Marktwirtschaft reparieren - Oliver Richters - kostenlos E-Book

Marktwirtschaft reparieren E-Book

Oliver Richters

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Beschreibung

Marktwirtschaft beinhaltet eine attraktive soziale Utopie: eine gerechte Wirtschaftsordnung, in der Kooperation ohne zentrale Steuerung möglich ist. In der Realität des Kapitalismus wird die Leistungsgerechtigkeit jedoch zugunsten weniger Privilegierter verzerrt, und der Wachstumszwang ist ökologisch verheerend. Wer sein Einkommen Bodenspekulation oder Rohstoffverbrauch verdankt, bezieht leistungslose Einkommensanteile, und wer so mächtig ist, dass er die Politik zu seinen Gunsten beeinflussen kann, entzieht sich den regulierenden Kräften des Marktes. Das Buch benennt diese und andere Schwächen des Kapitalismus und entwickelt daraus politische Lösungen für eine gerechte und nachhaltige Marktwirtschaft.

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Oliver RichtersAndreas Siemoneit
Marktwirtschaftreparieren
Entwurf einerfreiheitlichen, gerechten undnachhaltigen Utopie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Susanne Darabas, MünchenKorrektorat: Maike Specht, BerlinGrafiken: Grit Koalick (www.visuranto.de)Umschlagkonzeption: www.buero-jorge-schmidt.deUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-568-2
Dieses Werk ist ab dem 10.06.2021 lizenziert unter der Creative Commons Lizenz: Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0).Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unter:creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0

Inhaltsverzeichnis

Teil IEinleitung
Kapitel 1Unser Ausgangspunkt
1.1  Wirtschaftswachstum oder Nachhaltigkeit – ein politisches Dilemma
1.2  Besteht ein Wachstumszwang?
1.3  Wie kann eine gerechte Wirtschaftsordnung aussehen?
Kapitel 2Gute Marktwirtschaft, böse Marktwirtschaft
2.1  Die soziale Utopie von Marktwirtschaft
2.2  Marktwirtschaft in der Theorie …
2.3  … und in der Praxis
2.4  Die entscheidende Frage
Teil IIMarktwirtschaft als Konzept
Kapitel 3Leistungsprinzip und leistungslose Einkommen
3.1 – Reziprozität und Äquivalenz
3.2  Umstrittene Aspekte des Leistungsprinzips
3.3  Das Leistungsprinzip als Schlüsselbegriff der Verteilungsdebatte
Kapitel 4Der ökonomische Kreislauf und seine Begriffe
4.1  Kosten, Erlöse und Gewinn
4.2  Ein Zwischenfazit zum ökonomischen Kreislauf
4.3  Geld
4.4  Zins und Rendite
4.5  Wettbewerb
4.6  Nichtmarktgüter
4.7  Marktwirtschaft kann einfach, robust, effizient und gerecht sein
Teil IIIVier Brennpunkte der Marktwirtschaft
Kapitel 5Kreditgeld und seine Probleme
5.1  Glaube und Wirklichkeit
5.2  Probleme des aktuellen Geldsystems
5.3  Staatliche oder private Geldschöpfung?
5.4  Politische Maßnahmen
Kapitel 6Technologie, Ressourcenverbrauch und Wachstumszwang
6.1  Was ist ein Wachstumszwang?
6.2  Wachstumszwang für Unternehmen
6.3  Wachstumszwang für Haushalte
6.4  Der politische Wachstumszwang
6.5  Politische Maßnahmen
Kapitel 7Grundeigentum, Lage und öffentliche Investitionen
7.1  Bodenwerte und Immobilienkrisen
7.2  Wie die Bodenrente aus der Theorie verschwand
7.3  Bodensteuern sind gute Steuern
7.4  Politische Maßnahmen
Kapitel 8Kapitalakkumulation und wirtschaftliche Macht
8.1  Die Rolle von großen Vermögen im politischen Prozess
8.2  Theoretiker der Macht
8.3  Systematische Regelbrüche und zwangsläufige Akkumulation
8.4  Akkumulation als unwiderstehliches Angebot
8.5  Wirtschaftliche Macht und Demokratie
8.6  Politische Maßnahmen
Teil IVAbschluss
Kapitel 9Regulierung richtig verstanden
9.1  Wo muss man die Hebel ansetzen?
9.2  Grenzen setzen statt Folgen tragen
9.3  Der Übergang
9.4  Veränderungen voranbringen
Epilog
Bibliografische Informationen und Quellen
Literatur
Über die Autoren
TEIL I
Einleitung
Kapitel 1
Unser Ausgangspunkt
Wirtschaftswachstum ist seit Langem das mit Abstand wichtigste politische Ziel – weltweit und auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses.1) In Deutschland wurde es 1967 im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StabG) explizit formuliert, und auch der Vorstand des Europäischen Rates nahm sich im Jahr 2000 vor, »ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen«. Das Versprechen, mit Wachstum gesamtgesellschaftlich die soziale Lage zu verbessern, wurde augenscheinlich nach dem Zweiten Weltkrieg im »Wirtschaftswunder« tatsächlich eingelöst. Eine soziale Marktwirtschaft schien die beste aller ökonomischen Welten zu sein, indem sie das unternehmerische Potenzial Einzelner nutzbar machte, aber gleichzeitig durch Sozialgesetzgebung alle mitnahm. Viele Menschen konnten sich ein besseres Leben leisten, und die Kinder sollten es sogar noch besser haben. Weltweit sind Hunderte Millionen Menschen in den letzten Jahrzehnten der Armut entkommen, auch in Ostasien, Südamerika oder Osteuropa. Ihre Lebenserwartung liegt teilweise auf westlichem Niveau, und sie partizipieren an der globalen Ökonomie. Wachstumspolitik hat den Ruf, ein Allheilmittel gegen praktisch alle auftretenden sozialen und ökonomischen Probleme zu sein.
Allerdings wird sie diesem Ruf durchaus nicht immer gerecht, selbst in den sogenannten wohlhabenden Industriestaaten nicht. Die Schere zwischen Arm und Reich geht dort immer weiter auseinander, und immer mehr Menschen sind prekär beschäftigt, erzielen also ein sehr geringes Einkommen aus Arbeit. Einer der wichtigsten Gründe für Armut ist allerdings, gar kein Einkommen aus Arbeit zu haben. In fast allen Ländern der Europäischen Union gibt es eine feste Sockelarbeitslosigkeit – vor allem für gering qualifizierte oder junge Menschen. Viele können von einer Arbeitsstelle alleine nicht oder nur schlecht leben, müssen mehrere Jobs machen oder zusätzlich staatliche Hilfe in Anspruch nehmen.
Die Institutionen des Sozialstaates stehen überall unter enormem Druck, weil die Umverteilung zwischen Einzahlern und Leistungsempfängern mittlerweile von beiden als ungerecht empfunden wird: überfordernd für die einen, unzureichend für die anderen. Auch jene, die zurzeit noch ein ausreichendes Einkommen erzielen können, spüren oft Unsicherheit, ob es so bleiben wird, denn insbesondere Globalisierung und Digitalisierung werden den Prognosen nach viele weitere Arbeitsplätze kosten. Diese Prozesse begünstigen große Unternehmen, sodass nationale und internationale Konzerne immer mehr Macht und Einfluss ausüben können und staatliche Regulierung nicht mehr ernst nehmen müssen. Viele Menschen haben das berechtigte Gefühl, das System insgesamt sei ungerecht geworden.
Gleichzeitig verursacht Wachstumspolitik immer offensichtlicher massive ökologische Schäden. Das betrifft einerseits die zügellose Gewinnung von Rohstoffen, den Raubbau in Ökosystemen sowie die Übernutzung von Land und Meer, andererseits die entsprechenden Hinterlassenschaften: den Ausstoß von Treibhausgasen, von Schadstoffen wie Schwermetallen, Chemikalien und radioaktiven Substanzen oder die Vermüllung durch Kunststoffe. An manchen Küsten enthält die Strandmasse 10 % Plastik. Der fruchtbare Oberboden – die lebenswichtige, dünne Schicht Erde – ist nicht nur vom Totalverlust durch Versiegelung bedroht, sondern auch von Erosion, Wüstenbildung, Überflutung, Verdichtung, Versauerung, Versalzung und Verunreinigung durch Schadstoffe. Während die Erneuerung des Oberbodens ein sehr langsamer Prozess ist (100 bis 400 Jahre pro Zentimeter), vollzieht sich der Verlust teilweise 100-mal schneller.
Laut Living Planet Report sind die Populationen der Wirbeltiere innerhalb der letzten 40 Jahre um 58 % zurückgegangen. Biologen sprechen vom sechsten Massensterben in der Erdgeschichte, vergleichbar mit der Zeit, als die Dinosaurier ausstarben. Menschliche Eingriffe verändern mittlerweile ganze Landschaften. Der Wissenschaftler Paul Crutzen machte dafür im Jahr 2000 den Begriff »Anthropozän« bekannt als Beschreibung für ein neues geologisches Zeitalter: Der Mensch wird jetzt als treibende Kraft von erdgestaltenden Prozessen identifiziert. Diese Veränderungen passieren jedoch unkontrolliert und gefährden Lebensgrundlagen, auch die der Menschen.
1.1Wirtschaftswachstum oder Nachhaltigkeit – ein politisches Dilemma
Gleichwohl wird die ökologische Frage in der Politik regelmäßig gegen das Ziel weiteren Wachstums ausgespielt. Das ist eigentlich erstaunlich. Wie kann es sein, dass existenzielle ökologische Probleme für ein politisches Ziel in Kauf genommen werden? Aus unserer Sicht kann die Antwort nur lauten: weil mit Wachstumspolitik ebenfalls ein existenzielles Ziel verfolgt wird. Es geht eigentlich nicht um Wachstum, sondern um Arbeitsplätze, genauer: um Einkommen aus bezahlter Arbeit. Nur mit Wirtschaftswachstum scheint man dem schleichenden Anstieg der Arbeitslosigkeit zu entkommen, der durch Globalisierung und technischen Fortschritt hervorgerufen wird. Wirtschaftswachstum wird politisch gefordert und gefördert, um diesem sozialpolitischen Dilemma zu begegnen, auch wenn das Ergebnis in Hinsicht auf soziale Gerechtigkeit nicht immer überzeugend ist. Ohne Wachstum wäre es wohl noch weniger überzeugend.
Wenn das so ist, dann bleiben auf lange Sicht nur zwei Optionen: Wirtschaftswachstum ökologisch nachhaltig zu gestalten oder Nichtwachstum sozioökonomisch stabil zu machen. Die erste Option – grünes Wachstum – scheitert trotz enormer Anstrengungen seit mehreren Jahrzehnten vor allem am Thema Rohstoffeffizienz. Zwar gibt es zahlreiche Effizienzerfolge auf der Mikroebene (dem Haushalt, dem Unternehmen, dem einzelnen Produkt), auf der Makroebene der gesamten Volkswirtschaft ist davon jedoch nicht viel zu erkennen. In Deutschland sinken die Rohstoffimporte nicht, der Primärenergieverbrauch sinkt kaum, der Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergieverbrauch bleibt niedrig, die Recyclingquoten stagnieren. Plastikmüll aus Haushalten wird in Deutschland zu 61 % der »thermischen Verwertung« zugeführt, also zur Energiegewinnung verbrannt. Für viele wichtige Metalle liegen die Recyclingquoten bei etwa 50 %, und in anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Eine Kreislaufwirtschaft liegt in weiter Ferne. Sie scheint zwar technisch denkbar, aber ökonomisch nicht leistbar zu sein. Die zweite Option – Nichtwachstum oder sogar Schrumpfung – erscheint den meisten Menschen in politischer Hinsicht als völlig unrealistisch, buchstäblich undenkbar. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die ökologischen Bedingungen objektive Grenzen setzen und dass daher die ressourcenintensive Wachstumspolitik ein Ende finden muss. Das sozial Wünschenswerte lässt sich nicht gegen das ökologisch Notwendige aufrechnen. Insofern gilt es, die zweite Option dahingehend zu untersuchen, worin eigentlich das Unrealistische, das Undenkbare besteht.
Wirtschaftswachstum richtet in den Industrieländern nicht nur ganz direkt ökologische Schäden an, sondern verschlimmert in seinem verzweifelten Streben sogar die gesellschaftlichen Probleme, die es eigentlich lösen möchte. Die gesellschaftlichen und ökologischen Kosten überschreiten den Nutzen zusätzlicher ökonomischer Aktivität. Ökonomisch gesprochen, ist also der Grenznutzen von Wachstumspolitik negativ, denn sie versucht mit viel Aufwand Probleme zu lösen, deren Ursachen ganz woanders liegen. Diese These vom unökonomischen Wachstum ist nicht neu. Sie hat vor etwa 45 Jahren mit dem Bericht »Grenzen des Wachstums« des Club of Rome und mit Herman Dalys Steady-State Economy gewissermaßen offiziell die politische Bühne betreten. Seitdem wird Wachstumskritik von einer kleinen, sehr inhomogenen gesellschaftlichen Gruppierung öffentlich vertreten, bleibt aber aus zwei Gründen politisch wirkungslos: Die Wachstumsbefürworter halten die These vom unökonomischen Wachstum schlicht für falsch und lehnen es in der Regel ab, sich überhaupt damit zu befassen, und die Wachstumskritiker sind sich – trotz eines seit Langem geführten Diskurses – über die tieferen Ursachen einer endlosen Wachstumsspirale und die notwendigen Gegenmaßnahmen uneinig. Vor allem besteht Dissens in der Frage, ob es einen systemischen kapitalistischen Wachstumszwang gibt, und wenn ja, wo: in der Konkurrenz, in der Profitorientierung, im Geldsystem? Oder ist Wachstumspolitik einfach nur eine politische Modeerscheinung, ein »Wachstumsparadigma«, das im Wettstreit der Systeme zwischen Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommen ist? Dementsprechend haben Wachstumskritiker Schwierigkeiten, sich auf plausible Alternativen oder Reformen zu einigen. Das Ergebnis ist ein sehr bunter Strauß an Vorschlägen, die von Veränderungen im persönlichen Verhalten über einen kulturellen Wandel bis zu völlig neuen Wirtschaftssystemen reichen, was es Wachstumsbefürwortern sehr einfach macht, diese Vorschläge zurückzuweisen oder einfach zu ignorieren.
Das Fehlen einer plausiblen Antwort auf die Frage »Warum können wir mit dem Wachstum nicht aufhören?« ist unseres Erachtens das drängendste ungelöste Problem der Wachstumskritik. Die anhaltenden Auseinandersetzungen zu dieser Frage tragen dazu bei, dass Wachstumskritik die politische Nische bisher nicht verlassen konnte und weiterhin ökologische Nachhaltigkeit relativ problemlos gegen ökonomische Stabilität ausgespielt werden kann. Hinzu kommt innerhalb der Wachstumskritik eine weitverbreitete Fundamentalkritik an Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem. Märkten wird eine immanente Tendenz in Richtung unsozial, rücksichtslos, entfesselt zugeschrieben, und entsprechend sucht man nach Alternativen. Aber viele der marktkritischen Reformvorschläge sind ökonomisch nicht fundiert und ignorieren wertvolle theoretische und empirische Erkenntnisse von marktfreundlichen Wissenschaftlern.
Mit unserer Arbeit richten wir uns an beide Seiten: Wachstumspolitik ist keine politische Modeerscheinung, sondern sie hat gute Gründe. Aber sie funktioniert nicht, weil sie an den tieferen Ursachen vorbeigeht. Indem wir aufzeigen, welches Problem Wachstumspolitik nachvollziehbarerweise zu lösen versucht und warum sie damit nur scheitern kann, wollen wir einerseits die These vom unökonomischen Wachstum plausibel machen und andererseits aufzeigen, warum Alternativen zur Marktwirtschaft unplausibel sind. Wir sind zwei studierte Physiker, die sich seit mehreren Jahren in der wachstumskritischen Bewegung engagieren und dort gut vernetzt sind. Unabhängig voneinander haben wir uns in dieser Zeit intensiv mit ökonomischen, aber auch anderen sozialwissenschaftlichen Themen befasst, weil wir beide merkten, dass im wachstumskritischen Diskurs, aber auch in den Wirtschaftswissenschaften wichtige inhaltliche Lücken zu füllen sind. Vor vier Jahren haben wir dann ein gemeinsames Projekt begonnen, das in mehrere wissenschaftliche Veröffentlichungen mündete: Wir wollten die Frage nach dem Wachstumszwang kapitalistischer Ökonomien auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage umfassend beantworten. Damals ahnten wir noch nicht, dass uns dieses Projekt weit über die Ursprungsfrage hinausführen würde.
1.2Besteht ein Wachstumszwang?
Unser Anliegen war also zunächst die Untersuchung des Phänomens »Wachstumszwang«. Auf politischer Ebene lässt Wachstumszwang an einen Mechanismus denken, der sich – einmal in Gang gekommen – nicht mehr stoppen lässt, was sich mit der allgemeinen Vorstellung von Politik als bewusster gesellschaftlicher Gestaltung kaum vereinbaren lässt. Unterliegt nicht alles Soziale und Ökonomische letztlich unserem politischen Gestaltungswillen? Wir meinen: nein. Es gibt unserer Auffassung nach fundamentale Gerechtigkeitsnormen, die nicht übergangen werden können und die von jeder Politik respektiert werden müssen. Diese Normen werden als Fakten offen oder stillschweigend vorausgesetzt. Insofern ist Politik nicht frei, die gesellschaftlichen Beziehungen beliebig zu gestalten, und daher kann Politik Zwängen unterliegen.
Wir versuchen zu zeigen, dass die meisten Theorien zu vermuteten Wachstumszwängen inhaltlich nicht überzeugen können. Man könnte unsere Analyse so zusammenfassen: Ja, es gibt Wachstumszwänge, aber es sind wenige und nicht die, welche üblicherweise verdächtigt werden. Wir werden darlegen, warum wir den Umgang mit natürlichen Ressourcen als Hauptproblem ansehen.2) Deren massive Nutzung mithilfe von Technologie ist einerseits maßgeblich für die ökologische Zerstörung verantwortlich, andererseits auch für das sozialpolitische Dilemma durch technologische Arbeitslosigkeit. Daneben gibt es weitere Faktoren, die von Wachstumszwängen in Gang gehalten oder sogar verschärft, aber nicht verursacht werden. Dennoch ziehen sie die wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit viel stärker auf sich und lenken somit von den tieferen Ursachen ab. Das, was wir als tiefere Ursachen ansehen, kann man mit guter Berechtigung als rein ökonomisches Problem betrachten. Dementsprechend versuchen wir, eine ökonomische Ursachenforschung und ökonomische Lösungen für dieses Problem zu liefern. Das bedeutet gleichzeitig, Probleme und Auswege weniger auf der individuellen oder kulturellen Ebene zu suchen. Ohne Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen wird ein Ausweg aus dem Dilemma nicht gelingen. Dabei erfolgt unsere Analyse relativ »klassisch« innerhalb bestehender ökonomischer Theorien zu Marktwirtschaft, Produktion, Handel und Konsum. Allerdings haben auch diese Theorien charakteristische Schwächen und blinde Flecken oder sogar Glaubenssätze, womit sie sich selbst für ein besseres Verständnis des Wachstumsparadigmas im Wege stehen (sofern sie ein solches Verständnis überhaupt anstreben).
Warum wird einem ökonomischen Wachstumszwang bisher nicht politisch begegnet? Weil er schlicht nicht erkannt wurde, und das wiederum hängt durchaus mit einer kulturellen Prägung zusammen. Nicht nur ökonomische Theorien, sondern auch Gesellschaften haben Glaubenssätze. Es gibt einen breiten Konsens, dass Phänomene wie die Globalisierung oder technischer Fortschritt nicht aufzuhalten seien und dass soziale Errungenschaften wie der Freihandel und wirtschaftliche Offenheit auf keinen Fall preisgegeben werden dürften. Digitalisierung, Industrie 4.0 und das Internet der Dinge würden unausweichlich immer mehr Investitionen in Maschinen, Infrastruktur und Bildung erfordern. Diese Entwicklungen werden von einer überwältigenden Mehrheit als politisch nicht beeinflussbar angesehen, sodass »Anpassen und Mithalten« als einzig mögliche politische Antwort erscheinen.
1.3Wie kann eine gerechte Wirtschaftsordnung aussehen?
Wir wollten aber nicht beim Phänomen Wachstumszwang stehen bleiben, denn eigentlich ist ein Wachstumszwang »nur« der Spezialfall eines übergeordneten Themas: Wie kann eine gerechte Wirtschaftsordnung aussehen? Müssen wir dazu Wirtschaft wirklich neu denken, wie viele meinen? Die Analyse von Wachstumszwängen führte uns fast zwangsläufig dazu, über die ideellen Grundlagen von Marktwirtschaft nachzudenken.
Es geht ja nicht nur um die mangelnde inhaltliche Plausibilität vermuteter Wachstumszwänge und vorgeschlagener Gegenmaßnahmen. Auf alle möglichen Ursachen auch politisch einzugehen birgt die Gefahr eines punktuellen Staatsinterventionismus auf der Ebene von Einzelgesetzen und Ordnungsrecht mit entsprechendem gesellschaftlichen Konfliktpotenzial und vielfältigen individuellen Umgehungsmöglichkeiten. Unsere Analyse mutmaßlicher Wachstumszwänge ergab, dass nur wenige entscheidende Faktoren moderne Marktgesellschaften destabilisieren – und dass diese, im Sinne einer »Hierarchie der Ursachen«, von Neben- oder Folgeursachen (Symptomen) abgegrenzt werden können. Heute wird vor allem an den Symptomen laboriert. Unsere Erkenntnisse ermöglichen stattdessen Politikvorschläge, mit denen wenige, aber effektive Regeln auf der Ebene der Wirtschaftsordnung etabliert werden können. Damit sollen Marktwirtschaften verbessert statt überreguliert oder überwunden werden.
Unser gedanklicher Ausgangspunkt ist, dass Marktwirtschaft grundsätzlich ein erfolgreiches ökonomisches und soziales Modell ist. Wir leiten her, warum unser Wirtschaftssystem berechtigte Ansprüche wie Gerechtigkeit, Fairness oder Nachhaltigkeit derzeit nicht erfüllt, jedoch in einer besseren Wirtschaftsordnung erfüllen könnte, dass also kein grundsätzlicher Wechsel des Wirtschaftssystems erforderlich ist, um zu einer ökonomisch leistungsfähigen, sozial gerechten und ökologisch tragfähigen Gesellschaft zu kommen. Man könnte auch sagen: Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern im Kapitalismus, aber wir könnten zu einer Marktwirtschaft gelangen, einer brillanten sozialen Innovation, die alle Mühen wert ist.3)
Die wichtigste ideelle Grundlage von Marktwirtschaft ist die sogenannte Leistungsgerechtigkeit, oft auch als Leistungsprinzip bezeichnet: »Wer mehr leistet, soll auch mehr Geld verdienen.« Wir werden zeigen, dass dieses Leistungsprinzip vielfach missverstanden wird, von seinen Befürwortern wie von seinen Kritikern, und dass gerade die Vertreter eines wirtschaftlichen Liberalismus völlig falsche Vorstellungen davon haben, wo heutzutage das Leistungsprinzip verletzt wird. Wenn das Leistungsprinzip die Formulierung eines fundamentalen Gerechtigkeitsprinzips ist, dann sind leistungslose Einkommen für Marktwirtschaften ein Problem, vielleicht sogar das Problem schlechthin. Die Suche nach einer gerechten Wirtschaftsordnung könnte damit bedeuten, nicht das bestehende System infrage zu stellen, sondern innerhalb des Systems nach den Quellen leistungsloser Einkommen zu suchen und Vorschläge zu unterbreiten, wie man sie trockenlegen kann. Genau das haben wir getan und möchten die drei aus unserer Sicht wichtigsten Quellen erläutern: Technologie und ihr Ressourcenverbrauch, Bodenrenten sowie die Akkumulation von Kapital. Ein viertes Thema ist, welche Rolle das Geldsystem spielt.
Dies sind für uns die vier Brennpunkte der Marktwirtschaft, an denen sie ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird. Uns geht es nicht so sehr um die vielfältigen aktuellen und zurückliegenden Krisen und Blasen des Kapitalismus, die von anderen bereits treffend analysiert worden sind, sondern um seine inhärenten, eher unauffälligen Schieflagen. Es gibt eine Schieflage zugunsten von Investitionen und Mehrverbrauch und eine Schieflage der Einkommens- und Vermögensverteilung zugunsten bestimmter Akteure. Wir wollen sozusagen ein bis zwei Ebenen tiefer analysieren als bisher üblich und auf diese Weise neue Aspekte in die gesellschaftliche Diskussion einbringen. Wir werden zeigen, dass für den Erfolg von Technologie weniger die innovativen Ideen ihrer Entwickler verantwortlich sind als die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe teure menschliche Arbeit durch preiswerten Ressourcenverbrauch zu ersetzen. Mithilfe von Technologie werden letztlich die Leistungen natürlicher Rohstoffe am Markt als eigene Leistungen ausgegeben, und damit wird eine spürbare Schieflage der Einkommensverteilung zugunsten der technischen Berufe erzeugt. Wir werden darlegen, dass Erträge aus Immobilien immer dort leistungslose Einkommen sind, wo der Immobilienwert vor allem an die Lage gekoppelt ist, einen gesellschaftlich geschaffenen Wert, der auf private Rechnung verkauft wird. Schließlich stellen wir dar, wie große Konzerne und Privatvermögen mit ihrer fast unbegrenzten wirtschaftlichen Macht beständig den Wettbewerb aushebeln. Obendrein wirken sie auf die politische Sphäre ein, um zu erreichen, dass sie sich eben nicht den Marktbedingungen stellen müssen, sondern stattdessen von der Politik einen Wunschmarkt gestaltet bekommen, auf dem sie dann leistungslose Erträge erzielen können. Auch die problematische Sonderrolle, welche die ungeschickte Organisation des Geldsystems spielt, wird Thema sein – nicht als eigenständige Quelle leistungsloser Einkommen, sondern indem es alle drei genannten Mechanismen verstärken kann.
Wir konnten bei unseren Analysen auf zahlreiche wissenschaftliche und politische Arbeiten zu den einzelnen Themen zurückgreifen. Eine neue Ressourcenpolitik, eine leistungsgerechtere Behandlung von Einkommen und Vermögen sowie eine explizite Begrenzung wirtschaftlicher Macht erscheinen uns als naheliegende, für politische Demokratien gut gangbare Auswege zur Entschärfung der Dilemmata. Zudem zeigen wir auf, wie das Geldsystem stabiler und transparenter gestaltet werden kann. Auch wenn manche dieser Maßnahmen sehr weitreichend sind, halten wir sie für realistisch, da sie nicht das Entstehen völlig neuer gesellschaftlicher Logiken voraussetzen. Wir gehen nicht von einer beliebigen Veränderbarkeit von Menschen aus, sondern möchten gesellschaftliche Institutionen derart anpassen, dass sie weitverbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen besser Rechnung tragen. Unsere Vorschläge sind völlig systemkonform, wenn man damit nicht das real existierende System meint, sondern seine eigentliche ideelle Grundlage. Wir glauben, dass es möglich ist, mit wenigen politischen Eingriffen mehrere Probleme gleichzeitig zu lösen und dabei Marktwirtschaften nicht nur zu verbessern, sondern auch freiheitlicher zu gestalten.
Dieses Buch richtet sich an Menschen mit gesellschaftspolitischem Interesse und ohne ökonomisches Vorwissen. Für ökonomisch Vorgebildete wird möglicherweise einiges bekannt sein, aber auch sie werden bestimmt interessante neue Erkenntnisse gewinnen können. Hartnäckige Befürworter von Wachstum oder unregulierten Märkten sowie anderweitig ideologisch Festgelegte werden wir vielleicht weniger überzeugen können. Aber wir richten uns explizit an alle, die guten Willens sind, echtes Erkenntnisinteresse haben und bereit sind, etwas scheinbar Undenkbares zumindest zu denken.
1) Als jährliches Wirtschaftswachstum wird die relative, prozentuale Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Vergleich zum Vorjahr bezeichnet. Das BIP steht für die in Geld gemessene jährliche Wirtschaftsleistung einer Nation. Es misst den Umfang aller bezahlten wirtschaftlichen Aktivitäten, denen ihre Einwohnerinnen und Einwohner nachgehen.
2) Wir verwenden den Begriff »Ressourcen« in der Regel im Sinne von »ökonomisch nützliche Rohstoffe«, vor allem »nicht erneuerbare Rohstoffe«.
3) Die Begriffe »Marktwirtschaft« und »Kapitalismus« sind als »Kampfbegriffe« so facettenreich und umstritten, dass man sehr genau erläutern muss, was man jeweils meint. Wir werden das im Verlauf des Buches deutlich machen.
Kapitel 2
Gute Marktwirtschaft, böse Marktwirtschaft
Marktwirtschaft hat als Wirtschaftssystem weltweit einen Siegeszug angetreten und ist dabei, traditionelle Wirtschaftsformen und andere Wirtschaftssysteme vollständig zu verdrängen. Zentral verwaltete Wirtschaftssysteme gelten weithin als gescheitert, weil sie die wirtschaftliche Koordination großer Gesellschaften nicht gewährleisten konnten. Direkte persönliche Austauschformen haben weiterhin im Kleinen ihren Platz, aber es bedarf anscheinend eines anderen Koordinationsmechanismus, wenn Menschen in großem Maßstab miteinander in Austausch treten wollen. In diesem Kapitel wollen wir darlegen, warum die marktwirtschaftliche Organisation diese Aufgabe besonders gut erfüllen kann, obwohl sie auf den ersten Blick vielleicht ebenfalls nach einem gescheiterten Modell aussieht. Aus unserer Sicht ist jedoch nicht die Marktwirtschaft gescheitert, sondern der Kapitalismus.
2.1Die soziale Utopie von Marktwirtschaft
Man könnte Marktwirtschaft als eine noch nicht realisierte soziale Utopie betrachten, darin anderen sozialen Utopien ähnlich. Ihre wissenschaftliche Formulierung findet man in jedem volkswirtschaftlichen Lehrbuch unter dem Titel »Neoklassische Theorie« oder kurz »Neoklassik«, die man insofern als utopische Theorie bezeichnen könnte, auch wenn die meisten ihrer Vertreter und die Lehrbuchautoren wohl nicht zustimmen würden. Nicht wenige Kritiker werfen der Neoklassik vor, die kapitalistische Ökonomie nicht angemessen beschreiben zu können. Dieser Vorwurf ist berechtigt, denn einige Konzepte der neoklassischen Theorie stellen eher eine Karikatur realer sozioökonomischer Beziehungen dar, und manche der erlebten Krisen und Blasen haben die Neoklassik und ihre Spielarten sehr blass aussehen lassen. Viele andere ökonomische Theorieschulen haben sich aufgemacht, die kapitalistische Ökonomie besser zu beschreiben.
Wir brauchen aber eigentlich keine Theorie, die den Kapitalismus besser beschreibt, sondern eine Politik, die ihn überwindet. Der politische Auftrag könnte also lauten, die Neoklassik nicht als schlechte Theorie, sondern als guten Forderungskatalog zu betrachten und auf die Geltung ihrer Konzepte hinzuarbeiten – also die Realität der Theorie anzupassen. Vollkommene Märkte, perfekter Wettbewerb, Leistungsgerechtigkeit und die Neutralität des Geldes sind in dieser Sichtweise wünschenswerte Ziele, die man vielleicht nicht perfekt, aber doch erheblich besser realisieren könnte, als dies heute der Fall ist.
Wir versuchen in den nachfolgenden Kapiteln zu zeigen, dass die Entwicklung von Märkten über viele Jahrtausende hinweg keineswegs eine zufällige war, sondern dass ihr Verlauf eine gewisse Zwangsläufigkeit besitzt – nicht im Sinne einer Vorherbestimmtheit, sondern als evolutionärer Prozess, in welchem Menschen versucht haben, dem primären Gerechtigkeitsprinzip »Verdienst« in anonymen Gesellschaften Geltung zu verschaffen. Das ist der eigentliche Unterschied zwischen der Utopie der Marktwirtschaft und anderen sozialen Utopien, die Gerechtigkeitsprinzipien wie Gleichheit oder Bedarf in den Vordergrund stellen oder Wirtschaft vor allem unter dem Aspekt demokratischer Mitbestimmung betrachten. Sie landen in der Regel bei sehr komplizierten Modellen, die kaum auf individuelle Selbststeuerung setzen können, sondern aufwendige Planungen, Beteiligungsformen oder Bilanzierungen erfordern. Dadurch können sie weder Einfachheit, Robustheit noch Effizienz gewährleisten, die aber für eine gerechte Wirtschaft auch wichtig sind. Wir werden darlegen, warum Marktwirtschaft systematisch besser grundlegende Gerechtigkeitsnormen und nachvollziehbare Effizienzanforderungen erfüllen kann als andere Modelle. Insofern stellt ihre Utopie ein lohnendes Ziel dar, welchem man sich annähern sollte.
2.2Marktwirtschaft in der Theorie …
Menschen erschaffen Dinge und führen Tätigkeiten aus, die nicht selbstverständlich sind und die sie und andere für wertvoll halten – aus welchen Gründen auch immer. Diese geschaffenen Güter – zu denen auch alle Dienstleistungen gehören – werden nicht nur erzeugt, sondern auch weitergegeben, getauscht, verkauft, gehortet, verbraucht.4) Letztlich ist Verbrauch der einzige Sinn von Gütererzeugung: »Consumption is the sole end and purpose of all production« (Adam Smith). Die Wirtschaftswissenschaft nennt Güter, die man produzieren muss, knapp, womit sie nicht generellen Mangel meint, sondern lediglich, dass diese Güter nicht vom Himmel fallen. Für sie muss Aufwand betrieben werden, und insofern konkurrieren sie miteinander, denn der Tag hat nur 24 Stunden, und alle Mittel sind begrenzt. Geld spielt im Prozess der Güterproduktion eine wichtige Nebenrolle als Vermittler, es bezieht seinen Wert ausschließlich (!) aus der Möglichkeit, die Leistungen anderer in Anspruch zu nehmen. In einer Ökonomie dreht sich alles um Güter und Leistungen und nicht etwa um Geld, allerdings haben verschiedene ökonomische Denkschulen verschiedene Ansichten, welche Rolle Geld genau spielt.
Die Wirtschaftswissenschaften versuchen, den Kreislauf der Güter und Leistungen durch die dabei fließenden Geldströme zu beschreiben. Sie nehmen an, dass die Preise im Mittel eine gute Näherung für die Wertschätzung der Menschen darstellen, denn – so der Grundgedanke – alles Wertvolle ist knapp, und Menschen können nicht alles gleichzeitig leisten. Angebot und Nachfrage lenken daher die begrenzte Schaffenskraft der Menschen über die Preise auf die wirklich wertgeschätzten Dinge, und Geld ist das Medium, mit dem über den Wert von Leistungen kommuniziert wird. Ein besonderer Clou: Diese Kommunikation funktioniert auch in einer anonymen Gesellschaft mit sehr spezialisierten Berufen, deren Produkte und Dienstleistungen, isoliert betrachtet, fast wertlos sind, weil sie nur schmale Zwischengüter entlang einer Kette darstellen. Das eigentliche Wunder ereignet sich am Ende der Kette, wenn aus Dutzenden preiswerter Vorprodukte ein preiswertes Endprodukt zusammengestellt wird und die einzelnen Hersteller kaum je miteinander gesprochen haben. So betrachtet, ist »Ökonomie« eigentlich nichts anderes als ein großer Beratungsprozess, eine tägliche Abstimmung: Wer soll heute was genau machen, damit es uns allen gut geht? Ein riesiger Kommunikationsprozess zwischen Unbekannten, der das geradezu größenwahnsinnige Ziel hat, die Handlungen jedes Einzelnen optimal zu steuern (und dabei die unerlässliche Fiktion individueller Freiheit aufrechtzuerhalten).
Nach Ansicht der meisten Ökonomen lässt sich für diesen Kommunikationsprozess das individuelle Gewinnstreben instrumentalisieren, welches gewissermaßen als unbeabsichtigten Nebeneffekt den Wohlstand der Gesellschaft zur Folge hat. Adam Smith’ berühmte »unsichtbare Hand des Marktes« besagt nichts weiter, als dass sich individueller Gewinn vor allem mit Gütern erzielen lässt, die gefragt sind – das sind aber gerade diejenigen Güter, die den Wohlstand der Gesellschaft ausmachen. Einer der Kernpunkte der Theorie ist, dass Marktstrukturen immer zum Gleichgewicht tendieren, dass also der Preismechanismus für eine Angleichung von Angebot und Nachfrage sorgt. Es wird nicht mehr und nicht weniger angeboten, als auch gekauft wird, der Markt wird »geräumt«. Privatwirtschaftlicher Marktwirtschaft wird also eine besondere Effizienz unterstellt. Mit geringem Aufwand, aber großer Treffsicherheit sorgen die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, Geld und Preis, Kredit und Zins für die optimale Verteilung der knappen Ressourcen wie Rohstoffe, Kapital und Arbeitskraft, sodass es keine andere Verteilung gibt, welche die Menschen noch besser stellen würde. So weit die Theorie.
2.3… und in der Praxis
Die Praxis sieht erfahrungsgemäß anders aus. Soziale Ungerechtigkeit, ökologischer Raubbau, entfremdete Arbeit, Lobbyismus, Korruption und Gier sind nur einige der wahrgenommenen Schattenseiten von Marktwirtschaft. Durch Privatisierung der Gewinne bei Vergesellschaftung der Kosten tritt der »unsichtbare Fuß des Marktes« (Herman Daly) die Gemeingüter in Stücke, und viele Kritiker halten die offensichtlichen Ungerechtigkeiten, die es in Marktgesellschaften gab und gibt, für einen Ausdruck marktwirtschaftlicher Prinzipien. Wettbewerb, Gewinnmaximierung, Zins oder abhängige Lohnarbeit werden als Konsequenzen der historischen »Entbettung« der Ökonomie aus ihrem sozialen Kontext betrachtet (Karl Polanyi), mit der Folge einer sozialen Verwahrlosung der ökonomischen Beziehungen. Wir werden im Verlauf des Buches darlegen, dass dies Gerechtigkeitsverletzungen sind, die mit marktwirtschaftlichen Prinzipien gar nichts zu tun haben. Marktwirtschaft ist nicht per se ungerecht, so wie andere ökonomische Systeme nicht per se gerecht sind. Eher hat es den Anschein, dass Marktwirtschaft wegen der Beharrlichkeit, mit der bestimmte Ungerechtigkeiten wieder und wieder auftreten, praktisch nicht reformierbar zu sein scheint. Wir werden am Ende des Buches noch einmal darauf eingehen.
An dieser Stelle ist es wichtig, der glänzenden marktwirtschaftlichen Theorie zwei verschiedene Lesarten der deutlich banaleren Praxis gegenüberzustellen. Erstens eine wohlwollende Lesart, welche das idealisierte Bild der Theorie herunterbricht auf eine bestmögliche, realistische Praxis innerhalb des theoretischen Modells. Zweitens eine kritische Lesart, die sich mit jenen teilweise obszönen Aspekten befasst, die bereits dem Modell der Marktwirtschaft widersprechen. Wenn man einfach nur analysiert, was in der real existierenden Marktwirtschaft alles schiefgeht, ohne diese Differenzierung zu machen, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass das ganze Modell nichts taugt.