Valentins glücklichste Stunde - Aliza Korten - E-Book

Valentins glücklichste Stunde E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Sie war schon unendlich lange unterwegs. Gesa Cardini hatte eine möglichst große Entfernung zwischen sich und Padua legen wollen. Doch nun spürte sie die ungeheure Anstrengung und wollte nach einem Nachtquartier Ausschau halten. Deshalb war sie von der Autobahn abgebogen und befand sich nun auf einer schmalen Landstraße. In der Dunkelheit hatte sie auf dem letzten Hinweisschild gelesen, dass der nächste Ort Bachenau heiße. Hinter ihr saß Valentin im Auto, ihr blonder kleiner Bub. Er war unterwegs zweimal fest eingeschlafen, doch jetzt hielt er mit wachen Augen Ausschau, weil Gesa ihm versprochen hatte, dass die Fahrt gleich zu Ende sein solle. Gesa war am Ende ihrer Kräfte. Ihre Augen brannten, und ihre Hände umklammerten krampfhaft das Steuer. »Mutti … Was machst du denn?«, schrie der Bub plötzlich entsetzt. Da war es schon zu spät. Für den Bruchteil einer Sekunde war Gesa von der lähmenden Müdigkeit übermannt worden. Ihr Wagen geriet ins Schleudern, als sie versuchte, ihn wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Einen Baum streifte der Wagen, gegen den nächsten prallte er frontal. Ein Krachen und Splittern von Glas – dann plötzlich eine unheimliche Stille. Die hintere Wagentür war aufgerissen worden, als der Wagen den ersten Baum gestreift hatte. Beim Aufprall auf den zweiten Baum war der kleine Valentin in hohem Bogen aus dem Wagen geschleudert worden und unsanft auf der Grasnarbe am Rande der Straße gelandet. Zuerst wagte der Fünfjährige es nicht, sich zu rühren. Dann begann er leise zu weinen.

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Sophienlust Bestseller – 148 –

Valentins glücklichste Stunde

Unveröffentlichter Roman

Aliza Korten

Sie war schon unendlich lange unterwegs. Gesa Cardini hatte eine möglichst große Entfernung zwischen sich und Padua legen wollen. Doch nun spürte sie die ungeheure Anstrengung und wollte nach einem Nachtquartier Ausschau halten.

Deshalb war sie von der Autobahn abgebogen und befand sich nun auf einer schmalen Landstraße. In der Dunkelheit hatte sie auf dem letzten Hinweisschild gelesen, dass der nächste Ort Bachenau heiße.

Hinter ihr saß Valentin im Auto, ihr blonder kleiner Bub. Er war unterwegs zweimal fest eingeschlafen, doch jetzt hielt er mit wachen Augen Ausschau, weil Gesa ihm versprochen hatte, dass die Fahrt gleich zu Ende sein solle.

Gesa war am Ende ihrer Kräfte. Ihre Augen brannten, und ihre Hände umklammerten krampfhaft das Steuer.

»Mutti … Was machst du denn?«, schrie der Bub plötzlich entsetzt.

Da war es schon zu spät. Für den Bruchteil einer Sekunde war Gesa von der lähmenden Müdigkeit übermannt worden. Ihr Wagen geriet ins Schleudern, als sie versuchte, ihn wieder in ihre Gewalt zu bekommen. Einen Baum streifte der Wagen, gegen den nächsten prallte er frontal. Ein Krachen und Splittern von Glas – dann plötzlich eine unheimliche Stille.

Die hintere Wagentür war aufgerissen worden, als der Wagen den ersten Baum gestreift hatte. Beim Aufprall auf den zweiten Baum war der kleine Valentin in hohem Bogen aus dem Wagen geschleudert worden und unsanft auf der Grasnarbe am Rande der Straße gelandet.

Zuerst wagte der Fünfjährige es nicht, sich zu rühren. Dann begann er leise zu weinen. Er setzte sich auf und merkte, dass sein linker Arm schmerzte. Auch die Knie taten ihm weh, und von seiner Stirn rann etwas warm herunter.

»Mutti – komm doch«, rief er ängstlich.

Doch Gesa Cardini antwortete ihrem Sohn nicht.

»Mutti, das Auto ist kaputt. Was machen wir jetzt?«

Nichts rührte sich. Die Scheinwerfer des Wagens waren erloschen. Allmählich gewöhnten sich Valentins Augen an die Dunkelheit.

»Mutti …«

Valentin stützte sich auf den rechten Arm und erhob sich etwas mühsam. Scheu näherte er sich dem Auto. Sein Herz schlug sehr schnell und laut.

»Mutti …«

Nun endlich sah er seine Mutter. Gesa Cardini saß noch auf dem Fahrersitz. Die Frontscheibe war zerborsten. Gesa war über das Lenkrad gesunken. Über ihr Gesicht rann Blut.

»Mutti …«

Valentin kam sich entsetzlich verlassen vor. Mit einem Wehlaut sank er neben dem zertrümmerten Wagen nieder, weil seine Knie ihn nicht länger tragen wollten. Doch er verlor nicht das Bewusstsein. Noch immer konnte er die Umrisse des Autos erkennen. Sie hoben sich deutlich vom Nachthimmel ab.

Eine ganze Weile lag Valentin so. Er weinte ein bisschen, dann starrte er voller Angst in die Dunkelheit. Plötzlich stockte ihm der Atem. Ein Schatten näherte sich – ein Schatten auf vier Beinen. War es der Wolf aus dem Märchen? Valentin hatte auf einmal schreckliche Angst. Er wagte es nicht, sich zu rühren.

Der Schatten kam unaufhaltsam näher. Nun konnte Valentin schon erkennen, dass es ein großer Schäferhund mit einem Halsband war. Er lahmte ein wenig. Jetzt berührte die kühle schnuppernde Hundenase den Jungen.

Valentin raffte all seinen Mut zusammen. Das Tier trug ein Halsband, also konnte es nicht der Wolf sein. Deshalb brauchte er sich auch nicht zu fürchten.

Vorsichtig streckte Valentin die rechte Hand aus und streichelte den klugen Kopf des Tieres. »Bist ein guter Hund«, flüsterte er mit nicht ganz sicherer Stimme. »Aber du kannst uns auch nicht helfen. Kommt denn hier niemand vorüber? Wir wollten ins Gasthaus und dort schlafen, Hund. Aber nun ist ein Unglück passiert.«

Der Hund blaffte leise. Es klang beinahe so, als habe er verstanden, was Valentin gesagt hatte.

»Kannst du die Polizei holen, Hund? Oder ein Krankenauto für meine Mutti? Sie muss bestimmt ins Krankenhaus.«

Der Hund beschnupperte den Jungen noch einmal, blaffte und trottete dann davon. Deutlich sah Valentin, dass er auf einem Bein hinkte. »Wohin gehst du jetzt, Hund?«, rief er. Doch da hatte die Nacht den Schatten schon verschluckt.

Valentin schloss die Augen. Er konnte den Anblick des zertrümmerten Autos und den seiner armen Mutter nicht länger ertragen.

»Mutti …« Ganz, ganz leise kam der Ruf über die Kinderlippen. Dann versank das verängstigte, erschöpfte Bübchen in eine wohltuende Ohnmacht.

*

Andrea von Lehn hob lauschend den Kopf von ihrem Kissen. Da war das Geräusch wieder, durch das sie aufgewacht war. Ganz deutlich vernahm sie das leise Kratzen an der Haustür. Nun bellte ihre schwarze Dogge einmal leise.

Andrea lächelte. Wenn Severin sich so verhielt und keinen Alarm schlug, dann konnte da draußen nur Munko an der Tür scharren, der Schäferhund. Munko war früher einmal Polizeihund gewesen. Er war besonders intelligent und sehr schön. Leider hatte er sich eine Verletzung zugezogen, sodass er lahmte und für den Dienst bei der Polizei nicht mehr geeignet war. Im Tierheim Waldi & Co. hatte er schließlich eine neue Heimat und liebevolles Verständnis für seine Polizeimanieren gefunden. Noch immer fühlte er sich für alles und jedes verantwortlich. Er unternahm Streifgänge nach eigenem Ermessen und sorgte auf seine Weise auch dann für Ordnung, wenn die Sache ihn nichts anging.

Zwischen der Dogge Severin und Munko hatte es anfangs Eifersüchteleien gegeben, denn auch Severin hielt es für sein Vorrecht, das weitläufige Anwesen des Tierarztes Dr. Hans Joachim von Lehn samt Wohnhaus, Tierheim, Freigehege und Garten zu beschützen. Doch nach und nach war zwischen den beiden Hunden eine Art Abkommen zustande gekommen. Severin versah sozusagen den Innendienst, während Munko sich auf seine Streifgänge konzentrierte. Schon so manches Mal hatte der Polizeihund das junge Ehepaar durch seine Findigkeit und Klugheit überrascht.

Deshalb gab Munkos ungewohntes Verhalten Andrea auch zu denken. Sie wartete, und als sich das Scharren wiederholte, rüttelte sie ihren fest schlafenden Mann an der Schulter.

»Hans-Joachim, du musst aufwachen, Munko ist draußen.«

Der Tierarzt seufzte einmal auf und drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen.

»He, das geht nicht, du sollst aufwachen«, rief Andrea etwas lauter. »Wie kann man nur so faul sein!«

Nun öffnete Hans-Joachim die Augen und griff mit der Hand zum Schalter der Bettlampe. »Was ist denn los, Andrea?«, fragte er schlaftrunken. »Telefon?«

»Du hast einen gesegneten Schlummer«, sagte die junge Frau lachend. »Munko ist vor der Tür. Er gibt keine Ruhe. Schau lieber einmal nach.«

»Munko macht sich wieder einmal wichtig«, brummte Hans-Joachim. »Ich habe keine Lust, jetzt aufzustehen, um mir von unserem verhinderten Polizeiaufseher einen alten Topf oder einen halb vermoderten Hut präsentieren zu lassen.«

»Dann muss ich eben nachsehen«, erklärte Andrea. »Man kann nie wissen, was Munko will. Dass er uns schon einige Male mit gutem Grund alarmiert hat, kannst du nicht abstreiten.«

Dr. Hans-Joachim von Lehn war nun vollends wach geworden. Er hielt seine temperamentvolle Frau am Arm fest, als sie aus dem Bett springen wollte. »Bleib hier, Andrea. Ich lasse dich nicht allein mitten in der Nacht vor die Tür gehen. Ich werde selbst nachsehen, was Munko will.«

Der Doktor seufzte einmal abgrundtief, dann schwenkte er die langen Beine aus dem Bett, fuhr in die Pantoffeln und verließ das eheliche Schlafzimmer. Andrea saß aufrecht im Bett, hatte die Arme um die angewinkelten Knie geschlungen und wartete.

Hans-Joachim schloss die Tür auf. Draußen stand Munko und blaffte kurz und leise. Dann fasste er behutsam nach dem Stoff der Pyjamahose des Tierarztes und zog ein wenig daran.

»Mitkommen soll ich?«, fragte Hans-Joachim und legte die Hand auf Munkos Kopf. »Hast du etwas gefunden? Sag mal, hat das nicht vielleicht Zeit, bis es hell wird? Ich möchte nämlich schlafen, Munko.«

Der Schäferhund legte den Kopf schief und zerrte wieder an der Schlafanzughose.

»Munko – ist es wirklich so wichtig?«

Nun sprang Munko sogar an seinem Herrn in die Höhe und bellte dabei ziemlich laut. Dann rannte er ein Stück weg, um sogleich zurückzukommen und den Tierarzt unmissverständlich aufzufordern, ihm zu folgen.

»Du lässt mir ja doch keine Ruhe.« Hans-Joachim ergab sich in sein Schicksal. »Wenn ich nicht mitgehe, wirst du so laut bellen, dass unser Peterle aufwacht. Aber ein paar Minuten musst du warten, denn ich will mir etwas anziehen.«

Dafür hatte Munko kein Verständnis. Während der Tierarzt ins Schlafzimmer zurückkehrte, um sich eilig anzukleiden und Andrea zu informieren, setzte er sein Kratzen und verhaltenes Bellen vor der Haustür fort.

»Wer weiß, wohin er dich führt, Hans-Joachim«, gab Andrea zu bedenken. »Soll ich den Wagen nehmen und dir langsam folgen?«

»Querfeldein und mitten durch den Wald?«, fragte der Tierarzt achselzuckend. »Wir haben doch keine Ahnung, wohin Munko mich führen will.«

»Es käme auf einen Versuch an, Hans-Joachim.«

Der Tierarzt schüttelte den Kopf. »Bleibe erst einmal hier, Andrea. Wenn nötig, können wir noch immer den Wagen holen.«

Nebenan begann ein Kind zu weinen. Andrea erhob sich sofort. »Nun ist das Peterle doch aufgewacht. Jetzt muss ich hierbleiben.« Sie eilte ins Kinderzimmer, um ihren kleinen Buben zu beschwichtigen.

Hans-Joachim ergriff eine Taschenlampe und verließ das Haus. Munko lief zielstrebig voraus, sodass der Tierarzt lange Schritte machen musste, um das Tempo einhalten zu können Ab und zu blieb der Hund stehen und vergewisserte sich, dass sein Herr ihm auch folgte.

Der Weg führte nicht über Stock und Stein, sondern aus dem Ort hinaus auf die Landstraße. Nach etwa zehn Minuten schoss Munko davon, um aus einiger Entfernung sein Gebell erklingen zu lassen. Dieses Verhalten zeigte Hans-Joachim an, dass Munko bereits am Ziel war.

Wenig später entdeckte der Tierarzt das verunglückte Auto, den Jungen und dessen schwerverletzte Mutter.

»Du meine Güte«, entfuhr es dem Doktor. »Brav, Munko! Das hast du gut gemacht.«

Der Schäferhund verhielt sich nun ruhig und beobachtete seinen Herrn aufmerksam. Zunächst beugte dieser sich zu dem Kind hinab. Als er den Jungen aufhob, um ihn von der Straße weg ins Gras zu betten, schlug Valentin die Augen auf, weil sein Arm wieder schmerzte.

»Wir …, wir sind gegen den Baum gefahren«, stammelte der Kleine. »Meine Mutti sitzt da im Auto. Ich glaube, sie muss ins Krankenhaus.«

»Ja, mein Junge, das schaut mir auch so aus«, erwiderte Hans-Joachim besorgt. »War der Hund schon einmal hier?«

Valentin bestätigte es. »Zuerst hatte ich Angst. Aber dann merkte ich, dass er ein guter Hund ist.«

»Er heißt Munko und hat mich aus dem Bett geholt. Jetzt soll er bei euch bleiben, bis ich Hilfe hole. Ich werde dort an dem Haus klingeln. Das ist nicht so weit wie bis zu mir nach Hause. Die Leute erlauben mir gewiss zu telefonieren.«

»Kommt dann die Polizei – mit Blaulicht und so?« Valentin vergaß für einen Augenblick seine Schmerzen.

»Die Polizei und vor allem ein Krankenwagen. Also – es dauert nicht lange. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Munko wird keinen Menschen an euch heranlassen.« Er wandte sich Munko zu. »Platz, Munko«, sagte er. »Gib acht und warte hier, bis ich wiederkomme.«

Munko legte sich neben dem Jungen ins Gras, den schönen Kopf wachsam erhoben. Er verstand ganz genau, was seine Aufgabe war.

Hans-Joachim trabte davon. Er hatte zuvor die verletzte junge Frau flüchtig untersucht und sie etwas besser gelagert. Sie ohne Hilfe aus dem Auto zu heben, das wagte er nicht, um sie nicht durch eine falsche Bewegung zu gefährden.

Glücklicherweise kannte Dr. von Lehn die Bewohner des am nächsten gelegenen Hauses. Sie besaßen mehrere Perserkatzen und hatten diese schon mehrmals zu ihm in die Praxis gebracht. Dennoch dauerte es eine ganze Weile, ehe man ihm öffnete und er sein Anliegen vorbringen konnte.

Der Hausherr erbot sich geistesgegenwärtig, das erforderliche Telefongespräch zu übernehmen, sodass Hans Joachim sofort an die Unfallstelle zurückkehren konnte. Er fand Munko so neben dem Jungen, wie er die beiden verlassen hatte.

»Brav, Munko. Das hast du wieder gut gemacht. Und ich wollte dir zuerst nicht glauben.«

Munko legte den Kopf schief und bellte einmal kurz, als wollte er sagen, siehst du, ich bin eben ein tüchtiger Polizeihund. Auf mich kann man sich verlassen.

Hans-Joachim fühlte den Puls der Verunglückten. Dass sie schwer verletzt war, konnte er erkennen. Der Pulsschlag erwies sich indessen als verhältnismäßig kräftig. Das war eine gewisse Beruhigung.

»Was ist mit meiner Mutti?«, fragte der Bub, als sich der Tierarzt zu ihm ins Gras setzte, um auf das Eintreffen der Polizei und des Krankenwagens zu warten.

»Genau weiß ich es nicht. Das wird man erst im Krankenhaus feststellen. Du musst auch zum Arzt.«

»Ja, mein Arm tut weh.«

»Warte, lege dich hin. So, das ist bequem. Tut dir jetzt noch etwas weh?«

»Nur die Knie. Sie bluten.«

»Das ist nicht so schlimm. Willst du mir jetzt sagen, wie du heißt?«

»Valentin Cardini.«

»Und wie alt bist du?«

»Fünf Jahre.«

»Weißt du auch den Namen deiner Mutti?«

»Gesa Cardini heißt sie. Wir wollten zu meinem Großvati, aber nun ist das Auto kaputt.«

»Woher kommt ihr denn, Valentin?«

»Aus Padua.«

»Hör mal, das liegt in Italien, Valentin. Stimmt das wirklich?«

»Doch, es stimmt. Ich verstehe Italienisch und Deutsch. Mein Vati ist Italiener. Aber wir wollten nicht mehr bei ihm bleiben.«

»Wo wohnt denn der Großvater?«

»Das …, das habe ich vergessen. In Deutschland. Aber es ist noch ziemlich weit von hier zu fahren. Deshalb wollte Mutti, dass wir in einem Gasthof schlafen. Aber jetzt …«

Valentin brach ab und schluckte einmal. Dann rannen ihm dicke Tränen über die Bäckchen.

»Brauchst nicht zu weinen, Valentin. Fällt dir vielleicht der Name deines Großvaters ein?«

»Doch, den kenne ich. Gustav Ulmer heißt Großvati.«

»Ich denke, deine Mutti wird uns dann weiterhelfen können, Valentin. Es ist ein Glück, dass unser guter Munko euch gefunden hat. Wer weiß, wie lange es gedauert hätte, bis ein Wagen vorbeigekommen wäre.«

»Wer bist du?«, fragte der Junge scheu.

»Ich bin Dr. Hans-Joachim von Lehn.«

»Wenn du ein Doktor bist, musst du doch meine Mutti schnell gesund machen können.«

»Mein Beruf ist Tierarzt, Valentin. Immerhin verstehe ich so viel von Medizin, dass ich bei dir einen gebrochenen Arm vermute und bei deiner Mutti auf Gehirnerschütterung, Prellungen und Brüche tippe.«

»Sie soll ganz schnell gesund werden, Onkel Doktor. Wir müssen doch zu meinem Großvati.« Nun klang die Kinderstimme recht zaghaft und kläglich. »Muttis Gesicht sah so schrecklich aus«, fügte der Bub leise hinzu.

Hans-Joachim strich sanft über Valentins Haar. Er stellte fest, dass die geringfügige Platzwunde über der Augenbraue bereits nicht mehr blutete.

»Hab keine Angst, Valentin«, tröstete er den Jungen. »Es dauert sicherlich nicht allzu lange. Horch mal – ich glaube, da kommt schon die Polizei.«

Tatsächlich war in der Ferne deutlich das Martinshorn zu hören. Ambulanz und Polizei trafen gleichzeitig ein. Hans-Joachim legte kraftvoll und vorsichtig mit Hand an, um Gesa Cardini aus ihrem Wagen zu befreien. Sie erwachte nicht aus ihrer tiefen Ohnmacht, als man sie auf die Trage hob, die in den Krankenwagen geschoben wurde.

»Der Bub muss auch mit«, sagte der Tierarzt. »Ich nehme an, er hat sich den linken Arm gebrochen.«

Die beiden Sanitäter hoben Valentin behutsam auf und trugen ihn ebenfalls in den Wagen.

»Auf Wiedersehen, Valentin«, sagte der Tierarzt freundlich. »Ich wünsche dir viel Glück. Morgen werde ich mich in Maibach erkundigen, wie es dir und deiner Mutti geht.«

»Wiedersehen, Onkel Doktor.«

Der Krankenwagen wendete und fuhr davon. Der federführende Polizeibeamte, der sich schon einige Notizen gemacht hatte, wandte sich an Hans-Joachim, um von ihm Einzelheiten über den Unfall zu erfragen.

»Ich kann Ihnen wenig mitteilen, Herr Wachtmeister«, sagte der Tierarzt achselzuckend. »Unser Munko hat die Verunglückten gefunden und mich aus dem Bett geholt. Der Junge hat mir aber seinen und seiner Mutters Namen genannt. Er behauptet, sie kämen aus Padua. Das wird man nachprüfen müssen. Im Übrigen klang das, was der Junge sagte, ein wenig so, als befänden sich Mutter und Sohn auf einer Reise ohne Wiederkehr«, erinnerte er sich. »Wir wollten nicht bei meinem Vati bleiben – ja, so drückte sich der Junge aus. Es wäre also wohl richtiger, wenn man versuchte, den Großvater Ulmer ausfindig zu machen.«

Der Beamte notierte sich auch das. »Vielleicht hat Gustav Ulmer seine Tochter und seinen Enkel erwartet und gibt von sich aus eine Vermisstenmeldung auf. Das würde die Sache vereinfachen.«

Nachdem der gewissenhafte Beamte auch noch die Telefonnummer und Adresse des Tierarztes aufgeschrieben hatte, waren die Formalitäten erledigt.

»Sollen wir Sie zurückfahren, Herr Doktor?«, erbot sich der Wachtmeister. »Ihren superschlauen Hund nehmen wir auch mit.«

Hans-Joachim bedankte sich und nahm das Anerbieten an. »Munko war früher bei der Polizei«, erzählte er unterwegs. »Er ist sozusagen ein Kollege von Ihnen. Dass er nichts verlernt hat, beweist er immer wieder.«

Die beiden Beamten lachten. Sie nahmen dem Doktor das Versprechen ab, Munko mit einer dicken Wurst zu belohnen.

»Das hätte meine Frau ohnehin getan«, versicherte Hans-Joachim vergnügt. »Hoffen wir, dass Frau Cardini nicht gar zu schwer verletzt ist. Ihr Gesicht sah schlimm aus, aber das ist ja nur äußerlich. Ob sie einen Schädelbruch erlitten hat, werden die Ärzte im Krankenhaus feststellen.«

»Sie ist frontal gegen den Baum gefahren«, meinte der eine der beiden Polizisten nachdenklich. »Könnte sein, dass sie am Steuer eingeschlafen ist. Das sind meist schwere Unfälle. Wir sorgen dafür, dass der Wagen bis zum Morgen abtransportiert wird. Zu reparieren ist er nicht mehr.«

»Ein Auto lässt sich ersetzen«, erwiderte der Tierarzt ernst, »aber eine Mutter niemals.«

Sie hatten das Anwesen der Familie von Lehn erreicht. Hans-Joachim stieg aus, und Munko sprang ebenfalls aus dem Wagen. Auf dem Grundstück schlugen die Hunde an wegen des fremden Autos.

»Schon gut, schon gut«, beschwichtigte der Tierarzt die aufgeregten Tiere. »Ich bin es doch. Das Polizeiauto fährt ja schon wieder ab.«

Die Beamten hoben grüßend die Hände, ihr Wagen setzte sich wieder in Bewegung, und die Hunde beruhigten sich.

Doch nun erklang vom Tierheim her eine tiefe Männerstimme. »Ist etwas passiert, Herr Doktor? Soll Janosch helfen?«