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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Man konnte Vera Heinrich kaum übersehen. Sie war groß, überschlank und stets apart gekleidet. Das herrliche Haar trug sie in einem schweren Nackenknoten, eine Frisur, die ihr wunderbar zu Gesicht stand. Dieses fein gezeichnete schmale Gesicht war es, was Denise von Schoenecker zu denken gab. Sie las darin Unrast, Zweifel und Sorge. Denise verbrachte einen kurzen Urlaub in der herrlichen Bergwelt der Alpen, um sich nach einer schweren Erkältung zu erholen. Die Sonne hatte inzwischen ihre Haut gebräunt und ihren lebhaften dunklen Augen die alte Leuchtkraft wiedergegeben. Schon für den nächsten Tag erwartete sie ihren Mann, der sie nach Schoeneich zurückbringen würde. An diesem letzten Abend kam Denise von Schoenecker mit Vera Heinrich ins Gespräch. Es war die stille Dämmerstunde nach dem Abendessen. Die Hotelgäste saßen auf der Terrasse, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Da bat Vera Heinrich mit leiser Stimme um die Erlaubnis, sich neben Denise setzen zu dürfen, die einen Sessel abseits von den anderen gewählt hatte. »Ich habe gehört, dass Sie ein Kinderheim leiten, Frau von Schoenecker«, begann die junge Frau unsicher. Denise nickte und lächelte ermutigend. »Ja, Sophienlust, das Haus der glücklichen Kinder, wie mein Sohn Nick gern sagt.« »Ist es neugierig oder unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir ein wenig über dieses Heim zu erzählen?«, fragte Vera Heinrich. »Durchaus nicht, liebe Frau Heinrich. Es ist das liebste und wichtigste Thema meines Lebens.« Denise sprach heiter und lebhaft. Sie spürte, dass hinter den Fragen der jungen Frau etwas Besonderes stand. Wie immer, war sie sofort bereit, die Hilfe, die vielleicht von ihr gefordert
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Man konnte Vera Heinrich kaum übersehen. Sie war groß, überschlank und stets apart gekleidet. Das herrliche Haar trug sie in einem schweren Nackenknoten, eine Frisur, die ihr wunderbar zu Gesicht stand. Dieses fein gezeichnete schmale Gesicht war es, was Denise von Schoenecker zu denken gab. Sie las darin Unrast, Zweifel und Sorge.
Denise verbrachte einen kurzen Urlaub in der herrlichen Bergwelt der Alpen, um sich nach einer schweren Erkältung zu erholen. Die Sonne hatte inzwischen ihre Haut gebräunt und ihren lebhaften dunklen Augen die alte Leuchtkraft wiedergegeben. Schon für den nächsten Tag erwartete sie ihren Mann, der sie nach Schoeneich zurückbringen würde.
An diesem letzten Abend kam Denise von Schoenecker mit Vera Heinrich ins Gespräch. Es war die stille Dämmerstunde nach dem Abendessen. Die Hotelgäste saßen auf der Terrasse, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Da bat Vera Heinrich mit leiser Stimme um die Erlaubnis, sich neben Denise setzen zu dürfen, die einen Sessel abseits von den anderen gewählt hatte.
»Ich habe gehört, dass Sie ein Kinderheim leiten, Frau von Schoenecker«, begann die junge Frau unsicher.
Denise nickte und lächelte ermutigend. »Ja, Sophienlust, das Haus der glücklichen Kinder, wie mein Sohn Nick gern sagt.«
»Ist es neugierig oder unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir ein wenig über dieses Heim zu erzählen?«, fragte Vera Heinrich.
»Durchaus nicht, liebe Frau Heinrich. Es ist das liebste und wichtigste Thema meines Lebens.«
Denise sprach heiter und lebhaft. Sie spürte, dass hinter den Fragen der jungen Frau etwas Besonderes stand. Wie immer, war sie sofort bereit, die Hilfe, die vielleicht von ihr gefordert wurde, zu gewähren.
»Sophienlust ist ein Landsitz, den mein Sohn Dominik von seiner Urgroßmutter erbte, als er fünf Jahre alt war. Selbstverständlich konnte Nick dieses Erbe damals nicht selber antreten. So übernahm ich die Aufgabe, das Vermächtnis der alten Dame zu erfüllen und das ehemalige Herrenhaus von Sophienlust zu einer Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder umzugestalten. Ich war damals jung und hatte schwere Jahre hinter mir. Ich hatte meinen Mann verloren, stand mit Nick allein da, musste das Geld für unseren Lebensunterhalt verdienen und meinen Jungen in ein Heim geben. Die Trennung war für mich und das Kind das Bitterste an unserem Schicksal. Doch Nicks Erbschaft änderte alles. Wir litten keine Not mehr, sondern waren mit einem Schlage reich geworden. Umso mehr lag mir daran, anderen Kindern zu helfen und den Gedanken der Erblasserin in die Wirklichkeit umzusetzen. Das schöne alte Gebäude erwies sich dafür als recht gut geeignet. Allzu viele bauliche Veränderungen brauchte ich nicht vorzunehmen. Schon bald hielten die ersten Kinder bei uns Einzug. Es bildete sich eine harmonische Gemeinschaft, in der ich mich seitdem ebenso glücklich fühle wie die Kinder. Das Leben ist schlicht und natürlich in Sophienlust. Die Kinder wachsen in unmittelbarem Kontakt mit der Landwirtschaft und mit Tieren auf. Wir lehren sie, hilfsbereit und freundlich zu sein, und die Augen für die Nöte anderer offenzuhalten. So manches Schicksal hat sich im Laufe der Jahre erfüllt. Elternlose Kinder fanden in einer neuen Familie Geborgenheit, größere Buben und Mädchen verließen das Heim, um ihren eigenen Weg zu gehen. Doch mit allen Kindern besteht bis auf den heutigen Tag eine nie abreißende Verbindung. Denn Sophienlust wird den Kindern zur Heimat fürs Leben. Darauf legen wir den größten Wert.«
»Das klingt fast wie ein Märchen – gerade in der heutigen Zeit«, warf Vera Heinrich mit einem Seufzer ein.
»Sie sollten uns besuchen und sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es kein Märchen ist, Frau Heinrich. Die Geschichte geht auch noch weiter. Allerdings handelt es sich dabei um mein ganz persönliches Schicksal, und ich bin nicht sicher, ob Sie das interessiert.«
»Doch, Frau von Schoenecker. Ich möchte alles über Sophienlust wissen.« Mit wacher Aufmerksamkeit blickte Vera Heinrich Denise an. Noch konnte sie sich nicht dazu durchringen, ihr eigenes Anliegen vorzubringen. Deshalb begrüßte sie es, dass Denise noch mehr zu sagen hatte.
»Nick und ich haben in Sophienlust in mehrfacher Hinsicht unser Glück gefunden«, fuhr die schöne Frau mit dem dunklen Haar gedankenvoll fort. »Ich begegnete meinem jetzigen Mann, Alexander von Schoenecker, der auf einem benachbarten Gut lebte und ebenso verwitwet war wie ich. Es war eine segensvolle Fügung des Schicksals. Ich habe in meiner zweiten Ehe mit Alexander eine Erfüllung gefunden, die sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Nick erhielt einen liebevollen Vater, und ich bemühte mich, den beiden verwaisten Kindern meines Mannes eine gute Mutter zu werden. Heute studiert Sascha bereits in Heidelberg, während Andrea sogar schon verheiratet ist und einen süßen kleinen Jungen hat. Nick besucht die Oberschule, und dazu haben wir noch einen Benjamin namens Henrik, der inzwischen auch schon die Volksschulbank drückt.«
»Spielt sich Ihr Familienleben in Sophienlust ab?«
»Nein. Als wir heirateten, siedelte ich mit Nick nach Schoeneich über. Eine tüchtige Heimleiterin übernahm die Verantwortung für Sophienlust. Doch ich bin regelmäßig dort, und Nick verfügt in Sophienlust über ein eigenes Zimmer. Er weiß bis auf den heutigen Tag nicht, ob er Schoeneich oder Sophienlust als seine wirkliche Heimat betrachten soll. Ich bin froh, dass es so ist, denn er wird ja später Sophienlust übernehmen.«
»Sie sind zu beneiden, Frau von Schoenecker.«
Denise neigte den Kopf. »Ja, darin muss ich Ihnen zustimmen, Frau Heinrich. Oft genug frage ich mich, ob ein Mensch wie ich ein so reich bemessenes Glück verdient. Ich finde auf diese Frage keine Antwort. Aber ich bemühe mich, alle Liebe, die ich empfange, an die uns anvertrauten Kinder weiterzugeben.«
»Ist …, ist das Heim ständig überfüllt? Haben Sie lange Vormerklisten?«
»Nein, bis jetzt hat noch jedes Kind, das in Not war, bei uns Unterkunft gefunden.«
»Darf ich Ihnen sagen, warum ich nach Sophienlust fragte?«, stieß Vera Heinrich nun mit einem tiefen Atemzug hervor.
»Natürlich, gern.«
»Ich suche für ein elfjähriges Mädchen eine Bleibe – vielleicht nicht für immer. Es ist noch alles unbestimmt.«
»Handelt es sich um Ihre kleine Tochter?«, versuchte Denise zu helfen.
Vera Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das nicht. Marlies ist das uneheliche Kind meiner verstorbenen Cousine. Ich nahm die Kleine zu mir, weil meine Cousine mich darum bat. Marlies war ein süßes Baby und wuchs zu einem bildhübschen Mädchen heran. Hier, sehen Sie selbst!« Sie zog aus ihrer Handtasche die Fotografie eines blonden Mädchens mit klaren blauen Augen, das den Betrachter über einen Margaritenstrauß hinweg anlächelte.
»Ja, wirklich, man muss Marlies lieb haben, wenn man das Bild nur ansieht«, bestätigte Denise.
»Trotzdem will mein Verlobter nicht, dass sie bei mir bleibt«, rang es sich von den Lippen Vera Heinrichs. »Er meint, dass das ziemlich große Kind unsere Ehe stören würde, und fordert von mir, dass ich mich für immer von Marlies trenne. Seit Wochen schlage ich mich mit diesem schrecklichen Konflikt herum. Durch die ständige Spannung hat sich mein Verhältnis zu dem armen Kind bereits verändert. Marlies vertraut mir nicht mehr, ist verschlossen und trotzig. In der Schule haben ihre Leistungen nachgelassen, obwohl sie begabt ist und bis jetzt in den meisten Fächern die Beste der Klasse war. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ist es meine Pflicht, auf mein Glück zu verzichten, weil ich meiner Cousine versprochen hatte, für Marlies zu sorgen? Müsste ich meinen Verlobten davon überzeugen können, dass Marlies zu mir gehört, also auch zu ihm, wenn er mich wirklich liebt? Ich kann nachts nicht mehr schlafen, weil ich keine Antwort auf diese Fragen zu finden vermag.«
Sanft legte Denise ihre Hand auf den Arm der jungen Frau. »Sie haben Ihrer Cousine sicherlich nicht versprochen, Ihr Lebensglück zu opfern und von Stund an nur noch für das Kind dazusein, nicht wahr?«
»Nein, Marlies’ Mutter sprach im Sterben die Bitte aus, das Kind zu mir zu nehmen. Mir blieb keine Zeit mehr, ihr eine Antwort zu geben. Der Tod kam schneller. Ich habe mich jedoch immer an diese Verpflichtung gebunden gefühlt.«
»Sie dürfen nicht gar zu streng mit sich sein, Frau Heinrich. Ich persönlich bin der Meinung, dass Versprechungen am Sterbebett eines Menschen nicht wörtlich, sondern sinngemäß eingehalten werden sollten. Die Verhältnisse ändern sich im Lauf der Jahre. Schauen Sie sich Sophienlust an, und entscheiden Sie selbst, ob es der rechte Platz für Marlies wäre!«
»Ist das ein Angebot, das gilt?«
»Sehe ich so aus, als würde ich Ihnen leere Versprechungen machen? Nehmen Sie einmal an, Sie würden erreichen, dass Ihr Verlobter das Kind akzeptiert, ohne dass er innerlich wirklich damit einverstanden ist. Glauben Sie, dass das für Marlies ein Gewinn wäre?«
»Nein, wohl nicht. Für mich lautet die Frage, ob ich verzichten muss. Hat Marlies denn weniger Rechte als ich?«
»Ich bin ganz sicher, dass Marlies in Sophienlust weit besser zu ihrem Recht kommen kann, als Sie jetzt glauben, Frau Heinrich. Sie waren sehr jung, als Sie die Verantwortung für Marlies übernahmen. Inzwischen hat Ihr eigenes Schicksal Gestalt gewonnen. Ich versichere Ihnen, Sie müssen nun Ihren Weg gehen. Ihr Verlobter möchte sein und Ihr Leben gestalten. Ihm ist kaum abzuverlangen, dass er sich für das ihm fremde Kind einsetzt. Anders wäre es, wenn es sich um Ihr eigenes Töchterchen handelte. Doch das ist nicht der Fall. Deshalb biete ich Ihnen aus voller Überzeugung einen Platz für die kleine Marlies an.«
»Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Marlies besitzt als Erbteil ihrer Mutter ein kleines Vermögen, das ich bis jetzt nicht angerührt habe. Ob es allerdings ausreichen würde, den Heimaufenthalt auf Jahre hinaus zu finanzieren, weiß ich nicht.«
»Ich schlage vor, dass wir dieses Geld auch weiterhin unangetastet lassen, Frau Heinrich. Vielleicht kann Marlies es später für ihre Ausbildung gut gebrauchen. Sophienlust ist mit einer Stiftung ausgestattet, die es uns erlaubt, in manchen Fällen auf jegliche Unterhaltszahlung zu verzichten. Machen Sie sich also um die finanzielle Seite der Sache keine unnötigen Sorgen.«
Vera Heinrich schüttelte in ungläubigem Staunen den Kopf. »Dass ich Sie hier getroffen habe, liebe Frau von Schoenecker, ist wie ein Wunder. Ich bin hierhergefahren, weil ich es zu Hause nicht mehr aushielt und Marlies gerade mit ihrer Schulklasse für eine Woche auf Reisen ist.«
»Es freut mich, dass Sie nicht das Wort Zufall gebrauchen«, erwiderte Denise warm. »Gewiss sollten wir einander hier begegnen. Nun bleibt nur abzuwarten, wie es Ihnen in Sophienlust gefällt und ob Sie uns Marlies anvertrauen wollen. Ich telefoniere nachher mit meinem Mann. Er hat sicherlich nichts dagegen, wenn Sie uns morgen begleiten.«
Vera Heinrich dachte nach. »Ich bin mit dem Wagen hier, Frau von Schoenecker. Auch möchte ich Marlies mitbringen, wenn ich mir Sophienlust ansehe. Schließlich hat das Kind ein Wort mitzureden. Oder teilen Sie diese Ansicht nicht?«
»Durchaus. Ich finde es schön, dass Sie so denken. Auf diese Weise wird Marlies der Anfang in Sophienlust umso leichter werden.« Denise entnahm ihrer Handtasche einen Notizblock und riss ein Blatt davon ab, um die genaue Anschrift und Telefonnummer von Sophienlust darauf zu notieren. »Hier, Frau Heinrich. Teilen Sie uns mit, wann wir Sie erwarten können. Wir haben auch Gastzimmer, sodass Sie gern ein paar Tage bei uns bleiben dürfen, falls Sie diesen Wunsch haben.«
»Danke.« Die junge Frau sprach sehr leise. Ihr schönes Gesicht wirkte plötzlich ruhig und gelöst.
*
Alexander von Schoenecker umarmte seine Frau lange. »Du hast mir gefehlt, Isi. Zwei volle Wochen, das ist eine Trennung, die mir wie eine Ewigkeit vorkam.«
»Die Zeit ist ja nun vorüber, Alexander. Ich habe mich auch nach dir und den Kindern gesehnt, aber ich wollte vernünftig sein und den Rat des Arztes befolgen. Vierzehn Tage sei das mindeste, sagte er.«
Alexander küsste Denise. »Er hat gut reden, Isi. Schließlich ist er nicht mit dir verheiratet. Hast du die Koffer schon gepackt? Können wir gleich aufbrechen?«
»Es ist alles fertig. Aber du musst wenigstens eine Erfrischung zu dir nehmen. Wann bist du eigentlich aufgebrochen? So früh hatte ich dich nicht erwartet.«
Der Gutsherr lächelte wie ein ertappter Schuljunge. »Schon um vier Uhr früh, Isi. Ich konnte sowieso nicht schlafen.«
Denise schmiegte sich fester in seinen Arm. »Ich liebe dich, Alexander«, flüsterte sie statt jeder Antwort.
»Du musst ein kräftiges Frühstück für drei Männer bestellen«, erklang unerwartet von der Tür her eine Jungenstimme. »Wir konnten nämlich auch nicht mehr schlafen und sind mitgekommen.«
Nick und Henrik stürmten auf die Mutter zu und warfen sie in ihrer Freude beinahe um.
»Das nenne ich eine Überraschung. Gut schaut ihr aus. Ich glaube, du bist schon wieder größer geworden, Nick. Allmählich wirst du erwachsen.«
»Und du bist prima braun geworden, Mutti«, bemühte sich der große Junge seiner schönen Mutter ein Kompliment zu machen.
»Kein Kunststück bei dem herrlichen Wetter, das wir hatten. Erzähle, Nick, wie geht es in Sophienlust?«
»Alles in Ordnung, Mutti. Tante Ma, Schwester Regine und alle anderen lassen dich grüßen. Heute Abend gibt es ein Festessen dir zu Ehren. Magda hat leider nicht verraten, was sie machen will.«
»Hoffentlich wird es nicht zu anstrengend für dich, gleich am ersten Abend mit allen Kindern in Sophienlust zusammenzutreffen, Isi«, warf Alexander etwas zögernd ein. »Alle haben es sich gewünscht. Da wollte ich kein Spielverderber sein.«
»Ich bin sowieso erst dann richtig daheim, wenn ich mit den Sophienlustern am Tisch sitze, Alexander. Es war eine gute Idee, und ich bin dir dankbar dafür.«
»Heidi hat sogar ein Gedicht gelernt, und Blumen kriegst du auch«, platzte Henrik heraus, um sogleich erschrocken die Hand auf den Mund zu legen.
»Dass du immer alles ausplaudern musst!« Nick bedachte seinen kleinen Bruder mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Macht nichts. Ich vergesse es wieder und bin dann bestimmt ganz überrascht, Henrik«, tröstete Denise ihren Jüngsten und fuhr ihm zärtlich mit den Fingern durch das dichte Haar.
Zu viert ging es in den großen Speisesaal des Hotels. Die Wirtin trug höchst persönlich eine ländliche Brotzeit auf. Alexander stärkte sich dazu mit Kaffee, während die Buben Fruchtsaft tranken.
Denise, die keinen Hunger verspürte, erhielt nun Gelegenheit, von ihrem Gespräch mit Vera Heinrich zu berichten, die bereits am frühen Morgen abgereist war, sodass Alexander von Schoenecker keine Möglichkeit hatte, die junge Dame persönlich kennenzulernen.
»Natürlich muss Marlies nach Sophienlust kommen«, ließ sich Nick lakonisch vernehmen. »Eine andere Lösung gibt es überhaupt nicht.«
»Bestimmt ist das Mädchen froh, dass es von der Tante wegkommt«, fügte Henrik mit Überzeugung hinzu. »Wenn die Tante eben heiraten will …«
»Wieder einmal Sophienlust. Nicht einmal in deinen Ferien kannst du deine Mission vergessen, Isi«, versetzte Alexander leise. »Ich muss Nick und Henrik zustimmen. Für die kleine Marlies scheint es tatsächlich das Beste zu sein, wenn sie ins Haus der glücklichen Kinder kommt. Ein elfjähriges Mädchen bedeutet für eine junge Ehe möglicherweise eine starke Belastung.«
»Bei uns war das aber nicht so«, widersprach Nick ihm mit vollem Mund. »Andrea, Sascha und ich, wir haben uns von Anfang an prima verstanden, und gestört haben wir euch doch nicht etwa?«
»Nein, ihr nicht«, sagte Denise lachend. »Bei Marlies kommt aber erschwerend hinzu, dass Frau Heinrich gar nicht ihre Mutter ist.«
»Weil es niemanden gibt, der sie lieb haben will, gehört Marlies zu uns nach Sophienlust«, fasste Henrik die Probleme mit verblüffender Klarheit zusammen. »Marlies ist ein hübscher Name.«
»Marlies ist auch ein hübsches Mädchen. Ich habe ein Foto von ihr gesehen«, berichtete Denise.
»Wann kommt sie?«, wollte Nick wissen.
»Das steht noch nicht fest. Frau Heinrich wird uns mit Marlies besuchen. Dann sehen wir weiter.«
»Sie wird sicher gleich bleiben wollen«, prophezeite Henrik fröhlich.
»Schon möglich, Henrik. Jedenfalls wollen wir uns Mühe geben, Marlies einen freundlichen Empfang zu bereiten. Ganz einfach wird die Umstellung für sie wohl nicht werden.«
»Darf ich deinen Schinken aufessen, Vati?«, erkundigte sich Nick, als Alexander Messer und Gabel beiseitelegte. »Ich habe nämlich noch ein bisschen Hunger.«
»Um deinen Appetit braucht man sich wahrhaftig keine Sorgen zu machen«, sagte der Vater lachend. »Hier, nimm. Brot ist auch noch übrig.«
Eine halbe Stunde später brach die wieder vereinte Familie auf. Denise warf einen abschiednehmenden Blick zurück, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Die Tage der Muße waren vorüber. Sie kehrte gern nach Schoeneich und Sophienlust zurück. Nur im Kreise ihrer Lieben und mit ihren mannigfachen Pflichten fühlte sie sich glücklich. Das kurze Atemholen nach der Krankheit hatte ihr gutgetan, doch nun fühlte sie sich frisch gestärkt, um ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen.
*
Marlies Bähr hörte sich Veras Erzählung aufmerksam an. Das Kind war in den letzten Wochen blass und ernst geworden. In dem hübschen offenen Gesicht hatte sich ein neuer fremder Zug eingegraben.
»Ich glaube, ich würde gern dorthin gehen, Tante Vera«, sagte Marlies schließlich leise. »Du willst ja so schnell wie möglich heiraten und mit Onkel Hartwig nach Paris ziehen.« Die Worte klangen bitter.
»Bist du traurig, Marlies?«, fragte Vera unsicher.
»Nein. Du bist ja nicht meine Mutter. Und sonst habe ich halt niemanden. Ich gehöre in ein Kinderheim oder in ein Waisenhaus.«
Vera wollte Marlies umarmen, wie sie es früher so oft getan hatte, doch das blonde Mädchen wich ihr mit einer raschen Bewegung aus. »Wenn es dir nicht gefällt, lasse ich dich nicht dort«, stieß Vera hervor. »Deshalb will ich dich ja bei meinem Besuch mitnehmen.«
»Was soll werden, wenn ich nein sage, Tante Vera? Es ist doch ganz gleich, wie das Heim heißt. Ich stelle mir vor, dass dort auch andere Kinder sind, die keine Eltern haben. Genau wie ich. Vielleicht verstehen sie mich.«
»Ich verstehe dich auch, Marlies. Deshalb fällt es mir ja so schwer, dich zurückzulassen.«
»Das ist nicht wahr. Niemand versteht mich. Du denkst nur noch an Onkel Hartwig und daran, wie du mich schnell unterbringen kannst. Nimm nur gleich meine Sachen mit. Du hast doch längst alles mit der Dame abgemacht. Ich habe dich gestern telefonieren hören.«
»Möchtest du dich nicht von deinen Schulfreunden verabschieden? So eilig ist es doch nicht.«