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In der gesamten Geschichte dreht es sich um die fünf Schritte der Veränderung. Die sind nötig, wenn du der Meinung bist, dass sich etwas in deinem Leben positiv verändern sollte. Das kleine Mädchen Mara steht dabei stellvertretend für dich. Sie lebt in einem Schloss, dass sie von der Umwelt fern hält, ihr aber vorgaukelt, dass sie alles tun kann. Es erweitert seine Gänge nach Belieben und schenkt ihr somit angeblichen Freiraum. Da sie sich über ihre Situation überhaupt nicht im Klaren ist, kann sie selbst mit den gefundenen Diamanten, vielleicht sind das ja ihre Gaben und Talente, nicht viel anfangen. Ein unerwartetes Ereignis lässt sie begreifen, dass es mehr gibt, als sie bis jetzt durch ihre Beschränkungen erlebt hat. Sie traut sich und will herausfinden, wer sie ist oder auch sein kann. Die fünf Bücher symbolisieren dabei die notwendigen Schritte für das Erkennen und Handeln. Mara geht neue Wege, findet Freunde, lernt sich zu vertrauen und stellt sich den Herausforderungen der fünf Bücher.
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Seitenzahl: 725
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Ein einsamer emotionsloser, jedoch Aufmerksamkeit erbittender Schrei erschütterte die kalten Mauern der steinernen Festung, hoch in Bergen gelegen, zwischen undurchdringlichen Nebelfeldern und Schlechtwetterwolken.
Die Amme schrak auf aus den Armen der so schwarzen finsteren Nacht, griff sich die einzelne leuchtende Kerze und eilte in das Schlafgemach der Prinzessin.
Endlich, nach langen einsamen Korridoren stand die Amme, leicht schnaufend vor der schweren Tür. Sie drückte die kalte Klinke herunter, zog die Tür auf und trat ein.
Wie immer in solchen Nächten erwartete sie auch heute eine sehr ruhige junge Dame, aufrecht im Bett sitzend, die sich trotz des markerschütternden Schreies unbeeindruckt zeigen und sich höflich bei ihr entschuldigen würde. Die Amme erstarrte im Lauf der Bewegung. Etwas war heute Nacht nicht so wie in diesen vielen anderen Nächten, in denen ein Albtraum die Prinzessin so sehr erschreckte und sie aus dem Schlaf riss.
Die Prinzessin saß noch aufrecht im Bett. Allerdings war ihr Blick, nicht wie sonst in Erwartung der Amme auf die Tür gerichtet. Das junge Mädchen sah nach rechts auf die schwarze Wand ihres Zimmers. Die Amme folgte dem Blick der Prinzessin und erstaunt sah sie etwas, was es hier noch nie gegeben hatte. Die Wand hatte sich geöffnet. Natürlich war es nicht die Wand. Es war ein Fenster, das sich durch das um das Schloss tobende Unwetter mit diesen so wohlbekannten heftigen Winden durch diese aufgedrückt hatte. Die Amme war bereits seit vielen Jahren in diesem Schloss tätig und verantwortlich für das Wohl der Prinzessin. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein Fenster gesehen zu haben. Nun, es war auch kein Fenster wie wir es kennen. Es gab keine Scheiben aus Glas. Auch die Flügel waren aus dem selben schwarzen Gestein aus dem das ganze Schloss bestand. Nur die Form ließ erahnen, dass es zum Öffnen gedacht war. Der Stein war nicht glatt geschliffen. So konnte keine spiegelnde Fläche entstehen.
Der Luftzug hatte die kleine Kerzenflamme ausgelöscht. Ein verhaltener hellerer Schimmer schlich sich durch die Fensteröffnung in den Raum. Winzige tanzende Lichtreflexe zitterten über die Wände und die wenigen Gegenstände.
Die Amme warf sich mit ihrer gesamten Körperfülle gegen den Flügel dieses Fensters und drückte ihn in die Felswand zurück. Es gab ein leicht schmatzendes Geräusch, als der sich schloss. Nichts deutete jetzt darauf hin, dass hier gerade eine Öffnung sichtbar war.
Die Amme holte tief Luft. Mit noch zittrigen Händen entzündete sie die Kerze und die Flamme schützend, lief sie nun zum Bett. Hier saß noch immer in der gleichen erstarrten Haltung ihr so geliebter Schützling.
„Mara, Kind, es ist alles gut.“
„Was war das?“
„Was meinst du, mein Kind?“
„Die Öffnung in der Wand.“
„Kind, das musst du geträumt haben. Da war nichts.“
So sehr das Mädchen auch die Amme bedrängte, verleugnete die das
Offensichtliche.
Die restliche Nacht schlief Mara sehr unruhig. Immer wieder schreckte
sie hoch, glaubte sie doch, Laute zu hören und Lichter zu sehen.
Die Tage der Prinzessin verliefen alle so ähnlich. Es gab keine Hochs oder Tiefs, keine Überraschungen. Sie vertrieb sich die Zeit zwischen den Mahlzeiten mit langen Spaziergängen durch ihr Schloss. Ihr meint, dass müsste irgendwann langweilig werden? Das hatte Mara als kleines Mädchen auch einmal geglaubt. Seit sie sich daran erinnern kann, war das schwarze Schloss ihr Zuhause. Sie kannte weder Vater noch Mutter. Die einzige lebende Person neben ihrer war ihre Amme. Die schien manchmal mit jemandem zu sprechen, verneinte das aber, wenn Mara neugierig danach fragte.
Das kleine Kind und das junge Mädchen hatte nie, niemals etwas zu tun. Sie schlief, sie aß, sie spazierte herum. Aber so viel sie auch lief, sie kam an kein Ende eines der so langen gewundenen Flure. Und wie wir in der stürmischen Nacht zuvor gelernt haben, gab es keine Öffnungen in diesem schwarzen Stein.
So sehr sich die Gänge auch wanden, nach oben oder unten neigten, es gab keine Stufen oder Treppen und pünktlich zur Abendzeit fand Mara jedes Mal zu ihrem Zimmer zurück. Außer diesem gab es noch ein weiteres wichtiges Zimmer für sie. Dieses Lieblingszimmer besuchte sie fast täglich.
Es war, als müsste sie nur daran denken und schon stand sie hinter der nächsten Krümmung des Ganges vor dieser Tür zu ihrem Spielzimmer. Sie nannte es so, weil es so viele runde und anders geformte Steine gab.
Der Fels des Schlosses gab ein kaum wahrnehmbares Leuchten von sich. Dieses Leuchten erhellte die Wege der Prinzessin und die Zimmer, in denen sie sich aufhielt. Durch das Glimmen des Felsens hatte Mara die unterschiedlichen Formen der in ebenfalls steinernen Truhen lagernden Steine erkannt. Sie waren unterschiedlich in ihren Schattierungen, von sehr hell bis ganz dunkel.
Einmal hatte Mara die Steine durch die Finger gleiten lassen und einige sehr runde waren auf den Fußboden gefallen und davon gerollt. Mara war ihnen hinterher gelaufen und hatte das erste Mal in ihrem Leben eine Art Hoch-oder Wohlgefühl gespürt. Das hatte sie nicht einmal ihrer Amme erzählt. Das war so unbekannt und neu gewesen, das wollte sie nicht teilen, auch nicht mit ihrer einzigen Vertrauten.
Seit diesem Tag hatte Mara immer ein paar dieser rollenden Steine dabei. Sie warf sie vor sich, wenn der Gang sich neigte, eilte ihnen hinterher und fing sie wieder auf, wenn der Flur anstieg.
Einmal wurde sie von ihrer Amme gerufen. Sie legte die Steine in eine kleine Delle der Flurwand. Sie fand diesen Ort auf ihren täglichen Spaziergängen nie wieder.
Je älter Mara wurde, um so mehr verstärkte sich in ihr etwas, was sie nicht benennen konnte. Der Amme blieb das natürlich nicht verborgen.
„Das Kind wird immer unruhiger.“
Die Kinderfrau stand in einer kleinen Kammer ohne jedes Möbelstück. Es wirkte so, als spräche sie diesen Satz nur laut vor sich hin, doch die Antwort erfolgte prompt. Wie gewohnt, hallte die dunkle Stimme durch den Raum.
„Ich habe es bemerkt.“
„Was soll ich tun, Herr?“
„Sie entwächst den Kinderschuhen. Ich denke, es ist Zeit für den Trank.“
„Wie ihr wünscht, Herr.“
Die Amme verneigte sich vor der Stimme in den leeren Raum hinein. So dann eilte sie in die Küche, um das Essen zu bereiten. Das heißt jetzt nicht, dass sie als Köchin tätig wurde. Wann immer sie die Küche betrat, fand sie Speisen und Getränke vor, aus denen sie für sich und die Prinzessin eine Auswahl für die jeweilige Mahlzeit traf.
Der Herr war sehr großzügig. Die Amme durfte sich bedienen, wann immer sie Appetit verspürte. Das war eine ihrer wenigen Bedingungen gewesen, als sie ihre Arbeit hier im Schloss aufgenommen hatte. Aus ihrer Tätigkeit wurde bald mehr. Sie begann sehr schnell, dieses kleine ihr anvertraute Wesen zu lieben und das tat sie auch heute noch. Sie war eine einfache Frau aus ärmlichen Verhältnissen, der es genügte, zu essen und zu trinken zu haben, ein Dach über dem Kopf und ein weiches Bett. Sie akzeptierte die Stimme als ihren Brötchengeber, das dunkle Schloss, was ihr Zuhause wurde und die Einsamkeit. Der Herr beobachtete sie jetzt bei der Speisenauswahl. Er war zufrieden. Er hatte sich vor diesen vielen Jahren gut entschieden und die erwählte Person enttäuschte ihn nicht.
Am Abend fand die Amme dann neben all den leckeren Gerichten und Getränken einen neuen opakfarbenen Krug. Sie nickte und hob ihn zu den anderen Dingen auf das Tablett. Die Prinzessin nahm auch widerspruchslos einen Becher, an diesem Abend und den folgenden. Ihr Leben verlief so, wie es seit jeher verlaufen war.
Bis zu dem Moment, der alles, aber auch alles für sie verändern sollte.
Mara hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie hatte zu Abend gegessen, dazu den Trank genommen und ihrer Amme eine gute Nacht gewünscht. Sie legte sich ins Bett und die Müdigkeit schlich auf den Sohlen eines Kätzchens an sie heran. Mara schloss die Augen. Gerade, als der Schlaf begann, das Mädchen in seinen Armen zu wiegen, hörte sie etwas. Mara öffnete die Augen und lag ganz still in ihren Kissen. Da war es wieder, es war ein Laut, ein Geräusch wie ein Seufzen.
Mara setzte sich auf. Erneut erklang der Ton und er war sehr regelmäßig zu hören. Mara schlüpfte aus dem Bett. Sie drehte sich langsam im Kreis um herauszufinden, woher das kam, was sie hörte. Mara folgte dem Säuseln bis zur Wand ihres Zimmers. Sie erschauerte ganz leicht. Mit dem Ton kam ein leichter Hauch einher.
„Was ist das nur?“
„Ich bin es, der kleine Windhauch von den Bergen.“
Mara erschrak. Sie kannte nur die Stimme ihrer Amme.
„Wieso kann ich dich hören?“
„Oh, das ist nicht mehr schwer. Erinnerst du dich noch, als die Felswand sich plötzlich öffnete beim letzten Sturm?“
„Was ist ein Sturm und nein, ich erinnere mich nicht. Was meinst du mit dem allen?“
Ein lauter Seufzer drang durch das Zimmer.
„Du erinnerst dich nicht? Das geht doch gar nicht. Wieso weißt du das nicht mehr? Du hast dich so erschreckt und so laut geschrien, dass ich dich sogar unten im Tal in meiner Felsspalte gehört habe. Und du kennst keinen Sturm? Also du weißt nicht, wie das ist, wenn mein Vater, der große starke und wilde Sturmwind hier oben über die Bergspitzen tanzt und mit seiner tiefen Stimme heulend singt?“
„Wovon sprichst du nur? Ich glaube, ich träume. Das alles, wovon du redest, das kenne ich nicht. Und ich weiß immer noch nicht, wieso ich dich hören kann und auch merken.“
„Merken, welch komisches Wort. Du kannst mich fühlen, das ist der richtige Ausdruck dafür.“
„Fühlen, wieso fühlen. Was ist das?“
„Oh je, du weißt ja so gar nichts. Nichts von Gefühlen, du kennst keine Berge und Wolken und auch uns Winde kennst du nicht.“
Mara spürte eine merkwürdige Wallung in sich, mit der sie nichts anfangen konnte. Es fühlte sich aber nicht gut an. Ihr kleinlautes nein machte das auch dem Windhauch deutlich.
„Sei nicht traurig, kleines Mädchen hinter der Wand. Wenn du willst, komme ich morgen Abend wieder und wir können uns unterhalten.
Übrigens ist beim Aufspringen der Felswand ein ganz ganz winziger Teil vom Felsen abgesplittert. Diese Minispalte reicht aus, dass du mich hören und fühlen kannst.“
Mara klatschte in die Hände.
„Ja, das wäre sehr schön. Ich habe hier ja nur meine Amme, mit der ich sprechen kann. Leider kennt die nicht solche Sachen, von denen du erzählst. Ja, ja, komm wieder, bitte, bitte!“
„Das mache ich sehr gern. Nur eines versprich mir.“
„Was?“
„Sag deiner Amme nicht, dass wir uns unterhalten können und erzähl ihr bloß nichts vom Spalt im Felsen. Alle hier draußen, also die Berge, die Wolken, die Bäume, mein Vater und meine Geschwister, der Regen, die Sonne, der Mond, also jeder, wirklich jeder hier sagt, dass dein Schloss verwunschen ist.“
Mara schüttelte den Kopf.
„ich weiß wirklich nicht, was du da redest. Aber wenn du es unbedingt möchtest, dann erzähle ich der Amme nichts.“
„Du meinst, du kannst das für dich behalten?“
„Ja, kann ich. Ich habe ihr auch nichts von meinem Spielzimmer erzählt.“
„Fein, aber mir kannst du morgen davon erzählen, ja?“
„Natürlich. Und du erzählst mir von all dem anderen.“
„Abgemacht. Dann also gute Nacht und bis morgen. Wie heißt du eigentlich?“
„Mara.“
„Dann gute Nacht, Mara.“
„Gute Nacht, Windhauch.“
Mit einem letzten Hauch, der fast fröhlich klang, verabschiedete sich der kleine Windhauch. Mara schlüpfte wieder unter die Decken. Sie spürte in sich etwas anderes, neues. Schnell schlief sie ein.
Noch nie war Mara ein Tag so lang vorgekommen. Jede einzelne Sekunde schien vierundzwanzig Stunden zu dauern. Das Essen schmeckte nicht, die Spaziergänge waren öde und nicht einmal ihre Steine konnten sie ablenken.
Endlich kam der Abend. Nach dem Essen reichte ihr die Amme den abendlichen Becher mit dem wohlschmeckenden Trank. Sie stürzte ihn hinunter, um schnell in ihr Zimmer zu gelangen. Sie rief der Amme den Gutenachtgruß zu und lief los. Sie lief – und mit jedem Schritt wurde sie langsamer.
„Warum nur habe ich es so eilig?“
In ihrem Zimmer angekommen, machte sie sich fertig für die Nacht, so wie immer. Sie war ruhig und dachte an gar nichts.
Plötzlich hörte sie eine unbekannte Stimme.
„Hallo, Mara, guten Abend. Ich freue mich, dich zu hören.“
Mara zuckte zusammen.
„Was, wer, wieso, was ist los?“
„Aber Mara, ich bin es, der kleine Windhauch von gestern Abend.“
„Gestern Abend, da war nichts. Woher kommst du, was willst du?“
Der kleine Windhauch wurde ganz leise.
„Oh Mara, was ist passiert? Wir haben uns gestern Abend kennengelernt.“
Der kleine Windhauch erzählte im Schnelldurchlauf, worüber sie am vergangenen Abend gesprochen und was sie sich versprochen hatten.“
Mara verstand gar nichts.
„Wenn du mich nicht belügst und den Eindruck machst du nicht, wieso weiß ich dann nichts mehr davon?“
Der kleine Windhauch überlegte kurz.
„War heute etwas anders?“
„Nein.“
„Hast du etwas anderes getan?“
„Nein.“
„Gelesen?“
„Was ist das?“
„Gegessen?“
„Nein.“
„Getrunken?“
„Nein, du Neugieriger. Es war alles wie immer. Glaube ich. Das weiß ich wohl noch.“
Sie umriss ihren Tagesablauf.
„Dann gab es nach dem Abendessen noch den täglichen Abendtrunk.“
Der kleine Windhauch unterbrach sie.
„Den Abendtrunk?“
„Sag ich doch. Gibt es auch jeden Abend.“
„Überleg bitte. So einen Abendtrunk kenne ich auch aus meiner Familie. Den dürfen aber nur die Großen trinken, wie mein Vater und meine älteren Geschwister. Ich bekomme Kakao.“
„Ich weiß schon wieder nicht so recht Bescheid. Natürlich bekomme ich den Trank - „
Mara stockte mitten im Satz.
„Nein! Du hast Recht. Früher gab es für mich auch Kakao. Ich liebe Kakao! Aber wieso ist mir das bis jetzt gar nicht aufgefallen?“
Mara lief aufgeregt hin und her und der kleine Windhauch säuselte nachdenklich vor sich hin.
„Ich weiß ja nicht, ob es so ist. Aber warum bekommst du statt deines Lieblingskakaos plötzlich etwas anderes am Abend? Vielleicht solltest du den Trank morgen nicht trinken und mal sehen, was dann passiert?“
„Mmh, wie kommst du nur darauf, dass der Trank Schuld sein soll?“
„Nun, meine Mutter erzählt uns immer Märchen und Geschichten.
Oftmals spielt da so ein Trank eine Rolle. Die Personen vergessen dann wichtige Dinge aus ihrem Leben.“
„Noch mehr neue Sachen – Märchen, Geschichten, keine Ahnung, was das alles bedeutet. Doch wenn du sagst, wir kennen uns schon und irgendwie weiß ich das schon, dann werde ich den Trunk morgen Abend nicht trinken und wir treffen uns wieder hier.“
Die beiden verabredeten sich erneut für den nächsten Abend.
Ungeduldig ertrug Mara diesen kommenden Tag. Sie schlang ihre abendlichen Köstlichkeiten fast herunter.
„Kind, du isst heute so schnell. Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, liebe Amme. Ich bin nur heute so viel gelaufen. Ich habe einfach nur großen Hunger.“
„Dann kommt hier noch dein Becher.“
„Danke. Aber könnte ich vielleicht noch ein paar Früchte dazu bekommen?“
„Natürlich, natürlich, Liebes. Ich bin gleich zurück.“
Sobald die Amme den Raum verlassen hatte, schüttete Mara den Inhalt des Bechers in ihren Suppenrest. Mit den von der Amme gebrachten Früchten eilte sie in ihr Gemach.
Die Amme blieb allein zurück. Plötzlich und völlig unerwartet hörte sie die Stimme ihres Herrn.
„Mara hat den Trank nicht getrunken!“
„Aber Herr, der Becher war leer.“
„Du hast den leeren Becher gesehen, als du aus der Küche kamst. Ich jedoch habe gesehen, wie sie ihn in die Suppe geschüttet hat.
Warum tut sie das?“
„Herr, ich habe keine Ahnung.“
„Ist jemand hier gewesen. Hat sie irgendetwas gesehen oder gehört?“
„Nein Herr, nicht dass ich wüsste.“
Die Amme zeigte nicht, wie erschrocken sie war. Heute, nach so vielen Jahren im Dienste der Stimme, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie womöglich ständig unter Beobachtung stand.
„Kümmere dich, beobachte sie, frag sie aus. Wir müssen wissen, was passiert ist!“
Die Amme nickte. Als kein weiteres Wort fiel, atmete sie erleichtert auf.
Irgendwo zwischen Himmel und Erde, trafen sich nur zwei Lidschläge später zwei Schatten.
„Was hast du zu berichten?“
„Du weißt es ja bereits von deinen Spionen. Ja. Die Prinzessin hat heute ihren Trank verweigert. Die Amme hat noch keine Ahnung, wie und warum und Dank deiner Großzügigkeit gegenüber deiner Schwester ist das Zimmer von Mara für mich tabu.“
„Richtig. Das ist Teil der Abmachung. Wo bliebe sonst die Fairness im Wettstreit?“
Lachend entflog der eine Schatten und ließ den Herrn des schwarzen Schlosses nachdenklich zurück.
Indessen wartete Mara ungeduldig auf ihren abendlichen Gast. Endlich streifte der Windhauch ihren Arm. Gleichzeitig war seine klare Stimme zu hören.
„Mara. Mara? Bist du da?“
„Ja, hier bin ich, lieber Windhauch.“
„Oh, das ist so schön. Wie ist es dir heute ergangen?“
Mara hatte viel zu erzählen. Zuletzt natürlich auch, wie sie die Amme mit dem Trank ausgetrickst hatte.
„Und, glaubst du mir jetzt?“
„Ja, du hast Recht gehabt. Aber warum soll ich jeden Tag vergessen?“
„Sag, Mara, wer bist du und seit wann wohnst du hier?“
Mara zog die Stirn kraus und kniff die Augen ein wenig zusammen.
„Mara?“
„Ja, oh, entschuldige, lieber Windhauch. Ich muss nachdenken über deine Frage. Die ist für mich sehr schwer, weil, weil ich sie dir nicht beantworten kann.“
„Oh je, du Arme. Das tut mir sehr leid.“
„Ich bin schon immer hier.“
„Hast du nur deine Amme?“
„Ja.“
„Bevor ich dich kannte, bin ich immer nur um dein Schloss hier herum geflogen. Bis zum Sturm habe ich auch gedacht, es ist nur Stein und es hat keine Öffnungen.“
Mara wurde neugierig.
„Wie sieht es denn aus, mein Haus?“
„Also. Es sieht aus wie ein herrschaftliches Haus, eben ein Schloss. Es ist ganz aus schwarzem Stein, wie bereits gesagt, ohne Fenster und Türen.
Es steht nicht auf dem felsigen Untergrund unserer Berge. Es schwebt in der Luft.“
„Ein Schloss, das schwebt in der Luft. Ich kann das gar nicht glauben.
Was ist denn ein Schloss genau?“
Der kleine Windhauch gluckste leise.
„Ein Schloss ist ein Haus mit vielen Zimmern, es hat Türme und Zinnen.
In so einem Haus wohnen große Herren, so Könige und, und - „
„Was ist Windhauch, wer wohnt da noch?“
„Mara, wenn du in so einem Schloss wohnst, dann bist du eine Prinzessin oder eine Königin.“
„Prinzessin, so nennt mich auch meine Amme immer. Du sagst, dass Schloss schwebt. Ist das nicht richtig?“
Wieder gluckste der kleine Windhauch.
„Sei mir nicht böse, liebe Mara. Aber du weißt so echt gar nichts über die Welt. Doch woher auch, wenn du dein ganzes bisheriges Leben hier eingesperrt bist. Also nein, ein Haus errichtet man auf festem Untergrund; es steht auf der Erde, Stein, Fels oder auch Holz. Dein Haus schwebt. Das ist Zauberei.“
Der kleine Windhauch schlug sich mit seiner Hand auf den Mund und riss seine grauen Augen auf. Ja, er hielt sogar die Luft an für einen kurzen Moment.
„Kleiner Windhauch, bist du noch da?“
„Na klar bin ich das. Mir ist nur gerade eine unglaubliche Idee gekommen.“
Der kleine Windhauch holte jetzt tief Luft.
„Mara, du bist eine Prinzessin, die von einem bösen Zauberer in diesem schwebenden Schloss ohne Tor und Fenster gefangen gehalten wird.“
Jetzt schlug sich Mara erschrocken die Hände vors Gesicht.
„Aber, aber warum denn nur?“
„Das finden wir heraus, liebste Freundin. Das müssen wir und dich befreien!“
Der kleine Windhauch schlug vor Aufregung Purzelbäume.
„Was für ein Abenteuer! Jawohl, ich befreie meine liebste Freundin, die Prinzessin Mara aus den Händen und dem Schloss des bösen unbekannten Zauberers. Hurra!“
„Wie willst du das anstellen, kleiner Windhauch? Ich kann doch hier nicht fort und sprechen können wir auch nur durch eine kleine Ritze im Stein.“
„Das ist es! Ja, so wird es gehen!“
Die Prinzessin verspürte einen stärkeren Hauch auf ihrer Haut.
„Was tust du?“
„Oh, entschuldige. Ich habe mich gerade um mich selbst gedreht und eine kleine Windhose erzeugt.“
„Eine was?“
Nun lachte unser kleiner Windhauch ganz laut
„Oh, Mara. Das werde ich dir bald zeigen! Du hast den Spalt im Felsen erwähnt. Wir haben beide schon die Öffnung gesehen, die für mich ein Fenster war. Auch wenn du dich nicht daran erinnerst.
Wir brauchen also nur dieses Fenster wieder zu öffnen und schon können wir uns auch sehen.“
Mara klatschte wie ein kleines Kind vor Freude in die Hände, wurde aber im selben Moment sehr traurig.
„Wie soll das gehen?“
„Mach dir keine Sorgen. Ich weiß, wer uns helfen kann.“
Der kleine Windhauch verwirbelte sich vor lauter Glück. Ihn hielt es nicht mehr bei seiner neuen Freundin. Er flog los mit der Lösung im Gepäck.
Mara legte sich ins Bett. Sie konnte aber nach all den Neuigkeiten, den vielen Erklärungen und der Freude, die der kleine Windhauch versprüht hatte, gar nicht einschlafen. Hellwach starrte sie in das Dunkel ihres Zimmers und spulte das Gespräch wieder und wieder in ihrem Kopf ab.
Der nächste Morgen fand eine unruhige unausgeschlafene Mara vor.
Das fiel auch der Amme auf.
„Kind, es ist hoffentlich alles in Ordnung?“
„Ja, schon, oder eigentlich nicht.“
„Hattest du wieder diesen Albtraum?“
„Nein, nicht so wie sonst. Es war nicht das schwarze wabernde Monster. Es war ein Geist, der zu mir gesprochen hat.“
Mara sah der Amme aufmerksam ins Gesicht. Die lächelte sie an.
„Und? Was hat er gesagt?“
„Nun, er hat gemeint, ich wäre eine eingesperrte Prinzessin und lebte in einem schwebenden Schloss.“
Diese Aussage krachte wie eine Kanonenkugel ins Bewusstsein der Amme. Sie stöhnte leise auf, fasste sich aber sofort wieder. Mara war die Reaktion jedoch nicht entgangen. So hatte der kleine Windhauch mit seiner Fantasie wohl doch ins Schwarze getroffen.
„Hat dein Geist noch mehr gesagt?“
Mara senkte den Kopf über ihren Teller und begann zu essen.
„Nein, ich bin von dem Unsinn aufgewacht und habe mich nur gefragt, wo das wieder her kommt. Warum nur träume ich so dummes Zeug von schwarzen Monstern und sprechenden Geistern.“
Die Prinzessin schüttelte noch einmal den Kopf und vertiefte sich scheinbar in ihr Frühstück. Ihr entging trotzdem nicht, dass die Amme sie während der gesamten Mahlzeit voller Spannung musterte.
„Wie ein gespannter Bogen.“
„Wie was?“
„Das kann ich dir hoffentlich bald zeigen.“
Der kleine Windhauch hatte Maras Geschichten vom Tag mit Bildern ausgefüllt, von denen sie die meisten nicht kannte und so sehr oft nicht verstand, was den kleinen Windhauch so belustigte.
Nun hörte der kleine Miniwirbler die Schritte Maras hinter der Wand.
Das Mädchen lief hin und her. Dann blieb sie stehen.
„Wie lange dauert es noch, bis ich dich sehen kann?“
„Ich wollte meinen Vater gestern um Hilfe bitten, aber er musste zu einer Sturmwindversammlung der ganz großen Winde. Er kommt aber in der Nacht zurück. Da werde ich auf ihn warten. Ich werde vor unserem Zuhause herum wehen, damit ich auch ja nicht einschlafe und ihn verpasse. Morgen weiß ich mehr, versprochen!“
Mara wartete auf den nächsten Abend. Aber während sie das tat, beschäftigte sie sich das erste Mal im Leben, in ihrem Leben, mit ihrer Umgebung und ihrem Tagesablauf.
Mit jeder vergehenden Minute sank ihre gute Laune wie ein Thermometer, das bei fünfundzwanzig Grad in einen Eiskübel gesteckt wird.
Sie erschrak. Sie war wie alt jetzt, fast 13 Jahre und all diese Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre hatte sie was getan?
Nichts. Sie hatte gegessen, getrunken, geschlafen und war ziellos in den wundersamen Korridoren des Schlosses herum gelaufen. Bisher war das so in Ordnung gewesen für sie, so zu existieren. Doch nicht heute. Eigentlich war es schon anders seit sich in der Nacht ihre Zimmerwand plötzlich geöffnet hatte. Seit diesem so großen Schreckmoment war so Vieles, nein alles anders. Neuerdings hatte sie so viele Gedanken in ihrem Kopf. Ihr reichte das Herumspazieren nicht mehr und seit sie sich mit dem kleinen Windhauch unterhalten konnte, hatte sie erkannt, dass es viel mehr gab, als man sie glauben machen wollte.
Aber wer war „man“ und warum tat er das? Welche Rolle spielte ihre Amme dabei? Sie schien ebenfalls mehr zu wissen als sie vorgab.
Endlich war das Dinner beendet. Mara entwickelte sehr viel Fantasie, um die Amme zu narren. Heute fiel ihr die Gabel aus der Hand und sprang ein- zweimal über den Fußboden, ehe sie liegen blieb. Die Amme eilte hinterher, um sie zu greifen. Diese kurze Zeitspanne reichte Mara. Sie goss den Trank in ihre Leinenserviette. Gierig wie ein Verdurstender saugte der Stoff die Flüssigkeit auf. Mara knüllte das nasse Tuch zusammen und schob es in ihre Rocktasche. Noch ehe die Amme zurück am Tisch war, sprang sie auf und lief zur Tür.
„Gute Nacht, liebe Amme. Ich bin so müde. Ich lege mich gleich hin.“
Kaum sprang die Tür ins Schloss, ertönte die dunkle Stimme, heute sehr verärgert.
„Sie hat dich wieder ausgetrickst, du dummes Weib. Ich werde dich wohl ersetzen müssen. Du wirst alt und du magst das Mädchen zu sehr.
Da kommt das Aufpassen zu kurz.“
Der Amme blieb keine Zeit der Erwiderung. Nachdenklich räumte sie den Tisch ab. Sie brachte Geschirr und Reste in die Küche und begab sich danach in ihren Schlafraum.
Was Worte mit den Menschen machen können, ist nicht immer das, was der Sprechende bei ihrer Wahl beabsichtigt hat.
Die Prinzessin raffte hinter der Tür ihren Rock und rannte zu ihrem Zimmer. Kam es ihr nur so vor oder war der Weg heute Abend länger als sonst?
Sie lief direkt bis zur Wand.
„Windhauch, lieber kleiner Wind, bist du da?“
Mara bekam keine Antwort auf ihre Frage. Sie wandte sich um und fühlte sich auf einmal nicht gut. So was kannte sie auch nicht. Sie kam nicht weiter mit diesen trüben Gedanken.
„Prinzessin, Mara, bist du da?“
„Ja, ja, natürlich bin ich da, lieber kleiner Windhauch! Konntest du mit deinem Vater sprechen?“
„Konnte ich. Habe ich. Und weißt du was? Ich habe ihn mitgebracht und meine ganze Sturmwindfamilie dazu. Sagt alle „Hallo“ zu Mara.“
Die hörte auf einmal ganz viele Stimmen – tiefe, hohe, schrille, flüsternde, rollende, hüstelnde.
„Guten Abend, liebe Sturmwindfamilie. Ich freue mich über euren Besuch. Schade, dass ich euch nur hören kann.“
„Aber Mara, deshalb sind wir doch alle hier. Wir werden deine Schlosswand aufpusten. Dann können wir uns auch sehen.“
„Das wäre wunderbar. Ach, kleiner Wind, das wäre so schön.“
Alle hörten die Tränen der Prinzessin in ihrer Antwort.
Da erreichte sie durch den Schlitz in der Wand eine warme, weiche, sehr dunkle Stimme.
„Kind, wir schaffen das. Wir sind nicht umsonst die Sturmwindfamilie.
Ich weiß, dass du uns noch nicht kennst und deshalb nicht weißt, wozu wir in der Lage sind.
Dieses geheimnisvolle schwebende Schloss gibt es nun bereits seit so vielen Jahren in unseren Nebelwolken. Niemand hat uns je um Erlaubnis gefragt. Nun, und auch ich als Vater des kleinen Windhauches bin neugierig genug, um heraus zu finden was hier los ist.
Also werden wir uns anstrengen und so lange blasen und pusten, bis diese Öffnung im Felsen wieder aufspringt. Hast du vergessen, dass wir das schon einmal geschafft haben?“
Mara hatte sich während der Worte des alten Windes ihre Tränen getrocknet. Sie wunderte sich. Das hatte sie noch nie getan, geweint.
„Lieber Sturmwind. Ja, das hatte ich vergessen. Der kleine Windhauch hat es mir wieder erzählt.“
Der zappelte indes unruhig vor dem Gesicht seines Vaters umher.
„Lass uns anfangen. Ich will sie endlich sehen! Bitte, Papa!“
„Na dann, Sturmbacken aufblasen! Prinzessin, ihr tretet ein wenig von der Wand zurück, damit der Stein euch nicht verletzen kann.“
Mara sprang ein paar Schritte zurück. Sie wusste zwar nicht, was verletzen war, doch sie folgte den Worten von Vater Sturmwind.
Erst wurde es ganz still, leise. So leise, dass Mara von draußen nichts mehr hörte. Doch dann, plötzlich, erhob sich ein Brausen in allen Tonlagen. Der Wind, der durch den Ritz im Felsen drang, wurde stärker und stärker und drohte, sie fast umzuwerfen. Mara eilte zum Bett und hielt sich an einer der Baldachinsäulen fest. Dabei ließ sie die Wand nicht aus den Augen.
Nach unendlichen langen Minuten wurde es wieder still.
„Kommt, ihr meine Kinder und Verwandten, noch einmal und doppelt so stark. Es ist zu schaffen. Wir wissen das alle! Auf mein Kommando – und los!“
Das Brausen setzte wieder ein. Gefühlt war es für Mara wirklich stärker.
Da! Es gab ein knirschendes Geräusch. Durch den Sturm hörte Mara die Stimme ihres neuen Freundes.
„Hurra, habt ihr gehört? Der Stein bewegt sich. Weiter! Weiter!“
Es knirschte mehr und mehr, lauter und lauter. Dann endlich geschah das Wunder, das sich alle so sehr erhofft hatten. Der Fels sprang auf.
Erst war ein senkrechter Spalt erkennbar, der sich stetig nach oben und unten verlängerte. Er verbreiterte sich zusehends und plötzlich gab der Stein nach. Von der Mitte ausgehend schwang ein Stück Stein rechts nach innen, der andere Teil links. Die Öffnung war da. Die Sturmwindfamilie verstummte. Ja, sie hielten fast die Luft an, so wie Mara im Inneren des Raumes. Eine Sekunde, oder waren es zwei, vergingen, bis sie wieder zu sich kam. Sie griff sich den fünfarmigen Kerzenleuchter, entzündete die Kerzen und lief so schnell es die zuckenden Flammen zuließen auf die Öffnung zu. Sie schaute hinaus in die Dunkelheit. Es war vor dem Schloss nur wenig heller. Was sie sah, waren schattenhafte, schwebende Gestalten, die alle sie anblickten. Die vielen vielen Augen glühten im Dunkel.
Mara wisperte fast.
„Hallo, ihr da draußen. Ich kann euch kaum sehen. Es ist bei euch genauso dunkel wie bei mir.“
Der Jauchzer des kleinen Windhauches erhob sich über die Versammelten.
„Mara, oh Mara, ich kann dich sehen!“
Er wehte so stürmisch heran, dass er beinahe alle Kerzen ausgelöscht hätte.
„Oh Mara, wie schön du bist.“
Dann übernahm Vater Sturmwind das Reden.
„Hallo Mara. Wie du siehst, haben wir unser Wort gehalten. Dein Schloss hat jetzt wenigstens ein Fenster. So nennt man diese Öffnungen in Häusern. Ich bin sicher, auch dieses Haus hat noch mehr davon. Es ist übrigens so dunkel, weil es Nacht ist. Da wir hier toben, hat sich der Mond, der nachts am Himmel wohnt, hinter einigen Wolken versteckt. Aber es gibt auch noch den Morgen, den Tag und den Abend. Am Morgen wird es heller und freundlicher. Der Tag gehört der Sonne, die dann am Himmel spazieren geht. Wir Winde sind eigentlich nicht wirklich zu sehen, von den Menschen. Das erklären wir dir noch.
Doch nun werden wir uns von dir verabschieden. Jeder von uns muss seiner Arbeit nachgehen. Dein kleiner Freund kann dir Gesellschaft leisten.
Wir freuen uns sehr, dir geholfen und dich kennengelernt zu haben.
Und wir werden dir bei der Lösung deines Geheimnisses, das dich umgibt, sehr gern behilflich sein.“
Die so zahlreichen großen und kleinen Sturmwinde machten sich auf in die Nacht.
Der kleine Windhauch setzte sich zu Mara auf die Fensterbank und schaute sie mit großen grauen Augen einfach nur an.
Die zwei Schatten ruhten auf einer riesigen flauschigen Wolke und beobachteten das Windspektakel.
„Du hast verloren, mein Lieber. Wie du siehst, hat sich das erste Fenster geöffnet.“
Ein einziger knurrender Laut war die Antwort.
„Sie wird es nicht dabei belassen. Sie wird weiter suchen und nun, da sie das Fenster willentlich geöffnet hat, kannst du es nie mehr verschließen.“
„Ja, ja. Gib immer noch einen drauf. Aber ein offenes Fenster heißt noch nicht, dass sie begreift, was zu tun ist oder geschweige denn, wer sie ist.“
„Träum weiter, du Narr. Schon immer hat man gegen dich interveniert, in allen Welten, an allen Orten. Warum sollte das bei ihr anders sein?“
„Ich gebe mich noch nicht geschlagen. Erinnere dich an meinen Verbündeten. Gemeinsam sind wir immer sehr erfolgreich.“
Der Mond schob sich hinter einer Wolke hervor. Lautlos verließen die beiden Schatten ihren Wolkenplatz in unterschiedliche Richtungen.
Mara erwachte. Sie lag wie immer in ihrem Bett mit dem wunderschönen Baldachin aus blauem Samt. Sie spürte die Veränderung, noch bevor die Erinnerung an die letzte Nacht den Schleier des Schlafes von ihr nahm. Sie sah mit geschlossenen Augen Licht. Ganz langsam und vorsichtig öffnete sie erst ein Auge, nur halb.
Das reichte allerdings, dass sie sich ruckartig im Bett aufsetzte, ihre Augen aufriss, um sogleich geblendet die Hände vor das Gesicht zu ziehen.
„Guten Morgen, Prinzesschen!“
„Guten Morgen, kleiner Windhauch!“
Mara hatte instinktiv geantwortet. Vorsichtig lugte sie durch die Finger.
Da, wo in der Nacht der Fels aufgesprungen war, tobte jetzt helles Licht in der Öffnung. In der einen Ecke saß ein lustiger Geselle.
„Bist du das, kleiner Windhauch?“
Mit einem fröhlichen „Ja“ erhob sich ihr kleiner Freund, schwebte heran und setzte sich auf die Bettdecke. Genüsslich strich er darüber.
„Mmh, sehr fein und sehr weich. Der Stoff hat eine wunderbare Textur.
Gefällt mir.“
„Oh Freund, du verwendest so viele Worte, die ich nicht kenne und deren Bedeutung ich nicht verstehe.“
Der Windhauch gluckste lustig.
„Das lernst du alles mit der Zeit und es ist einfacher als du denkst. Aber jetzt komm ans Fenster und sieh dir an, wo sich dein Schloss befindet.
Es ist heller Tag, die Sonne steht bereits über den Nebelwolken.“
Die beiden Freunde standen am Fenster und der kleine Windhauch zeigte und erklärte, lachte und erzählte über all das Neue, was die Prinzessin sah. Es klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten öffnete sich die Tür und die Amme schlüpfte durch den Spalt. Sie schloss sorgfältig und fest die Tür hinter sich.
„Guten Morgen, mein Kind.“
Mara war herumgefahren und lehnte nun mit dem Rücken zur Wand am offenen Fenster. Der kleine Windhauch hatte sich blitzschnell hinter sie geschoben. Er lugte durch ihr braunes Haar auf die hereingekommene Person.
„Gut- guten Morgen, lieb- liebe Amme.“
Die Amme schien nicht sehr überrascht zu sein über das Fenster, das Licht und ihren Freund.
„Liebes Kind, Mara, ich muss mit dir reden. Sofort! Ich weiß nicht, wie lange ich noch bei dir sein kann. Der Herr ist sehr unzufrieden mit mir, weil du mich die letzten Abende mit einem Trank angeblich ausgetrickst hast.“
„Wieso angeblich, liebe Amme. Hast du es denn bemerkt? Und wer ist der Herr?“
„Ich werde dir in einem Moment alles berichten, was ich weiß und du erfahren musst. Doch zuerst müssen wir dein Fenster verschließen.“
„Nein!“
Mara richtete sich auf, hob die Arme und richtete die Handflächen gegen ihre Amme. Der kleine Windhauch versuchte es ihr gleich zu tun, blieb aber auf der Fensterbank stehen. So könnte er schnell verschwinden, wenn es nötig werden sollte.
Die Amme wehrte ab.
„Nicht so, wie du denkst, Liebes. Ich bin im Gegenteil sehr glücklich, dass du das Fenster wiedergefunden hast und es nun für immer offen sein wird. Es gibt allerdings einen kleinen Zauber, den ich kenne und der wichtig ist für dich. So lange du das Fenster so offen hast, so lange kann der Herr dich auch hier sehen und belauschen.“
„Wie meinst du das – sehen und belauschen.“
Die Amme ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
„Komm näher, mein Kind. Dann muss ich nicht so laut sprechen.“
Mara setzte sich auf einen Hocker zu ihren Füßen. Der kleine Windhauch platzierte sich neben sie auf dem Fußboden. Alles, was die beiden dann zu hören bekamen, erfolgte nicht nur leise, sondern flüsternd.
„Das Schloss gehört dem Herrn. Er kann überall hin, alles sehen, alles hören. Das habe ich erst vor Kurzem erfahren. Nur in dein Zimmer kann er nicht hinein. Du bist also nur hier wirklich sicher. Was du hier drin sagst oder tust, kann er nicht hören oder sehen. So lange aber dein neues offenes Fenster nicht durch einen Zauber für ihn verschlossen wird, kann er dich jetzt eben hören und sehen.“
Mara hielt es nicht mehr auf dem Hocker.
„Amme, weißt du den Zauber? Kannst du mir, uns, helfen?“
Die Amme lächelte ihr warmes tiefes Lächeln, was Mara so sehr an ihr mochte und nahm die Hände der Prinzessin in ihre.
„Ich werde dir die Worte anvertrauen. Ich flüstere sie in dein Ohr, nur einmal. Merke sie dir gut. Nur wenn du sie aussprichst, wird das Fenster für den Herrn verschlossen sein.“
Mara nickte, neigte den Kopf zur Seite und zum Mund der Amme.
Aufmerksam nahm sie jedes Wort auf und verschloss es in ihrem Herzen.
„So, das war`s. Vielleicht versuchst du es gleich einmal. Dann sind wir hier sicher und ich kann dir weiter berichten.“
Mara drehte sich zum Fenster, hob die Hände zum Herzen und murmelte den eben gelernten Spruch.
Der kleine Windhauch flog zum Fenster und - „Aua! Das tat weh!“
Mara und die Amme lachten.
„Es ist hoffentlich nicht schlimm. Aber wie ihr seht, hat es funktioniert.“
„Du bist eine gute Schülerin. Nun kommt beide wieder her. Ich habe noch viel zu erzählen.“
Nach dem Frühstück, welches sie auch im Zimmer der Prinzessin aßen, nahm die Amme Mara in den Arm.
„Kind, komm an mein Herz. Du sollst wissen, dass ich dich, seit ich hier angekommen bin, immer geliebt habe. Ich habe den Fehler gemacht, meine Arbeit und Loyalität dem Herrn gegenüber stets über meine Liebe zu dir zu stellen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier sein werde. Deshalb behalte bitte alles gut im Gedächtnis, was ich dir gesagt habe. Der letzte Satz, den der Herr zu mir sprach, der erst hat mir die Augen geöffnet. Es ist noch nicht zu spät für dich, Mara. Meine Liebe möge dich leiten, wenn dir einmal der Weg fehlt.“
Nur wenige Stunden später.
Mara betrat das Esszimmer. Sie freute sich so auf das vertraute Gesicht ihrer Amme. Sie wollte ihr so viel erzählen. Sie hatte so viele Fragen. Es war ihr egal, ob dieser merkwürdige unsichtbare Herr zuhören würde.
Mit ihrem lieben Abendgruß ins Zimmer stürmend, blieb sie ruckartig stehen. Leicht taumelnd, versuchte sie sich zu sammeln. Vor ihr stand eine Unbekannte. Schlank, jung, mit einem unterkühlten Lächeln wie frisch aus dem Eisfach – so kam die neue Amme auf sie zu. Sie knickste förmlich, ohne jede innere Anteilnahme und bat Mara zu Tisch. Der Prinzessin war bei diesem Anblick der Hunger vergangen. Sie wusste nur, sollte auch heute Abend ein Trank bereit stehen, würde es sehr schwer werden, ihn nicht trinken zu müssen.
Sie drehte sich um und lief zur Tür hinaus. Kurz blieb sie stehen. Was konnte sie tun? Wo sollte sie hin? Erst einmal musste ihr Zimmer das Ziel sein. Sie lief los. Ihre Gedanken wurden von den Fragen um die Amme beherrscht und davon, wie sie fortan dem Trank entkommen konnte. Sie lief und lief und dann bemerkte sie es. Sie lief und lief und noch nie war der Weg vom Esszimmer bis zu ihrem Raum so lang gewesen. Der Prinzessin wurde kühl, immer kühler. Trotz des schnellen Laufens war ihr schnell sehr kalt. Was sollte sie tun? Was würde ihr kleiner Windfreund tun? Mara stoppte ihre Schritte. Der kleine Windhauch würde sicherlich sagen, dass sie erst einmal tief Luft holen sollte. Sie nickte sich selbst zu und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis sie spürte, ruhiger zu werden. Was kam als nächstes? Ja, sie musste versuchen heraus zu finden, wo im Schloss ihr Zimmer war. Sie blickte den Gang entlang. Der schien sich leicht zu neigen und bog nach links ab. Früher bei ihren Spaziergängen war ihr das nie so deutlich aufgefallen, dass der Gang sich direkt vor ihr veränderte.
„Nun, dann will ich das ausprobieren und um das ganz klar zu sagen, werde ich jetzt gleich vor meiner Zimmertür stehen.“
Mara legte die Hände auf ihr Herz und ging los. Sie folgte dem Lauf des Ganges und stand – jawohl – sie stand direkt vor der Tür zu ihrem Raum. Sie stürmte hinein, warf die Tür mit Schwung hinter sich ins Schloss und lief weiter Richtung Fenster.
„Fenster öffne dich und lass die Welt herein.
All das Neue, Unbekannte soll auch für mich nun sein.“
Ohne ihrem Spruch eine Kontrolle folgen zu lassen, beugte sie sich hinaus und rief laut und sehr eindringlich nach ihrem kleinen Freund.
Sie rief und rief und bemerkte gar nicht, dass er schon heran geflogen kam. Sie zuckte zusammen, als seine Windhand sie an der Schulter berührte.
„Da bist du ja, endlich!“
„Aber Mara, du bist ja völlig durch den Wind!“
Trotz der ernsten Situation gluckste der kleine Windhauch ob seines Vergleiches.
„Tschuldige, klingt nur sehr lustig. Ich, der Wind, sage, du bist durch den Wind.“
Glucks, glucks.
Schnell wurde er wieder ernst. So kurz, wie es ihr möglich war, schilderte Mara ihr Erlebnis.
„Das erklärt womöglich die Beulen, die dein Schloss vorhin bekommen hat. Sie sind gewachsen und wieder verschwunden.“
„Beulen im Felsen?“
„Mmh, doch. Das passt zu deinem Bericht. Dort, wo du gelaufen bist, hat sich der Gang verlängert, die Richtung und Neigung verändert.
Warst du vorbei, hat sich der Stein wieder in seine ursprüngliche Form begeben.“
„Willst du damit sagen, der Fels kann sich verändern? Das ist harter Stein, das weißt du doch genauso gut wie ich.“
„Es ist aber so und nur so erklärt sich, warum du scheinbar so lange gelaufen bist. Es erklärt, warum du früher deine ausgedehnten Spaziergänge machen konntest.“
„Okay. Vielleicht hast du ja Recht. Aber wie erklärst du mir, dass ich plötzlich vor meiner Tür stand?“
„Das ist dann auch nicht mehr schwer, Mara. Du hast erzählt, du hast nachgedacht. Du hast dich praktisch vor deine Tür gewünscht. So, wie der Gang sich deinem Wunsch nach Laufen angepasst hat, tat er es auch mit dem Gedanken an dein Zimmer. Ich sag` doch, dein Schloss ist verzaubert.“
„Oh Freund, hier kann ich nicht bleiben. Ohne meine alte Amme werde ich den Trank irgendwann trinken müssen.“
„Oder die Neue tut es dir ins Essen.“
„Wie schrecklich! Aber wo soll ich hin und vor allem wie?“
Der kleine Windhauch verwirbelte sich vor Aufregung.
„Du kommst einfach zu uns, zur Sturmwindfamilie. Das „Wie“ ist auch sehr einfach. Du hast ein offenes Fenster.“
„So einfach?“
Der kleine Windhauch tanzte durchs Zimmer.
„Warte! Du hast selbst gesagt, das Schloss schwebt in den Wolken. Das bedeutet, es gibt keinen Weg!“
Der kleine Windhauch stoppte, sah seine Freundin an und rieb sich die Hände.
„Vertrau mir!“
Mit einer Drehung um die eigene Achse gab er sich Energie und flog davon.
Mara hob die Arme, als wolle sie ihn aufhalten. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen. Jetzt, wo sie ihren Freund so dringend brauchte, flog er einfach woanders hin. Sie kam mit ihren Überlegungen nicht weiter.
Ein Brausen vor dem Fenster verlangte ihre Aufmerksamkeit.
„Hey, Mara, da bin ich wieder. Ich habe dir eine Kutsche mitgebracht, eine Wolkenkutsche mit Windpferden. So kannst du von hier fliehen.“
Der kleine Freund griff nach Maras Händen, stellte sie auf die Füße und zog sie zum Fenster.
„Sieh doch nur, ist sie nicht schön?“
Auf dem Bock, die Zügel in der Hand, saß ein zweiter Wind, der ihr zuwinkte, einzusteigen. Mara kletterte auf die Fensterbank.
„Kleiner Windhauch, ich kann nicht! Ich kann nicht mitkommen.“
Sie sprang zurück ins Innere.
„Sei nicht albern, Mara.“
„Erinnerst du dich, was die Amme sagte? Ich bin nur hier in meinem Zimmer vor dem Herrn dieses Schlosses sicher, der mich hier gefangen hält. Sogar das Fenster muss ich mit einem Zauber verschließen.“
„Wo ist meine Wolkenkutsche? Wo sind meine Lieblingspferde?“
Der kleine Windhauch senkte den Kopf. Da kam er auch schon heran gestürmt, Vater Sturmwind.
„Kleiner Windhauch, was soll der Streich?“
„Nicht böse sein, Papa! Ich wollte nur der Prinzessin helfen. Sie muss hier weg. Ihre alte Amme ist nicht mehr da.“
„Hallo Mara, das ist natürlich etwas anderes. Dann steig ein, Mädchen.
Ich habe es eilig.“
„Sie will nicht, Paps. Sie sagt, sie kann nicht. Aber wenn sie hierbleibt, wird sie wenigstens verhungern.“
Vater Sturmwind ließ sich das Problem nochmals von Mara erklären.
„Kind, wenn du hier bleibst, bist du nicht sicher. Du kannst dich nicht mehr frei bewegen und beim Essen musst du vorsichtig sein. Wenn du mit uns kommst, bist du auch nicht sicher. Das ist richtig. Jedoch hast du dann Freunde, die auf dich achten werden. Gemeinsam könnten wir heraus finden, wer der geheimnisvolle Herr dieses Schlosses ist. Wissen wir das, finden wir auch einen Weg, ihn zu besiegen.“
Vater Sturmwind ließ seine Worte kurz, sehr kurz wirken. Dann umfasste er Mara mit seinen kräftigen, großen, flauschigen Sturmwolkenhänden und hob sie hoch.
„Was sagst du, Prinzessin?“
Die bewegte den Kopf von links nach rechts, um einmal in jedes Auge von Vater Sturmwind schauen zu können. Es fühlte sich gut an in seinen Händen, obwohl sie nicht sagen konnte, was es war. Es war gut so wie es gerade war. Sie nickte.
Vater Sturmwind setzte sie vorsichtig in die Wolkenkutsche. Der kleine Windhauch flatterte neben sie. Mara hörte ein Schnalzen und dann trabten die Pferde los.
Vater Sturmwind wies den Kutscher an, eine Runde um das Schloss zu drehen. Mit großen Augen betrachtete Mara ihr einstiges Zuhause.
„Es sieht schon sehr düster aus. Aber schaut nur! Seht ihr das auch?“
„Ja, Mara. Dein Schloss wird immer kleiner. Es schrumpft.“
„Da fällt die neue Amme heraus. Sollten wir ihr nicht helfen?“
„Sie wird gut unten ankommen. Die Wolken werden ihr helfen. Du hast ein gutes Herz.“
Aufgeregt fuchtelte der kleine Wind mit den Armen.
„Seht nur, seht! Gleich ist es ganz verschwunden. JJJJetzt!“
„Oh, ich kann niemals zurück!“
„Willst du das denn?“
„Nein, eigentlich? Nein, natürlich nicht!“
„Es war also doch ein fauler Zauber. Nun aber ab nach Hause mit uns.“
Vater Sturmwind versetzte der Kutsche und den Pferden einen kurzen Windstoß und im Galopp flogen die Pferde, die Kutsche und alle Beteiligten dem neuen Zuhause der Prinzessin entgegen.
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Mara sprang lachend von Wolke zu Wolke. Der kleine Windhauch flitzte fliegend hinterher oder vorneweg oder über sie drüber.
„Habe ich dir zu viel versprochen?“
„Es ist wundervoll!“
Außer Puste setzte sich Mara auf der nächsten Wolke hin.
„Das es so etwas Schönes und Lustiges gibt.“
„Davon gibt es reichlich und viel mehr, als du denkst. Das kannst du jetzt alles sehen und erleben.“
Mara wurde nachdenklich.
„Weißt du, ich bin ja schon eine Weile bei euch. Immer, wenn jemand zu euch kommt oder wir jemanden besuchen, fragen sie, wer ich bin.
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Kleiner Windhauch, wer bin ich?“
„Das finden wir schon noch heraus.“
„Ich will und kann nicht mehr warten. Das habe ich bereits zu lange getan. Aber wie nur finde ich heraus, wer ich bin?“
„Komm, lass uns weiter hüpfen!“
„Darf ich dich noch etwas fragen? Du darfst aber nicht böse sein.“
„Warum sollte ich?“
„Du hast braune Haare, fast so wie ich. Die anderen und deine Eltern haben alle weiße Haare. Bist du ein echter Sturmwind, also -“ „Klaro, bin ich. Ich bin der jüngste. Wären noch jüngere Geschwister da, könntest du es sehen. Wir haben am Anfang alle dunkle Haare. Die weißen muss man sich verdienen.“
„Was meinst du damit, kaufen?“
Der kleine Windhauch grinste sie an.
„Wenn das so einfach wäre, hätte ich die schon. Weißt du, wir müssen beweisen, dass wir würdig sind, zu den großen Winden dazuzugehören.
Wie das so richtig geht, weiß ich auch noch nicht. Papa hat gesagt, ich werde es merken.“
Der Windhauch schüttelte die Wolke. Mara sprang auf und auf die nächstgelegene weiter. So wurde es ein fröhlicher Heimweg zur Wolkenburg.
Die Frage jedoch ließ Mara nicht in Ruhe. Sie schlief das erste Mal seit dem Verlassen des Schlosses wieder unruhig, ja auch der Albtraum erschreckte sie wieder.
„Ein schwarzes waberndes Monster? Etwa so wie eine Wolke?“
„Der Vergleich ist gut. Aber selbst die Gewitterwolken sind nicht so schwarz und flößen mir so schreckliche Gefühle ein.“
„Papa, kennst du so eine ganz ganz ganz schwarze böse Wolke?“
Vater Sturmwind dachte nach. Vor Anstrengung kräuselte sich seine Stirn und erzeugte dadurch viele kleine Wölkchen.
„Leider nein. Ich werde aber jeden fragen, dem ich heute begegne.“
Vater Sturmwind zog über den Himmel, die Berge, die Orte, wo die Menschen wohnten, die Wälder mit den Tieren, die Seen und Meere.
Sehnsüchtig erwarteten die beiden Freunde den Vater am späten Abend zurück. Aufgeregt wirbelte der kleine Windhauch um die Wolkenkutsche, die Windpferde und den Kopf seines Vaters. Mara trat ungeduldig von einem Bein auf das andere.
„Gebt mir zwei Minuten, bitte. Ich versorge die Pferde und ihr zwei Unruhestifter bringt mir einen heißen Wolkenpunsch mit Schlagsahne und jeder Menge Schokostreusel.“
Die zwei stoben davon.
„Und ja nichts verschütten!“
Als es sich Vater Sturmwind endlich in seinem Lieblingssessel bequem gemacht hatte, kamen die zwei Freunde gerade rechtzeitig mit dem großen Glas Punsch dazu.
„Mama hat das extra große Glas genommen.“
„Mmh, sie weiß, was gut ist. Danke, Kinder!“
Mara und der kleine Windhauch setzten sich zu Füßen des Vaters und ihre großen fragenden Augen bohrten sich in seine. Vater Sturmwind nahm einen Schluck von seinem Punsch.
„Dann werde ich euch nicht länger auf die Folter spannen.“
Der kleine Windhauch gluckste.
„Paps, das musst du der Mara noch erklären. Die guckt schon wieder so -“
„He, wie gucke ich denn?“
Lachend nahm der kleine Windhauch ihre Hand.
„Nun, so fragend.“
Er riss seine Augen auf und sah Mara mit zur Seite geneigtem Kopf an.
Prustend stieß sie den kleinen Wicht vor die Brust.
„Also, ich habe nicht viel erfahren. Es kann aber gut möglich sein, dass dir jemand helfen kann, Mara. Immer wieder hörte ich von einer weisen Frau.“
„Einer weißen Frau?“
„Nicht weiß, weise. Das bedeutet sehr klug.“
„Ach so, entschuldigt bitte.“
„Du sollst dich nicht immer entschuldigen, wenn du etwas nicht weißt oder kennst. Das ist ganz natürlich. Auch wir Winde und alle anderen auf dieser Erde wissen nicht alles. Das geht gar nicht. Dafür stellt man dann seine Frage und sucht denjenigen, der die Frage beantworten kann.“
„Danke, Vater Sturmwind. Wo finde ich denn diese kluge Frau?“
„Genau weiß ich das auch noch nicht. Laut der Berichte wohnt sie hinter einer blauen Pforte. Ach ja, sie heißt Wolkenhaar.“
„Da passt sie ja zu uns, Papa.“
„Oh, das ist ein sehr schöner Name.“
„Junge, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Es kann aber auch sein, dass sie nur so aussieht.“
„Mit Wolken als Haaren?“
„Na, zum Beispiel.“
Vater Sturmwind lächelte und leerte das Glas.
„Sodele, ihr zwei Wirbelwinde geht jetzt zu Bett. Um die Fee Wolkenhaar kümmern wir uns morgen. Ihr kennt ja den Spruch: Der Morgen ist klüger als der Abend!“
„Ja.“
„Nein.“
„Ab mit euch!“
Die Winde wären nicht die Winde, würden sie nicht jeden Winkel der Erde kennen. Es dauerte nur wenige Stunden bis Vater Sturmwind alle Informationen hatte. Mara wollte sofort aufbrechen. Nur schwer ließ sie sich überzeugen, die Reise in Ruhe vorzubereiten.
„Wir brauchen Proviant und es ist auch gut, sich den Weg vorher auf der Karte anzuschauen. Sonst wissen wir doch gar nicht, wo wir lang müssen.“
Schweren Herzens stimmte Mara zu, freute sich jedoch sehr, dass ihr Freund sie begleiten würde.
„Na hör mal, das ist doch selbstverständlich. Das machen Freunde so!“
Zwei Tage später verabschiedeten sie sich von der Sturmwindfamilie und zogen los. Sie wussten, dass die Winde jeder Zeit zu Hilfe eilen würden.
Das genaue Ziel war ihnen nicht bekannt. Sie wussten nur, dass es eine hohe Bergkette im Süden war.
Keiner hatte sagen können, was es mit dieser blauen Pforte auf sich hatte.
Der kleine Wirbelwind wäre sicherlich sehr viel schneller voran gekommen, doch Mara war ja zu Fuß unterwegs.
Sie sah so viel Neues auf ihrem Weg. Ehrlicherweise war so ziemlich alles für sie neu. Eine kleine Reise, aber ein großes Abenteuer.
Am Berg angekommen, hielten Mara und der kleine Windhauch an, um sich zu beraten.
„Von hier aus sind wir auf uns gestellt. Wohin sollen wir gehen?“
Sie fragten die Tiere am Fuß des Berges und die Vögel in der Luft. Keiner kannte eine blaue Pforte. Ein winziger bunter Vogel hatte dann doch einen Rat.
„Auf halber Höhe steht ein uralter Baum. Man sieht ihm an, wie viele Sommer er erlebt hat. Wenn es einer weiß, dann er.“
„Danke dir, kleiner Freund.“
Mit neuem Mut ging es weiter für die Prinzessin und den kleinen Windhauch.
„Oh, schau nur, das muss er sein!“
„Er sieht wirklich sehr alt aus.“
„Ich habe auch sehr viel erlebt in meinen unzähligen Jahren hier auf dem Berg.“
„Ich wollte nicht -“
„Mädchen, ich bin alt. Nur die Menschen hören das nicht so gerne.“
Der Baum knarrte freundlich und bewegte seine schwere Krone dazu.
„Was treibt euch zwei an meine Wurzeln?“
„Du bist ein lustiger Geselle und wenn du schon so lange hier stehst, dann weißt du vielleicht, wo die Fee Wolkenhaar wohnt?“
„Oh, ihr wollt die Fee besuchen. Hier ist lange keiner mehr mit diesem Wunsch vorbei gekommen.
Die Menschen haben sie vergessen. Das glaube ich jedenfalls. Vor vielen Jahren kamen sie regelmäßig und baten sie um Rat. Ich bin ja nicht neugierig, aber was habt ihr auf dem Herzen?“
„Lieber Baum, das ist eine sehr lange Geschichte.“
„Liebes Mädchen. Der Abend naht. Ihr braucht also ein Nachtlager.
Dafür sind meine Wurzeln und meine Krone hervorragend geeignet.
Außerdem freue ich mich über euren Besuch. Ich liebe Geschichten.
Selbst wenn sie langweilig sein sollte, was ich nicht denke, so kann ich ja nicht weg laufen.“
Wieder knarrte der Baum lustig vor sich hin.
„Hier unten ist eine Kuhle in den Wurzeln. Da liegt es sich bestimmt bequem.“
„Super. Ich fange nachher noch eine Wolke. Das gibt ein weiches Bett.“
Mara und der kleine Windhauch machten es sich bequem und Mara begann zu erzählen. Als die beiden sich später dann auf der Wolke in den Wurzeln nieder legten, senkte der alte Baum seine Krone ein wenig ab auf dieser Seite.
Ausgeruht und erholt erwachten die Freunde mit den ersten Sonnenstrahlen.
„Wo müssen wir jetzt entlang, lieber Baum?“
„Da habe ich eine kleine Quizfrage für euch. Schaut euch um. Was ist blau?“
„Der Himmel natürlich.“
„Gut, kleiner Windhauch, aber es gibt noch mehr.“
Sie schauten sich um, konnten aber nichts anderes Blaues entdecken.
„Seht genau hin.“
Mara lief herum und näherte sich so dem Bach, der durch die Wiese plätscherte.
„Hier gibt es nichts weiter außer ein paar hellblauen Blümchen. Na und das Wasser vom Bach sieht auch nur blau aus.“
„Das ist es Mara. Wasser wird fast immer und überall blau dargestellt, weil es im Licht der Sonne oft so erscheint. Es ist das Wasser, richtig?“
„Hundert Punkte für die richtige Antwort. Der Gewinner ist der kleine Windhauch!“
Knarrende Freude erklang.
„Ihr zwei seid sehr klug.“
„Aber, lieber Baum, wie kann Wasser eine Tür sein?“
„Das herauszufinden überlasse ich tatsächlich euch. Ihr werdet es erkennen. Das verspreche ich euch. Der Weg ist leicht. Folgt einfach dem Bach den Berg hinauf zu seiner Quelle.“
Mara strich liebevoll über die Rinde des alten Baumes und entlockte ihm so ein wohliges Knurren. Der kleine Windhauch kreiste einmal um die gewaltige Krone des neuen Freundes. Dann setzten sie winkend ihren Weg fort.
Der Aufstieg war nicht sonderlich schwierig. Sie benötigten trotzdem noch mehr als zwei Tage. Endlich standen sie auf einem Plateau. Hier sammelte sich das Wasser des Baches in einem See.
„Hier ist es wunderschön. Aber der See ist keine Tür.“
„Mmh ja, für mich auch nicht. Ich mache mal einen kleinen Erkundungsflug. Ruh dich aus, Mara. Ich bin gleich zurück.“
Mara setzte sich an den felsigen Rand des Sees. Sie beugte sich nach vorn, um sich das Wasser genauer anzusehen. Aber wie kam das? Sie war nicht allein. Jemand schaute aus dem See zu ihr herauf. Irritiert sprang sie auf die Füße. So fand sie der kleine Windhauch, der eben über den See heran flog.
„Was ist los? Was hat dich erschreckt?“
„Da ist jemand im Teich!“
„Ein Fisch?“
„Nein, ein Mensch. Der schaut mich an von da unten aus dem Wasser.“
Das war selbst für ihren Freund zu viel. Der kleine Windhauch kugelte sich mit einem fröhlichen Lachen, bis er keine Luft mehr bekam. Mara verstand das nicht.
„Sei nicht böse, liebste Freundin. Ich hatte vergessen, dass du das noch nicht kennst. Es klang aber so lustig, was es auch ist. Entschuldige meinen windigen Lachanfall.
Komm her, wir schauen noch mal gemeinsam in den See, ja?“
Zögernd näherte sich Mara. Der kleine Windhauch nahm ihre Hand und gemeinsam beugten sie sich hinüber.
„Was siehst du, Mara?“
„Ich, ich sehe jetzt zwei Personen. Ja, es sind zwei. Aber warte! Die eine sieht so aus wie, wie du.“
Sie blickte den Freund an und dann wieder auf das Wasser.
„Mara, was du hier siehst sind unsere Spiegelbilder, so heißt das.
Wir können uns in jeder glatten Fläche sehen, mal mehr und mal weniger. Die Menschen haben das aus Glas nachempfunden. Sie nennen es Spiegel.“
„Ja gut. Dann kann ich dich sehen. Wer ist aber die andere Person?“
Der kleine Windhauch schlug sich ausgelassen auf die Schenkel.
„Mara, sieh dich um. Siehst du noch eine weitere Person hier neben uns? Nein? Okay. Wenn du also mein Spiegelbild im Wasser sehen kannst und nur du und ich hier sind, wer ist dann also die zweite Person?“
Mara schaute ihren Freund an. Ihre Augen wurden größer und größer.
„Du meinst, das bin ich. Das kann ich nicht glauben. Dieses Bild ist so schön.“
„Glaubst du denn, du bist das nicht?“
Der kleine Windhauch wirbelte um sie herum.
„Mara, das ist dein Spiegelbild. So siehst du aus. Du bist wunderschön.“
Als er sich wieder neben sie setzte, durchzuckte ihn ein Gedanke.
„Deshalb gab es wohl in deinem Schloss keine glatten Flächen. Du solltest nicht sehen, wie du aussiehst. Ich kann mir zwar noch keinen Reim darauf machen, warum. Doch das finden wir auch noch heraus.“
„Einen Reim?“
„Da macht man mit Worten. Sich einen Reim machen, ist ein Wortspiel.
Man sagt das so. Warte, ich mache dir ein Beispiel für einen Reim:
Der kleine Windhauch werde ich genannt, wenn du mich rufst, komm ich gerannt.“
„Oh, das kenne ich schon. So war der Fensterspruch, den mir die Amme beigebracht hat:
Fenster, Fenster, schließe dich. Sperr alle bösen Geister aus.
Dann weiß ich, das ich sicher bin in meinem lieben Haus.“
„Genau. Es macht Spaß zu reimen. Pass auf:
Wir sitzen hier im Sonnenschein, ein wenig Speis` und Trank wär` fein!“
Mara setzte nach:
„Wir suchen jetzt die blaue Pforte und essen bei der Fee dann Torte!“
„Du lernst schnell, Mara. Sehr schön. Aber das bringt uns zurück.
Deshalb sind wir hier. Also, wo ist diese geheimnisvolle blaue Pforte?“
Die beiden nahmen ihre Aufmerksamkeit weg von den Reimen und lenkten sie wieder auf die Suche nach der geheimnisvollen Tür.
Schließlich entdeckte der kleine Windhauch etwas.
„Uns gegenüber kommt doch das Wasser den Felsen herunter. Das ist ein kleiner Wasserfall. Die Felsen rechts und links davon stehen etwas weiter nach vorn und verengen sich nach oben.“
„Tatsächlich. Das kann man als eine Tür betrachten. Und jetzt mit dem Tageslicht -“
„Sieht das Wasser wieder blau aus. Juchu, wir haben die Pforte gefunden!“
Sie liefwehten um den See herum und wieder war es der kleine Windhauch, der die schmale Treppe aus Felsgestein fand.
„Die Stufen führen an der Seite in den Wasserfall hinein.“
„Dann werden wir ein wenig nass.“
Beide schlüpften schnell hindurch. Plötzlich befanden sie sich hinter dem Wasserfall. Vor ihnen lag eine blühende Sommerwiese mit einem Häuschen. Die Tür stand offen und am Zaun lehnte eine alte Frau in Sackleinen.
„Guten Tag, liebe Frau. Wir sind ein wenig verwirrt. Sie haben es sehr schön hier. Wir dachten allerdings, dass hier die Fee Wolkenhaar wohnt.“
„Ihr denkt nun, das bin ich nicht.“
„Na ja, als kleiner Wind habe ich gedacht, sie müsste dann Haare wie Wolken haben.“
Ein helles Lachen erklang. Die alte Frau zog sich das Tuch vom Kopf.
Langes weißes Haar floss auf ihre Schultern. Es war lockig, wundervolle kleine Löckchen, die sich leicht bewegten, als würden sie tanzen.
„So etwa?“
„Oh Mann, liebe Fee, genauso. So wunderbar.“
Darauf streckte sich die Alte und aus der gebeugten wurde eine strahlende junge Frau, schlank und rank, hochgewachsen mit eben diesen wunderprächtigen Locken.
„Tretet näher. Auch ich habe gelernt, vorsichtiger zu sein, wenn Fremde es schon mal schaffen, durch den Vorhang zu treten. Was führt euch zu mir?“
„Ich muss heraus finden, wer ich bin!“
„Musst du?“
„Das muss sie unbedingt! Und ich helfe ihr dabei.“