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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Andrea von Lehn stand vor dem Schaufenster einer Boutique und liebäugelte mit einem bildschönen Mantel. Es war ein lang geschnittenes, elegantes Modell. Bißchen teuer, Andrea. Aber hübsch ist er. Wirklich sehr hübsch. Die gertenschlanke junge Frau ging weiter und bemühte sich, den Mantel, der es ihr angetan hatte, zu vergessen. Ziellos bog sie um eine Ecke, dann um eine weitere. Zwar kannte sie sich in Stuttgart einigermaßen aus, doch stellte sie nun fest, daß sie in dieser Straße noch nie zuvor gewesen war. Plötzlich erregte ein Schild ihre Aufmerksamkeit. Heute Versteigerung, stand da. Andrea hatte noch nie einer Auktion beigewohnt. Ihre Neugier erwachte. Da sie Zeit hatte, betrat sie das Haus nach einigem Zögern. Verrückt, dachte sie dabei. Was habe ich hier eigentlich verloren? Doch nun war sie einmal da und wollte nicht wieder umkehren. In einem geräumigen Saal waren Stuhlreihen aufgestellt. Über die Gegenstände, die hier versteigert werden sollten, lagen Listen mit Wertangaben aus. Andrea wählte einen Platz ziemlich weit hinten. Sie wollte ja nur ein bißchen zuhören und interessierte sich weder für ein Kaffee-Service, Kopenhagen, zwölf Personen, noch für drei Couchgarnituren, hundert Paar Wildlederhandschuhe, in Farbe und Größe sortiert, dreißig Mundharmonikas, japanisches Fabrikat, diverse Fotoausrüstungen, Perlenketten, Ringe oder anderen Schmuck. Auch stand ihr Sinn nicht nach Ölgemälden oder anderen Kunstgegenständen, die auf der Liste aufgeführt waren. Sie wunderte sich, was für unterschiedliche Angebote es gab. Die Liste umfaßte mehrere Seiten. Es war unmöglich, alles zu lesen. Auch Fernsehgeräte, elektrische Küchenmaschinen, echte Teppiche, Tafelsilber sowie Sportgeräte und sogar ein fahrbarer Verkaufsstand für Würstchen und
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Seitenzahl: 151
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Andrea von Lehn stand vor dem Schaufenster einer Boutique und liebäugelte mit einem bildschönen Mantel. Es war ein lang geschnittenes, elegantes Modell.
Bißchen teuer, Andrea. Aber hübsch ist er. Wirklich sehr hübsch.
Die gertenschlanke junge Frau ging weiter und bemühte sich, den Mantel, der es ihr angetan hatte, zu vergessen. Ziellos bog sie um eine Ecke, dann um eine weitere. Zwar kannte sie sich in Stuttgart einigermaßen aus, doch stellte sie nun fest, daß sie in dieser Straße noch nie zuvor gewesen war. Plötzlich erregte ein Schild ihre Aufmerksamkeit. Heute Versteigerung, stand da.
Andrea hatte noch nie einer Auktion beigewohnt. Ihre Neugier erwachte. Da sie Zeit hatte, betrat sie das Haus nach einigem Zögern. Verrückt, dachte sie dabei. Was habe ich hier eigentlich verloren? Doch nun war sie einmal da und wollte nicht wieder umkehren.
In einem geräumigen Saal waren Stuhlreihen aufgestellt. Über die Gegenstände, die hier versteigert werden sollten, lagen Listen mit Wertangaben aus.
Andrea wählte einen Platz ziemlich weit hinten. Sie wollte ja nur ein bißchen zuhören und interessierte sich weder für ein Kaffee-Service, Kopenhagen, zwölf Personen, noch für drei Couchgarnituren, hundert Paar Wildlederhandschuhe, in Farbe und Größe sortiert, dreißig Mundharmonikas, japanisches Fabrikat, diverse Fotoausrüstungen, Perlenketten, Ringe oder anderen Schmuck. Auch stand ihr Sinn nicht nach Ölgemälden oder anderen Kunstgegenständen, die auf der Liste aufgeführt waren. Sie wunderte sich, was für unterschiedliche Angebote es gab. Die Liste umfaßte mehrere Seiten. Es war unmöglich, alles zu lesen. Auch Fernsehgeräte, elektrische Küchenmaschinen, echte Teppiche, Tafelsilber sowie Sportgeräte und sogar ein fahrbarer Verkaufsstand für Würstchen und Pommesfrites waren zu ersteigern.
Andrea fragte sich, woher diese verschiedenartigen Dinge kommen mochten. Manchmal entdeckte sie bei einem Angebot einen entsprechenden Hinweis. Daraus entnahm sie, daß es sich teilweise um Nachlässe handelte. Es schienen aber auch Wertgegenstände aus Konkursen dabeizusein.
Jetzt erschien der Auktionator und setzte sich dem zahlreichen Publikum gegenüber hinter einen Tisch. Zwei Helfer brachten die ersten Sachen. Mit Spannung verfolgte Andrea, wie für ein kleines Ölgemälde fast zweitausend Euro geboten wurden. Zwei Herren kämpften verbissen um das Bild, bis einer von ihnen aufgab, und der andere den Zuschlag erhielt. Ein Klavier ging innerhalb von zwei Minuten weg, für eine neuwertige Ladeneinrichtung fand sich kein einziger Interessent. Die meisten zur Versteigerung stehenden Gegenstände waren in bestem Zustand und auch wertvoll. Andrea begann zu begreifen, daß es hier für schnell entschlossene Käufer die Möglichkeit gab, etwas sehr billig zu ersteigern. Sie bemerkte auch, daß das Mitbieten für manche Teilnehmer so etwas wie ein Sport war. Sie sah leidenschaftlich gerötete Wangen, hörte Stimmen, die sich vor Aufregung überschlugen.
Andrea beachtete nicht, daß die Zeit verstrich. Sie hatte eigentlich nur für ein paar Minuten zuschauen wollen. Doch nun war sie regelrecht fasziniert und vergaß alles andere. Wenn ich das nachher im Hotel erzähle, lacht Hans-Joachim mich bestimmt aus, ging es ihr flüchtig durch den Sinn. Aber ich finde, so etwas muß man einmal miterlebt haben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, daß ich selber mitbieten würde.
Eine dicke Dame war eben aufgesprungen. Ihre Augen glitzerten. Andrea konnte sie von ihrem Platz aus besonders gut sehen. Sie schien einem Schlaganfall nahe. »Vierhundertfünfzig«, schrie sie hysterisch. Es ging um einen Ring mit einem Rubin, der in Brillanten eingefaßt war. Gewiß hatte er einen weit höheren Wert als nur vierhundert Euro, wie es in der Liste stand. Jemand sagte, er sei so niedrig geschätzt, weil er altmodisch und reparaturbedürftig sei. Außer der Dicken wollten noch drei Leute diesen Ring unbedingt haben. Bei achthundert gab es die Dicke mit einem weinerlichen Aufschrei auf. Sie sank erschöpft auf ihren Stuhl, und Andrea hatte beinahe Mitleid mit ihr. Wie kann man sich so aufregen, dachte sie.
Nach einer Weile schaute Andrea zum ersten Mal auf die Uhr und erschrak. Sie war bereits über eine Stunde hier, ohne daß ihr das bewußt geworden wäre. Ich muß gehen, dachte sie. Doch eben wurde ein entzückender weißer Pudel hereingetragen.
Andrea starrte entgeistert auf den Tisch des Auktionators. Der kleine Hund saß ganz still auf dem Tisch. Er schien sich vor den vielen Menschen und insbesondere vor dem Auktionator sehr zu fürchten.
»Ein Pudel, rasserein, und auch mit Stammbaum. Züchter Hans-Hermann Schlichting. Alter des Tieres fünfzehn Monate, Schätzwert einhundertundsiebzig Euro«, rief der Versteigerer.
Sogar Tiere werden versteigert, dachte Andrea und bekam Herzklopfen, weil der Pudel ihr leid tat.
»Hundertachtzig«, ertönte aus dem Hintergrund die rauhe Stimme eines Mannes.
Plötzlich wurde es seltsam still im Saal. Ein Kind, ein Mädchen von vier bis fünf Jahren, lief nach vorn zum Tisch mit dem Pudel. Der kleine Hund begann freudig zu winseln und wollte zu dem Kind. Doch der Auktionator hielt die grüne Leine fest in der Hand.
»Bitte, nicht weggeben meinen lieben Murli«, bettelte das Kind. »Ich hab’ ihn doch so lieb.« Die Händchen des Kindes liebkosten das Tier. Der Pudel wirkte nun nicht mehr ängstlich, sondern aufgeregt und fröhlich, wie man es normalerweise von einem Pudel erwartete.
Eine Frau kam nach vorn und führte das Kind, das nun bitterlich weinte, auf die Seite. »Du störst hier«, sagte sie kühl. »Wenn du nicht still bist, darfst du nicht bleiben.« Offenbar war es eine Angestellte des Auktionshauses. Unfreundlich war sie nicht, aber ein Herz schien sie auch nicht zu besitzen. Das jedenfalls war Andreas Eindruck, die jetzt ganz bei der Sache war.
»Hundertundachtzig sind geboten«, rief der Mann hinter dem Tisch und schlang die grüne Leine vorsichtshalber fester um sein Handgelenk, da der Pudel mit Macht vom Tisch strebte.
»Zweihundert.« Andrea erschrak über den hellen Klang ihrer eigenen Stimme. Ohne weiter darüber nachzudenken, hatte sie mitgeboten.
»Zweihundertzwanzig«, rief eine Männerstimme aus dem Publikum, und der Mann, der den kleinen Pudel festhielt, wiederholte das Gebot.
»Bietet jemand mehr?«
»Zweihundertfünfzig«, hörte sich Andrea rufen. Dabei dachte sie trotzig, ich weiß zwar nicht, wie der Mann aussieht, aber er bekommt den Pudel nicht.
»Zweihundertsechzig«, konterte der Unbekannte.
»Zweihundertachtzig«, ertönte aus einer völlig anderen Richtung eine Damenstimme.
Auch das noch, dachte Andrea erschrocken. Noch ehe der Auktionator dieses Gebot wiederholen konnte, bot sie dreihundert Euro. Sie war fest entschlossen, den Pudel zu ersteigern.
Es blieb still. Ganz leise hörte man das Kind weinen.
»Dreihundert zum ersten, zum zweiten, zum… dritten.« Der Hammer fiel auf den Tisch. Andrea hatte den Zuschlag für dreihundert Euro erhalten. Du meine Güte, was habe ich gemacht? dachte sie. Doch jetzt war es zu spät, sich Gedanken und Vorwürfe zu machen. Sie holte das Geld aus ihrer Tasche, nahm den verängstigten Pudel auf den Arm und schickte sich an, den Saal so rasch wie möglich zu verlassen.
An der Tür stand das Kind. Andrea sah in ein zorniges kleines Gesicht, das von halblangem blonden Haar eingerahmt wurde. Auf den Wangen waren Tränenspuren zu erkennen. Der Pudel wurde unruhig und begann zu winseln. Unverkennbar strebte er zu dem kleinen Mädchen hin.
»Komm mit«, sagte Andrea leise zu dem Kind. »Es brauchen nicht alle Leute zuzuhören.«
»Ich gehe nicht mit Fremden«, stieß das Kind hervor. »Aber es ist gemein, daß du meinen Murli gekauft hast. Er gehört mir – mir ganz allein.«
Andrea legte Murli in die Arme des Kindes. Glückselig begrüßten die beiden einander. Nun konnte Andrea wenigstens die Tür des Saales hinter sich schließen, aus dem noch immer Gebote zu hören waren. Sie schob das kleine Mädchen im dunklen Flur weiter bis zu einer Fensternische, in der man einigermaßen ungestört war. Murli leckte das kleine Gesicht des Kindes ab und war ganz zappelig vor Freude.
Sobald das Kind wieder zu Andrea aufblickte, sah es von neuem bitterböse aus. »Wirst du wenigstens nett zu ihm sein?«
»Ich habe Muril für dich ersteigert«, erklärte Andrea und strich über das etwas ungepflegte Haar des Kindes. »Willst du mir verraten, wer du bist?«
Große Augen, ein halb geöffneter Kindermund. Dann ein Schluchzen. »Ich… ich darf ihn nicht behalten. Es geht gar nicht.«
Andrea war bestürzt. Sie beugte sich nieder und umarmte das fremde Kind liebevoll und mitfühlend. »Willst du mir alles erzählen, Kleines?« raunte sie dem Mädchen ins Ohr.
»Da, wo wir jetzt wohnen, darf man keinen Hund haben«, stieß die Kleine verzweifelt hervor. »Deshalb.«
»Hm, das ist freilich schlimm. Ich wollte dir so gern helfen. Wie heißt du denn?«
»Nicolette Sandner. Und du?«
»Andrea.«
Nicolette faßte allmählich Zutrauen. Sie streichelte ihren Pudel und sah nun gar nicht mehr böse und feindselig aus.
»Warum hast du den Mann hinter dem Tisch gebeten, Murli nicht zu verkaufen, Nicolette? Jetzt haben wir deinen Pudel, und du kannst ihn nicht behalten. Weißt du vielleicht, was wir nun tun sollen?«
Nachdenklich schob Nicolette die Unterlippe weit nach vorn und zog die Oberlippe hinter ihre blanken weißen Zähnchen. »Ich wußte, daß Murli heute hier ist, Andrea. Da bin ich heimlich gekommen, weil ich ihn noch einmal sehen wollte. Aber als er da vorn auf dem Tisch bei dem fremden Mann saß und sich fürchtete, habe ich überhaupt nicht mehr daran gedacht, daß ich ihn nicht mitnehmen kann. Und als du ihn bekamst, da hätte ich dir am liebsten die Augen ausgekratzt.«
Andrea unterdrückte ein Lächeln. Sie wußte, Nicolette war die Sache bitter ernst. Sie litt darunter, daß sie ihren vierbeinigen Liebling nicht behalten durfte.
»Wohnst du weit von hier, Nicolette? Soll ich dich nach Hause bringen? Hoffentlich sorgt sich niemand um dich.«
Es stellte sich heraus, daß die Wohnung der Sandners gar nicht weit entfernt lag.
»Vati macht sich bestimmt keine Sorgen um mich«, versicherte Nicolette unbekümmert und treuherzig. »Ich bin sowieso immer allein auf der Straße. Er ist nämlich krank.«
»Oh, das tut mir leid, Nicolette. Und deine Mutti?«
Nicolette hob die Schultern. »Die ist schon lange fort.«
Andrea wagte keine weiteren Fragen in dieser Richtung.
»Früher hatten wir eine schöne große Wohnung«, fuhr Nicolette nun unaufgefordert fort. »Da konnte ich natürlich meinen lieben Murli bei mir haben. Aber da, wo wir jetzt sind, ist ein Hund verboten. Gemein, findest du nicht? Murli ist doch mein allerbester Freund.«
Andrea war ziemlich ratlos. Sie hatte dreihundert Euro für einen weißen Pudel ausgegeben, um ihm einem verzweifelten Kind zu schenken. Nun mußte sie erfahren, daß damit nichts, aber auch gar nichts gewonnen war.
Gewiß, sie konnte Murli mit nach Hause nehmen. Im Tierheim Waldi & Co. würde sich für Murli ein Plätzchen finden. Doch sie hatte durchaus nicht die Absicht gehabt, den Bestand des von ihr gegründeten Tierasyls auf diese kostspielige Art zu erweitern. Außerdem war ja damit weder Nicolette noch dem Pudel geholfen. Diese beiden wollten doch beisammenbleiben.
»Soll ich mit deinem Vati reden, Nicolette?« schlug Andrea etwas unsicher vor. »Vielleicht fällt uns doch noch eine Lösung ein.«
»Vati kann es nicht ändern, hat er gesagt, Andrea. Aber wenn du mitkommen willst…« Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in Nicolettes Gesichtchen auf.
Obwohl Murli hätte laufen können, behielt Nicolette ihn auf dem Arm. Sie war viel zu glücklich darüber, ihren kleinen Kameraden fest an sich drücken zu können.
Zwei Straßen weiter blieb Nicolette vor einem alten, etwas verfallen wirkenden Mietshaus stehen. »Hier wohnen wir.«
Andrea sah bedrückt an der grauen Fassade empor, die teilweise abgebröckelt war. Es kostete sie einige Überwindung, mit Nicolette und dem kleinen Pudel den Hausflur zu betreten, in dem es nach Bratkartoffeln, Zwiebeln und Wäschewaschen roch.
Die Wohnung lag im dritten Stockwerk. Dort oben funktionierte nicht einmal die Treppenbeleuchtung im fensterlosen Flur. Nicolette kramte aus der Tasche ihrer dunklen Jeans einen Schlüssel hervor und schloß auf.
Man betrat vom Treppenhaus aus direkt eine Küche, in der alles durcheinanderlag, was innerhalb mindestens einer Woche gebraucht worden zu sein schien. Dahinter lag ein Zimmer, zu dem die Tür halb offenstand.
»Kommst du, Schätzchen?« erklang eine sympathische, freundliche Männerstimme, die Wärme ausstrahlte und die unerfreuliche Umgebung vergessen ließ.
»Ja, Vati. Ich habe jemanden mitgebracht. Andrea.«
»Eine Freundin von dir?«
»Ja, Vati.«
»Na, dann kommt mal beide zu mir.«
Andrea fand keine Zeit, das Mißverständnis aufzuklären. Nicolettes Vater erwartete sicher, ein kleines Mädchen zu sehen. Statt dessen stand eine sehr junge Frau vor ihm. Langes dunkles Haar, ein bildschönes schmales Gesicht, leuchtende Augen, von seidigen Wimpern umrahmt. Dazu die Gestalt eines Schulmädchens.
Andrea war ebenfalls betroffen von dem, was sie in dem kleinen ungemütlichen Raum erblickte. Ein sehr großer Mann lag auf einer Couch. Ein intelligenter Kopf, glattes, dunkelblondes Haar, die Nase gerade und schmal, der Mund entschlossen und energisch. Als er ihr das Gesicht voll zuwandte, stellte sie mit heimlichen Erschrecken fest, daß die der Wand zugekehrte Hälfte durch große Narben völlig entstellt war.
Sobald Nicolettes Vater die Situation erfaßt hatte, stemmte er sich mühsam von seinem Lager hoch. Mit einer geschickten Bewegung griff er nach seinen Unterarmdrücken, stand dann aufrecht in seiner vollen Länge vor Andrea und machte eine höfliche Verbeugung.
»Entschuldigen Sie«, erklärte er in deutlicher Verlegenheit. »Ich hatte keine Ahnung, daß Nicolette einen Gast mitgebracht hat. Mein Name ist Axel Sandner. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
Es war wie ein Wunder. Obwohl das Zimmer eng und unordentlich war, obwohl der Mann nur zerbeulte Flanellhosen und einen Pullover trug, spürte man plötzlich einen Hauch von großer Welt, von gesellschaftlichem Schliff und vor allem vom liebenswerten Charme dieses Mannes. Er fegte ein paar Zeitschriften und andere Dinge von den Stühlen und bot Andrea einen Platz an.
»Ich bin Andrea von Lehn, Herr Sandner. Mein Mann hat heute hier in Stuttgart zu tun, und ich habe ihn begleitet, um ein paar Besorgungen zu machen und mir die Schaufenster anzusehen. Durch Zufall geriet ich auf eine Auktion. Dort wurde Murli versteigert.«
Axel Sandner bemerkte erst jetzt, daß sein Töchterchen den Pudel auf dem Arm trug. »Wir können ihn nicht behalten«, entfuhr es ihm. »Es ist ganz unmöglich. Warum bist du hingegangen, Nicolette? Es nützt nichts.«
»Aber ich habe Murli doch lieb, Vati«, flüsterte das Kind.
Andrea spürte, daß sie versuchen mußte, mehr vom Schicksal dieser kleinen Familie zu erfahren. Sie nahm ein Geldstück aus ihrer Tasche und reichte es dem Kind. »Geh mit Murli ein bißchen hinunter, Nicolette. Versuche im Einkaufszentrum am Eingang der Straße Hundefutter für Murli zu bekommen. Bestimmt hat er jetzt Hunger nach all diesen Aufregungen.«
Nicolette nahm das Geld und ging. Erst als die Tür zum Flur zugeschlagen worden war, sprach Andrea weiter. »Ich fürchte, ich habe etwas Dummes angestellt, Herr Sandner. Nicolette hatte mir schrecklich leid getan. Deshalb habe ich Murli für sie ersteigert. Aber nun erfahre ich, daß sie den Hund hier nicht halten darf.«
Alex Sandner lächelte traurig. Er wandte Andrea jetzt die unversehrte Gesichtshälfte zu, die zeigte, daß er sehr gut aussah. Irgendwie kam er Andrea auch bekannt vor. Endlich sagte er:
»Warum soll ich ein Geheimnis daraus machen, gnädige Frau? Ich habe den Pudel gekauft, um Nicolette eine Freude zu machen. Das Leben ist für sie und mich traurig genug geworden. Leider konnte ich vor einem halben Jahr nur die Hälfte der Preises beim Züchter anzahlen. Murli heißt mit vollem Namen ›Matador von dem Höchenschwand‹ und verfügt über äußerst adelige Vorfahren. Ich muß damals größenwahnsinnig gewesen sein. Eine Mischrasse, halb Dackel, halb Pinscher, hätte es selbstverständlich auch getan. Na ja, ich hatte mich damals noch nicht daran gewöhnt, daß ich ein armer Mann geworden bin. Jetzt sitzen wir in dieser gräßlichen Wohnung und müssen uns von Murli trennen, weil ich nicht in der Lage bin, dem Züchter den Rest des Kaufpreises zu geben. Ich bekam außerdem hier im Hause Schwierigkeiten mit ein paar herzlosen Menschen, die sich von dem harmlosen Pudelchen gestört fühlten. Deshalb erklärte ich Nicolette, daß er nicht hierbleiben dürfe. Die Sache mit dem Kaufpreis, der noch nicht voll entrichtet ist, hätte sie wohl nicht verstanden.«
Andrea schaute den Mann noch immer an. Das kühne Profil, das energische Kinn kam ihr bekannt vor. Und plötzlich erinnerte sie sich. Sie kannte das Bild des Mannes aus Zeitungen.
»Sie sind der Rennfahrer Axel Sandner?« entfuhr es ihr.
»Erraten«, nickte er matt. »Mit einem kleinen Fehler allerdings. Ich bin es nicht mehr, ich war es.«
»Ich habe es damals gelesen. Der schwere Unfall, nicht wahr?«
»Ja, Frau von Lehn. Ein schwerer Unfall.« Er unterdrückte ein Stöhnen. »Sie sehen, wie er sich für mich ausgewirkt hat. Ich kann nicht mehr richtig gehen. Das linke Bein trägt mich nicht. Und eine Schönheit bin ich ebenfalls nicht mit diesen Brandnarben. Man hat mich in letzter Minute vor der Explosion des Wagens unter dem Fahrgestell hervorgezerrt. Komplizierter Beckenbruch, Verletzung der Wirbelsäule und schwerste Verbrennungen. Ich wünschte, ich hätte es nicht überlebt. Jetzt bin ich ein ruinierter Mann, kann meinen Beruf nicht mehr ausüben und schleppe mich als Krüppel herum.«
»So etwas dürfen Sie nicht sagen, Herr Sandner. Vielleicht wird es nach und nach besser. Vor allem braucht Nicolette aber ihren Vater.«
Er nickte mehrmals. »Ja, für Nicolette muß ich es durchstehen. Wenn ich nur wüßte, wie.«
»Wollen Sie mir alles erzählen, Herr Sandner? Bitte, glauben Sie mir, ich frage nicht aus Neugier.«
Axel Sandner machte eine beruhigende Bewegung mit der Hand. »Das brauchen Sie mir nicht zu versichern, Frau von Lehn. Ich habe gelernt, zwischen Neugier, Sensationslust und echtem Mitgefühl sehr genau zu unterscheiden. Mein Unfall liegt jetzt genau ein Jahr zurück. Neun Monate lag ich in der Klinik. Als ich nach Hause kam, konnte ich mich nur noch mit diesen Krücken vorwärtsbewegen und war durch die Brandnarben im Gesicht entstellt. Nicolette fand ich allein in unserer großen Wohnung mit der Köchin und einem Kindermädchen. Adrienne, die mich nur ein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatte, hatte uns verlassen. Sie lebt jetzt mit einem Kollegen von mir zusammen, der noch gesund ist und weiterhin Siege heimbringt. Die Preise, das viele Geld und die gesellschaftlichen Erfolge, die man als Rennfahrer feiert, findet Adrienne atemberaubend schön. Ich lernte sie in Paris kennen. Sie ist Französin, und ich verliebte mich damals sofort in sie. Es war nicht schwer für mich, sie für mich zu gewinnen und zu meiner Frau zu machen. Ich konnte sie mit Geschenken überschütten und ihr ein luxuriöses, abwechslungsreiches Leben bieten. Sie begleitete mich zu jedem Rennen und lernte auf diese Weise nach und nach die ganze Welt kennen. Wir gingen bei den berühmtesten Leuten als Freund ein und aus, wir wurden umjubelt und verwöhnt.