Zwei Kinderherzen finden sich - Aliza Korten - E-Book

Zwei Kinderherzen finden sich E-Book

Aliza Korten

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. »Willst du dir die Tiere einmal richtig anschauen?«, fragte Andrea von Lehn den kleinen Buben, der sich scheu ins Gebüsch drückte. Das Kind antwortete nicht. Andrea hatte den Jungen schon am Tag zuvor und auch früher beobachtet. Er schlich sich stets um die Mittagszeit in den weitläufigen Garten und schaute sich die Tiere im Freigehege an. Nun endlich war es ihr gelungen, dem Kleinen so nahe zu kommen, dass er ihr nicht mehr entwischen konnte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Andrea freundlich. »Das Tierheim ist für alle da. Im Freigehege sind nur einige Tiere. Die übrigen hausen da drüben in dem Holzbau.« Der Bub sah sie an und schwieg beharrlich. »Das Tierheim ist für kranke und heimatlose Tiere bestimmt«, erzählte die junge Frau weiter, um allmählich das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. »Es heißt Waldi & Co. – das Heim der glücklichen Tiere. Diesen Namen haben sich die Kinder von Sophienlust ausgedacht. Waldi ist unser Dackel, den du vielleicht schon gesehen hast. Er war hier der Erste, und deshalb erhielt das Heim seinen Namen. Ich glaube, er bildet sich etwas darauf ein.«

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Sophienlust Bestseller – 116 –

Zwei Kinderherzen finden sich

Aliza Korten

»Willst du dir die Tiere einmal richtig anschauen?«, fragte Andrea von Lehn den kleinen Buben, der sich scheu ins Gebüsch drückte.

Das Kind antwortete nicht.

Andrea hatte den Jungen schon am Tag zuvor und auch früher beobachtet. Er schlich sich stets um die Mittagszeit in den weitläufigen Garten und schaute sich die Tiere im Freigehege an. Nun endlich war es ihr gelungen, dem Kleinen so nahe zu kommen, dass er ihr nicht mehr entwischen konnte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Andrea freundlich. »Das Tierheim ist für alle da. Im Freigehege sind nur einige Tiere. Die übrigen hausen da drüben in dem Holzbau.«

Der Bub sah sie an und schwieg beharrlich.

»Das Tierheim ist für kranke und heimatlose Tiere bestimmt«, erzählte die junge Frau weiter, um allmählich das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. »Es heißt Waldi & Co. – das Heim der glücklichen Tiere. Diesen Namen haben sich die Kinder von Sophienlust ausgedacht. Waldi ist unser Dackel, den du vielleicht schon gesehen hast. Er war hier der Erste, und deshalb erhielt das Heim seinen Namen. Ich glaube, er bildet sich etwas darauf ein.«

»Ich – ich mag Hunde«, kam es leise über die Lippen des Jungen.

»Das kann ich verstehen. Ich auch. Habt ihr daheim einen Hund?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, ich darf keinen haben. Tante Wilma will es nicht. Hunde sind schmutzig, sagt sie.«

Das Eis schien gebrochen.

»Na, dann komm, wir sehen uns die Tiere einmal an. Ich bin Tante Andrea. Und wie heißt du?«

Ein kurzes Zögern: »Tilo.«

»Hast du auch einen Familiennamen?«

»Tilo Börner. Mein Vati heißt auch Börner, aber Tante Wilma nicht!«

Andrea von Lehn hütete sich, Tilo sogleich weiter auszufragen. Sie wusste recht gut, dass Kinder allergisch reagierten, wenn man zu viele Fragen an sie stellte. Vielmehr führte sie Tilo zum Eingang des Tierheims und machte ihn mit dem alten Janosch bekannt, der den Jungen sofort herzlich willkommen hieß.

Andrea hielt sich nun im Hintergrund und überließ Janosch das Wort. Sie verließ sich darauf, dass der Tierpfleger mit seinen abenteuerlichen Geschichten jedes Kind bezaubern konnte. Nachdenklich kraulte sie das Fell der schwarzen Dogge Severin, die ihr fast nie von der Seite wich. Sie fragte sich, woher Tilo gekommen sein mochte. Offenbar wohnte er nicht allzu weit entfernt.

»Du kannst kommen, sooft du willst«, sagte Janosch nach einer Weile zu seinem kleinen Besucher. »Was meinst du, wie oft die Kinder aus Sophienlust hier sind? Dann geht es sehr vergnügt bei uns zu.«

»Wo ist Sophienlust, Janosch?« Groß und fragend waren Tilos Augen auf den alten Mann gerichtet.

»Das weißt du nicht? Sophienlust ist gar nicht weit von hier. Es ist ein Heim für Kinder, die kein Zuhause mehr haben. Sehr schön ist es dort.«

Andrea legte die Hand leicht auf Tilos Schulter. »Sophienlust wird von den Kindern ›das Haus der glücklichen Kinder‹ genannt.«

Tilo verstand. »Deshalb heißt Waldi & Co. das Heim der glücklichen Tiere, nicht wahr?«

»Stimmt, Tilo. Sag, willst du ein Glas Saft im Haus trinken? Du bist gewiss durstig.«

Tilo nickte dankbar. »Saft trinke ich schrecklich gern, Tante Andrea«, gestand er aufseufzend.

Andrea und Janosch tauschten einen Blick des Einverständnisses. Auch der alte Tierpfleger hatte Tilo schon an den beiden vergangenen Tagen beobachtet.

»Du wohnst wohl noch nicht lange hier?«, fragte Andrea auf dem Weg zum Wohnhaus, in dem sich auch die Praxis ihres Mannes, des Tierarztes Dr. Hans-Joachim von Lehn, befand. Die prächtige schwarze Dogge folgte ihr auf dem Fuße, während der Dackel Waldi sich in einiger Entfernung hielt, als müsste er den kleinen Fremden erst einmal genau überprüfen.

Im Hause war es kühl und still. Marianne, das Mädchen, brachte ein Glas Saft für Tilo. Auf unsicheren Füßchen folgte ihr ein entzückender Bub, der nun von Andrea auf die Arme gehoben wurde.

»Dies ist unser Peterle, Tilo«, stellte Andrea den Winzling förmlich vor. »Hast du auch einen kleinen Bruder oder eine Schwester?«

»Nein, ich bin allein.« Das Kindergesicht wirkte traurig und ernst, was ganz und gar nicht zu der lustigen Nase des Buben passen wollte.

»Ich kann dich im Auto nach Hause bringen, wenn du willst«, erbot sich Andrea, die herausfinden wollte, wohin der Junge gehörte. Ihr stets wacher Instinkt signalisierte ihr, dass Tilo vereinsamt sei. Vor allem fragte sie sich, wer Tante Wilma sei. Dass besagte Dame etwas gegen Hunde hatte, nahm die tierliebende Andrea sofort gegen Tante Wilma ein.

»Wir sind im Gasthof in Wildmoos – Tante Wilma und ich. Weil ich nämlich lange krank war und mich erholen soll. Aber es ist furchtbar langweilig. Immer nur spazieren gehen mit Tante Wilma, und sonst gar nichts.«

»Du, das ist aber ein ganz hübscher Weg vom Gasthof Wildmoos bis zu uns.«

Tilo lächelte verschmitzt. »Tante Wilma schläft immer nach dem Mittag­essen. Ich habe die Tiere gesehen, als wir hier vorbeifuhren. Natürlich wollte ich sie mir richtig anschauen. Da bin ich mittags heimlich weggelaufen.«

»Dass du das Tierheim gefunden hast! Wie alt bist du denn?«

»Fünf Jahre.«

Er war klein für sein Alter. Immerhin bedeutete es eine beachtliche Leistung, dass er den Weg gefunden hatte.

»Merkt es deine Tante denn nicht, wenn du wegbleibst?«

»Nein, gestern jedenfalls nicht. Und am ersten Tag auch nicht. Sie liest in einem dicken Buch. Roman heißt das. Dabei merkt sie es nicht, wenn ziemlich viel Zeit vergeht. Aber wenn sie doch schimpft, macht es auch nichts. Sie schimpft sowieso meistens.«

»Du wohnst also sonst woanders?«

»Ja, in Heidenheim. Mein Vati konnte nicht mit mir verreisen. Er hat immer sehr viel zu tun. In der Fabrik, weißt du?«

Andrea begann zu ahnen, dass Tilo keine Mutter hatte. Mitleid überflutete ihr Herz. »Ich werde dich zurückfahren und mit deiner Tante reden, Tilo. Wenn wir sie schön bitten, erlaubt sie vielleicht, dass du öfters zu uns kommst. Hättest du auch Lust, manchmal mit den Kindern von Sophienlust zu spielen, damit du nicht so allein bist?«

»Das möchte ich schon, Tante Andrea, aber Tante Wilma will es bestimmt nicht. Sie sagt meistens nein, wenn man sie fragt.«

»Nun, warten wir es ab, Tilo. Ich muss nur das Peterle wieder zu Marianne bringen und meinen Wagenschlüssel holen.«

Tilo wagte es, die mächtige Dogge behutsam zu streicheln. Das kluge Tier ließ es sich gern gefallen. Peterle protes­tierte ein bisschen, weil er seinen Lieblingsplatz auf dem Arm der Mutter aufgeben sollte, doch schließlich wanderten Andrea und Tilo zur Garage, um ins Auto einzusteigen.

»Mein Vati hat auch ein Auto. Es ist größer als dein Auto«, stellte Tilo fest. »Er hat uns nach Wildmoos gefahren. Vielleicht kommt er uns besuchen, wenn er einmal Zeit hat.«

»Hoffentlich, Tilo«, antwortete Andrea munter. »Da, steig ein.«

Tilo kletterte gehorsam auf den Rücksitz, und schwungvoll, wie es ihre Art war, lenkte Andrea ihren Wagen aus der Einfahrt des weitläufigen Grundstücks. Die Fahrt nach Wildmoos, der angrenzenden Gemeinde, war nicht weit.

Im Gasthof wartete eine Dame von zirka vierzig Jahren mit allen Zeichen der Ungeduld auf Tilo. Kein Zweifel, dies war Tante Wilma. Sie trug eine unkleidsame Frisur.

Tante Wilma schenkte Andrea zunächst keine Beachtung, sondern fuhr wütend auf Tilo los: »Wo hast du gesteckt, Tilo? Was fällt dir ein, heimlich wegzulaufen und in einem fremden Auto mitzufahren? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Du bist wirklich alt genug, um einmal ein Stündchen allein zu spielen, wenn du schon nicht schlafen willst am Mittag.«

Tilo wich zurück, weil die Tante die Hand zum Schlag erhoben hatte. Offenbar war er daran gewöhnt, solche Strafe zu empfangen.

Andrea trat entschlossen zwischen die aufgebrachte Dame und den Jungen. »Ich bin Andrea von Lehn«, stellte sie sich mit klingender Stimme vor. »Tilo war bei uns auf dem Grundstück, um sich unsere Tiere anzuschauen. Ich fürchtete schon, dass man sich um ihn sorgen würde, deshalb bringe ich ihn zurück.«

Tante Wilma betrachtete Andrea wie ein lästiges Insekt. »Wilma Gerlach«, sagte sie würdevoll. »Tilo ist ein sehr ungehorsames, schwieriges Kind. Sie sollten seine Eigenmächtigkeiten nicht auch noch unterstützen, Frau von Lehn.«

Andrea verbarg ein Lächeln. »Tilo ist ein Tiernarr. Und mein Mann ist Tierarzt. Deshalb haben wir ja das Tierheim eingerichtet, an dem Tilo so brennend interessiert ist.«

»Seit dem Tod meiner armen Schwes­ter vertrete ich an Tilo Mutterstelle.« Wilma seufzte. »Aber es ist eine schwere Aufgabe. Mein Schwager hat kaum Zeit für das Kind. Er besitzt in Heidenheim eine große Fabrik. Jetzt soll Tilo sich hier in der guten Waldluft von seiner Krankheit erholen.«

»Ja, gute Luft haben wir hier«, bestätigte Andrea. »Aber für Tilo wird es im Gasthof ein bisschen langweilig sein, fürchte ich.«

Wilma Gerlach runzelte die Stirn. »Ich gehe zweimal mit ihm spazieren. Spielzeug hat er auch mit. Er sollte dankbar sein, dass ich mich seinetwegen in dieses Nest gesetzt habe. Mein Schwager wählte Wildmoos aus, weil es von Heidenheim aus verhältnismäßig schnell erreichbar ist. Er möchte mich natürlich ab und zu sehen.« Sie lächelte selbstgefällig.

Andrea verbiss sich die Bemerkung, dass Tilos Vater wohl in erster Linie kommen würde, um seinen Buben zu besuchen. Sie wollte sich mit dieser Tante Wilma nicht streiten, sondern etwas für Tilo erreichen.

»Haben Sie schon erfahren, dass sich hier in Wildmoos ein ausgezeichnetes Kinderheim befindet, Frau Gerlach?«, fragte sie so sanft wie möglich. »Das Heim ist im ehemaligen Herrenhaus des Gutes Sophienlust untergebracht und wurde von meiner Mutter gegründet. Falls Sie daran interessiert sind, ließe es sich gewiss einrichten, dass Tilo dort täglich für ein paar Stunden mit den Kindern spielt. Er wäre gut auf­gehoben, und sicherlich täte es ihm gut. Was halten Sie von diesem Vorschlag?«

Wilma Gerlach schüttelte den Kopf. »Gar nichts, Frau von Lehn. Tilo war ungehorsam und ist heimlich weggelaufen. Ich sehe nicht die geringste Veranlassung, ihn dafür zu belohnen, indem ich ihm eine Einladung in dieses Kinderheim verschaffe.«

Tilo verzog sich in eine Ecke und weinte leise. Er hatte Angst vor seiner Tante, wenn er auch zuvor behauptet hatte, es mache ihm nichts aus, von ihr gescholten und gestraft zu werden.

»Hat Tilo schon lange keine Mutter mehr?«, erkundigte sich Andrea sehr leise.

»Seit zwei Jahren.«

»Für ein Kind ist der Tod der Mutter ein Erlebnis, das es nur schwer überwinden kann, Frau Gerlach. Tilo sucht Liebe. Ordnung und Gehorsam sind nicht so wichtig wie Liebe.«

»Finden Sie, dass es Ihnen zusteht, mir einen Vortrag über Kindererziehung zu halten, Frau von Lehn? Ich bin älter als Sie und habe mehr Lebenserfahrung.«

Andrea biss sich auf die Unterlippe. Sie war stets in Gefahr, sich von ihrem lebhaften Temperament hinreißen zu lassen. Doch sie musste sich sagen, dass sie damit für Tilo nichts erreichen konnte.

»Ich wollte keine Kritik üben, Frau Gerlach«, versetzte sie behutsam. »Wäre es nicht für Sie eine Erleichterung, wenn Tilo stundenweise unter Aufsicht spielen könnte? Ein lebhaftes Kind ist mühsam zu beschäftigen. Ich möchte Ihnen behilflich sein.«

Wilma Gerlach zuckte die Achseln. »Ich müsste das Kinderheim zuerst sehen und mich überzeugen, wie es geführt wird. Tilo soll keinen Kontakt mit asozialen Elementen haben.«

Andreas Wangen röteten sich. »In Sophienlust sind besonders nette Kinder, Frau Gerlach«, erklärte sie scharf. »Wenn es Ihnen recht ist, fahren wir sofort hin. Oder legen Sie Wert auf eine besondere Aufforderung durch meine Mutter? Die können Sie auch haben.«

Wilma Gerlach gab nicht sofort nach. »Ich werde von mir aus nach Sophienlust gehen und mit Ihrer Frau Mutter sprechen, Frau von Lehn. Sofern ich einen günstigen Eindruck von dem Heim gewinne, habe ich nichts dagegen, dass Tilo ab und zu dort mit anderen Kindern spielt. Dann käme er wenigstens nicht noch einmal auf dumme Gedanken und liefe fort.«

Andrea musste sich mit diesem mageren Teilerfolg zufriedengeben. »Meine Mutter heißt Denise von Schoenecker, Frau Gerlach. Falls sie nicht anwesend sein sollte, so sprechen Sie bitte mit Frau Rennert. Sie ist die Heimleiterin.«

»Danke, ich werde es mir merken. Heute nehme ich die Angelegenheit nicht mehr in Angriff. Tilo wird sich in seinem Zimmer in Ruhe überlegen müssen, ob er richtig gehandelt hat, als er heimlich weglief.«

»Wollen Sie wirklich so hart sein?«, legte sich Andrea ins Mittel.

»Das ist nicht hart, sondern nur konsequent. Strafe muss sein. Auch ein Kind hat die Folgen für seine Handlungsweise auf sich zu nehmen. Tilo soll später die große Fabrik seines Vaters leiten. Er kann nicht früh genug zu Verantwortungsbewusstsein und Disziplin erzogen werden.«

Andrea schwieg. Sie ging zu Tilo hin und strich ihm über das blonde Haar. Der Junge war viel zu klein, um die hochtrabenden Begriffe verstehen zu können, mit denen seine Tante um sich warf.

»Wir sehen uns wieder, Tilo«, raunte Andrea ihm zu. »Du kannst dich darauf verlassen.« Dann kehrte sie zu Wilma Gerlach zurück und verabschiedete sich. »Es tut Tilo leid«, sagte sie freundlich. »Er hat doch nichts Böses getan.«

»Das zu beurteilen, überlassen Sie bitte mir. Leben Sie wohl, Frau von Lehn.«

Andrea setzte sich wieder in ihren Wagen. So rasch wie möglich fuhr sie nach Sophienlust, wo sie von mehreren Kindern sogleich umringt und herzlich begrüßt wurde.

»Ist Tante Isi hier, Irmela?«, wandte sie sich an ein großes blondes Mädchen.

»Nein, sie ist drüben in Schoen­eich«, antwortete Irmela. »Auch Nick und Henrik sind dort. Willst du telefonieren?«

»Danke, nein, ich fahre hin, Irmela.«

»Schade«, seufzte Pünktchen. »Wir wären gern mit zum Tierheim gefahren.«

»Ein andermal, Pünktchen. Ich hab’s heute ausnahmsweise eilig.«

Irmela, Pünktchen, Angelika, Vicky und die kleine Heidi winkten dem Wagen nach, der auf der privaten Verbindungsstraße von Sophienlust nach Gut Schoeneich davonfuhr. In Schoeneich lebte die Familie von Schoenecker, deren Schicksal eng mit dem Schicksal von Sophienlust verbunden war.

Andreas Stiefmutter, Denise, hatte in Alexander von Schoenecker einen liebevollen Gatten gefunden, der sie über den viel zu frühen Tod ihres ersten Mannes hinweggetröstet hatte. Auch Alexander war verwitwet gewesen, als er Denise kennengelernt hatte. Das Gut Sophienlust war damals Denises Sohn aus erster Ehe – Dominik von Wellentin – zugefallen. Seine Urgroßmutter, Sophie von Wellentin, hatte an die Erbschaft die Auflage geknüpft, dass aus dem schönen alten Herrenhaus eine Zufluchtsstätte für in Not geratene Kinder werden solle. Da Dominik, genannt Nick, zu jener Zeit erst fünf Jahre alt gewesen war, hatte seine Mutter die Aufgabe übernommen, das Erbe zu verwalten und den Letzten Willen der weisen alten Dame zu verwirklichen. Verbunden mit einem beträchtlichen Vermögen war Sophienlust in idealer Weise für ein Kinderheim geeignet, und Denise besaß eine überaus glückliche Hand. So wurde das Haus der glücklichen Kinder ins Leben gerufen, das seither schon vielen Kindern Geborgenheit geschenkt hatte.

In der Ehe mit Alexander von Schoen­ecker hatte Denise ein neues Glück und die wahre Erfüllung ihres Daseins als Frau gefunden. Sie war für Andrea und deren Bruder Sascha zur zweiten Mutter geworden, wie andererseits Alexander für Nick die Stelle des Vaters eingenommen hatte. Der kleine Henrik, der neuen Ehe entstammend, hatte das Glück der Familie vollkommen gemacht.

Inzwischen studierte Sascha in Heidelberg, und Andrea war verheiratet. Nick besuchte längst das Gymnasium in Maibach, und Henrik ging schon in Wildmoos zur Grundschule.

Andrea von Lehn fand ihre Eltern und die beiden Buben am Teetisch versammelt. Sie setzte sich zu ihnen und erstattete sogleich aufgeregt über ihr Erlebnis Bericht.

»Der arme Tilo tut mir in der Seele leid, Mutti«, meinte sie und rührte dabei ihren Tee um. »Seine Tante ist ein Biest. Weißt du, so eine wie aus dem letzten Jahrhundert. Sie schikaniert den Jungen, wo immer sie nur kann. Obgleich sie bestimmt keine Chancen hat, träumt sie wahrscheinlich davon, dass ihr Schwager sie eines Tages zu seiner Frau macht. So dumm wird Herr Börner allerdings kaum sein. Leider lässt er aber zu, dass diese grässliche Person seinen niedlichen Jungen erzieht. Er muss mit Blindheit geschlagen sein, wenn er nicht sieht, dass Tilo viel zu erdulden hat. Der kleine Bursche ist total verschüchtert. Ich habe Frau Gerlach vorgeschlagen, sich mit dir in Verbindung zu setzen, damit Tilo jeden Tag ein paar Stunden in Sophienlust mit den Kindern spielen kann. Du wärest doch damit einverstanden?«

»Ist doch klar, dass Mutti nichts dagegen hat«, antwortete Nick anstelle seiner Mutter. »Man sollte dieser Dame den Jungen wegnehmen! Zweimal am Tag spazieren zu gehen, das ist gewiss nicht das, was Tilo sich wünscht. In Sophienlust kann er herumtoben, auf einem Pony reiten, im Sand buddeln oder in den Stallungen herumkriechen. Da ist immer etwas los. Möglicherweise ist die dumme Tucke heilfroh, ihren Neffen täglich in Sophienlust abliefern zu können.«

Denise von Schoenecker bedachte Nick mit einem amüsierten Blick. »Gut, dass Frau Gerlach dich nicht hören kann«, meinte sie.

»Wenn sie doch so mies zu Tilo ist«, krähte Henrik zornig. »Wer so mit einem Kind umgeht, ist einfach dumm.«

Alexander von Schoenecker betrachtete seine drei aufgebrachten Kinder. »Du kannst zufrieden sein, Isi«, stellte er heiter fest. »Bei Andrea, Nick und Henrik werden unterdrückte Kinder immer zu ihrem Recht kommen.«

»Tiere natürlich auch, Vati«, fügte Andrea augenzwinkernd hinzu. »Du kennst meine Schwäche.«

Denise wurde ernst. »Hoffentlich meldet sich die Dame überhaupt. Vielleicht hat sie Andrea mit ihrer halben Zusage nur abgewimmelt. Wir können sie nicht zwingen, uns den Jungen zu schicken.«

»Wie wäre es, wenn ich ein bisschen nachhelfen würde?«, erbot sich der Gutsherr von Schoeneich. »Ich wollte nach dem Tee ohnehin in den Ort fahren. Da könnte ich im Gasthof vorbeischauen, pro forma ein Gläschen Bier trinken und die Dame dabei rein zufällig kennenlernen. Falls ich Erfolg haben sollte, dürft ihr nur hinterher nicht verraten, dass ich sozusagen von Andrea geschickt wurde. Es muss so aussehen, als habe sich unsere Bekanntschaft ganz beiläufig ergeben.«

»Auf uns kannst du dich verlassen, Vati«, versicherte Henrik mit glühenden Wangen.

»Sollten wir der Dame nicht erst die Chance geben, von sich aus mit uns in Verbindung zu treten?«, gab Denise zu bedenken.