltag.

Als Y. in die Obhut einer anderen Familie kommt, wird er nicht mehr geschlagen, aber die Hochspannung bleibt bestehen. Wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, wenn er meint, etwas falsch gemacht oder einen Anlass für eine Bestrafung geliefert zu haben, dann ziehen sich seine Schultern hoch. Er blickt, als würden gleich Schläge auf ihn herabprasseln. Seine Augen schwanken dann hin und her oder werden starr. Solche Reaktionen gibt es auch, ohne dass es dafür einen Anlass gibt. Denn die Schläge, die er erfahren hat, waren willkürlich. Manchmal gab es eine offizielle Begründung, einen offiziellen Anlass; oft aber auch nicht, sodass auch seine Erwartungen keinen Anlass brauchen.

Häufig steht die Alkoholabhängigkeit eines Elternteils oder beider Eltern im Hintergrund, wenn Kindern Gewalt angetan wird.

A.s Mutter ist Alkoholikerin. Sie lebt mit einem ständigen hohen Alkoholpegel. Wenn dieser zu sehr sinkt und sie nicht schnell an Alkohol gelangt, dann wird die Mutter aggressiv und schreit und schlägt. Dies geht schon seit Jahren so, sodass A. immer wieder in Erwartung solcher Phasen lebt. Sie ist mit zuständig dafür, dass die Mutter regelmäßig mit Alkohol versorgt wird, auch aus Selbstschutz. Wenn die Mutter einen hohen Alkoholpegel hat, fällt sie in einen koma-ähnlichen Tiefschlaf. Sie »taucht« ab, oft über 12 bis 16 Stunden, und lässt A. allein. A. hat schon mehrmals den Notarzt gerufen, weil sie Angst hatte, dass ihre Mutter stirbt. A. ist dreizehn, zeigt keinerlei Verhaltensweisen eines pubertierenden Mädchens, sondern lebt, wie eine Sozialarbeiterin beobachtet, »wie auf Zehenspitzen«. Als ob sie dadurch die Ausbrüche der Mutter verhindern könnte. Der Vater ist schon lange weg. Es gibt niemanden, der sie in ihrer Familie schützt.

Auch die Erfahrung sexueller bzw. sexualisierter Gewalt1 ist im Kern eine Gewalterfahrung. Für sexuelle Gewalttäter und -täterinnen geht es in ihren Übergriffen nicht um Sexualität, zumindest nicht in erster Linie, sondern um Macht, um nichts als pure Macht, um die Erniedrigung der anderen. Indem sie Gewalt ausüben, erheben sich die Täter und Täterinnen über ihre Opfer. Sie empfinden kein Mitgefühl. Entweder laben sie sich an deren Not oder sind gegen jedes Mitfühlen des von ihnen verursachten Leides völlig abgestumpft und verroht.

Die sexuelle Gewalt ist Gewalt und hat die gleichen Auswirkungen wie andere Gewalt. Doch hinzu kommen häufig auch Auswirkungen auf die sexuelle Identität. In der sexuellen Gewalt wird Sexualität damit verknüpft, dass die Menschen ohnmächtig oder mächtig sind. Es gibt nur oben oder unten, kein Miteinander, keinen Fluss der Leidenschaft und Zuneigung, nur Grobheit statt Zartheit oder Zärtlichkeit. Solche Erfahrungen können nachhaltige Wirkungen hervorrufen. Berührungen können den Opfern sexueller Gewalt Angst machen. Die Identität als Frau oder Mann kann beschädigt werden. Solche Erfahrungen können das weitere Leben massiv beeinträchtigen.

Der dreizehnjährige S. wurde in seinem familiären Umfeld mehrmals vergewaltigt. Nun, in der Pubertät, erwachen seine sexuellen Triebe. Er gerät in eine massive Krise. Er verspürt Lust, will aber nicht so werden wie die Täter. Er sehnt sich nach Nähe, kennt sie aber nur als erniedrigende Gewalt …

Fast alle Opfer sexueller Gewalt sind traumatisiert und leiden unter nachhaltigen Belastungen. Diese Belastungen betreffen nicht nur die Zeit der unmittelbaren Gewalterfahrung, sondern auch die Zeit danach2. Werden sie in der »Zeit danach« allein gelassen und erfahren weder Trost noch Hilfe, dann wird diese zu einer lebenslänglichen Zeit danach. (Dazu später.)

In den Beispielen wurde deutlich, dass die erwähnten Kinder nicht nur einmalige Gewalterfahrungen erleiden mussten, sondern dass diese sich wiederholten. Sie erleben die Zeit nach einer Gewalterfahrung nicht als Zeit des Trostes und Schutzes, der Erholung und Solidarität, sondern als »Zeit davor«, als Zeit, in der eine neue Gewalttat droht. Dies potenziert die Belastung.

1.2.2 Die Erniedrigung

G. erzählt: »Immer habe ich alles falsch gemacht. Egal, ob in der Schule oder zu Hause. Wenn ich im Haushalt helfen sollte, was ich jetzt gar nicht mehr mache, dann war es immer nicht richtig. Nie war es gut. Selbst wenn ich Geburtstag hatte, habe ich die falschen Sachen angezogen. Angeblich. Und habe mich nicht richtig benommen. Immer wurde an mir rumgenörgelt und rumgemäkelt. Irgendwann dachte ich selbst, dass ich immer alles falsch mache. Dass ich unfähig bin, irgendetwas auf die Reihe zu bekommen.«

Wenn Kinder oder Jugendliche ständig hören, dass sie alles falsch machen, dann fühlen sie sich falsch. Sie fühlen sich erniedrigt und minderwertig. Dies erfahren wir von nahezu allen hochbelasteten Kindern und Jugendlichen.

Ein anderes Beispiel:

L. hört von ihren Eltern immer wieder, dass sie ein »Trampel« sei: »Du bekommst höchstens einen Friseur als Mann oder einen Bauern. Das wird ja nie was mit dir. Den Schulabschluss kannst du vergessen, so wie du drauf bist. Du bist und bleibst ein Trampel!«

In L. setzt sich fest, dass sie absolut falsch ist. Nicht die Äußerungen der Eltern. Die Erniedrigung sickert in ihr ein und wird zum Teil ihres Selbstverständnisses. Wenn die Oma sie besuchen kommt, die sie nicht erniedrigt, die sie sogar mag und ihr ein Kompliment macht, dann glaubt L. das nicht, weil die kontinuierliche Erniedrigung viel gewichtiger ist.

Solche Erfahrung werden Sie übrigens auch mit anderen hochbelasteten Kindern machen, die solche Erniedrigungen erfahren haben. Geben Sie ihnen eine ehrliche positive Rückmeldung oder machen Sie ihnen ein Kompliment, dann werden viele dieser Kinder meinen, dass dies nur ein Trick sei, um irgendetwas zu erreichen, dass sich letztendlich dahinter weitere Erniedrigung verbirgt.

G. ist ein extrem guter Sportler. Er verfügt über ein äußerst präzises und umfassendes Körper- und Zeitgefühl. In der Schule hört er dies öfter. Doch zu Hause wird seinem Wunsch, in einen Sportverein zu gehen, nicht entsprochen. »Das kann doch gar nicht stimmen. Das sagen die Lehrer doch nur, um sich bei dir einzuschmeicheln. So wie du drauf bist, kann das nichts werden«, hört er von seinem Vater. Die Mutter schweigt. Wie beim Sport geht es ihm auch in vielen anderen Bereichen. Doch im Sport ist es am extremsten.

Eine besondere Form der Erniedrigung besteht darin, dass Kinder und Jugendliche nicht »groß« im Sinne von erfolgreich, klug, angesehen, kompetent … werden dürfen, zumindest nicht größer, als die Geschwister oder Eltern es waren. Oft haben sich Eltern darin eingerichtet, dass sie und ihre Familie »klein« bleiben müssen. Oft sind sie selbst von Trauma-bedingten Ängsten geplagt. Sie wollen, dass weder sie noch ihre Kinder »den Kopf zu weit herausstrecken«, und geben das an ihre Kinder weiter.

Eine andere Form der Erniedrigung ist die Manipulation.

M. weiß gar nicht mehr, was sie will. Sie ist elf Jahre alt, und alle ihre Mitschülerinnen wissen, was sie wollen. Das betrifft die Kleidung, die Spiele, die Freunde und Freundinnen, Urlaube und vieles andere mehr. M. weiß es nicht. Sie hat Schlimmes erlebt, und vor allen Dingen weiß ihre Mutter immer alles. Wenn M. einen Vorschlag macht, was sie anziehen möchte, hört sie: »Nein, zieh das andere an. Das steht dir besser.« Wenn sie sich wünscht, mit einer Freundin ins Kino zu gehen, weiß die Mutter besser, dass der Film nichts für M. ist. Sie sollte lieber etwas anderes machen. So geht es jeden Tag. Irgendwann passt sich M. den Vorschlägen der Mutter an (der Vater ist schon lange weg). Die Manipulation wird zur Selbstverständlichkeit.

Wenn die Manipulation so alltäglich wird, dann verlieren Kinder und Jugendliche ihren »inneren Kern der Bewertung«3. Dann wissen sie nicht mehr, was sie wirklich wollen oder wünschen und was sie anstreben. Auch dies ist eine Form der Erniedrigung. Sie kann mit Komplimenten garniert sein. Wenn M. dem Wunsch der Mutter folgt und das geblümte Kleid anzieht, erhält sie Komplimente: »Oh, das steht dir gut. Habe ich dir doch gesagt. Wunderbar …« Doch diese Komplimente sind Giftpfeile, weil sie auf der Manipulation und der Unterordnung beruhen. Sie sind Ausdruck der Erniedrigung.