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Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Die Kinder von Sophienlust sowie Dominik von Wellentin-Schoenecker und sein kleiner Halbbruder Henrik von Schoenecker standen auf der Freitreppe und winkten dem weißen Mercedes nach, der eben langsam durch das Parktor davonfuhr. "Nun sind die Hs auch fort", stellte Pünktchen ein wenig traurig fest. Damit meinte sie die Brüder Hermann, Helmut und Horst Lochner, die von den anderen Kindern so genannt worden waren, weil ihre Vornamen alle mit H anfängen. "Jetzt sind nur noch zehn Kinder hier." Sie fing zu zählen an. "Da ist erst einmal Irmela, dann Angelika und Vicky, dann Fabian und Heidi, ja, und ich. Das sind sechs. Dann Helga, Ilse, Werner und Klaus. Ja, es sind zehn. Denn Nina bleibt ja nicht da."
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Seitenzahl: 141
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»Geht es Mutti besser?« Angstvoll waren die großen ausdrucksvollen Augen der kleinen Antje auf Prof. Klaus Martell gerichtet.
»Ja, Kleines. Heute Abend kannst du sie schon für eine Viertelstunde besuchen.«
»Ach, Vati, ich habe so schreckliche Angst gehabt. Bloß gut, dass du selbst ein Doktor bist und unsere Mutti gesund machen kannst. Schwester Inge hat gesagt, jetzt kriegt sie kein Baby mehr. Stimmt das wirklich? Wir hatten uns doch alle so auf das Baby gefreut.« Die Stimme der Achtjährigen zitterte.
Klaus Martell zog die Kleine an sich und strich ihr über das krause Haar, das in zwei Zöpfchen geflochten war. »Schwester Inge hat leider recht, Antje. Mutti hat das Baby verloren. Du musst tapfer sein und darfst ihr nicht zeigen, dass du traurig bist. Sie ist sehr unglücklich.«
Antje begann zu weinen. Die ausgestandene Angst und Aufregung brachen sich nun Bahn. In der Nacht hatte der Professor seine Frau hinüber in die Klinik gebracht. Antje war von der ungewohnten Unruhe im Hause erwacht und hatte blass und stumm zugesehen, wie man die totenbleiche Mutter auf einer Trage aus dem Hause transportiert hatte. Niemand hatte Zeit gefunden, das verstörte Kind zu beruhigen und zu trösten. Denn bei Hanna Martell hatte akute Lebensgefahr bestanden. Jede Minute hatte gezählt.
»Es ist schade, Antje. Aber vielleicht bekommt unsere Mutti nächstes oder übernächstes Jahr ein Baby. Im Augenblick wollen wir dankbar sein, dass ihr nichts zugestoßen ist.«
»Wird sie bald gesund sein? Ihr Gesicht sah ganz weiß aus in der Nacht.«
»Es wird nicht allzu lange dauern, Antje. Genau kann ich es heute nicht sagen. Vielleicht muss sie sich nachher ein bisschen erholen.«
Antje fasste allmählich Mut. »Die Hauptsache, es geht ihr dann wieder gut, Vati.«
»Ja, Kind. Aber jetzt musst du in die Schule.«
»Ich mag nicht, Vati.« Bittend schaute Antje zu dem Professor empor.
»Was willst du denn den ganzen Tag hier anfangen? In der Schule kommst du auf andere Gedanken. Heute Abend besuchst du dann Mutti.«
Antje fügte sich. »Aber es ist kein Frühstück da«, wandte sie nun unsicher ein.
»Lass dir in der Klinik Kakao und ein Butterbrot geben. Mittags kannst du auch drüben essen. Das ist das einfachste.«
»Ja, Vati.«
Antje holte ihre Schultasche und lief durch den Garten zum Klinikbau hinüber, denn sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig in der Schule sein wollte.
Klaus Martell sah dem Kind nach. Dann schloss er die Haustür und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich in einen der tiefen Ledersessel sinken ließ und müde den Kopf in die Hand stützte. Nun, da die unmittelbare Gefahr für seine geliebte Hanna vorüber war, kam bei ihm die Erschöpfung. Er hatte in der letzten Nacht nur eine Stunde geschlafen.
Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Die Fehlgeburt bedeutete auch für ihn eine herbe Enttäuschung. Wie sehr hatten Hanna und er sich einen Sohn gewünscht. Auch ein Töchterchen wäre ihnen willkommen gewesen. Nun war alle Hoffnung zerstört.
Klaus Martell zuckte nervös zusammen, als die Hausglocke ertönte. Unwillig stand er auf und ging zur Tür, um zu öffnen. Draußen stand Schwester Inge, seine tüchtige Oberschwester, mit einem Tablett.
»Sie müssen wenigstens frühstücken, Herr Professor«, erklärte sie.
Der Professor wusste, sie meinte es gut. Dass er im Moment keine Lust auf Toast, Ei, Schinken und Kaffee hatte, würde sie nicht verstehen.
»Danke, Schwester Inge. Das ist nett von Ihnen.« Er quälte sich die höfliche Antwort ab.
Schwester Inge achtete nicht darauf. Betulich trug sie das Tablett ins Esszimmer und deckte den Tisch für ihren Chef. Sie bestand darauf, dass er sich an den Tisch setzte und sie ihm die Tasse mit dem heißen Kaffee füllen konnte. Dann allerdings eilte sie davon, denn drüben in der Klinik wartete viel Arbeit auf sie.
Klaus Martell rührte nichts von dem, was auf dem Tisch stand an. Nicht einmal den Kaffee. Blicklos starrte er zum Fenster hinaus. Doch zwei Stunden später, als er mit seinen Ärzten Chefvisite abhielt, war ihm nicht mehr anzumerken, dass er eine anstrengende Nacht ohne Schlaf hinter sich hatte, die ihm persönlich eine große Enttäuschung gebracht hatte.
*
Hanna Martell rang sich ein Lächeln ab, als ihr Mann das Zimmer betrat. Sie sah immer noch blass und angegriffen aus, obwohl die Fehlgeburt nun schon drei Wochen zurücklag. Zwar hatte sie die Klinik schon nach acht Tagen verlassen können, doch machte sich der Professor um ihren Allgemeinzustand Sorgen. Auch Antje entging die Veränderung ihrer Mutti nicht. Sie klagte, dass es daheim nicht mehr so sei wie früher.
Klaus Martell beugte sich über Hanna und küsste sie. »Ich habe heute die genauen Untersuchungsbefunde vom Kollegen Heim bekommen, Hanna. Es ist alles in Ordnung mit dir.«
Müde hob sie die Schultern. »Davon war ich überzeugt, Klaus. Es ist nichts. Aber ich brauche wohl einige Zeit, um mich damit abzufinden.«
»Nimm es nicht so schwer, Hanna. Wir haben uns lieb. Das ist das Wichtigste. Und wir haben Antje.«
Sie griff nach seiner Hand. »Aber Antje ist nicht deine Tochter, Klaus. Ich war so glücklich, dass wir beide endlich ein Kind haben sollten. Zuerst sah es doch so aus, als würde uns Nachwuchs versagt bleiben. Immerhin sind wir seit mehr als sieben Jahren verheiratet.«
»Aus ärztlicher Sicht ist das nichts Ungewöhnliches, Hanna. Da du früher selbst Krankenschwester warst, solltest du es wissen. Deshalb besteht auch durchaus noch Hoffnung, dass du in absehbarer Zeit wieder ein Baby bekommst.«
Hanna nickte. »Ja, vielleicht. Trotzdem muss ich die Enttäuschung erst hinter mich bringen. Ich spüre, dass es für dich nicht weniger bitter ist. Du willst mich trösten. Das ist lieb von dir. Aber ein eigenes Kind hätte dich glücklich gemacht.«
»Ich habe Antje so lieb, als wäre ich ihr Vater, Hanna. Sie gehört zu dir. Hast du ihr eigentlich mal gesagt, dass sie aus deiner ersten Ehe stammt?«
»Nein, Klaus, bis jetzt nicht. Ich meine, wir sollten damit warten, bis sie älter geworden ist.«
»Meinetwegen braucht sie es gar nicht zu erfahren. Ich habe sie adoptiert und ihr meinen Namen gegeben. Sie besitzt alle Rechte eines erstgeborenen Kindes. Denkst du noch oft an ihren Vater?« Er setzte sich ihr gegenüber und sah sie aufmerksam an.
Hanna schüttelte mit erstaunlicher Entschiedenheit den Kopf. »Unsere Ehe war so kurz, Klaus. Wenige Tage vor Antjes Geburt erfuhr ich, dass Georg tödlich verunglückt war. Vorher hatte ich ihn acht Monate lang nicht mehr gesehen und kaum von ihm gehört. Die Expedition, mit der er in Afrika unterwegs war, befand sich im unwegsamen Hinterland. Da gab es keine Postverbindungen.«
»Arme Hanna. Du warst damals noch so jung. Als ich dich kennenlernte, hatte ich nichts als den Wunsch, dich glücklich zu machen. Das Schicksal ist damals gar zu hart mit dir umgesprungen.«
Hanna atmete tief auf. »Es ist vorbei, Klaus. Jetzt bin ich mit Antje glücklich bei dir. Du hast uns alles gegeben, was wir entbehren mussten. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.«
»Ach, Hanna, wer redet von Dank? Erst an deiner Seite habe ich den Sinn des Lebens erkannt. Der berufliche Erfolg, die Genugtuung, keinen Schritt vom geraden Weg abzuweichen und seinen Namen jederzeit reinzuhalten, genügt nicht. Nein, ein Mann braucht mehr. Du hast mir das geschenkt, Hanna. Erst durch die Liebe wird unser Dasein reich und erfüllt.«
Hanna sah ihm ernst in die Augen. »Du hast so hohe Ideale und stellst viele Ansprüche. Genügt dir denn eine ehemalige Krankenschwester, die mit einem Tierpfleger aus dem Zoo verheiratet war?«
Der Professor sprang auf und legte die Hände auf Hannas Schultern. »Als ob es auf den Beruf des Menschen ankäme, Hanna. Kennst du mich so wenig? Ein Generaldirektor, der mit dem Gesetz in Konflikt gerät, ist in meinen Augen ein gemeiner Verbrecher, mit dem ich nichts zu tun haben möchte, es sei denn, er braucht meine Hilfe in meiner Eigenschaft als Arzt. Aber gegen den rechtschaffenen Tierpfleger Georg Pflug, den du geliebt hast, habe ich nicht das Geringste einzuwenden. Er war gut zu dir. Als er sich entschloss, mit Wissenschaftlern nach Afrika zu gehen, um die eingefangenen Tiere zu betreuen, bewies er, dass er weiterkommen wollte. Tragisch genug, dass sein Leben so früh endete. Für mich allerdings war es wohl ein vom Schicksal gesetztes Zeichen.« Er lächelte. »Du brauchst dich deiner ersten Ehe nicht zu schämen, Hanna. Georg Pflug war ein Ehrenmann, und Antje kann stolz auf ihren Vater sein, falls sie später einmal erfahren sollte, dass ich sie adoptiert habe.«
Hanna senkte die Lider. Ihr Gesicht wurde noch um einen Schein blasser. Doch Klaus Martell bemerkte nichts davon. Er strich ihr über das krause dunkle Haar, das Antje von ihr geerbt hatte. »Weißt du was?«, rief er halblaut aus. »Wir werden verreisen. Es wird uns beiden guttun, einmal andere Menschen um uns zu sehen und neue Eindrücke zu sammeln. Ich kann mich ganz gut für einige Wochen freimachen und werde mich gleich morgen erkundigen, wohin man um diese Zeit reisen kann.«
»Reisen, ja, das wäre wunderbar, Klaus. Wie ein ganz neuer Anfang. Aber was soll aus Antje werden? Sie kann hier nicht allein bleiben.«
»Stimmt. Daran habe ich nicht gedacht. Schwester Inge hat nicht genügend Zeit, um das Kind zu betreuen und zu beaufsichtigen. Außerdem möchte ich nicht, dass Antje ständig in der Klinik herumhockt.«
»Man müsste ein Kinderheim ausfindig machen«, überlegte Hanna. »Ich könnte Sigi anrufen. Sie hatte ihre Zwillinge im letzten Jahr in einem Heim untergebracht, als sie sich operieren lassen musste. Natürlich müsste man sicher sein, dass Antje sich dort wohlfühlt und dass sie in die Schule gehen kann.«
Die beiden beleuchteten den Plan von den verschiedensten Seiten. Sie fanden es verlockend, den Alltag und die Bitternis der eben erlebten Enttäuschung hinter sich zu lassen. Der spontan gefasste Vorsatz des Professors nahm festere Gestalt an. Er wollte sich mit einem Reisebüro in Verbindung setzen, während Hanna Erkundigungen über das Kinderheim einziehen sollte, in dem die Zwillinge ihrer Freundin Aufnahme gefunden hatten.
Der Professor erhoffte sich von der Abwechslung ein Verblassen der Erinnerungen an das, was eben geschehen war. Sein klarer Verstand sagte ihm, dass eine Fehlgeburt keine Katastrophe war. Selbst dann nicht, wenn seine Ehe doch kinderlos bleiben sollte, er liebte Antje innig und benötigte nicht unbedingt einen leiblichen Sohn oder eine Tochter, um seine Männlichkeit sichtbar bestätigt zu sehen. Derartiges Denken erschien ihm recht einfältig, nachdem er seinen anfänglichen Kummer überwunden hatte.
Klaus summte vergnügt eine Melodie vor sich hin, als er in die Küche ging, um das Abendbrot für seine kleine Familie herzurichten. Das war ein Amt, das er seit Hannas Klinikaufenthalt übernommen hatte und dem er sich mit besonderer Hingabe widmete.
Eine halbe Stunde später rief er Antje aus dem Garten, wo sie mit ein paar Kindern aus der Nachbarschaft gespielt hatte, ins Haus. Sie war heiß und schmutzig, ein fröhliches, unkompliziertes Kind. Das von ihrem Vati aufgetischte Mahl mundete ihr köstlich. Zwischen jedem Bissen plauderte sie und berichtete von den aufregenden Ereignissen des hinter ihr liegenden Tages.
»Ein Glück, dass wir Antje haben«, sagte der Professor später, als sie bereits zu Bett gegangen waren. »Dieses Kind ist ein Geschenk des Himmels.«
Hanna schmiegte sich in die Arme ihres Mannes.
»Du zitterst?«, fragte er bestürzt. »Ist dir kalt?«
»Ein wenig. Aber es wird gewiss gleich besser, Klaus.«
Er hielt sie, bis sie eingeschlafen war. Dann legte auch er den Kopf zurück und schloss die Augen.
*
Es war ein klarer Spätsommermorgen, der schon den Herbst ahnen ließ. Denise und Alexander von Schoenecker saßen mit ihren Söhnen am sonntäglich gedeckten Frühstückstisch. Nick bestrich sich soeben das dritte hausgebackene Brötchen mit Butter und Honig. Er befand sich mal wieder im Wachsen und hatte von früh bis abends Hunger.
»Heute Nachmittag kommen Prof. Martell und seine Frau, um uns ihre Tocher zu bringen«, berichtete Denise. »Es ist dir doch recht, Alexander, wenn ich das Ehepaar zum Tee hierher nach Schoeneich bitte?«
Der Gutsherr von Schoeneich lächelte seiner schönen dunkelhaarigen Frau zu. »Selbstverständlich, Isi. Auf diese Weise verbringst du wenigstens nicht den ganzen Sonntag drüben in Sophienlust.«
»Wenn sie doch nur am Sonntag Zeit haben, Vati«, wandte Nick ein. Er fühlte sich stets verpflichtet, sein geliebtes Sophienlust in Schutz zu nehmen.
»Wie alt ist die Neue?«, warf Henrik vorlaut ein. »Kommt sie in meine Klasse?«
»Sie ist acht Jahre alt. Möglich, dass sie im gleichen Schuljahr ist wie du, Henrik.« Denise nickte ihrem Henrik zu. »Allzu lange wird sie aber nicht bleiben.«
»Kein Ehekrach bei ihren alten Herrschaften? Meist steckt doch so etwas dahinter, wenn ein Kind bei uns abgegeben wird«, ließ sich der fünfzehnjährige Nick respektlos und altklug vernehmen, was ihm einen warnenden und vorwurfsvollen Blick seines Vaters eintrug.
»Frau Martell war sehr krank. Deshalb hat sie eine Erholungsreise dringend nötig, mein Junge.«
»Weißt du, wohin sie fahren wollen?«, lenkte Nick geschickt von seiner kleinen Entgleisung ab.
»Sie planen eine Mitttelmeerkreuzfahrt. Dazu hätten wir auch mal Lust, nicht wahr, Isi?«
»Aber leider keine Zeit und Möglichkeit, Alexander«, gab Denise heiter zurück. »Es wäre mir gar nicht lieb, so ganz von Schoeneich und Sophienlust abgeschnitten zu sein, wie das bei einer Seereise nun mal der Fall ist.«
»Vor allem Sophienlust, nicht wahr?«, neckte ihr Mann sie. »Den Kindern drüben im Heim gilt morgens dein erster Gedanke und abends dein letzter, ob du es nun zugeben willst oder nicht.«
Denise ergriff die Rechte ihres Mannes. »Ich gebe mir Mühe, weder dich und meine eigene Familie noch das Kinderheim zu kurz kommen zu lassen, Alexander.«
»Es war nur ein Scherz, Liebste. Ich weiß, dass ich keinen Grund zur Eifersucht habe. Außerdem bin ich selbst kaum weniger an den Ereignissen in Sophienlust interessiert und innerlich beteiligt als du.«
»Wenn du mal sehr alt bist, Mutti, kannst du dich hier in Schoeneich mit Vati zur Ruhe setzen«, erklärte Nick gönnerhaft. »Dann übernehme ich Sophienlust, und Henrik bewirtschaftet Schoeneich. Vielleicht auch Sascha. Oder beide zusammen.«
»Das hat noch gute Weile«, warf Alexander vergnügt ein. »Vorläufig ist unsere Mutti noch jung. Es ist ein Segen, dass sie dein Erbe so gut verwaltet, Nick. Wir müssen ihr dafür dankbar sein.«
»Wir haben sowieso die beste Mutti der Welt«, ließ sich Henrik vernehmen. Er stand auf und schmiegte sich eng an Denise. Mit seinem vom Honig ein wenig klebrigen Mund küsste er seine Mutter herzhaft und schallend.
»Dürfen wir nach Sophienlust?«, fragte Nick, der seine Mahlzeit nun beendet hatte. »Ich habe Pünktchen und Irmela versprochen, mit ihnen heute auszureiten, wenn gutes Wetter ist.«
Selbstverständlich wurde den Brüdern diese Erlaubnis erteilt. Das Kinderheim, Nicks Erbe nach dem Vermächtnis seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin, übte stets eine besondere Anziehungskraft auf Nick und Henrik aus. Nick nahm regen Anteil an allem, was Sophienlust betraf. Dankbaren Herzens sah Denise, dass er in die ihm vom Schicksal bestimmte Aufgabe mehr und mehr hineinwuchs.
Nach dem Willen von Nicks Urgroßmutter war aus dem früheren Herrenhaus des schönen Gutes eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder geworden. Aber auch Erwachsene fanden dort gelegentlich Aufnahme. Das vorhandene Vermögen erlaubte es auch, Bedürftige ohne Rücksicht auf deren finanzielle Verhältnisse aufzunehmen.
Vom Fenster aus blickte das Ehepaar von Schoenecker den beiden Buben nach, die mit ihren Fahrrädern in Richtung Sophienlust entschwanden. Alexander schlang den Arm um Denise, küsste sie und sagte: »Mir kommt es vor, als hätten wir erst gestern geheiratet. Wenn ich mir unseren Henrik anschaue, will es mir einfach nicht in den Sinn, dass er inzwischen ein Schuljunge geworden ist.«
»Nick war fünf, als Sophie von Wellentin starb und ihn als Universalerben einsetzte, Alexander. Wenn du rechnen kannst …«
»Schau in den Spiegel, Denise. Du bist so schlank wie ein junges Mädchen, hast kein einziges graues Haar, und deine Augen haben nichts von ihrem wunderbaren Glanz verloren.« Er küsste sie noch einmal. »Ich liebe dich, Denise. Vielleicht sage ich es dir nicht oft genug. Mit dir ist die Freude am Dasein in mein Leben zurückgekehrt. Was du für meine großen Kinder getan hast, werde ich dir niemals vergessen.«
»Es sind unsere Kinder, nicht anders als Nick und Henrik«, verbesserte Denise ihn flüsternd. »Ich mache da schon lange keinen Unterschied mehr. Zu danken habe ich dir, Alexander. Nick erblickt in dir den Vater. Ich weiß nicht, ob ich allein immer mit unserem lebhaften, eigenwilligen Filius fertig geworden wäre, der seinen leiblichen Vater nie gesehen hat.«
»Danken wir gemeinsam dem Schicksal, das uns zusammengeführt hat, nachdem jeder von uns den geliebten Partner durch den Tod verloren hatte, Denise. Übrigens, um auf das Gespräch am Frühstückstisch zurückzukommen. Hat Nick mal wieder eine besondere Nase? Stimmt etwas nicht bei Prof. Martell und seiner Frau? Eine Mittelmerkreuzfahrt macht nicht unbedingt gleich die Heimunterbringung des Töchterchens erforderlich.«
Denise lachte. »Frau Martell hat mir ausführlich geschrieben. Da sie keine Hausangestellte hat, wäre die kleine Antje darauf angewiesen in der Klinik ihres Mannes versorgt zu werden. Beide Eltern hielten eine solche Regelung nicht für gut. Da die Familie außerdem mit dem Schock, den die Fehlgeburt für alle bedeutete, noch nicht ganz fertig geworden ist, wünschte sich Frau Martell für Antje einen Milieuwechsel und eine fröhliche Kameradschaft mit anderen Kindern.«