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Ein Thema, das die Gesellschaft auch "nach Corona" noch lange beschäftigen wird Praktische Handlungsvorschläge und konkrete Tipps Zahlreiche Fallbeispiele aus der pädagogischen Praxis Erfolgreiche Buchhautoren, gut vernetzt und aktiv in der Bildungsarbeit Die Corona-Pandemie hat massive Auswirkungen auf das Leben von Kindern und Jugendlichen. Angst um die Eltern und Großeltern, Einschränkung der sozialen Kontakte, Wegbrechen von Alltagsstrukturen – all das hinterlässt Spuren in den Kinderseelen. Deshalb müssen wir uns den Kindern und Jugendlichen jetzt zuwenden! Die Autoren beschreiben die vielfältigen Auswirkungen der Pandemie, erklären die Gründe, warum die Folgen langfristig wirken und wieso Kinder, Jugendliche und ihre Familien auf unterschiedliche Weise betroffen sind. Und sie zeigen detailliert auf, wie ihnen nachhaltig geholfen werden kann: Verständnis zeigen und Gefühle teilen, Sicherheit vermitteln in unsicheren Zeiten, Selbstwirksamkeit und Zusammenhalt stärken durch gemeinsames Tun, Durch Offenheit und Vertrauen wieder zueinander finden, Einsamkeit vertreiben durch Förderung sozialer Begegnungen. Konkret und praktisch, mit zahlreichen Fallbeispielen.
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Seitenzahl: 229
Udo Baer
Claus Koch
Corona in der Seele
Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft
Klett-Cotta
Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke/Agentur für Autoren und Verlage, http://www.aenneglienkeagentur.de
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
1. Auflage, 2021
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart,
unter Verwendung einer Abbildung von Adobe Stock © rimmdream
Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Altusried-Krugzell
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98086-8
E-Book: ISBN 978-3-608-11832-2
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20551-0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
Kapitel 1
Zwölf Einzelschicksale, die für viele stehen
Mirkos Angst (12 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Sarahs Druck (15 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Tims Bauchschmerzen (9 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Nida spricht nicht (8 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Louis beißt (5 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Maries Schuldgefühle (5 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Paul verschwindet (14 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Eske ist einsam (11 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Ayla kann nichts mehr (3 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Max nässt wieder ein (7 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Esther will sterben (18 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Nils sieht die Welt wie durch eine Scheibe (21 Jahre)
Verstehen
Erklären
Helfen
Kapitel 2
Kinder sind Beziehungswesen
Kinder brauchen Resonanz
Über Urvertrauen und Einsamkeit
Kinder haben existenzielle Bedürfnisse
Die frühkindliche Erfahrung von sicher gebundenen Kindern
Die frühkindliche Erfahrung von unsicher gebundenen Kindern
Als die Welt plötzlich unsicher wurde
Was am Ende bleibt
Kapitel 3
Einsamkeit, Ängste und geplatzte Träume
Zu viel mit sich allein – die Kinder
Ängste von Kindern
Fehlende Wirksamkeit
Kontaktarmut und Ohnmachtsgefühle – die Jugendlichen
Geplatzte Träume – die jungen Erwachsenen
Kapitel 4
Spielen vor und nach Corona
Warum spielen Kinder?
Dialogisches Spielen als Brücke zum anderen
Die Bedeutung von Intermediärräumen
Zwang, Bewertung und andere Spielkiller
Die Bedeutung des Spiels vor, während und nach der Pandemie
Spielen als Heilungsprozess
Kapitel 5
Corona, die Schule und das Virus der Erneuerung
Kapitel 6
Warum Gefühle bleiben und wie sie sich äußern
Das Gedächtnis der Gefühle
Das ungelebte Leben, das leben will
Traumafolgen und Traumawiederbelebung
Kapitel 7
Von Troststeinen, kleinen Helden und Wunschpflanzen
Kapitel 8
Für ein gutes Leben nach der Pandemie
Sieben Tipps, was Sie für Kinder und Jugendliche tun können
Tipp 1 – Erklären, aber richtig
Tipp 2 – Begegnungen ermöglichen
Tipp 3 – Alltagsstruktur schaffen
Tipp 4 – Gefühle teilen
Tipp 5 – Spielen, spielen, spielen
Tipp 6 – Wirksamkeit fördern
Tipp 7 – Achtsam sein
Sieben Tipps, was Sie für sich selbst tun können
Tipp 1 – Zeit für Übergänge lassen
Tipp 2 – Soziale Kontakte überprüfen
Tipp 3 – Gefühle zeigen und teilen
Tipp 4 – Behutsam persönliche Begegnungen entwickeln
Tipp 5 – Ihren Weg des Stressabbaus finden
Tipp 6 – Den Alltag genießen
Tipp 7 – Wirksamkeit erfahren
Anhang
Ein Blick auf die Studien
COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Studie der Universität Krems und der Medizinischen Universität Wien
Studie der Bertelsmann StiftungForschungsverbund der Universitäten Hildesheim und Frankfurt
Studie des Ifo-Instituts
Studie der Pronova BKK
Repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der AOK Baden-Württemberg
Beiträge aus der Tagespresse
Ein Lob den Kindern und Jugendlichen, wie sie die Pandemie bislang gemeistert haben! Sie waren und sind diszipliniert, um sich und andere vor Ansteckungen durch das Virus zu schützen. Sie sind mit den Einschränkungen so umgegangen, dass bei den meisten ihre Lebendigkeit und Lebensfreude erhalten blieb. Auch wenn es Schwierigkeiten gab und immer noch gibt, hat die große Mehrheit von ihnen gemeinsam mit ihren Eltern Wege gefunden, sie zu bewältigen. Von einer »verlorenen Generation« oder einer »Corona-Generation« zu reden, wie dies in manchen Medien geschieht, ist deshalb nicht angebracht. Es stimmt schlicht und einfach nicht. Es ist sogar gefährlich, weil die Kinder und Jugendlichen dieser Generation damit stigmatisiert, mit einem Makel behaftet werden. Die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen wird die Pandemie und ihre Folgen mit etwas Unterstützung weiterhin gut bewältigen.
Doch diese Unterstützung brauchen sie. Deswegen werden wir in diesem Buch herausarbeiten, welche Hilfe und Begleitung notwendig ist, warum sie gegeben werden muss und wie sie gegeben werden kann. Möglichst konkret und umsetzbar, für Eltern ebenso wie für pädagogische und andere Fachkräfte.
Für die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen reicht diese Unterstützung, für manche aber nicht. Für sie hat die Pandemie negative Auswirkungen und kann andauernde Folgen haben. Wir selbst bekommen dies in unserer täglichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit. Aber auch andere Pädagogen, Psychologinnen und Ärzte berichten, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit behandlungsbedürftigen seelischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Essstörungen sowie Suizidversuchen nach Beginn der Pandemie und besonders während des Jahres 2021 sprunghaft angestiegen ist. Ein Befund, der sich ebenso in vielen Studien abzeichnet, die während der Corona-Zeit und danach angestellt wurden. Deswegen brauchen diese Kinder besondere Hilfen. Das betrifft zwar nicht die Mehrheit, aber die erhobenen Daten zeigen, dass mindestens ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger unter den Folgen der Pandemie seelisch gelitten haben, Folgen, die sichtbar bleiben werden. Jedes Kind, das jetzt Hilfe braucht und nicht erhält, ist eines zu viel.
Deswegen ist es notwendig, sich mit den Folgen der Pandemie zu beschäftigen. Denn diese Folgen gibt es und wird es noch lange geben. Wir werden die Folgen in diesem Buch beschreiben und unserer Leserschaft eine Vielzahl von Vorschlägen präsentieren, wie sie als Eltern, Pädagoginnen oder Erzieher ihnen begegnen können. Die meisten dieser Folgen betreffen die seelischen und sozialen Aspekte. Es ist ärgerlich, und wir kommen in diesem Buch mehrfach darauf zurück, wenn es in der öffentlichen Diskussion vor allem um das Nachholen von Schulstoff und um ein zügiges, möglichst geräuschloses »Weitermachen« geht. Ärzte von Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie berichten von einer Vervierfachung der Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nach Selbstmordversuchen behandelt werden. Solche und viele andere Hinweise zeigen, dass die Pandemiefolgen ernstgenommen werden müssen. Auch deswegen geht es in diesem Buch insbesondere darum, was wir Erwachsenen, ganz gleich in welcher Rolle, für die Kinder und Jugendlichen tun sollten, um den seelischen und sozialen Folgen der Pandemie entgegenzuwirken. Dabei bewegen wir uns auf drei Zeitebenen.
Die erste Ebene ist die Zeit vor der Pandemie. Dabei geht es auch darum, welche Voraussetzungen es braucht, damit Kinder und Jugendliche mit den Problemen, die die Corona-Pandemie für sie mitgebracht hat, gut umgehen können. Im Vordergrund steht hier ihre Fähigkeit, mit dem vorübergehenden Verlust von sozialen Beziehungen angstfrei und angemessen umgehen zu können. Aber auch andere Aspekte werden sichtbar, die Corona wie durch ein Brennglas sichtbar gemacht hat, beispielweise die soziale Situation vieler Familien und die damit verbundene Ungleichverteilung gesellschaftlichen Reichtums. Und wenn 35 % der Schülerinnen und Schüler bereits vor der Pandemie ungern in die Schule gegangen sind, haben die Schulprobleme in und nach der Pandemie nicht nur mit den Corona-Erfahrungen, sondern mit dem System und den Strukturen der Schulen zu tun. Die Pandemie hat alles, was war, offen gezeigt und verstärkt, auch die Probleme in den Schulen und deren Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen.
Die zweite Zeitebene ist die, in der wir dieses Buch schreiben. Es ist der Frühsommer und Sommer des Jahres 2021. Die dritte Pandemiewelle läuft aus, aber die Pandemie ist noch vorhanden. Wir beobachten genauer, welche Folgen in den letzten eineinhalb Jahren Corona gezeigt hat, was den Kindern und Jugendlichen fehlte und fehlt, was ihnen zu viel zugemutet wurde, was zu kurz kam und was ungelebt bleiben musste. Es ist noch nicht die Zeit »nach« Corona, doch wir können beobachten, dass manche Kinder in der Pandemie seelisch und in ihren sozialen Bezügen »stecken bleiben«. Wenn wir die Auswirkungen der Pandemieerfahrungen beobachten, sehen wir auch hier, dass bei manchen Kindern und Jugendlichen relativ schnell den Folgen entgegengewirkt werden kann, während bei anderen die Auswirkungen sich vertieft haben und sie längerfristige Begleitung benötigen.
Die dritte Zeitebene ist die, in der das Buch erscheint und seine Leserinnen und Leser erreicht. Wir wissen nicht, ob zu dem Erscheinungstermin im Herbst 2021 eine vierte Welle ausgebrochen ist oder sich abzeichnet, oder dies nicht der Fall ist. Was wir wissen ist, dass mit dem Abflachen der Pandemie die Folgen für viele Kinder und Jugendliche nicht einfach »vorbei« sind oder sich synchron zur Pandemie verringern. Die Kinder und Jugendlichen brauchen schnell Unterstützung. Wir können und wollen nicht darauf warten, bis ein oder zwei Jahre nach der Pandemie die Pandemiefolgen umfassend untersucht worden sind. Die Kinder und Jugendlichen brauchen schneller Hilfe – jetzt, sofort, in den nächsten Wochen und Monaten. Dabei werten wir eigene Erfahrungen der therapeutischen und pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus und ebenso wissenschaftliche Studien. Uns ist es wichtig, in diesem Buch über die zahlreichen journalistischen Artikel hinauszugehen, die die Probleme und das Leiden während der Pandemie beschreiben. Wir wollen die Probleme und Schwierigkeiten einordnen, um ein tieferes Verständnis zu gewinnen, und wir wollen möglichst konkrete Hilfestellungen vorstellen, die sinnvoll, notwendig und umsetzbar sind.
Zum Aufbau des Buches: Wir beginnen mit den Betroffenen selbst, mit den einzelnen Kindern und Jugendlichen: So stellen wir in Kapitel 1 ihre Erfahrungen und Probleme während der Pandemiezeit vor und nähern uns ihnen in jeweils drei Schritten: Verstehen – Erklären – Helfen. Da es keine Patentrezepte gibt, die für alle gelten, sind es zwölf unterschiedliche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. In den Kapiteln 2 und 3 ordnen wir die verschiedenen seelischen und sozialen Pandemiefolgen in einen theoretischen und praxisbezogenen Kontext ein und ziehen daraus Schlussfolgerungen für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Dabei ist es uns wichtig zu verstehen, warum und unter welchen Voraussetzungen die Pandemieerfahrungen je nach Alter nachhaltig wirken können. Wir beobachten, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Corona-Zeit aus ihrer Perspektive erlebt haben und mit welchen Folgen. Die in vielen Studien genannten Symptome und ihre Entstehung kommen dabei ebenso zur Sprache wie die unterschiedliche Art und Weise, wie Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene diese Zeit erlebt haben, als Corona ihr Leben maßgeblich bestimmte. In den Kapiteln 4 und 5 folgen Gedanken zur Bedeutung des Spiels und des schulischen Lernens auch nach der Corona-Zeit. Das Kapitel 6 widmet sich in besonderer Weise den Gefühlen von Kindern und Jugendlichen und dem ungelebten Leben vor allem während des Lockdowns.
Im Institut für soziale Innovationen (ISI) und im Pädagogischen Institut Berlin (PIB) wurden »Kreative Stärkungsgruppen« entwickelt und erprobt. Im 7. Kapitel stellen wir eine Vielzahl kleiner Aktionen aus diesen Gruppen vor, die in jeden anderen Kontext übernommen werden können. Schließlich geben wir in Kapitel 8 weitere, ganz konkrete Tipps und Empfehlungen, die die Kinder und Jugendlichen betreffen, aber auch die Selbstfürsorge der Eltern und anderer Erziehender. Der Anhang enthält eine zusammenfassende Betrachtung der Studien und einige weiterführende Beiträge aus den Medien.
Ob Sie das Buch von vorne bis hinten lesen oder an irgendeiner Stelle beginnen, die Sie gerade interessiert, und dann weitergehen, ist zweitrangig. Wichtig ist, dass Sie sich mit dem Thema beschäftigen – im Interesse der Kinder und Jugendlichen, im Interesse unserer Gesellschaft und unserer Zukunft. Wir hoffen, dass unser Buch Ihnen und den Kindern und Jugendlichen hilft, die Pandemiefolgen besser zu verstehen und zu überwinden.
Ergänzungen, Kritik, Fragen und andere Rückmeldungen lesen und beantworten wir gerne. Bitten senden Sie diese an:
Udo Baer und Claus Koch
Juli 2021
Kapitel 1
Mirko ist zwölf Jahre alt. Er war immer ein guter Schüler und beteiligte sich eifrig am Unterricht. Als es in seiner Klasse eine Gruppenteilung im Präsenzunterricht gab, genoss er es anfangs, weil er so mehr Raum für sich und seine Fragen bekam. Er bedauerte aber, dass er seinen besten Freund in der Klasse nicht mehr sehen konnte, da dieser der anderen Gruppe zugeteilt war. Dann war der Unterricht wieder »normal« und konnte wieder »wie früher« durchgeführt werden. Mirko war froh, seinen besten Freund wieder im Unterricht und in den Pausen zu sehen.
Doch im Laufe der Zeit fiel der Klassenlehrerin auf, dass Mirko sich im Gegensatz zu früher kaum noch am Unterricht beteiligte. Sie versuchte, ihn mehr einzubeziehen, doch auf ihre Fragen gab er nur einsilbige Antworten. Sie bat ihn zu einem Einzelgespräch und fragte ihn, was denn los sei, doch Mirko zuckte nur mit den Schultern. Er fand keine Worte, so sehr sich die Lehrerin auch bemühte.
Sie suchte das Gespräch mit den Eltern, doch auch diese waren ratlos. Sie hatten ebenfalls bemerkt, dass sich Mirko verändert hatte und sehr viel zurückhaltender geworden war, ja, fast ängstlich wirkte. Sie fanden keine Erklärung. Die Eltern und die Lehrer machten sich Sorgen um Mirko. In einem Gespräch der Lehrerin mit Mirkos älterer Schwester, die die gleiche Schule besuchte, stellte sich heraus, dass nach Meinung der Schwester Mirko »ziemlich große Angst« habe. Dies war nun ein Ansatz, um sich Mirkos verändertem Verhalten anzunähern.
Mirko hatte immer schon dazu geneigt, ängstlich zu sein. Doch die Ängste waren nie so groß, dass sie über den Familienkreis hinaus deutlich wurden und Mirkos Verhalten prägten. Wie bei vielen Phänomenen hat die Corona-Zeit das, was in Mirko vorhanden war, bei ihm und vielen anderen Kindern verstärkt. Die Ängste wurden stärker und deutlicher.
Mirko liebte seinen Opa sehr. Während der Pandemie hatte er um ihn Angst, da er an einer chronischen Herzkrankheit litt. Er fürchtete, dass er ihn anstecken könnte oder dass der Opa von jemand anderem mit Covid-19 infiziert und sterben würde. Diese Angst Mirkos weitete sich auf Eltern und Geschwister aus. Da seine Angst keine Worte fand und Mirko nicht in der Lage war sie auszudrücken, beeinflusste sie ihn immer mehr und führte zu einer ängstlichen Grundgestimmtheit und einem Rückzug in seinen lebendigen Kontakten.
Kinderängste sind weit verbreitet. Es braucht keine Pandemie, um sie zu schaffen. Meist kommen sie und gehen sie wieder. Doch solche weltweiten Ereignisse wie die Corona-Pandemie können solche Ängste massiv verstärken und zu Verhaltensänderungen führen.
Vom Kern her sind Ängste für Kinder wie für Erwachsene nützlich. Wer Angst hat, von einem Auto überfahren zu werden, das auf der Straße daherbraust, wird anhalten und warten, bis die Fußgängerampel auf Grün schaltet. Diese Angst ist genauso nützlich wie die Furcht, sich zu verbrennen, wenn man einen heißen Topf anfasst. Ängste haben den Sinn, uns Menschen zu schützen und vor Schaden zu bewahren. Insofern hatte die Angst, andere Menschen anzustecken oder von anderen infiziert zu werden, den Sinn, Abstandsregeln einzuhalten, Hände zu waschen und Masken zu tragen. Problematisch werden Ängste, wenn sie bleiben, auch wenn der Anlass nicht mehr besteht oder wenn sie überhandnehmen und das Verhalten von Kindern wie Mirko zu prägen beginnen. Dann schränken sie die Lebendigkeit und die Lebensmöglichkeiten eines Kindes ein. Das lebendige Pulsieren in der Begegnung mit anderen Menschen gelingt nur noch mit großer Anstrengung. Angst macht eng.
Dabei spielen zwei wesentliche Faktoren eine Rolle. Der erste besteht darin, dass Ängste Atmosphären bestimmen können. Das hat Mirko erfahren. Die Angst vor Corona-Ansteckungen beeinflusste die Atmosphäre im Elternhaus und in der Öffentlichkeit. Jede Nachrichtensendung im Fernsehen handelte von den Corona-Bedrohungen. Schreckliche Bilder wurden gezeigt. Das Internet war ebenso voll davon wie die Überschriften der Zeitungen. Auch viele Gespräche im Elternhaus drehten sich darum. Thema der Unterhaltungen waren allerdings nicht so sehr die Ängste, sondern die Bedrohungen, die die Pandemie hervorrief. Irgendwann wurde die Atmosphäre von Angst gezeichnet, die Ängste »lagen in der Luft«. Solche Atmosphären verstärken die individuellen Ängste aller Beteiligten, Erwachsener wie Kinder oder Jugendlicher. Mirkos Ängstlichkeit wurde dadurch stärker, und sie fokussierte sich auf einen konkreten Inhalt: die Angst um seinen Großvater und schließlich auch um seine Eltern und Geschwister. Mirko konnte alleine nichts dafür tun, diese Ängste zu verringern und die Eltern und den Großvater vor drohender Krankheit und Tod zu bewahren. Er fühlte sich ohnmächtig und wirkungslos. Hinzu kam, dass er den persönlichen Kontakt zum geliebten Großvater, von gelegentlichen Anrufen abgesehen, abbrechen musste, was seine Ängste und die damit verbundenen Fantasien steigerte.
Ein zweites Element, das das Entstehen und die Entwicklung von Kinderängsten beeinflussen kann, ist die Art und Weise, wie darüber kommuniziert wird. In Mirkos Familie wurde viel über Corona gesprochen, doch nie über die Angst. Das war schon vor der Pandemie so, dass über Gefühle zu reden nicht »in« war. Mirko war mit seinen Ängsten immer allein geblieben. Vor allem hatte er keine Vorbilder, über Ängste zu reden. Der Vater war so erzogen worden, dass Männer keine Ängste haben dürfen, denn Angstgefühle wurden in seiner Herkunftsfamilie als Schwäche bewertet. Die Mutter litt unter Schlaflosigkeit, was vermutlich auch Ausdruck ihrer Ängste war, aber sie sprach nicht darüber. Es fehlten deshalb Vorbilder, über seine Ängste zu reden, und es mangelte an Orientierungen, wie mit Ängsten produktiv umgegangen werden kann. All das verstärkte seine Ängste und infolgedessen seinen Rückzug. Seine Schwester spürte manchmal, dass Mirko Angst hatte, aber auch die Geschwister redeten nicht darüber.
Also verstärkten sich Mirkos Ängste nicht nur, sondern blieben, auch als er wieder Kontakt zum Großvater haben konnte und die akute Gefahr vorüber war.
Covid-19 ist ein Virus, das einerseits kaum greifbar oder sichtbar ist, andererseits tödliche und andere gravierende Folgen haben kann. Das macht Angst, und das ist normal. Kinder wie Mirko brauchen es, dass dieses Gefühl offen ausgesprochen und geteilt wird. Wenn Ängste tabuisiert oder verschwiegen werden, dann gewinnen sie an Kraft und nisten sich in den Seelen und dem Verhalten der Kinder ein. Deswegen ist es sinnvoll, wenn Eltern, Großeltern, Lehrerinnen und andere Erziehende über ihre Ängste reden und so Vorbild für die Kinder sind, dass man Angst haben darf und diese ausdrücken kann, ohne dafür ausgelacht oder »schräg angesehen« zu werden.
Wenn Kinder Ängste haben, hilft es, sie möglichst zu konkretisieren. Die allgemeine Angst vor »dem Virus« bleibt diffus. Wenn wir Erwachsene mit Kindern und untereinander darüber reden, wovor denn das Kind konkret Angst hat, dann kommt man auf solche Themen wie den möglichen Tod des Großvaters. Darüber kann man reden, wobei zwei Elemente besonders wichtig sind: Das erste Element besteht darin, dass bei einer Ansteckung der Großvater und andere Menschen eine möglichst schnelle und möglichst gute ärztliche Versorgung benötigen. Man kann dem Kind zeigen, wo das nächste Krankenhaus ist, wie der Hausarzt heißt und ihm deutlich machen, dass der Großvater und die anderen Verwandten die Anzeichen einer Corona-Ansteckung kennen und möglichst schnell den Arzt informieren. Das zweite Element ist die Ansteckung selber. Auch Mirko tut etwas dafür, dass der Großvater nicht angesteckt wird, indem er den persönlichen Kontakt unterbrochen hat und sich auf telefonische und gelegentliche Zoom-Kontakte beschränkt. Der Großvater selbst und seine Frau meiden Kontakte, andere gehen für sie einkaufen. Sie halten sich aufgrund ihrer Gefährdung sehr zurück, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren.
Über solche Aspekte mit Mirko und anderen Kindern zu reden, wäre für Mirko in der Pandemie eine konkrete Hilfe gewesen. Kinder fühlen sich dann nicht mehr »dem Virus« hilflos ausgeliefert, sondern sie können die Gefahr konkreter erfassen. Je konkreter dies geschieht, desto eher kann das Kind auch Möglichkeiten sehen, etwas zu tun oder etwas zu vermeiden. All diese Tätigkeiten sind keine hundertprozentige Garantie dafür, dass die Ansteckung verhindert wird, aber die Chancen einer Ansteckung werden dadurch deutlich geringer. Dies ist auch der Boden, auf dem sich Erwachsene und Kinder miteinander austauschen können, wie sie jeweils gemeinsam und individuell auf ihre Ängste und die Bedrohungen reagieren. Man kann über Hygienekonzepte, Kontakteinschränkungen und anderes reden und sich gleichzeitig darüber verständigen, dass die Bedrohung trotzdem existiert und die Ängste vorhanden sind und vorhanden sein dürfen.
Doch was kann man tun, wenn wie bei Mirko die Angst über die Pandemie hinaus bleibt und sich sogar verstärkt hat?
Das Wichtigste ist, die Angst zu erkennen und ernst zu nehmen. Wenn sich Ängste verfestigen, hilft es nicht zu sagen: »Das wird schon wieder«. Eine Angst, die unerkannt in einem Kind schlummert, kann wenig Hilfe erreichen. Deswegen ist es überaus wichtig, dass in den Familien und auch in den Klassen und Kita-Gruppen ein Klima geschaffen wird, dass das Vorhandensein und Zeigen von Ängsten erlaubt und fördert. Ängste haben einen schlechten Ruf. »Angsthasen« werden häufig verspottet. Dem entgegenzuwirken hilft den Kindern.
Die zweite elementare Hilfe besteht darin, die Angst zu teilen. Wenn Ängste nicht nur allein gespürt und getragen, sondern mit anderen Menschen geteilt werden, verringern sie ihre Kraft. Wenn Kinder Angst haben – besonders Jungs –, dann schämen sie sich oft, von der Angst zu erzählen. Deswegen müssen Erwachsene den Anfang machen. Nicht, indem sie jede Stunde die Kinder nach ihren Ängsten fragen, sondern indem sie von ihren eigenen Ängsten erzählen. Nicht alles, aber wenigstens ein bisschen. Das macht Mut und öffnet die Türen. Kinder brauchen Vorbilder, auch darin.
Dann kann gemeinsam danach gesucht werden, was Kindern wie Mirko hilft, ihre Ängste abzubauen. Was schafft Sicherheit? Was bietet Halt und Geborgenheit? Oft steht nach unseren Erfahrungen am Anfang, von den Ängsten der Corona-Zeit zu berichten. Sehr hilfreich ist es, gemeinsam nach »Angstfressern« zu suchen. Angstfresser sind Symbole oder symbolische Handlungen, die die Ängste verringern. Eine Mutter erzählte, dass sie, wenn ihre Angst zu groß wird, eine bestimmte Musik hört. Die Tochter nahm dies als Anregung, ebenfalls eine Angstfresser-Musik auszusuchen – natürlich eine völlig andere als die der Mutter. Manche Kinder malen Anti-Corona-Monster oder »Angstfresserchen«. Das sind Wesen, die sich von Ängsten ernähren.
Wenn all das nicht ausreicht, ist die Teilnahme an Förder- bzw. Stärkungsgruppen sinnvoll (siehe Kapitel 7).
Sarah war immer fleißig, auch vor Corona. Die 15-Jährige ging gern zur Schule, war dort oft mit ihren Freundinnen zusammen. Vor zwei Jahren hatte sie sich »unsterblich« in einen älteren Schüler verliebt. Sie schwärmte für ihn wie für einen Popstar – bis sie sah, dass er mit einem anderen Mädchen aus einer höheren Klasse in der Schule »herumknutschte«. Sie war am Boden zerstört, so zumindest erzählte sie es ihrer besten Freundin, doch sie fing sich wieder.
Als sie in den Corona-Zeiten zu Hause vor dem Computer unterrichtet wurde und viele Arbeitsblätter und andere Hausaufgaben selbstständig erledigen musste, gelang ihr das gut. Sie arbeitete konzentriert, ließ sich nicht ablenken. Manchmal musste sie auf ihre elfjährige Schwester aufpassen, aber auch das bekam sie hin. Sarah war für die kleine Schwester ein großes Vorbild. Diese wollte so werden wie sie und versuchte deswegen alles so zu erledigen, wie Sarah es vormachte und auch von ihr verlangte.
Doch allmählich begann Sarah unter Kopfschmerzen zu leiden, die immer heftiger wurden. Mittags musste sie sich manchmal hinlegen, so erschöpft war sie. Es gab Phasen, in denen sie sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit zu nichts aufschwingen konnte. Nicht mal mit ihren Freundinnen wollte sie chatten, was sie sonst stundenlang getan hatte. Als der Präsenzunterricht in der Schule wieder begann, hatte sie keine Lust mehr, am Unterricht teilzunehmen. Sie war einige Tage krank, ohne körperliche Symptome zu spüren. Sie ging danach wieder zur Schule, nahm aber kaum noch am Unterricht teil und zog sich aus ihren sozialen Kontakten zurück. Die Lehrerinnen und Lehrer waren ratlos.
Solche Stimmungs- und Verhaltensschwankungen treten häufig bei Kindern und Jugendlichen dieses Alters auf. Doch bei Sarah waren sie so extrem und für die Eltern überraschend, dass diese sich Sorgen machten. Sie versuchten sich um Sarah zu kümmern, redeten mit ihr, schlugen ihr professionelle Hilfe vor – doch Sarah wehrte alles ab und weigerte sich, zu einer Beratungsstelle oder in eine Therapie zu gehen. Sie zog sich immer mehr zurück. Ihr Lebensradius engte sich immer weiter ein.
Der Ursprung für dieses Verhalten war im zunehmenden Druck zu finden, den Sarah empfand. Sie hatte sich immer schon zumindest ein wenig Druck gesetzt, um gute Noten zu erreichen und gute Leistungen zu erbringen. Auch ihre Eltern waren sehr leistungsorientiert. Die Mutter war freiberufliche Musikerin, der Vater im mittleren Management eines Softwareunternehmens tätig.
Corona verschärfte alles und intensivierte den Druck. Sarah lernte zu Hause, aber ohne den Ausgleich zu haben, mit ihren Freundinnen zu reden und abhängen zu können. Der Vater war nun meist im Homeoffice tätig, den ganzen Tag zu Hause und brauchte ungestörte Ruhe für seine vielen Telefonate und Online-Meetings. Die Mutter konnte als Musikerin nicht mehr auftreten, weil alle Möglichkeiten, die ihr früher offenstanden, durch Corona versperrt waren. Dadurch fielen die Einnahmen der Mutter weg und die Familie geriet unter wirtschaftlichen Druck. Der finanzielle Druck war nicht so stark, dass er den finanziellen Boden der Familie bedroht hätte, doch die Mutter machte sich Sorgen um ihre weitere Karriere als Musikerin, was ihre wirtschaftliche Verunsicherung verstärkte. Sie konnte kaum zu Hause üben, weil der Vater und die Kinder im Homeoffice bzw. Homeschooling Ruhe brauchten. Auch das vertiefte die Sorgen und Ängste der Mutter. Als Sarah wieder in den Präsenzunterricht ging, wurde der Druck noch größer. Die Eltern erwarteten von ihr, alles aufzuholen, was sie an Lernstoff versäumt hatte, und der Druck, gute Noten zu erbringen, wuchs ins Unermessliche. Darauf reagierte sie mit Kopfschmerzen und Rückzug.
Wenn Kinder unter Druck geraten, führt das zu Rückzug und Vereinzelung. Fast immer können sie den Druck, den sie empfinden, anderen nicht mitteilen und nicht teilen. Der Druck macht dann atemlos, kann die Lebenslust deutlich verringern. Die Pandemieerfahrungen verstärken auch hier das, was vorher als Leistungsdruck schon vorhanden war. Der Druck auf das einzelne Kind oder die einzelne Jugendliche muss sich gar nicht massiv erhöhen, aber der Ausgleich fällt oft weg oder verringert sich zumindest. Ein solcher Ausgleich ist die Kameradschaft mit anderen Kindern oder Jugendlichen, es sind sportliche Aktivitäten, Spiele, Ausflüge: druckfreie Zonen. Die Balance zwischen Druck und dessen Gegenteil wird gestört. Hinzu kommt, dass die Pandemie in vielen Familien, aber auch in Klassen und anderen Gruppen, eine Druckatmosphäre geschaffen hat. Nicht nur eine einzelne Person, nicht nur das einzelne Kind oder die einzelne Jugendliche steht unter Druck, sondern mehrere Menschen gleichzeitig. Dieser Druck schaukelt sich dann hoch. In der gesamten Gesellschaft haben Junge wie Alte das Gefühl, das Virus nicht kontrollieren zu können. Das stimmt ja auch. Eine Pandemie ist ein zumindest teilweiser Kontrollverlust. Man versucht dem entgegenzuwirken durch Hygienemaßnahmen, Lockdowns und anderes, doch die Wirksamkeit dieser Maßnahmen ist beschränkt. Das Gefühl des Kontrollverlustes bleibt und erhöht den Druck.
Kinder und Jugendliche saugen die Druckatmosphäre auf. Der Druck, den sie selber mit produzieren und der, von anderen ausgehend, ihren eigenen Druck noch intensiviert, führt häufig zu Folgen wie bei Sarah. Ein Teil der Lebenslust geht verloren. Symptome wie Müdigkeit und Erschöpfung zeigen sich in Kopf- oder anderen Schmerzen. Ständig einem Druck standzuhalten, ist anstrengend, und diese Anstrengung fordert irgendwann ihren Preis.