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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der Wagen hielt vor dem schönen alten Gutshaus. Denise von Schoenecker stieg aus und ging die flachen Stufen zu dem mächtigen Portal empor, das nicht verschlossen war. Als sie einen Flügel aufdrückte, erschien das strahlende Gesicht eines blonden Mädchens. »Oh, Tante Isi! Du musst gleich ans Telefon kommen. Tante Ma schickt mich. Ich sollte nachsehen, ob du schon da bist.« Denise von Schoenecker beugte sich hinab und küsste das Kind auf die Stirn. »Guten Morgen, Heidi. Ich will rasch ins Büro gehen. Wer hat es denn gar so eilig?« Frau Rennert, von den Kindern Tante Ma genannt, war die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, das vor Jahren in dem ehemaligen Herrenhaus von Denise von Schoenecker gegründet worden war. Nach dem Willen seiner letzten Herrin, Sophie von Wellentin, waren Gut und Herrenhaus einst zusammen mit einem beträchtlichen Vermögen an Denises ältesten Sohn Dominik, genannt Nick, gefallen. Doch seither war viel, viel Zeit vergangen. Denise hatte an der Seite Alexander von Schoeneckers ein zweites Eheglück gefunden, nachdem sie ihren ersten Mann viel zu früh verloren hatte, und Dominik hatte Geschwister erhalten. Die Kinder aus Alexanders erster Ehe waren seine Stiefgeschwister geworden, und dazu war noch ein kleiner Halbbruder gekommen. Aber auch Henrik war längst kein Baby mehr, sondern besuchte jetzt bereits die Volksschule. »Sie ist da, Tante Ma!« Mit diesem hellen Ruf stürmte Heidi ins Büro. Denise begrüßte Frau Rennert, die ihr sofort den Telefonhörer entgegenhielt. »Aus Maibach, Frau von Schoenecker. Das Krankenhaus.« Denise hörte dem Gesprächspartner am anderen Ende eine Weile zu und erklärte dann mit freundlicher Entschlossenheit:
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Seitenzahl: 132
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Der Wagen hielt vor dem schönen alten Gutshaus. Denise von Schoenecker stieg aus und ging die flachen Stufen zu dem mächtigen Portal empor, das nicht verschlossen war. Als sie einen Flügel aufdrückte, erschien das strahlende Gesicht eines blonden Mädchens.
»Oh, Tante Isi! Du musst gleich ans Telefon kommen. Tante Ma schickt mich. Ich sollte nachsehen, ob du schon da bist.«
Denise von Schoenecker beugte sich hinab und küsste das Kind auf die Stirn. »Guten Morgen, Heidi. Ich will rasch ins Büro gehen. Wer hat es denn gar so eilig?«
Frau Rennert, von den Kindern Tante Ma genannt, war die Leiterin des Kinderheims Sophienlust, das vor Jahren in dem ehemaligen Herrenhaus von Denise von Schoenecker gegründet worden war. Nach dem Willen seiner letzten Herrin, Sophie von Wellentin, waren Gut und Herrenhaus einst zusammen mit einem beträchtlichen Vermögen an Denises ältesten Sohn Dominik, genannt Nick, gefallen. Doch seither war viel, viel Zeit vergangen. Denise hatte an der Seite Alexander von Schoeneckers ein zweites Eheglück gefunden, nachdem sie ihren ersten Mann viel zu früh verloren hatte, und Dominik hatte Geschwister erhalten. Die Kinder aus Alexanders erster Ehe waren seine Stiefgeschwister geworden, und dazu war noch ein kleiner Halbbruder gekommen. Aber auch Henrik war längst kein Baby mehr, sondern besuchte jetzt bereits die Volksschule.
»Sie ist da, Tante Ma!« Mit diesem hellen Ruf stürmte Heidi ins Büro.
Denise begrüßte Frau Rennert, die ihr sofort den Telefonhörer entgegenhielt. »Aus Maibach, Frau von Schoenecker. Das Krankenhaus.«
Denise hörte dem Gesprächspartner am anderen Ende eine Weile zu und erklärte dann mit freundlicher Entschlossenheit: »Jawohl, selbstverständlich nehmen wir das Kind zunächst einmal hier auf. Ich komme sofort zu Ihnen, um den Jungen abzuholen. Nein, nein, Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Das gehört zu unseren Pflichten.«
»Ein neues Kind?«, fragte Heidi Holsten atemlos. »Ein Junge?«
»Ja, ein Bub, Heidi. Er ist sechs Jahre alt, geht aber noch nicht in die Schule. Du kannst also mit ihm spielen. Sehr lange wird er allerdings nicht bei uns bleiben. Er soll hier warten, bis seine Mutti wieder gesund ist und aus dem Krankenhaus entlassen wird.«
Heidi nickte begeistert. »Ich bin froh, dass er noch nicht zur Schule geht. Die anderen fahren nach dem Frühstück immer alle weg.«
»Bald kommst du auch zur Schule, Heidi. Willst du mit mir nach Maibach fahren? Dann lernst du den Jungen gleich kennen.«
Heidi machte einen Luftsprung. »Ehrlich, Tante Isi? Du willst mich mitnehmen?«
»Aber ja, Kleines. Lauf rasch nach oben und hole dir eine Strickjacke. Es ist ziemlich kühl heute.«
Wie der Blitz schoss der Blondkopf davon, und Denise wandte sich an die Heimleiterin: »Es handelt sich um eine junge Frau, die auf der Durchreise war. Im Hotel erkrankte sie so schwer, dass der herbeigerufene Arzt sie ins Krankenhaus einweisen musste. Nun entstand die Frage, wohin mit dem Jungen?«
»Nun, in Maibach ist da rasch Rat zu schaffen. Dort fällt allen von selbst unser liebes Sophienlust ein, sobald es sich um ein Kind handelt«, meinte Frau Rennert lächelnd. »Ich werde gleich ein Zimmer für den Buben herrichten. Die Abrechnungen sehen wir dann durch, wenn Sie aus Maibach zurück sind, nicht wahr?«
Denise nickte. »Ja, die Abrechnungen sind zwar nötig und wichtig, aber der Junge geht vor.«
Heidi kam zurück, atemlos und mit der Strickjacke kämpfend, die sie im Laufen anzuziehen versuchte. Frau Rennert half ihr sofort. Dann schob das Kind vertrauensvoll seine kleine Hand in Denises Hand. »Tante Isi, fahren wir jetzt?«, drängte es.
Die Fahrt war nicht allzu weit. Heidi saß brav auf dem Rücksitz, während Denise von Schoenecker ihr erzählte, dass die Mutter des neuen Jungen schwer krank sei. »Du musst versuchen, nett zu ihm zu sein. Er hat sicherlich Sorge um seine Mutti.«
»Was soll ich mit ihm spielen, Tante Isi? Bei dem Wetter ist es zu nass und kalt, um im Sand eine Burg zu bauen. Aber vielleicht hat er Lust, das ganze Haus zu durchstöbern. Das tun die neuen Kinder immer gern.«
»Frage ihn, was er tun möchte, Kleines. Er soll fröhlich bei uns in Sophienlust sein.«
Heidi war erstaunt. »Ist nicht jeder glücklich bei uns, Tante Isi? Das gibt es doch gar nicht, dass jemand nicht bei uns sein möchte. Sophienlust wird doch das Haus der glücklichen Kinder genannt.«
»Du hast schon recht, Heidi. Aber bei diesem Jungen ist es ein bisschen anders. Er wird wahrscheinlich recht traurig sein.«
»In Sophienlust wird er von allein lustig. Ganz bestimmt.«
Die beiden hatten die Kreisstadt Maibach erreicht und fuhren zu dem etwas außerhalb gelegenen Komplex des Krankenhauses. In einem der Büros saß der Junge mit einem trübseligen, ein wenig verstockten Gesicht auf einem Stuhl. Tränenspuren zeichneten sich auf seinen Bäckchen ab, und die nicht sehr sauberen Finger ruhten auf den nackten Knien.
»Das ist Dirk Fiedler«, erklärte eine ältere Schwester. »Seine Mutti muss zunächst einmal bei uns bleiben.«
Denise strich über das wirre Haar des Jungen. »Grüß dich, Dirk. Schau mal, ich habe unsere Heidi mitgebracht. Du kannst dich gleich ein bisschen mit ihr unterhalten.«
Die Schwester gab Denise einen Wink, und die beiden Erwachsenen ließen die Kinder allein und sprachen draußen im Korridor leise miteinander.
»Frau Fiedler geht es sehr schlecht, Frau von Schoenecker«, teilte die Schwester der Herrin von Sophienlust mit ernstem Gesicht mit. »Wenn Sie aus dem Jungen die Namen von Angehörigen herausfragen könnten, wäre das gut. Er scheint etwas schwierig zu sein. Wir sind nicht weitergekommen mit ihm. Es mag auch der Schock über die plötzliche Erkrankung der Mutter sein.«
»Wir wollen unser Bestes versuchen, liebe Schwester«, versprach Denise betrübt. »Muss man befürchten, dass die Mutter die Krankheit nicht überstehen wird?«
»Sie wurde heute früh eingeliefert und wird noch untersucht. Es scheint nicht gut auszusehen für sie.«
Denise seufzte. »Armer kleiner Bub! Ob er etwas ahnt? Er sah grenzenlos unglücklich und verlassen aus, als er da auf dem Stuhl saß.«
Die Schwester nahm ihre Brille ab und wischte sich hastig eine Träne aus dem Auge. »Wir können nur das tun, was in unserer Macht liegt, Frau von Schoenecker. Nehmen Sie den Jungen erst einmal mit nach Sophienlust. Zwischen den Kindern dort wird er vielleicht ein wenig Mut fassen und Ihnen etwas über sich und seine Mutter erzählen.«
Denise kehrte zu den beiden Kindern zurück. Heidi redete gerade eifrig auf Dirk ein, schien aber nicht allzu viel Erfolg zu haben.
»Willst du mit Heidi und mir im Wagen nach Sophienlust fahren?«, fragte Denise freundlich. »Ich bin Tante Isi und möchte dich lieb haben.«
Dirk schaute stumm zu ihr empor. In den großen Kinderaugen wirkte die Trostlosigkeit erschütternd.
Denise ergriff Dirks Hand. »Komm mit«, forderte sie den Jungen herzlich auf. »Wir fahren zum Haus der glücklichen Kinder.«
Eine junge Schwesternschülerin brachte Dirks Koffer. Denise bat noch um Nachricht, wie es Frau Fiedler gehe, und verließ mit den Kindern das Krankenhaus.
Dirk und Heidi saßen nebeneinander auf dem Rücksitz. Die allzeit vergnügte Heidi gab es allmählich auf, eine Unterhaltung mit dem schweigsamen Buben in Gang zu bringen. Selbst der Anblick der lustigen Wegweiser, die auf dem letzten Stück der Fahrt die Nähe des Kinderheims Sophienlust ankündigten, beeindruckten Dirk nicht.
Als die drei vor dem Herrenhaus ankamen, begann es zu regnen, als sei selbst der Himmel betrübt. Doch Denise war entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen. Sie führte Dirk in die Halle des Gutshauses und stellte ihn zunächst der mütterlichen Frau Rennert vor.
»Guten Tag, Dirk. Ich bin Tante Ma«, sagte die Heimleiterin. »Willst du dein Zimmer anschauen?«
Keine Antwort.
»Ich glaube, Heidi geht einmal in die Küche und bestellt bei Magda Kakao für Dirk. Oder magst du lieber Fruchtsaft?« Denise sah den Jungen fragend an.
»Kakao bitte«, antwortete er leise. »Im Krankenhaus sollte ich Tee trinken. Aber ich mag keinen Tee.«
Denise von Schoenecker legte den Arm um Dirks Schultern und führte ihn in ihr persönliches Wohn- und Arbeitszimmer. Es war ein mit echten Biedermeiermöbeln eingerichteter Raum, in dem alles so gelassen worden war, wie es zu Lebzeiten Sophie von Wellentins ausgesehen hatte.
Zwar waren die hübschen Sessel und das Sofa inzwischen neu bezogen worden, doch die Atmosphäre war erhalten geblieben, wozu das große, sprechend gemalte Ölbildnis der alten Dame an der einen Wand viel beitrug.
Dirk staunte mit offenem Mund. »Schön«, stieß er dann hervor.
»Hier arbeite ich, wenn ich in Sophienlust bin, Dirk. Schau, da ist der große Schreibsekretär. Früher hat diese alte Dame dort ihre Briefe geschrieben.«
»Bist du denn nicht immer hier, Tante Isi?« Auf einmal konnte der Junge etwas sagen.
»Ich wohne auf einem anderen Gut, ganz in der Nähe. Es heißt Schoeneich. Aber ich komme jeden Tag mit dem Wagen hierher. Es gibt eine direkte Verbindungsstraße. Außerdem kann man jederzeit telefonieren.«
»Gehört dir das Schloss?«
Denise lächelte. »Du hast recht, unser Haus wirkt beinahe wie ein Schloss. Es ist aber ein altes Gutshaus, und es gehört einem großen Jungen – meinem ältesten Sohn. Er hat es von seiner Urgroßmutter geerbt, deren Bild du dort siehst.«
Dirk betrachtete das Gemälde. »Aber was fängt der Junge mit einem ganzen Haus an?«, fragte er schließlich.
»Nicks Urgroßmutter wollte, dass es ein Heim für Kinder wird, die in Schwierigkeiten sind. Weil mein Sohn – er heißt Nick – damals erst fünf Jahre alt war, übernahm ich es, das Heim einzurichten. Deshalb haben wir heute die Möglichkeit, dich für ein Weilchen hier aufzunehmen.«
Dirks Gesicht umschattete sich. »Aber nur, bis meine Mutti gesund ist, nicht wahr?«
Denise zog den Jungen an sich. »Ja, Dirk.«
Magda, die bewährte und allseits beliebte Köchin von Sophienlust, erschien in eigener Person, um den Kakao zu servieren. Heidi sei in der Küche geblieben, um eine Schüssel auszuschlecken, berichtete sie, nachdem sie Dirk willkommen geheißen hatte.
Dirk setzte sich und trank seinen Kakao in kleinen Schlucken.
»Woher seid ihr gekommen, Dirk?«, fragte Denise behutsam.
»Aus Rotterdam. Da wohnten wir. Aber wir wollten nicht wieder zurückfahren. Mutti war schon lange krank, bloß nicht so schlimm wie jetzt.«
»Weißt du, wohin deine Mutti mit dir reisen wollte?«
»Nach Deutschland, zu Tante Bettina.«
»In Deutschland bist du jetzt. Aber wo mag deine Tante wohnen?«
»Ich hab’s vergessen. Es ist ein schweres Wort.«
»Und warum seid ihr hier in Maibach ins Hotel gegangen?«
»Ich weiß es nicht, Tante Isi. Mutti wollte immer nur ein kleines Stück weiterreisen, weil es zu anstrengend für sie war. Wir haben schon ein paar Mal irgendwo im Hotel geschlafen und sind am Morgen weitergefahren.«
»Hattet ihr in Rotterdam Verwandte? Eine Großmutter vielleicht?«
»Nein, keine Großmutter. Ich bin in den Kindergarten gegangen, und Mutti musste jeden Tag ins Labor zur Arbeit. Am Wochenende natürlich nicht. Das waren die schönsten Tage, weil Mutti dann immer mit mir spielte. Zuletzt bin ich nicht mehr in den Kindergarten gegangen, denn Mutti brauchte nicht ins Labor zu gehen.«
»Warum, Dirk? Noch Kakao?« Denise füllte aus der Kanne nach.
Dirk nahm einen Schluck. »Sie hat es nicht gesagt, Tante Isi. Sie war schon ein bisschen krank, glaube ich. Ehe wir abreisten, wurden die Möbel abgeholt. Wir haben dann ein paar Tage in einem Hotel gewohnt.«
»Deine Mutti wollte also bei Tante Bettina bleiben?«
Dirk hob die Schultern. »Vielleicht«, meinte er unsicher. »Sie hat erzählt, dass Tante Bettina sehr lieb ist. Früher war sie immer mit Tante Bettina beisammen.«
»Weißt du nicht, wie die Tante mit Familiennamen heißt?«
Die Stirn des Jungen zog sich in Falten. Er dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, Mutti sagt immer nur ›Tante Bettina‹.«
Da war freilich wenig auszurichten.
»Wart ihr lange in Holland? Konntest du mit den Kindern im Kindergarten sprechen?«
»Das ist doch nicht schwer. Mutti spricht auch holländisch. Aber wenn wir allein sind, sprechen wir so wie jetzt, also deutsch.«
Daraus war für Denise zu schließen, dass Mutter und Sohn längere Zeit in Rotterdm gelebt haben mussten. Mager genug waren diese Auskünfte. Offenbar befand sich die Mutter in einem so schlechten Zustand, dass sie selbst keine Informationen zu geben vermochte.
»Darf ich meine Mutti im Krankenhaus besuchen, wenn es ihr wieder besser geht?«, erklang die Kinderstimme erneut.
»Ganz gewiss, Dirk. Ich rufe heute Abend noch einmal im Krankenhaus an. Morgen fahren wir dann zusammen hin, wenn es die Ärzte erlauben.«
»Mutti hat fest geschlafen und gar nicht gemerkt, dass die beiden Männer sie ins Krankenhaus trugen«, berichtete Dirk. »Die Schwester sagte, sie schläft immer noch. Deshalb dürfe ich nicht zu ihr gehen. Aber morgen muss sie doch wach werden, nicht wahr?«
»Wir wollen es von ganzem Herzen hoffen und wünschen, Dirk. Ich weiß nicht, an welcher Krankheit deine liebe Mutti leidet. Die Schwester sagte, es sei eine schwere Krankheit. Jetzt müssen wir Geduld haben. Magst du mit Heidi ein bisschen spielen? Oder möchtest du jetzt dein Zimmer sehen?«
Dirk seufzte. »Ich mag gar nichts, Tante Isi. Gar nichts …«
Denise verschob die Abrechnungen mit Frau Rennert noch einmal. Sie ging mit Dirk in den ersten Stock hinauf und führte ihn in ein helles Zimmer mit fröhlichen Bildern an den Wänden und einem frisch bezogenen Bett. Auf der Decke saß ein kuschelig weicher Teddy, den Denise Dirk in den Arm drückte.
»Der ist zum liebhaben. Er hat schon auf dich gewartet, Dirk.«
Der Bub erwiderte nichts, doch er drückte das Plüschtier fest an sich. Und das war immerhin ein Anfang.
*
Mittags kamen die Kinder aus der Schule zurück. Sie wurden im roten Kleinbus mit der Aufschrift »Kinderheim Sophienlust« zur Schule gebracht und dort wieder abgeholt. Dirk sah sich plötzlich von einer Schar freundlicher Kinder umringt, die ihm kräftig die Hand schüttelten und versicherten, wie sehr sie sich freuten, dass er zu ihnen gekommen sei.
»Das ist Nick«, erklärte Heidi, die das wichtige Amt übernommen hatte, die verschiedenen Namen zu nennen.
»Gehört dir Sophienlust?«, fragte Dirk rasch, weil sich ihm schon die nächste Hand entgegenstreckte.
Nick neigte den Kopf mit den dunklen Locken. »Ja, es gehört mir«, antwortete er. »Aber ich werde es erst später übernehmen. Jetzt muss ich noch ins Gymnasium gehen, das Abitur machen und dann studieren.«
»Wohnst du hier oder bei deiner Mutti auf dem anderen Gut, Nick?«
»Meistens drüben in Schoeneich, Dirk. Aber ich habe hier auch ein Zimmer, in dem ich manchmal übernachte. Denn für mich ist Sophienlust der schönste Platz der Welt.« Nicks braune Augen leuchteten. Seit er als fünfjähriger Knirps an der Hand seiner Mutter nach Sophienlust gekommen war, liebte er das Haus und das Gut. Er fühlte sich für das Schicksal der Kinder von Sophienlust mitverantwortlich und lebte sich von Jahr zu Jahr mehr in die Aufgabe, die das Testament seiner Urgroßmutter ihm gestellt hatte, hinein. Noch lag die Leitung des Kinderheims in den Händen seiner Mutter, und das Gut wurde von seinem Stiefvater Alexander von Schoenecker mitverwaltet.
»Aber ich möchte lieber zu Tante Bettina reisen«, antwortete Dirk etwas trotzig. »Da ist es bestimmt noch schöner als hier.«
»Das kannst du nicht behaupten«, trumpfte Henrik von Schoenecker, Denises Jüngster, auf.
Es war gut, dass in diesem Augenblick Schwester Regine erschien, die für das Wohl und Wehe der jüngeren Kinder zuständig war. Sie sorgte geschickt dafür, dass kein hitziger Streit entstand, und bat die Schüler, sich rasch die Hände zu waschen, da das Essen schon angerichtet sei.
Denise von Schoenecker hatte mit ihrem Mann telefoniert und ihn gebeten, an diesem Tag mit ihr und den Kindern in Sophienlust zu essen. So lernte Dirk auch den Vater von Nick und Henrik kennen.
»Ist dein Vati tot?«, fragte Heidi mit der unbedachten Taktlosigkeit eines Kindes. Sie selbst war elternlos, aber dennoch glücklich, weil sie in Sophienlust Geborgenheit gefunden hatte.
Dirk schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Vati«, antwortete er.
»Jeder hat einen Vater«, mischte sich Henrik altklug ein.
»Dirk weiß es nicht genau«, erklärte Frau Rennert munter. »Möglicherweise war er noch ein Baby, als sein Vati starb.«
Dirk zog die Augenbrauen ärgerlich zusammen. »Nein, ich weiß es wirklich nicht. Aber ich will meine Mutti fragen. Wenn jeder einen Vater hat, muss ich natürlich auch einen haben.«