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Mariah – Ganz ich selbst E-Book

Mariah Carey

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Beschreibung

Mariah Carey ist eine globale Ikone, gefeierte Sängerin, Songwriterin, Produzentin, Schauspielerin und Mutter. Erstmals erzählt sie ihre ungefilterte Geschichte: Von ihrem Aufwachsen in schwierigen Verhältnissen zwischen Rassismus und Gewalt, ihrer Liebe zur Musik, ihrem Aufstieg als Sängerin, dem Zwiespalt zwischen glamourösem Popstar und dem ständigen Erwartungsdruck anderer – und schließlich von ihrer Entwicklung hin zu einer freien und selbstbestimmten Frau.

Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich den Mut und die Klarheit aufbringen konnte, meine Autobiografie zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte der Momente erzählen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin – der Höhen und Tiefen, der Triumphe und Erschütterungen, der Katastrophen und der Träume. Auch wenn es im Verlauf meiner Karriere und meines sehr öffentlichen Privatlebens unzählige Geschichten über mich gab, ist es unmöglich die Vielschichtigkeit und Tiefen meiner eigenen Erfahrungen in einem einzelnen Magazin-Artikel oder einem zehnminütigen TV-Interview zu vermitteln. Und selbst wenn das einigermaßen gelang, wurden meine Worte immer durch die Augen einer anderen Person gefiltert, hauptsächlich, um dem Wunsch nach einem bestimmten Bild von mir nachzukommen.

Dieses Buch entstand aus meinen Erinnerungen, meinen Fehltritten, meinen Kämpfen, meinem Überleben und meinen Songs. Ungefiltert. Ich bin tief eingetaucht in meine Kindheitserinnerungen und habe dem verängstigten kleinen Mädchen in mir eine Stimme gegeben. Ich habe die einsame und ehrgeizige Jugendliche sprechen und die betrogene und erfolgreiche Frau, die ich geworden bin, ihre Geschichte erzählen lassen.

Diese Autobiografie zu schreiben, war unglaublich hart und heilsam und machte mich demütig. Meine ernsthafte Hoffnung ist, dass auch ihr bewegt werdet zu einem neuen Verständnis nicht nur von mir, sondern auch von der Unerschütterlichkeit des menschlichen Geistes.

In Liebe,

Mariah

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Seitenzahl: 558

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Über dieses Buch:

Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich den Mut und die Klarheit aufbringen konnte, meine Autobiografie zu schreiben. Ich wollte eine Geschichte der Momente erzählen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin – der Höhen und Tiefen, der Triumphe und Erschütterungen, der Katastrophen und der Träume. Auch wenn es im Verlauf meiner Karriere und meines sehr öffentlichen Privatlebens unzählige Geschichten über mich gab, war es unmöglich die Vielschichtigkeit meiner eigenen Erfahrungen in einem einzelnen Magazin-Artikel oder einem zehnminütigen TV-Interview zu vermitteln. Und selbst wenn mir das gelang, wurden meine Worte immer durch eine andere Person gefiltert, hauptsächlich, um ein bestimmtes Bild von mir zu entwerfen.

Dieses Buch entstand aus meinen Erinnerungen, meinen Fehltritten, meinen Kämpfen und meinen Songs. Ungefiltert. Ich bin tief eingetaucht in meine Kindheitserinnerungen und habe dem verängstigten kleinen Mädchen in mir eine Stimme gegeben. Ich habe die einsame und ehrgeizige Jugendliche sprechen und die betrogene und erfolgreiche Frau, die ich geworden bin, ihre Geschichte erzählen lassen.

Diese Memoiren zu schreiben war unglaublich hart und heilsam, und es machte mich demütig. Meine aufrichtige Hoffnung ist, dass auch ihr bewegt werdet zu neuen Einsichten nicht nur über mich, sondern auch über die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes.

In Liebe,Mariah Carey

Über die Autorin:

Mariah Carey ist Amerikanerin mit Schwarzen und irischen Vorfahren. Sie ist Sängerin, Songwriterin, Produzentin, Schauspielerin und Unternehmerin, hat fünfzehn Studioalben aufgenommen und zahlreiche Preise und Auszeichnungen gewonnen. Sie hält den Rekord für die meisten Nummer-1-Singles einer Solokünstlerin und wurde in die Songwriters Hall of Fame aufgenommen. Ihrer weltweiten Fangemeinde ist Carey für immer dankbar und zutiefst ergeben. Mariah Carey ist Mutter zweier Kinder, Moroccan und Monroe.

MARIAH CAREY

mit MICHAELA ANGELA DAVIS

MARIAH

GANZ ICH SELBST

Die Geschichte meines Lebens

Aus dem Amerikanischen von Constanze Wehnes

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Meaning of Mariah Carey bei Andy Cohen Books, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Begriff »Schwarz« wird in diesem Buch groß geschrieben.Er bezeichnet keine Eigenschaft, die sich auf eine Hautfarbe bezieht, sondern wird bewusst von Menschen als Selbstbezeichnung gewählt, die aufgrund ihrer Hautfarbe Erfahrungen mit Rassismus machen.

Deutsche Erstausgabe 2021Copyright © 2020 by Mariah Carey

All rights reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von einer Fotografie von Ruven Afanador/CPi Syndication und einer privaten Fotografie von Mariah Carey, koloriert von Debra Lill

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28083-3V001www.heyne.de

Für mein Vermächtnis, meine Kinder Roc und Roe.Ihr seid die menschgewordene, bedingungslose Liebe.

Für meine Vorfahren, meine Herkunft, meinen gesamten Stammbaum …

Ihr kamt aus zwei verschiedenen Welten,

die oftmals im Streit miteinander lagen.

Doch das Beste von euch lebt in mir weiter, schlussendlich, harmonisch.

Und für Pat, meine Mutter, die trotz allem,

glaube ich, wirklich getan hat, was sie konnte.Ich werde dich lieben, so gut ich kann, für immer.

Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.

Hebräer 11:1

INHALT

Prolog

Teil I – Wayward Child

Teil II – Sing! Sing!

Teil III – All That Glitters

Teil IV – Emancipation

Epilog

Dank

Songnachweis

Bildteil

Bildnachweis

PROLOG

Ich verweigere mich der Zeit, daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Im Gegenteil, ich habe dazu etliche Memes erstellt und Witze darüber gerissen, dabei meine ich das vollkommen ernst. An meinem achtzehnten Geburtstag habe ich geweint. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, weil ich noch keinen Plattenvertrag hatte. Das war mein einziges Ziel. Es war, als hätte ich den Atem angehalten, bis ich etwas Richtiges in Händen halten konnte: ein Album, auf dem »Mariah Carey« stand. Als ich meinen Vertrag hatte, konnte ich endlich ausatmen und mein Leben beginnen. Ab diesem Tag zählte ich mein Leben in Alben, kreativen Erfahrungen, Karrieresprüngen und Ferien. Ich lebe von Weihnachten zu Weihnachten, von Fest zu Fest, von einem glänzenden Augenblick zum nächsten, statt meine Geburtstage oder mein Alter zu zählen (zum großen Leidwesen gewisser Personen).

Das Leben hat mich gezwungen, meinen eigenen Weg in dieser Welt zu finden. Warum soll ich mir die Reise damit verderben, ständig auf die Uhr zu sehen und die dahintickenden Jahre zu beweinen? Mein Leben war schon ereignisreich genug, bevor auch nur irgendjemand meinen Namen kannte, wie könnte Zeit allein das alles erfassen und wiedergeben? Als ich aufhörte, mich tagtäglich in das starre Korsett der Zeit zu zwängen, fiel es mir plötzlich leichter, mich selbst nicht zu verlieren, das Kind in mir nicht nur fest-, sondern am Leben zu halten. Darum fühle ich auch eine gewisse Verwandtschaft zu wiederkehrenden Figuren wie Santa Claus, der Zahnfee oder Tinkerbell. Sie erinnern mich daran, dass wir zeitlos sein können.

Sich zu sehr auf die Zeit zu konzentrieren ist Zeitverschwendung. Die Zeit kann sehr trostlos sein, Dahling, warum also darin leben? Schließlich geht es doch um die Momente, die wir selbst erschaffen und an die wir uns erinnern. Meine Erinnerungen sind mir heilig, sie sind einige der wenigen Dinge, die ganz und gar mir gehören. In diesen Memoiren habe ich einige der wichtigsten Erinnerungen zusammengetragen, die meine Geschichte am besten erzählen, die verraten, wer ich wirklich bin, so wie ich mich sehe, und dabei spielt die Reihenfolge keine Rolle. Es geht vorwärts und rückwärts, von Moment zu Moment, die alle zusammengenommen die Person ergeben, die ich heute bin – ganz ich selbst.

TEIL I WAYWARD CHILD

GUTE ABSICHTEN

Ich wollte sie schützen, ich hatte nie die Absicht, sie gefangen zu halten.

Doch über viele Jahre war sie in meinem Innern eingeschlossen – immer allein, für sämtliche Augen sichtbar und doch verborgen vor all den Menschenmassen. In meinen frühen Werken hat sie noch deutliche Spuren hinterlassen: Oftmals sieht man sie hinter einem Fenster, winzig klein in einem riesigen Rahmen, barfuß steht sie da und starrt auf eine verlassene Schaukel, die in der violetten Abenddämmerung an einem einsamen Baum hin und her schwingt. Oder sie sitzt in der zweiten Etage eines Brownstone-Hauses und beobachtet die Nachbarskinder, die unten auf dem Gehsteig umhertanzen. Sie taucht in blauen OshKosh-Overalls in der Schulaula auf oder mit einem Ball in den Händen in der Sporthalle, sehnlichst darauf wartend, in ein Team gewählt zu werden. Manchmal erwischt man sie auch in einem seltenen Freudenmoment, dann flitzt sie in einer Achterbahn oder auf Inlinern vorbei, die Arme in die Luft gereckt. Sie ist immer da, eine dumpfe Sehnsucht hinter meinen Augen. Doch obwohl sie lange Jahre verlassen und verängstigt in der Dunkelheit verbrachte, hat sie nie ihr Licht verloren. Sie hat sich in meinen Songs gezeigt – ihre Herzenswünsche schallen durch das Radio oder flimmern über Bildschirme. Millionen von Menschen kennen sie, obwohl sie sie nie kennengelernt haben.

Sie ist die kleine Mariah, und vieles wird sie selbst erzählen, so wie sie es erlebt hat.

Einige meiner frühesten Erinnerungen zeigen gewalttätige Momente. Und darum habe ich immer eine dicke Decke mit mir herumgetragen, mit der ich große Teile meiner Kindheit verhüllte. Sie war eine Last. Ich ertrage ihr Gewicht nicht länger und das Schweigen des kleinen Mädchens, das unter dieser Decke erstickt. Ich bin jetzt eine erwachsene Frau und Mutter. Ich habe schlimme Dinge gesehen, Ängste durchlitten, Narben davongetragen – und ich habe überlebt. Ich nutzte meine Stimme und meine Songs, um andere zu inspirieren und mein erwachsenes Selbst zu emanzipieren. Und dieses Buch möchte ich dazu nutzen, endlich auch das kleine, verängstigte Mädchen in meinem Innern zu befreien. Es ist Zeit, diesem Mädchen eine Stimme zu geben, damit es seine Geschichte so erzählen kann, wie es sie erlebt hat.

Obwohl man die gelebten Erfahrungen einer Person eigentlich nicht anzweifeln kann, werden die Darstellungen gewisser Ereignisse in diesem Buch sicher von den Schilderungen meiner Familie, Freunde oder anderer Personen abweichen, die glauben, mich zu kennen. Doch diese Anfechtungen habe ich schon zu lange erduldet, ich bin es leid. Ich habe diesem kleinen Mädchen den Mund zugehalten, um andere zu schützen. Selbst »diese anderen«, die mich nie geschützt haben. Ich habe immer versucht »darüberzustehen«, doch trotzdem wurde ich durch den Dreck geschleift, verklagt und über den Tisch gezogen. Am Ende habe ich ihr nur noch mehr wehgetan, und das hat mich beinahe umgebracht.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, wie widerstandsfähig zum Schweigen verurteilte kleine Mädchen und Jungen auf der ganzen Welt sind. Um ihnen zu beweisen, dass wir ihnen glauben. Um ihre Erlebnisse zu würdigen und ihre Geschichten zu erzählen.

Und um sie zu befreien.

AM LEBEN

Early on, you face

The realization you don’t

Have a space

Where you fit in

And recognize you

Were born to exist

Standing alone

»Outside«

Eine Zeit lang in meiner frühen Kindheit hielt ich mich für unwürdig, überhaupt am Leben zu sein. Ich war zu jung, um ernsthaft darüber nachzudenken, mein Leben zu beenden, doch gerade alt genug, um zu erkennen, dass es noch nicht begonnen hatte. Dass ich noch nicht den Ort gefunden hatte, an den ich gehörte. Wohin ich auch blickte, niemand in meinem Umfeld schien wie ich auszusehen oder zu empfinden.

Meine Mutter Patricia hatte hellere Haut und glatteres Haar. Mein Vater Alfred Roy hatte dunklere Haut und krauseres Haar. Ihre Gesichtszüge sahen meinen überhaupt nicht ähnlich. Sie beide waren von Reue durchfurcht, sie kamen mir vor wie Geiseln einer endlosen Aneinanderreihung grausamer Umstände. Meine Schwester Alison und mein Bruder Morgan waren beide älter und dunkler – und damit meine ich nicht nur ihre Hautfarbe, obwohl sie etwas brauner waren als ich. Die beiden hatten eine ähnliche Energie, die Licht abzuschirmen schien. Ihre Art ließ nur wenig Platz für Traumtänzerei, die in meiner Natur lag. Wir hatten dasselbe Blut, und doch fühlte ich mich unter ihnen immer wie eine Fremde, wie ein Eindringling in meiner eigenen Familie.

Als kleines Mädchen hatte ich oft Angst, und die Musik war meine Zuflucht. Mein Zuhause war erdrückend, Streit und Chaos pressten alles Leben daraus. Aber wenn ich sang, ganz leise, fast flüsternd, beruhigte mich das. In meiner Stimme fand ich Ruhe, Wärme und Licht, sanfte Schwingungen, mit denen ich mir selbst Linderung verschaffen konnte. Mein Flüstergesang war mein eigenes, geheimes Wiegenlied.

Darüber hinaus fand ich im Gesang auch eine Verbindung zu meiner Mutter, einer Opernsängerin, die auf einem Konservatorium, der Juilliard School, ausgebildet worden war. Zu Hause lauschte ich oft ihren Stimmübungen, die sich wiederholenden Töne wirkten wie ein tröstliches Mantra auf meinen verängstigten Verstand. Ihre Stimme kletterte Tonleitern hinauf und hinab und dann wieder hinauf, immer höher und höher – und etwas in mir schwebte mit ihr empor. (Mit Begeisterung sang ich »Lovin’ You« von Minnie Riperton mit und folgte ihrer engelsgleichen, seelenvollen Stimme bis in die Wolken.) Oft trällerte ich auch einfach vor mich hin, zur Freude meiner Mutter, die mich stets ermunterte. Einmal probte sie eine Arie aus der Oper Rigoletto und verhaspelte sich immer wieder an derselben Stelle. Da sang ich es ihr vor, in perfektem Italienisch. Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein. Sie sah mich an, vollkommen verblüfft, und in diesem Moment wusste ich, dass sie mich wirklich sah. Ich war nicht mehr nur ein kleines Mädchen. Ich war Mariah. Eine Musikerin.

Mein Vater hatte mir das Pfeifen beigebracht, bevor ich überhaupt sprechen konnte. Schon damals hatte ich eine leicht kratzige Sprechstimme, und es gefiel mir, dass sie anders war als die der anderen Kinder in meinem Alter. Doch wenn ich sang, war meine Stimme weich und stark. Einmal, mit etwa acht Jahren, war ich mit meiner Freundin Maureen unterwegs. Mit ihrer Porzellanhaut und dem glänzend braunen Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmte, sah sie ein bisschen aus wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz.Sie war eines der wenigen weißen Mädchen in der Nachbarschaft, die mit mir spielen durfte. Wir gingen nebeneinander die Straße hinunter, und ich fing an, irgendetwas zu singen. Da blieb sie wie angewurzelt stehen und hörte mir nur zu. Dann sah sie mich an und sagte: »Wenn du singst, klingt es, als hättest du Instrumente dabei. Deine Stimme ist von Musik umgeben.« Das hörte sich richtig feierlich an, fast schon wie ein Gebet.

Man sagt, Gott spreche durch die Menschen, und ich werde meiner Freundin ewig dankbar sein, denn ihre Worte trafen mich direkt ins Herz. Sie sah etwas Besonderes in mir und sprach es aus. Deshalb glaubte ich daran, dass meine Stimme aus Instrumenten bestand, dass Klaviertöne, Violinen und Flöten aus mir sangen. Ich glaubte daran, dass meine Stimme Musik sein konnte. Und dafür hatte ich nur jemanden gebraucht, der mich wirklich hörte.

Ich erkannte, dass meine Stimme anderen Menschen guttun konnte, dass ihr magische Kräfte innewohnten. Und daraus schloss ich, dass ich nicht unwürdig war, sondern dass ich als Person einen Wert hatte. Ich besaß etwas, das ich anderen Menschen geben konnte – nämlich das Feeling, das Gefühl. Und das verfolgte ich mein gesamtes Leben lang. Es gab mir einen Grund, am Leben zu sein.

CLOSE MY EYES

Zwölf Cops waren nötig, meinen Bruder und meinen Vater zu trennen. Die mächtigen Männer waren ineinander verknotet wie ein wüster Hurrikan, der tosend ins Wohnzimmer krachte. Von jetzt auf gleich waren alle vertrauten Dinge aus meinem Sichtfeld verschwunden – Fenster, Fußboden, Möbel, Licht. Alles, was ich sehen konnte, war diese wild um sich schlagende Masse aus dunklen Uniformen, riesigen, fest zupackenden Händen und fliegenden Fäusten, Gliedmaßen, die sich von anderen losrissen, schweren, schwarz glänzenden Schuhen, die über den Boden schlurften und stampften. Hier und da blitzte etwas in dem finsteren Wirbel auf: Knöpfe, Abzeichen und Pistolen, die in abgegriffenen Lederholstern an breiten schwarzen Gürteln um massige Hüften geschnallt waren oder steif zwischen Handteller und Daumen herausragten. Chaos erfüllte die Luft, Flüche, schwerer Atem und Schmerzensschreie. Das gesamte Haus schien zu wanken. Und irgendwo im Auge dieses Sturms waren die beiden wichtigsten Männer in meinem Leben und zerstörten sich gegenseitig.

Ich habe mir die Wut meines Bruders immer wie eine Naturgewalt vorgestellt – wuchtig, zerstörerisch und unvorhersehbar. Ich weiß nicht, ob der Auslöser für seine Explosivität ein bestimmter Vorfall oder eine Art Krankheit war, doch ich habe ihn nie anders gekannt.

Das kleine Mädchen, das ich damals war, hatte nur sehr wenige Erinnerungen an einen großen, beschützenden Bruder. Ich hatte eher das Gefühl, mich vor ihm schützen zu müssen, und manchmal sogar meine Mutter.

Dieser Streit zwischen meinem Bruder und meinem Vater war schneller eskaliert als üblich. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich ihr Geschrei in einen Tornado aus Fäusten, der durch das Zimmer fegte, Möbel umwarf und eine Spur der Zerstörung hinter sich herzog. Die beiden waren von Wahn und Raserei gepackt, und niemand hätte es gewagt dazwischenzugehen.

Schon als Kleinkind hatte ich einen Instinkt entwickelt, der mich vor aufziehender Gewalt warnte. So wie ich Regen riechen konnte, erkannte ich auch an der Stimmlage schreiender Erwachsener, wann ich in Deckung gehen sollte. Verlor mein Bruder die Beherrschung, schlug er auch mal Löcher in die Wand oder warf Gegenstände durch die Gegend. Ich wusste nie genau, wie oder warum ein Streit begann, doch ich wusste, wann Spannungen zu einer Auseinandersetzung wurden und wann eine solche handgreiflich wurde. Und mein Warnsystem sagte für diese Differenzen geradezu epische Ausmaße voraus.

Nana Reese war bei uns, was eigentlich komisch war, denn sie oder andere Verwandte meines Vaters kamen nur selten aus Harlem zu Besuch. Wir wohnten damals in Melville, einer überwiegend weißen, recht wohlhabenden Gegend im Suffolk County auf Long Island, New York, doch im Laufe meiner Kindheit zogen wir insgesamt dreizehnmal um. Dreizehnmal packten wir all unsere Habseligkeiten zusammen und suchten uns ein neues Zuhause – oder besser gesagt: suchten uns ein Zuhause, das sicherer sein sollte als das vorherige. Dreizehn Neuanfänge, dreizehn neue Straßen mit neuen Häusern voller Menschen, die uns misstrauisch beäugten und sich fragten, wo und wer wohl unser Vater sei. Dreizehn Gelegenheiten, als unwürdig abgestempelt und ausgeschlossen zu werden.

Pastorin Nana Reese, der Good Reverend Roscoe Reese und ihre African Methodist Pentecostal Church, das war der Hintergrund meines Vaters. Roy war der einzige Sohn von Addie, Nana Reeses Schwester. Mein Vater lebte nie mit seinem Vater zusammen, zwischen den beiden lag immer eine tiefe Schlucht, ein Mysterium, das unweigerlich ein Martyrium in sich barg. Diese Menschen in dem Dörfchen Harlem waren seine Familie. Sie waren aus Alabama, North Carolina und anderen Teilen des Südens hochgekommen und hatten ihre Traditionen, Traumata und Talente mitgebracht – einige davon uralt, afrikanisch und mystischen Ursprungs.

Nana Reese und ich fanden uns, kurz bevor die Hölle richtig losbrach. Das Donnergrollen von Flüchen, Fäusten und Füßen übertönte alle anderen Geräusche, deshalb bekam ich nicht mit, als die Cops hereinstürmten.

Ich wusste nicht, ob sie uns helfen oder umbringen würden. Zwei Schwarze, gewalttätige Männer auf Long Island in den Siebzigern – da trafen Polizei und Hilfe selten in derselben Person ein. Im Gegenteil, Gewaltausbrüche wurden durch die Anwesenheit der Polizei meist nur verkompliziert und verschärft. Das hat sich bis heute nicht geändert, doch damals wurde ich zum ersten Mal damit konfrontiert. Ich hatte noch keinerlei Erfahrung, die mir in dieser Situation hilfreich gewesen wäre; tatsächlich hatte ich gar nichts, was mir irgendwie hilfreich gewesen wäre. Meine Großcousine Lavinia, Nana Reeses Tochter, sagte immer: »Schwarz zu sein bringt für euch Kids nur Bürden mit sich, gar keinen Nutzen.« Erst viel später verstand ich, wie viel Wahrheit in dieser Beobachtung lag.

Natürlich war es nicht das erste Mal, dass mein Vater und mein Bruder derart aneinandergerieten – solange ich denken kann, war ihre Beziehung ein Krisengebiet. Doch bisher war nie die Polizei gerufen worden. Bisher hatte ich nie über die Möglichkeit nachgedacht, dass ein Mitglied meiner Familie auf grausame Art und Weise vor meinen Augen sterben könnte. Oder dass ich sterben könnte. Ich war noch keine vier Jahre alt.

Bevor meiner Mutter und meinem Vater ihre Ehe unerträglich wurde, lebten sie zusammen in Brooklyn Heights. Schon seit 1910 hatte sich die Boheme in dieser Nachbarschaft niedergelassen, und die Fünfzigerjahre brachten eine Welle von Aktivisten – linkspolitische, wohlhabende Stadtmenschen, die auf gar keinen Fall in die Vorstädte wollten. So war der Stadtteil in den Siebzigern noch immer eine bunte Mischung, darunter auch viele Familien der Arbeiter- und Mittelklasse. Es war noch vor den Yuppies und der Gentrifizierung. Wenn es damals überhaupt einen Ort gab, an dem eine junge Familie mit einer weißen Mutter und einem Schwarzen Vater nicht schräg angesehen wurde, dann am ehesten in Brooklyn Heights.

Während meiner Kindheit lebte ich an vielen, dubiosen Orten, vor allem eben auf Long Island – ich fühlte mich immer wie eine Schiffbrüchige auf dieser Insel vor Manhattan. Meine Eltern arbeiteten beide sehr hart, damit wir in Gegenden wohnen konnten, in denen wir zumindest einen flüchtigen Blick auf das schwer fassbare »bessere« Leben werfen konnten, in denen wir uns »sicher« fühlen durften. Nach konventioneller Auffassung darf man »besser« und »sicher« getrost mit »weiß« übersetzen.

Doch wir waren keine konventionelle Familie. War es besser, wenn meine Mutter allein und als Erste das Haus verlassen musste, vor meinem Schwarzen Vater und ihren Kindern, die weder Schwarz noch weiß waren – zu ihrer Sicherheit? Wie wirkt sich das auf die Psyche eines Mannes aus, der doch der Familienvorstand sein wollte? Wie soll dieser Mann seine Familie beschützen? Und was signalisiert diese Würdelosigkeit seinem Schwarzen Sohn?

Nachdem die Polizisten meinen Vater und Bruder endlich voneinander getrennt hatten, wenn auch unter erheblichem Gebrüll, waren alle noch am Leben. Der gefährlichste Teil des Sturms war vorübergezogen, der Donner war verklungen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich weinend und zitternd in Nana Reeses Armen lag. Sie hatte mich wie ein Bündel Wäsche aufgeklaubt und sich mit mir auf das »Schaukelsofa« gesetzt, so nannten wir Kinder die billige, wacklige Konstruktion, deren Bezug die Farbe von Staub, Rost und Oliven hatte und von senffarbenen Flecken übersät war. Manchmal glaube ich, dass ebendiese Couch für meine spätere Vorliebe für Chanel verantwortlich war. Wir Kinder nannten sie das »Schaukelsofa«, weil ihr ein Bein fehlte, und wenn man sein Gewicht von vorne nach hinten verlagerte, dann, ja, schaukelte sie eben ein wenig. Ein ehrenwerter Versuch, kaputte Dinge mit Humor zu bedenken, ein Talent, das ich mit meinem Bruder und meiner Schwester teile. Und inmitten dieser Gewalt spendete dieses traurige Sofa mir unheimlich viel Trost.

Nana Reese drückte mich fest an sich, bis meine kleine Gestalt nicht mehr zitterte und mein Atem wieder normal war. Aus der Desorientierung erwacht, kehrte ich zurück in dieses Zimmer, in meinen Körper. Sie hob mein Gesicht zum Licht, sodass ich ihr in die Augen sehen musste. Sie legte ihre zarte Hand fest auf mein Bein, und ihre Berührung brachte das Nachbeben, das mir noch immer durch die Adern jagte, zur Ruhe. Sie sah mich an, wie ich noch nie angesehen worden war, ihr Blick war nicht der einer Großtante, Mutter oder Ärztin. Stattdessen kam es mir vor, als würde sie direkt in meinen Kern sehen. In diesem Moment war ich kein verängstigtes kleines Mädchen mehr und sie keine tröstende Frau. Wir waren zwei Seelen, zeitlos und ebenbürtig.

»Hab keine Angst vor all dem Streit vor deinen Augen«, sagte sie. »All deine Träume und Wünsche werden für dich wahr werden. Denk immer daran.«

Mit ihren Worten strömte liebevolle Wärme aus ihrer Hand in mein Bein, verteilte sich in sanften Wellen in meinem gesamten Körper, stieg hoch in meinen Kopf und aus ihm heraus. Ein Weg war durch die Zerstörung bereitet worden; ich wusste, da war Licht. Und irgendwie wusste ich auch, dass dieses Licht mir gehörte und auf Dauer währen würde. Vor diesem Moment hatte ich keine Träume gehabt, an die ich mich entsinnen könnte, und nur sehr wenige Erinnerungen. Ganz zu schweigen von Wünschen oder einem Lied in meinem Kopf.

Ab meinem vierten Lebensjahr, nachdem meine Eltern sich scheiden ließen, sah ich Nana Reese nur noch selten. Die Familien meiner Mutter und meines Vaters lagen im Streit, und da ich bei meiner Mutter lebte, war ich meist ausgeschlossen von Nanas Leben voller Heilung und Heiligkeit in Harlem. Später erfuhr ich, dass die Leute sie »eine Prophetin« nannten. Ich erfuhr auch, dass sie nicht die einzige Heilerin in meiner Familiengeschichte war.

Ich glaube, an diesem Tag war ein tiefer Glaube in mir erweckt worden. In meiner Seele begriff ich, dass, was immer mit mir oder um mich herum passierte, ich mich stets auf das verlassen konnte, was in mir selbst lebte. Ich trug etwas in mir, das mich durch jeden Sturm führen würde.

And when the wind blows, and shadows grow closeDon’t be afraid, there’s nothing you can’t faceAnd should they tell you you’ll never pull throughDon’t hesitate, stand tall and sayI can make it through the rain»Through The Rain«

ES WERDEN WUNDER WAHR

Als ich sechs Jahre alt war, zog meine Mutter mit mir und meinem älteren Bruder in ein winziges, unscheinbares Haus in Northpost auf Long Island. Das Häuschen thronte traurig ganz oben am Ende einer langen, gewundenen Treppe aus zahllosen Betonstufen.

Ein paar kleine Zimmer lagen zu beiden Seiten einer steilen, knarzenden Treppe, die hinauf zu noch kleineren Räumen führte. Meine Mutter war tagsüber meist arbeiten und nachts unterwegs, deshalb musste Morgan den Babysitter für mich spielen, wofür er jedoch gänzlich ungeeignet war. Oft ließ er mich einfach allein und traf sich mit seinen Freunden. Eines Abends saß ich allein vorm Fernseher und sah eine Dokumentation über gekidnappte Kinder – genau das Richtige für eine Sechsjährige. Und in diesem Moment warfen auch noch ein paar Nachbarskinder Steine gegen das Fenster. Ihre Stimmen zerrissen die Dunkelheit: »Mariah, wir kommen dich holen!« Die Sendung im Fernsehen, diese Kinder, die Nacht, dieses Haus, meine Einsamkeit … mir gefror das Blut in den Adern.

Ich wollte von meinem Bruder geliebt werden. Seine gewaltige Energie beeindruckte mich, doch sie machte mir auch Angst. Dieses kleine Haus konnte unmöglich die schwere Last tragen, die wir ihm mit unserem Schmerz und unserer Angst aufluden – vor allem mein Bruder. Emotional war es eine sehr intensive Zeit; wir alle hatten unsere Wunden. Ich war ein verängstigtes Mädchen, meine Mutter hatte ein gebrochenes Herz und mein Bruder … sagen wir mal, seine Wut hatte längst die Grenzen der gewöhnlichen Teenagerlaunen gesprengt, spätestens als er auf die Highschool ging. Schon in der Middle School steigerte er sich immer weiter in seinen Jähzorn hinein. Zuvor war mein Bruder eine sehr kreative Person gewesen, ein vielversprechender Sportler. Doch er war schon früh in seinem Leben gemobbt und verprügelt worden, weil er eine Behinderung hatte und außerdem das Kind eines Schwarzen Mannes und einer weißen Frau war. Seine Haut, eine deutlich sichtbare Markierung, die ihn von den weißen Jungs auf Long Island unterschied, machte ihn zu einer Zielscheibe. Kinder können grausam sein, doch gepaart mit Rassismus wird daraus eine besonders niederträchtige Boshaftigkeit, die oftmals von Erwachsenen geduldet (und gelernt) wird. Vermutlich hatte mein Bruder auch von den Schwarzen Kids einiges zu ertragen. Die Tatsache, dass er ihrer Form des sehr offensichtlichen »Schwarzseins« entgangen war – die sie grundlosen Anfeindungen durch die Polizei aussetzte –, führte mit Sicherheit zu Verbitterung, die sich in Beschimpfungen und Schlägen entlud.

Mein Bruder zerbrach sehr früh. Er zersprang in tausend Teile, die der Wind davontrug, und da er nie etwas anderes gekannt hatte, war Zerstörung seine einzige Verteidigung. Er kämpfte gegen alles, gegen seine eigenen Dämonen und seine Mitmenschen, doch vor allem gegen unseren Vater, der ihm nicht helfen konnte, die verstreuten Teile wieder einzusammeln. Stattdessen schien diese Beziehung meinen Bruder nur noch tiefer in seine innere Zerrissenheit zu pressen. Ein gebrochener Mann kann seinem gebrochenen Sohn nicht helfen. Die Versuche unseres Vaters, ihn mit veralteten Methoden wieder zusammenzukleben und mit militärischer Disziplin auf das Erwachsenenleben vorzubereiten, waren zum Scheitern verurteilt. Das zerrüttete Verhältnis war die immerwährende Pein meines Bruders und der Grund für seine überschäumende Wut.

Den Großteil meiner Kindheit verbrachte ich eingekeilt zwischen dem Zorn meines Bruders und der traurigen Suche meiner Mutter. Zorn und Mutlosigkeit sind beide äußerst schädlich, doch ich glaube, das eine sticht nach innen und das andere nach außen. Treffen sie aufeinander, kann das katastrophale Folgen haben. Als ich in den Kindergarten kam, waren Katastrophen für mich bereits an der Tagesordnung. Während unserer Zeit in Northport gab es zwischen meiner Mutter und meinem Bruder täglich kleinere Explosionen. Ich trainierte mir an, diese Ausbrüche still zu ertragen und abzuwarten. Meistens blendete ich die Worte und Gründe aus – das Warum war das Hoheitsgebiet der Erwachsenen. Für mich waren ihre Auseinandersetzungen nur ein formloser Schwall lauter Stimmen, durchstochen von einem Stakkato unbarmherziger Verwünschungen.

An einen Streit erinnere ich mich jedoch sehr genau und auch an den Grund: Mein Bruder wollte sich das Auto ausleihen, doch meine Mutter erlaubte es nicht. Natürlich hatten sie schon hundertmal darum gestritten, doch aus irgendeinem Grund war es dieses Mal anders. Ich hörte hin. Normalerweise begannen ihre Unstimmigkeiten so, wie ich mir normale Reibereien zwischen Teenagern und Eltern vorstellte. Diese nicht. Es begann bereits auf Explosionsniveau und eskalierte schnell zu einem hitzigen Wortgefecht, bei dem verletzende Worte durch das Zimmer flogen wie Schüsse, die von den Wänden abprallten und dabei immer grausamer wurden. Diesem Kreuzfeuer konnte ich nicht entkommen. Die Schreie schossen von Zimmer zu Zimmer, die Treppe hinauf und wieder hinunter. Das gesamte Haus wurde zum Schlachtfeld, es gab keinen sicheren Ort. Ich spürte, wie die Luft sich zusammenzog, als mein Bruder und meine Mutter sich Auge in Auge gegenüberstanden, nur durch wenige knisternde, zornerfüllte Zentimeter getrennt. Ich hatte Todesangst. Mein ganzer Körper wurde steif. Mit aufgerissenen Augen fixierte ich einen Punkt zwischen ihnen und rief »Hört auf! Hört auf!«, wieder und immer wieder, während mir die Tränen über die Wangen strömten. Ich hoffte, meine Stimme könnte durch diesen Spalt schlüpfen und sie nur einen Moment lang entwaffnen.

Plötzlich ertönte ein lautes, scharfes Krachen, wie ein richtiger Schuss. Mein Bruder hatte meine Mutter mit solcher Kraft weggestoßen, dass ihr Körper gegen die Wand schlug. Ich beobachtete, wie ihre Gestalt starr wurde, einen Moment lang sah es so aus, als sei sie an der Wand eingefroren, wie ein Bild daran aufgehängt, ihre Füße ein paar Zentimeter über dem Boden schwebend. Und dann wurde sie völlig schlaff, als seien ihre Knochen geschmolzen, fiel sie auf dem Boden in sich zusammen. Das Ganze passierte im Bruchteil einer Sekunde, doch es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Mein Blick war weiterhin auf diesen Punkt in der Luft geheftet, nur dass meine Mutter jetzt zusammengeknautscht auf dem Boden lag. Mein Bruder stampfte aus der Tür und knallte sie hinter sich zu, wobei er das Haus ein letztes Mal erschütterte. Dann raste er im Auto unserer Mutter davon.

Ich stand noch immer wie angewurzelt in der unheimlichen Stille da. Laut hörte ich mich atmen, doch ich wusste nicht, ob meine Mutter überhaupt noch Luft bekam.

Eine eiskalte Klarheit senkte sich auf mich herab, und als sie sich an meinen Körper heftete, fiel ein kleines, weiches Fragment meiner Kindheit von mir ab. Ich riss mich zusammen. Ohne den Blick von meiner regungslosen Mutter zu lösen, ging ich hinüber zu unserem Telefon und presste den schweren Hörer an mein Ohr. Meine Finger drückten die eckigen Tasten in einer vertrauten Reihenfolge. Es war die Nummer einer Freundin meiner Mutter, die sie manchmal besuchte, eine der wenigen, die ich auswendig kannte.

Ich räusperte mich, damit man mich über das Hintergrundrauschen gut hören konnte. Tränen drückten mir auf die Stimme, doch ich gab mir Mühe, möglichst ruhig zu erzählen, was passiert war: »Mein Bruder hat meine Mutter verletzt, und ich bin allein zu Hause. Bitte, hilf mir.« Ich weiß nicht mehr, was sie antwortete. Ich legte auf, den Blick nach wie vor auf den Körper meiner Mutter geheftet. Ich fiel in eine Art Trance.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, schließlich schreckte ich hoch, als es an die Tür hämmerte. Schnell öffnete ich der Freundin meiner Mutter, und mehrere Polizisten rauschten ins Haus. Ich verstand keines ihrer Worte, ich sah nur, wie sie zu meiner Mutter gingen. Und dann bewegte sie sich. In dem Augenblick, als ich bemerkte, dass sie lebte, fiel die Schockstarre von mir ab. Eine Welle aus Angst und Panik schlug über mir zusammen, die noch dämmrige Erkenntnis dessen, was eigentlich passiert war – was fast passiert wäre – und welch ungewisse Zukunft mich erwartete. Ich rollte mich auf dem Boden zusammen, hielt mich fest und weinte leise. Ich hörte die schwache Stimme meiner Mutter, die langsam wieder zu Bewusstsein kam. Und dann vernahm ich eine andere Stimme, kristallklar und knapp über meinem Kopf. Es war eine Männerstimme, eine Stimme, die ich niemals vergessen werde.

Einer der Polizisten schaute auf mich hinunter und sagte zu dem Polizisten neben ihm: »Wäre ein Wunder, wenn die es schafft.« An diesem Abend wurde ich also weniger Kind und mehr Wunder.

WHEN CHRISTMAS COMES

I don’t want a lot for Christmas

There is just one thing I need

I don’t care about the presents

Underneath the Christmas tree

»All I Want For Christmas Is You«

Meine Mutter klappte den winzigen Holztisch aus, sodass er für den einen Tag beinahe groß genug für eine Familie war. Mit ein paar einfachen Dekorationen wurde er – nebst einem kleinen, recht traurig wirkenden Weihnachtsbaum, der wie der von Charlie Brown aussah – zum festlichen Mittelpunkt eines ansonsten spärlich eingerichteten Wohnzimmers. Trotz unserer Lebensumstände in dem heruntergekommenen Haus, in dem wir beide lebten, wollte meine Mutter uns für ein paar Tage ein »wundervolles Leben« bescheren.

Die Tage bis Weihnachten waren ein Fest. Meine Mutter besorgte einen Adventskalender, und wir öffneten jeden Tag ein Türchen. Ich las vor, was dahinter zum Vorschein kam, einen Ausschnitt aus einer Geschichte oder ein Gedicht, und durfte die Schokolade essen. Meine Mutter machte Glühwein, der die modrige Feuchtigkeit im Haus mit seinem warmen, würzigen Duft überdeckte. Ich wusste, dass wir nicht viel Geld hatten, erwartete also nie größere Geschenke oder teures Spielzeug, doch ich fand es herrlich, dass wir uns trotzdem um eine fröhliche Weihnachtsstimmung bemühten. Wir machten sauber, schmückten das Haus und sangen natürlich. Wenn meine Mutter mit ihrer Opernstimme Weihnachtslieder sang, kam mir unser eingeengter Alltag plötzlich viel freier vor.

Mutter war keine große Köchin, doch an Weihnachten gab sie sich immer Mühe – und ich auch. Wir versuchten, die traumatischen Erschütterungen, die sonst unser Leben überschatteten, beiseitezuschieben und einfach nur zu einem friedlichen Weihnachtsessen zusammenzukommen. Zu viel verlangt? Finde ich nicht. Ich war ein Kind, das sich verzweifelt nach einer Kindheit sehnte, in einem Haus voller Enttäuschung und Schmerz.

Meine Geschwister sprachen das ganze Jahr über nur sehr wenig mit uns, geschweige denn, dass sie uns besuchten. Weihnachten war eine der seltenen Gelegenheiten, zu der wir alle unter einem schiefen Dach saßen. Wir vier versammelten uns um den Tisch und vermieden die Blicke der anderen, oft schweigend, denn wie hätten wir auch miteinander sprechen sollen, wo wir doch keine Worte für all das hatten, was zwischen uns stand? Ich war noch sehr jung und das Gewicht meiner Vergangenheit noch nicht groß genug, um mich zu zerstören. Bei meinen Geschwistern sah das jedoch ganz anders aus. Da sie kaum Kontakt zu unserer Mutter hatten, hatten sich Wut und Kränkungen gestaut, sodass sie geradezu nach Aufmerksamkeit lechzten. Unausweichlich brach dann beim Weihnachtsessen alles aus ihnen heraus, in einer Flutwelle aus Vorwürfen und hässlichen Worten. Ich saß da, inmitten des Chaos, weinte und wünschte, sie würden aufhören zu schreien. Wünschte, meine Mutter könnte etwas tun, damit sie nicht mehr fluchten. Wünschte mich an einen Ort, der fröhlich war, der sich wirklich nach Weihnachten anfühlte.

Auch wenn mein Bruder und meine Schwester die Gegenwart des jeweils anderen kaum ertrugen, in der Verbitterung, die sie mir entgegenbrachten, waren sie sich einig. Sie schimmerte als stille Bedrohung ständig unter der Oberfläche. Ich war das dritte und jüngste Kind, ich war, was sie für das goldene Kind hielten: Ich hatte hellere Haare, hellere Haut und einen helleren Geist. Ich lebte bei unserer Mutter, und sie lebten im Exil, getrennt voneinander und von uns. Ihr Dasein war von einem ganz besonderen Schmerz geprägt, denn sie absorbierten all die Feindseligkeit, die zu wenig geliebte, leidende Kinder von Eltern unterschiedlicher Hautfarbe in jeder Nachbarschaft erdulden müssen. Ich glaube, sie nahmen an, dass ich als weiß durchging. Ich mit meinen fast schon blonden Haaren, die bei ihrer weißen Mutter in einer – wie sie vermuteten – sicheren, weißen Nachbarschaft lebte. Ihr Groll gegen mich war vielleicht das Einzige, was sie verband. Ich verstand sogar, warum sie so wütend auf mich waren, doch als Kind konnte ich nicht begreifen, warum sie Jahr um Jahr Weihnachten verderben mussten.

Doch ihr Schmerz konnte meine Wünsche nicht verdunkeln. Ich wünschte mit Leidenschaft. Ich schuf mir meine eigene kleine, fröhliche Weihnachtswelt. Ich erwünschte mir all die Dinge, die meine Mutter mir nicht geben konnte: Dazu brauchte ich nur eine riesige Ladung Glitzerregen und einen ganzen Chor als Backgroundsänger. Mein Fantasie-Weihnachten war mit Santa Claus, Rentieren und Schneemännern bevölkert, mit so vielen Glöckchen und Glitzersteinen, wie meine Träume noch fassen konnten. Ich stellte mir das süße, kleine Jesuskind vor und saugte all die glückselige Freude auf, die der wahrhaftige Geist der Weihnacht mit sich bringt.

Nicht jedes Weihnachten wurde von meiner Familie ruiniert.

Meine Mutter war sehr aufgeschlossen. Ich weiß noch, ich hatte eine Freundin – nennen wir sie Ashley –, deren Mutter lesbisch war (Ashley hatte keine Ahnung). Meine Mutter war da ganz sachlich: »Ashleys Mom ist lesbisch und lebt mit ihrer Partnerin zusammen.« Keine große Sache. Und das war es wirklich nicht. Meine beiden schwulen »Onkel« Burt und Myron zum Beispiel gehörten zu meinen absoluten Lieblingsmenschen. Sie waren wundervolle Personen und lebten in einem wundervollen Haus. Sie besaßen kein großes Anwesen mit weitläufigen Ländereien, aber ein hübsches Backsteinhaus, das zurückgesetzt auf ihrem Grundstück stand. Dahinter erstreckten sich baumbestandene Felder. Im Garten wuchsen wilde Himbeeren, und sie hatten einen goldfarbenen Labrador namens Sparkle. Wenn Burt und Myron verreisten, passten meine Mutter und ich auf ihr Haus auf. Dort war ich jedes Mal ganz selig, alles war so sauber und gemütlich, ein richtiges Zuhause.

Burt war Lehrer und Fotograf und Myron, wie er selbst sagte, »Hausfrau«. Außerdem war er eine richtige Erscheinung. Sein Bart war perfekt gestutzt und seine Haare zu wallenden Wellen geföhnt, denen er mit einem schimmernden Spray den letzten Schliff gab. Er war immer gebräunt und tänzelte in gewagt gemusterten Seidenkaftanen durch das Haus. Burt fotografierte mich draußen im Garten und ermutigte mich zu dramatischen Posen. Meinen Hang zur Extravaganz verstand er nicht nur, er unterstützte ihn auch.

Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an eine Fotosession zu Weihnachten. Ich trug ein grünes Kleid mit Blumen und einen passablen Pony. Ich tat so, als würde ich eine Kugel an den Baum hängen, und blickte dabei kokett über meine Schulter. Burt drückte auf den Auslöser: eine festliche Modestrecke.

Burts und Myrons Haus war immer gemütlich, doch zu Weihnachten übertrafen sie sich selbst. Das Haus blitzte, ein Feuer prasselte im Kamin, und jede geschmackvolle Dekoration war an ihrem Platz. Überall roch es nach Köstlichkeiten, die sie unentwegt in den Ofen schoben. Sie boten herzhafte Knabbereien und außergewöhnliche Drinks an, zum Beispiel Brandy Alexander. Einmal saßen wir an Weihnachten wegen eines Schneesturms bei ihnen fest, und ich wünschte mir, der Sturm würde nie aufhören. Burt und Myron zeigten mir, wie sich ein trautes Weihnachtsfest anfühlt. Und auch sonst waren sie ein großartiges Beispiel für ein harmonisches Zusammenleben.

Meine »Onkel« förderten das Showgirl in mir. Wenn ich eine kleine Show aufführte (und das kam nicht selten vor), schenkten sie mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nie haben sie versucht, meine überbordende Fantasie zu zügeln. Zum Glück, denn aus meiner kindlichen Begeisterung und meinen frühen Wunschvorstellungen, wie Familie und Freundschaften aussehen sollten, entstand später »All I Want For Christmas Is You«.

Dieser Song sollte klar und rein klingen. Das hört man auch am Anfang: ding, ding, ding, ding, ding, ding, ding, ding … Die zarten Glockenklänge erinnern an kleine Spielzeugklaviere, wie Schroeders Klavier aus den Peanuts. (Auch wenn ich den Großteil des Songs auf einem billigen Casio-Keyboard zusammenklimperte.) Das Lied entstand aus einem kindlichen Gefühl, es ist nicht christlich inspiriert (obwohl ich natürlich Songs aus dieser seelenvollen, spirituellen Perspektive geschrieben und gesungen habe). Als ich ihn mit zweiundzwanzig schrieb, war ich selbst fast noch ein Kind. Damals nahm ich ein ganzes Weihnachtsalbum auf, das war ein Risiko, denn zu der Zeit liefen auf MTV keine Weihnachtssongs. Es war vollkommen unüblich – gerade für eine junge Sängerin –, einen eigenen Weihnachtssong zu schreiben. Noch unüblicher war, dass er dann auch noch dermaßen einschlug.

Obwohl ich mir für diesen Song Eintritt in die private Traumwelt meiner Kindheit verschaffte, war ich damals nicht besonders glücklich. Mein Leben hatte sich unglaublich schnell verändert, und ich fühlte mich verloren in dem Grenzgebiet zwischen Kindheit und Erwachsensein. Meine Beziehung mit Tommy Mottola, der später mein erster Ehemann werden sollte (und so vieles mehr), wurde befremdlicher, und wir waren noch nicht einmal verheiratet. Doch ich muss ihm zugutehalten, dass er mich als Manager meines Plattenlabels zu meinem ersten Weihnachtsalbum ermutigte: Merry Christmas.

Das alles machte mich auch ganz nostalgisch. Ich war schon immer furchtbar sentimental, und die Weihnachtszeit ist für mich der Inbegriff von Sentimentalität. Ich wollte einen Song schreiben, der mich glücklich machte, der mir das Gefühl gab, ein sorgenloses, geliebtes Kind zu sein, das sich auf Weihnachten freut. Außerdem ließ ich mich von den Weihnachtshits jener Künstler inspirieren, die ich als Kind bewundert hatte – Nat King Cole und The Jackson Five. Mithilfe meiner Stimme wollte ich für alle Menschen Freude einfangen. Ja, ich wollte dieses altmodische Weihnachtsglück. Irgendwo in meinem Innern wusste ich, dass es zu spät war, meinen Geschwistern Frieden zu geben und meiner Mutter ein wundervolles Leben. Doch ich dachte, vielleicht könnte ich der Welt ja einen Weihnachtsklassiker schenken.

SONNENTAGE MIT MEINEM VATER

Thank you for embracing a flaxen-haired baby

Although I’m aware you had your doubts

I guess anybody’d have had doubts

»Sunflowers For Alfred Roy«

Mein Vater erinnerte mich immer an eine Sonnenblume – groß, stolz und gleichmütig, doch auch strahlend, stark, stattlich und selbstbeherrscht. Er arbeitete hart, um sich aus und über den harschen Boden zu erheben, in den er verwurzelt war. Er war entschlossen, die Grenzen zu überschreiten, die seine Eltern, ihre Geschwister und ihre gesamte Generation eingeschränkt hatten. Er war das einzige Kind seines Vaters Robert und seiner Mutter Addie und schämte sich für Addies schlechte Bildung. Addie verlangte viel von ihrem Sohn, und deshalb lernte er, Ordnung und Stringenz zu respektieren. Aus eigener Kraft zog er sich aus dem gewaltsamen Umfeld, das einen seiner Onkel dazu getrieben hatte, einen anderen umzubringen. Mein Vater sehnte sich nach Disziplin, Traditionen und Freiheit, also ging er zum Militär – nur logisch für einen Mann, der keine Entscheidungsgewalt darüber hatte, zu welcher Zeit und mit welcher Hautfarbe er geboren wurde.

Das Militär hatte meinen Vater zwar aus der Bronx geholt, doch es befreite ihn nicht von den Problemen, die es mit sich brachte, ein Schwarzer in Amerika zu sein. Während seiner Dienstzeit behauptete eine weiße Frau auf seinem Stützpunkt, von einem Schwarzen vergewaltigt worden zu sein. Es gab keinerlei Beweise gegen meinen Vater, doch er war nicht weiß, und das reichte aus, ihn der Tat zu beschuldigen und ins Gefängnis vor Ort zu stecken. Als zusätzliche Demütigung und als Warnung für andere Schwarze Soldaten stellten die weißen Offiziere einen Schwarzen Offizier als Wache für meinen Vater ab – eine Erinnerung daran, dass die Uniform des US-Militärs die Herkunft ihres Trägers nicht verbergen kann. Eine sehr effektive Einschüchterungsmaßnahme, so wie man früher Schwarze als Aufseher auf Plantagen einsetzte.

Mein Vater war entsetzt, doch vor allem hatte er Angst. Wie viele Schwarze Männer musste er stets befürchten, Opfer von willkürlicher Gewalt, entführt oder sogar getötet zu werden. Am meisten fürchtete er sich jedoch davor, Angst zu zeigen – denn er wusste, dieses Vergehen wurde mit dem sicheren Tod bestraft. Schließlich wurde mein Vater entlassen, ohne jede Entschuldigung, Unterstützung oder Beratung. Die einzige Aussage des Militärs war, dass sie den tatsächlichen Täter gefasst hätten. Mit einer von der Regierung übergebenen Waffe in der Hand spazierte mein Vater aus dem Gefängnis und einen Hügel hinauf. Übermannt von Wut, überlegte er abzudrücken – und es war kein Gedanke dabei, Selbstmord zu begehen.

Bei allem, was er tat, ging mein Vater mit chirurgischer Präzision vor. Seinen Lebenswandel und auch seine Wohnung könnte man fast als asketisch beschreiben: zur Hälfte Militärbaracke, zur Hälfte Shaolin-Tempel. Seine Küche war klein und immer tipptopp. Der Inhalt seiner Speisekammer war nach Größe und Verwendungszweck sortiert. In seinem Haus war kein Platz für Extravaganz oder Verschwendung. Es gab alles nur einmal: ein Fernseher, ein Radio. In seinem Schrank hingen so viele Hemden, wie er für eine Woche benötigte. Ein Bett war erst dann richtig gemacht, wenn die Bettdecke so fest unter die Matratze gesteckt war, dass eine Münze davon abprallte.

Mein Vater war militärisch effizient. Snacks fand er unanständig. Hatte ich Hunger und das Essen war noch nicht fertig, gab er mir einen Ritz-Cracker. Einen. Diese kultige, grellrote Schachtel mit dem Wirbel aus sonnenblumenförmigen Crackern darauf übte eine geradezu magische Faszination auf mich aus. Er nahm eine der langen Rollen aus der Schachtel, öffnete die Verpackung, schüttete einen einzelnen Cracker heraus und reichte ihn mir, als sei er ein Edelstein. Dann faltete er die Packung wieder sorgfältig zusammen, schob die Rolle in die Schachtel zurück und stellte sie zurück auf ihren Platz im Regal.

Ich hielt mir die salzige, knusprige Köstlichkeit dicht unter die Nase, schloss die Augen und sog ihren Duft ein. Dann nahm ich einen winzigen Bissen vom gewellten Rand. Ich kaute so langsam wie möglich und ließ mir den herzhaften Geschmack auf der Zunge zergehen. Dann drehte ich meinen goldbraunen Schatz ein Stück und nahm einen weiteren Bissen, genoss jedes Salzkorn, jeden Krümel. (Auf der Packung stand so etwas wie: »Ritz – es kann nur einen geben« – welch Ironie. Für mich galt dieser Spruch wortwörtlich.)

Heute würde man meinen Vater als Hipster bezeichnen. Nachdem er das Militär verlassen hatte, zog er nach Brooklyn Heights, fuhr einen Porsche Speedster und kochte authentisch italienisch. Ich liebte sein Essen! Seine Salsiccia mit Paprika waren mittelmäßig, doch die Petersilienfleischbällchen waren köstlich und die Linguine mit Muschelsoße einfach himmlisch. Die besten Sonntage dufteten nach Knoblauch in heißem Olivenöl, Pasta und Meer. Ich liebte Sonntage. Sonntage verbrachte ich nach der Scheidung meiner Eltern mit meinem Vater – und auf unsere gemeinsamen Mahlzeiten freute ich mich immer am meisten.

Einmal war auch Addie, die Mutter meines Vaters, dabei – ein seltenes Ereignis. Ich kann nicht älter als fünf gewesen sein. Es war ein gewöhnlicher Sonntag. Den ganzen Tag war mein Vater mit der Zubereitung seines berühmten Pasta-Gerichts beschäftigt. Er löste die Muscheln aus der Schale, säuberte sie, hackte den Knoblauch und die aromatisch duftende, italienische Petersilie. Es war ein ziemlich aufwendiger Ablauf, ein richtiges Ritual. Natürlich hatte ich den ganzen Tag noch nichts gegessen, außer vielleicht einen Ritz-Cracker (und wahrscheinlich hatte ich auch am vorherigen Tag keine wirkliche Mahlzeit bekommen; Samstagabende im Haus meiner Mutter konnten schon mal etwas ungeplant ablaufen). Zwischen Büchern, Malstiften und Magenknurren warf ich immer mal wieder einen Blick Richtung Küche. Die Düfte der frischen Zutaten lagen in der Luft. Ich hatte die ganze Woche gewartet, den ganzen Tag, ich musste nur noch bis zum Abendessen durchhalten. Schon bald würde mein Lieblingsessen vor mir stehen.

Ich roch, wie die Pasta im heißen Wasser weicher wurde, es konnte nicht mehr lange dauern. »Essen!«, rief mein Vater schließlich. Ich sprang auf und setzte mich an den kleinen Tisch in der Küche. Addie, die eine unglaublich rote Perücke und einen dazu passenden, rot gemusterten Kaftan trug, erzählte gerade eine Geschichte, die nur Erwachsene interessierte. Ich konnte mich kaum noch zurückhalten – es hätte wohl nicht viel gefehlt, und ich hätte zu sabbern angefangen, voller Vorfreude auf das Festmahl. Ich beobachtete, wie mein Vater die Nudeln auf meinen Teller lud und die himmlische Soße kunstvoll um den Rand verteilte. Mein Blick klebte regelrecht an dem dampfenden Teller, der langsam vor mir abgesetzt wurde. Endlich! Und dann, gerade als ich meine Gabel in die Hand nahm, hob Addie – die in ihrer Geschichte keine Sekunde innegehalten hatte – eine grüne Dose mit geriebenem Parmesan über meinen Teller und schüttete den geschmacklosen, krümeligen Inhalt über meine edlen Linguine.

»Neeeeein!!!«, schrie ich völlig entsetzt. Doch es war bereits zu spät, mein ganzer Teller war mit diesem Käse bedeckt. Mein Vater tat nie Käse auf die Muschelsoße! Wo kam diese Dose überhaupt her? Trug Addie die in ihrer Handtasche herum? Geschockt und angeekelt rannte ich ins Bad, knallte die Tür hinter mir zu und brach in Tränen aus. »Roy, du musst dafür sorgen, dass sie ihre Nudeln isst. Es wird schließlich gegessen, was auf den Tisch kommt!«, hörte ich Addie zu meinem Vater sagen. Das war das einzige Mal, dass die Pasta meines Vaters ungenießbar war, und ich glaube, es war auch das letzte Mal, dass Addie sonntags mit uns aß.

Mein Vater brachte mir bei, dass Worte keine leeren Hülsen sind, sondern dass sie eine Bedeutung haben und auch Macht. Einmal, an einem wunderschönen Sonntagnachmittag, hörte ich von seiner Wohnung aus das ferne Läuten des Eiswagens, der die Straße herunterfuhr. »Ahhhh! Der Eismann ist da!«, rief ich begeistert, als ich die Melodie erkannte, die so viel Vergnügen versprach. Mittlerweile war das Läuten laut und deutlich geworden, also musste der Wagen irgendwo in der Nähe gehalten haben. Fußgetrappel und aufgeregte Stimmen bestätigten: Der Eiswagen stand direkt vor unserer Haustür. In meinem Kopf ratterte es. Schnell!, dachte ich. Gleich ist er wieder weg!

»Kann ich mir fünfzig Cent ausleihen? Bitte, bitte!«, kreischte ich meinen Vater beinahe an. Ich war kurz davor zu hyperventilieren.

»Willst du dir fünfzig Cent ausleihen, oder willst du fünfzig Cent haben?«, fragte er mit ruhiger Stimme.

Leichte Panik setzte bei mir ein. »Ääääh.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nur, dass ich dringend Geld für den Eismann brauchte. »Ich weiß nicht!«

Ich konnte nicht klar denken, und die geduldigen, gefassten Worte meines Vaters machten mich nur noch hibbeliger.

»Ausleihen und haben sind nicht dasselbe. Möchtest du, dass ich dir fünfzig Cent gebe?«

Für solche Details hatte ich gerade keinen Kopf, also platzte ich heraus: »Ich will mir einfach nur fünfzig Cent ausleihen. Ich gebe sie zurück! Bitte!«

Er steckte die Hand in die Hosentasche, zog zwei glänzende Quarter heraus und ließ sie in meine ungeduldig ausgestreckte Hand fallen. Genau wie die gelegentlichen Ritz-Cracker fühlten sie sich wie Edelsteine an. Ich rauschte durch die Tür, flog nur so die Stufen zur Straße hinunter und rannte auf den Eiswagen zu wie eine Gazelle, die vor einem Löwen wegrennt.

Ich bekam mein Eis, doch mein Vater machte mir klar, dass ich das Geld zurückzahlen musste. Schließlich hatte ich es nur ausgeliehen. Mit sieben Jahren verdiente ich natürlich noch kein Geld, also bat ich meine Mutter darum. Sie konnte nicht begreifen, warum mein Vater einen solchen Handel mit mir betrieb, also gab sie es mir – die beiden hatten schon immer gegensätzliche Erziehungsmethoden an den Tag gelegt. Ich hielt mein Versprechen und beglich am folgenden Sonntag meine Schulden. Doch die Geschichte mit dem Eiswagen war mir eine Lektion. Ich lernte nicht nur, die Bedeutung von Worten zu respektieren, sondern auch, zu meinem Wort zu stehen und mit Geld umzugehen. Mein Vater war einer dieser Männer, die den ersten, selbst verdienten Dollar aufbewahren.

Alleinerziehende Väter waren damals noch ungewöhnlich, weshalb mein Vater keinerlei Vorbilder hatte und nicht wusste, wie man mit Kindern Zeit verbrachte. Meistens begleitete ich ihn bei seinem normalen Erwachsenenleben. Oder ich beschäftigte mich allein und ließ ihn in Ruhe, wenn er das Footballspiel im Radio hörte (was ich todlangweilig fand) und dabei kochte, putzte oder an seinem Auto herumschraubte. Er vergötterte seinen Porsche. Der Wagen war der einzige Luxus, den er sich gönnte. In seinem ganzen Leben kaufte er sich zwei Porsche, einen vor seinen Kindern und einen danach, beide gebraucht. Irgendetwas war an seinem Speedster offenbar ständig kaputt, denn er war immer damit beschäftigt, und es hieß dauernd, er müsse mal generalüberholt werden.

Das Auto hatte eine undefinierbare Nichtfarbe in Matt. Einmal fragte ich ihn danach, und er erklärte, dass es nur eine Grundierung sei, kein richtiger Lack, und dass die Originalfarbe liebesapfelrot gewesen sei.

»Also machst du es irgendwann wieder liebesapfelrot?«, fragte ich.

»Die Farbe gibt es nicht mehr«, antwortete er.

Ich war verwirrt. Warum nahm er dann nicht eine andere Farbe? Wenn er die Originalfarbe nicht haben könne, befand er, sollte der Wagen besser gar keine Farbe haben.

Er hatte sehr viel Geduld mit dem Porsche und verbrachte Stunden mit der Reparatur des Gefährts, weil er von dessen Leistung und exotischer Schönheit überzeugt war. Und das Auto war wirklich schick – ein Zweisitzer-Cabrio mit Faltdach. Mein Vater liebte das Gefühl der Freiheit, wenn er das Verdeck herunterließ, aber auch die intime Atmosphäre im Innern, da er nur einen Beifahrer mitnehmen konnte. Manchmal unternahmen wir mit dem Porsche meist schweigsame Spritztouren. Lief das Radio, dann nur der Nachrichtenkanal (»1010 WINS – Sie geben uns zehn Minuten, wir geben Ihnen die Welt«). Doch hin und wieder sangen wir eines dieser lustigen Bandwurmlieder wie »There’s A Hole In The Bottom Of The Sea«.

There’s a wart on the frog, on the bump, on the log,in the hole in the bottom of the sea

Mein Vater liebte auch »John Henry«, einen Folksong über einen Schwarzen, der beim Bau einer Eisenbahnstrecke mit seinem Hammer Sprenglöcher für den Tunnelbau in den Fels trieb.

John Henry was a little baby, sitting on his Daddy’s knee

Bei dem Wort »knee« traf mein Vater einen unglaublich tiefen Ton, und das brachte mich immer zum Lachen. Bei meiner Mutter, der Opernsängerin, lernte ich Tonleitern, doch bei meinem Vater lernte ich Lieder, die mich zum Lachen brachten und die Zeit und die Meilen kürzer erscheinen ließen. Damals fand ich es furchtbar langweilig, einfach nur durch die Gegend zu fahren. Aber jetzt … ach, was würde ich nicht dafür geben, noch einmal in den Ledersitzen neben ihm zu sitzen, über die Straße zu brausen, nur vom Brummen des Motors und dem rauschenden Wind begleitet.

Thank you for the mountainsThe Lake of the CloudsI’m picturing you and me there right nowAs the crystal cascades showered down»Sunflowers For Alfred Roy«

Manchmal fuhren wir zum Lime Rock Park, einer Rennstrecke in Connecticut. Die Veranstaltungen dort waren etwas glamouröser als ein NASCAR-Rennen. Paul Newman hatte dort ein Team, und Weltklassefahrer wie Mario Andretti waren regelmäßige Teilnehmer. Ich fand diese Rennen ziemlich öde, doch für Alfred Roy war es das Größte, und er zwang alle seine Kinder, daran teilzuhaben. Das war eines der wenigen Dinge, bei dem wir uns einig waren: Autos, die Runde um Runde im Kreis fuhren, waren nicht gerade großartige Unterhaltung.

Mein Vater hatte ein paar Bücher für mich im Haus. Ich erinnere mich besonders an eines über einen Schwarzen Jungen, der blind war. Das Cover war weiß mit großen roten, orangefarbenen und gelben Kreisen darauf. Das ganze Buch war voller Farben, obwohl es die Geschichte eines Jungen erzählte, der die Welt durch Berührungen und Formen sieht statt durch Farben. (Bei diesem Buch muss ich immer an Stevie Wonder denken. Vielleicht kann Stevie Wonder deshalb so intensive Welten und Emotionen in seinen Songs heraufbeschwören: Er sieht nicht mit seinen Augen, sondern mit seiner Seele. Stevie Wonder ist für mich der mit Abstand beste Songwriter. Er ist mehr als ein Genie, und ich glaube, seine Songs kommen von einem heiligen Ort.) Mein Vater versuchte, mir mit diesem Buch wohl auch näherzubringen, was Rassismus bedeutete. Gesprochen haben wir darüber aber nie so richtig. Wir sprachen nicht über unsere Farben und Formen.

Wie man etwas wahr- und aufnahm, war meinem Vater sehr wichtig. Einmal, als ich neben ihm saß, zeichnete ich einen – wie ich fand – sehr cleveren Cartoon. Es war ein Bild meiner Familie, und darüber hatte ich geschrieben: »Sie sind etwas komisch. Aber sie sind in Ordnung.« Doch als ich es meinem Vater zeigte, wurde er regelrecht wütend.

»Warum findest du uns komisch?«, wollte er wissen. Sein ernster Tonfall verunsicherte mich, und ich hatte keine Ahnung, warum ihn dieses Wort so wütend machte.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich es irgendwo gehört«, antwortete ich. Außerdem hatte ich ja auch »Aber sie sind in Ordnung« hinzugefügt, was ich für positiv hielt. Eben ein bisschen augenzwinkernd.

»Sag das niemals«, sagte er mit so ernster Stimme, dass mir ganz kalt wurde.

Ich hatte ihn nicht verärgern wollen, eigentlich hatte es witzig sein sollen. An diesem Tag fühlte ich mich furchtbar. Doch ich erfuhr erst viel später von der schweren Last, die er mit sich herumtrug, von seinem sehnlichen Wunsch, als vollständiger Mensch akzeptiert zu werden – und damit habe ich noch immer nicht meinen Frieden gemacht.

Damals verfügte ich nicht über die richtigen Worte, um ihm zu erklären, dass »komisch« mein Empfinden sehr gut beschrieb. Ich konnte ihm nicht verdeutlichen, dass ich das Gefühl hatte, dass andere Leute uns so sahen – als komisch. Denn ich fand alles an uns komisch. Meine Haare waren komisch, meine Kleidung war komisch. Meine Geschwister und ihre Freunde waren komisch. Meine Mutter und all die heruntergekommenen Häuser, in die sie mit uns zog, waren komisch. Einfach alles.

Auch die Unitarian Universalist Fellowship war eine komische Kirche. Wir waren ihr beigetreten, bevor unsere Familie auseinanderbrach. Zu fünft besuchten wir dieses alte, mittelalterlich aussehende Steinschloss mit dicken Wänden und einem hohen Turm und schlossen uns einer Gemeinde an, die wirkte, als wären sämtliche schrägen Vögel der Umgebung zusammengekommen. In meinen Augen sah es aus, als hätte die Gemeinde der Sonderlinge einen Ausflug zum Mittelaltermarkt gemacht. Der Pastor, der einst Jude gewesen war, bevor er konvertierte, hatte seinen Namen geändert, er hieß nicht mehr Ralph, sondern Lucky. »Reverend Lucky?«Okay. Aber ich wusste, das war nicht mein Ding. Mein Vater war der einzige Schwarze in der Gemeinde, doch unter all den anderen Außenseitern dort hatte er das Gefühl, akzeptiert zu werden, und blieb der Fellowship für immer treu.

Auch unsere Wohnsituation kam mir komisch vor. Mein Vater verstand nicht, wie fremd ich mich in den Gegenden fühlte, in denen ich mit meiner Mutter lebte. Es war komisch, in einem halb eingerichteten Appartement über einem Lebensmittelgeschäft zu wohnen, wenn alle anderen in Häusern wohnten. Es bestand aus lauter Durchgangszimmern, die Fußböden waren mit erbsengrünem Teppich ausgelegt, und die Wände und Türen waren sehr dünn; nachts hielten mich oft Stimmen und Gelächter wach. Mein Zimmer lag am Ende des Flurs, war kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank und beherbergte nur eine Handvoll persönlicher Dinge. Meine wenigen Schätze waren Geschenke von meinem Vater: ein kleines Porzellankaninchen und ein süßer, sirupbrauner Teddybär namens Cuddles, der viele Jahre später leider nach einem Rohrbruch nicht mehr zu retten war. Damals wohnte ich in Manhattan über einer Bar (offenbar gibt es mehrere Stufen von »über etwas wohnen«, und ich habe sie alle durchlaufen).

I remember when you used to tuck me in at nightWith the teddy bear you gave to me that I held so tight»Bye Bye«

Aber selbst mit Cuddles im Arm wurde ich oft von Albträumen heimgesucht, und in diesem dunklen, trostlosen Appartement fingen meine Schlafprobleme an.

Ich erinnere mich nicht, dass noch jemand anderes in diesem Gebäude lebte, und wenn doch, dann ganz bestimmt keine Schwarzen. Als Morgan noch bei uns wohnte, war er mit seiner Afro-Frisur der einzige Schwarze Mensch im Umkreis vieler Meilen. Einmal, als er mal wieder etwas angestellt hatte, wurde er von unserer Mutter etwas hilflos auf sein Zimmer geschickt. Kurz darauf informierte sie jedoch der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts unter uns, er habe gerade ihren Sohn über die Dächer der anderen Läden springen sehen, die sich in unserer Straße nebeneinanderreihten. Morgan hatte einen waghalsigen Fluchtversuch unternommen und war aus seinem Fenster auf das Vordach des Geschäfts geklettert. Er war immer auf Krawall aus. Ich erinnere mich noch an seine »Punk-Ninja-Phase«. Er rasierte sich den Afro ab, trug Karatehosen und legte sich eine Schlange lässig um den Hals. So streifte er durch die Straßen, ständig auf der Suche nach Streit. Selbst ohne seine Haare war er nicht zu übersehen.

Meinem Vater mag es nicht gefallen haben, dass ich Familie Carey als »komisch« betitelte, aber bei uns passierten ständig komische Dinge. Hin und wieder krachte Alison wie ein Meteor mit ein paar Freunden in unser Appartement, und dann hingen alle nächtelang mit Morgan und seinen Freunden in unserem Wohnzimmer herum.

Einmal wollte meine Schwester, dass ich für Unterhaltung sorgte. Sie hatte mir den Song »White Rabbit« von Jefferson Airplane beigebracht, eine sehr merkwürdige Wahl, aber ich dachte, der Song gefiele ihr, weil das »Go ask Alice« ein bisschen nach ihrem Namen klang. Irgendwann nach Mitternacht wurde ich für meinen Auftritt ins dämmrige, nur von Kerzen erleuchtete Wohnzimmer geführt. Um mich herum saßen im Kreis meine Geschwister und ihre Freunde (und meine Mutter) auf dem Boden. Ich blickte Alison fragend an, und als sie nickte, fing ich an zu singen:

One pill makes you larger, and one pill makes you small

And the ones that Mother gives you, don’t do nothing at all

Go ask Alice, when she’s ten feet tall

Ein Song über Drogenkonsum und Drogenrausch ist wohl kaum für ein kleines Mädchen geeignet, doch immerhin hatte meine große Schwester ihn mir beigebracht. Nichts war so toll, wie neue Songs zu lernen und zu singen, obwohl dieser hier voller Furcht einflößender Bilder war. »The White Knight is talking backward / And the Red Queen’s off with her head – Der weiße Ritter spricht rückwärts / Und die Herzkönigin verliert den Kopf.« Manches erschien mir wie bloßer Unsinn. »The hookah-smoking caterpillar« – eine Shisha rauchende Raupe?