Mary - Mein Leben in ihrem Schatten - Georg Preusse - E-Book

Mary - Mein Leben in ihrem Schatten E-Book

Georg Preusse

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Beschreibung

Georg Preuße – er ist für die meisten MARY. Mit ihr feiert er triumphale Erfolge, er lockt mehr Zuschauer in seine Shows als Tina Turner oder Bette Midler. Er perfektioniert die Kunst der Illusion so weit, dass die von ihm geschaffene Traumfrau ihre realen Vorbilder weit in den Schatten stellt. Die schillernde Mondäne verrät nur wenig über den einzigartigen Menschen dahinter: Georg Preuße. Denn Preuße, der die Travestie aus der Schmuddelecke ins Rampenlicht der großen Kabarettbühnen und Theater geholt hat, ist mehr als MARY. Im Laufe der letzten fünfzehn Jahre ist er zu einem beachteten und gefragten Theaterschauspieler gereift, der sich in die Herzen seines Publikums spielt (in Stücken wie 'Draußen vor der Tür', 'Cabaret', im 'Narrenkäfig', in Dürrenmatts 'Achterloo', als Mackie Messer in der 'Dreigroschenoper' oder in Hofmannsthals 'Jedermann'). Georg Preuße besitzt die beeindruckende Fähigkeit, seine Rollen zwischen 'überdrehter Komik und bodenloser Tragik' (Berner Zeitung) auszuloten. In seiner Autobiografie hat der Leser nun die Möglichkeit, neben MARY den Theaterschauspieler und vor allem auch den Menschen Georg Preuße kennen zu lernen. Dadurch, dass er sich selbst kritisch und differenziert betrachtet, hebt sich das Buch von den einseitigen Erfolgsgeschichten anderer Künstler ab. Erst in dieser sehr persönlichen, Brüche nicht aussparenden Darstellung tritt die Größe des Menschen und Künstlers Preuße hervor.

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Georg Preuße

MARY

Mein Leben in ihrem Schatten

Schwarzkopf & Schwarzkopf

VORWORT

Eigentlich fällt es mir gar nicht leicht, von mir zu erzählen. Das tue ich lieber in meinen Liedern, Sketchen und Rollen. Mit einem Buch kann man über sich selbst hinauswachsen und damit über seine eigene kleine Welt die große erklären. Weil man ein Stück Zeit festhält und unverhofft über den roten Faden im Lebenslauf stolpert, der wie zufällig aneinander gereihte Einzelepisoden verbindet.

Das ist es, wonach mir zumute ist. Ich habe auch Lust, die Menschen und Orte meiner Kindheit und meiner langen künstlerischen Laufbahn alle einmal um mich zu scharen und damit innezuhalten im schnellen Strom der Zeit. In meinem Leben, das so schwindelerregend an mir vorüberzieht, so erfüllt ist – in allen seinen Brüchen –, dass ich dafür nur dankbar sein kann.

Interviews und Homestorys gehe ich gewöhnlich aus dem Wege, denn Interviews sind für mich fast immer verschwendete Lebenszeit, Frage- und Antwortspiele, bei denen man meist an der Oberfläche bleibt. Aber wenn ich meine eigene Geschichte erzähle und mir dafür so viel Zeit nehmen kann, wie ich will, ist das etwas anderes. Damit schlage ich dann gleich ungefähr fünf Fliegen mit einer Klappe, die eine davon: dass ich mich mal richtig auskäsen kann und kein Journalist kürzt oder verändert. Und dass ich zukünftig Anfragen zu Interviews abschmettern kann mit dem Hinweis auf dieses Buch. Das ist enorm praktisch.

Man kennt mich vor allem als schillernd-mondäne Mary, was den unschätzbaren Vorteil hat, dass man sich nicht so häufig auf der Straße nach mir umdreht. Oft habe ich mich in die wohltuende Kühle ihres Schattens zurückgezogen, um die Hitze des Showbusiness ertragen zu können. Mary ist ein Wesen, dem ich selbst gern zuschaue, das mit mir gereift ist und fast ein eigenständiges Leben führt. Aber oftmals, wenn ich Menschen begegne, bin ich mir nicht sicher, ob sie Mary begegnen wollen oder Georg Preuße. – Voilà, dies ist ein Buch über Frau Mary und Herrn Preuße. Sehen Sie selbst, ob Sie auch Herrn Preuße zuhören wollen!

Was es nicht geben wird, sind sensationelle Enthüllungen aus dem ganz privaten Nähkästchen. Das ist nämlich gar nicht möglich – dass ich auf der Bühne so extrem bin, liegt daran, dass ich selbst so flau bin. Nichts ist langweiliger als ein Künstler, der den Glanz der Bühne in sein Privatleben verlängern will. Allen Glanz, der mir möglich ist, stecke ich in meine Arbeit, in meine Kunst – er gilt Ihnen, verehrtes (Lese-)Publikum, aber erwarten Sie darüber hinaus nichts Verblüffendes oder Sensationelles von Georg Preuße.

Dank sagen möchte ich Axel Poldner, der die Idee zu diesem Buch hatte, sowie Claudia Kühne und Thomas Weidmann, die mich auf dem Weg in mein bisher erlebtes Leben begleitet und unterstützt haben. Sie halfen mir, manche Hürde zu überwinden, und nahmen mir die Angst vor der Reise in meine Erinnerungen.

EINE KINDHEIT IN ANKUM

Ich, Georg Preuße, Travestiekünstler, Schauspieler, 65 Kilo, 179 Zentimeter, kinderlos, wurde am 24. August 1950 in Ankum im Teutoburger Wald geboren. Das ist links oben, wo die Sprache heißt, wie das Land aussieht, und Armin einst die Römer schlug.

Georg – das bedeutet Bauer oder Landwirt. Kommt zwar nicht unbedingt meinem Wesen nahe, war ich doch eher zart, schwächlich und versponnen als robust und zupackend. Doch es war Tradition, die Söhne nach dem Großvater zu benennen, und der hieß bei uns eben Georg. Meine Zweitnamen erhielt ich nach katholischem Ritual von meinen Taufpaten Wilhelm und Johannes.

August, Spätsommer – die Bauern fuhren ihre Ernte ein. Der Herbst stand auf der Türschwelle meines Lebens und ein langer eisiger Winter in den Startlöchern.

Ankum – das war Gesangbuch und Melkschemel. Ein Dorf, wo die Menschen zwischen Kirche und Bauernhof auf sicherem Grund leben. Im Artländer Dom, einst Bischofssitz, war ich Ministrant und Chorsänger. Später, älter dann, ministrierte ich Ministranten. Bis dahin war mir wie auch allen anderen Ankumern die heilige Muttergottes Leitstern in gottlosem, sprich: protestantischem Lande, das da heißt Niedersachsen.

An den Tag meiner Geburt erinnere ich mich nicht. Meine Mutter schon eher. Sie sagt, ich habe es ihr leicht gemacht – obwohl neun Pfund schwer und siebenundfünfzig Zentimeter lang; doch nach zwei Kindern näherte sich das Tempo meines Kommens einer Sturzgeburt. Es war ein schöner Augusttag. 8.45 Uhr, die Glocken des Ankumer Doms dröhnten weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus und riefen die Bevölkerung zum letzten Geleit zusammen. Die Totenglocken waren mein Willkommensgruß. Ein Kommen und Gehen.

Hatte ich das mit dem letzten Geleit falsch aufgefasst? – Fast sollte ich allzu früh wieder gehen. Da war ich zwei, hatte einen Nabelbruch und wurde operiert. Anschließend wollte mein Blinddarm, dass ich gehe. Auch da entschied ich mich zu bleiben. Nach dem zweifachen Schnitt verwandelte sich mein bis dahin gesundes Leben in ein kränkelndes. Und das sollte lange so bleiben.

Neben Mutter, Vater und mir lebten noch meine vier Geschwister zu Hause und Vaters Mutter, Oma Wilhelmine. Zu Hause, das war ein 1923 von den Großeltern erbautes Haus. Ein einfacher zweistöckiger Geschäfts- und Wohnbau, eingezwängt zwischen den Nachbarhäusern. Mehr nützlich als chic. Unten befand sich der Preuße’sche Elektroladen, an den sich Büro und Küche anschlossen.

Die Küche war Dreh- und Angelpunkt des Preuße’schen Familienlebens. Hier prallten Privates und Geschäftliches aufeinander. Über dem Küchentisch hing das Kruzifix und gegenüber an der Tür die Gertenrute. Das sagt einiges.

Vom Küchenfenster blickte man auf den kleinen dunklen Hinterhof, auf dem die Hühner und eine bissige Pute ihr Leben fristeten, bis sie zu irgendeinem Festtag im Topf landeten. Der Hof war der Spielplatz meiner Kindheit, denn ich spielte oft allein. Daneben stand ein weiteres kleines Haus, das dem Elektroladen als Werkstatt diente. Das Wohnzimmer im ersten Stock mit seinem reich verschnörkelten Mobiliar und dem Gründerzeit-Klavier war der schönste Raum des Hauses. Aber wie das so ist mit der Schönheit – es war nur selten zugänglich, nämlich an Sonn- und Feiertagen. Der Hausflur führte in einen einstöckigen Anbau, durch den man in die Waschküche und zum Schweinestall gelangte. Auf dessen Dachboden lagen aufgetürmt die Holzscheite für den Winter.

Unterm Dach residierten wir Kinder in kleinen Zimmern mit Dachluken. Dort gab es auch eine kleine Abstellkammer, in der sich alte Kriegsempfänger, Grammophone und Schellackplatten, Kartons mit alten Kleidern und Kisten mit Steuerbelegen stapelten. Eine Fundgrube, die besonders ich sehr häufig aushob.

Die Eltern meiner Mutter, Oma Maria und Opa Heinrich, wohnten wenige Kilometer von Ankum entfernt auf der Kunkheide, einer Ansammlung von kleinen Gehöften. Sie führten eine eigene Landwirtschaft und hatten die beachtliche Anzahl von sieben Kindern. Jeden Sonntag kamen sie nach der Messe mit dem Pferdewagen und tranken mit unserer Familie Kaffee. Einfache Bauersleute, grundgütig. Obwohl Großvater auch sehr hart sein konnte und selbst seine schon erwachsenen Kinder noch zu züchtigen wusste; uns Enkelkindern gegenüber war davon jedoch nichts zu spüren. Immer hatten sie ein paar Süßigkeiten und für jedes der Kinder einen halben Groschen für den Dorfladen dabei. Ihr Besuch war der Höhepunkt der Woche. Großmutter buk köstliches Brot. Das ganze Haus roch danach, wenn sie welches mitbrachte.

Im Schutze ihrer Herzenswärme war meine Mutter groß geworden, und so hatte auch sie etwas Grundgütiges und Helles in ihrem Gemüt, das sie in unsere Familie einbrachte. Sie war eine Mutter, wie sie im Buche steht, sie kümmerte sich um uns und hatte Verständnis für unsere Sorgen. – Wenn es ihr zeitlich möglich war: denn sie führte im Elektroladen, unserem Familienbetrieb, die Bücher. Etwas, was sie erst lernen musste, nachdem sie in den Preuße’schen Haushalt eingeheiratet hatte.

Auf ihre Art war Mutter eine emanzipierte Frau, obwohl sie selbst das Wort nie im Munde geführt hätte. Sie musste beides leisten: Kinder erziehen und Geschäftsfrau sein, wobei Ersteres mehr ihrer Natur entsprach und das Geschäft nicht so viel Zeit für uns Kinder ließ, wie sie und wir es gewünscht hätten. Sie war rund um die Uhr beschäftigt. Trotzdem nähte oder strickte sie noch bis spätabends Kleidung für uns. Als sei das nicht genug, erschwerte ihr die Anwesenheit von Vaters Mutter zusätzlich das Leben.

Denn Oma Wilhelmine war wie ihr kaiserlicher Vorname, und unser Familienname war die passende Ergänzung. Alles Neue war ihr suspekt, alles Preußische vertraut. Sie war streng zu sich wie zu anderen. Frühzeitig, noch vor dem Kriege, starb ihr Mann Georg, der Begründer des Familienbetriebes, an Kehlkopfkrebs, und später verlor sie zwei der drei Söhne »auf dem Feld der Ehre«, wie es damals hieß. Aber auch den dritten, meinen Vater, ließ sie mit sechzehn Jahren noch freiwillig in den Krieg ziehen. Ob aus Vaterlandsliebe oder anderen Gründen – ich habe es nie verstanden. Wenn ich als Kind danach fragte, erhielt ich die lapidare Antwort: Das war damals eben so. Vielleicht ist das wie bei den Müttern der Palästinenser, die stolz sind, wenn sich ihre Söhne für die gerechte Sache, sieben Jungfrauen im Himmel und 50.000 Dollar mit anderen in die Luft sprengen. Auch das kann ich nicht verstehen. Ich würde keines meiner Kinder ziehen lassen, aber das sagt einer so leicht daher, mehr als sechzig Jahre danach oder viertausend Kilometer weit weg. Sicherlich sollte man nicht über Menschen urteilen, die unter unvergleichbaren Bedingungen Entscheidungen treffen müssen.

MEIN SOHN IST EIN HELD

In der Tagesschau brachten sie eine von diesen Meldungen, die einem schon gar nicht mehr auffallen, weil man sich schrecklicherweise so an sie gewöhnt hat. Ein junger Palästinenser hatte sich vor einem Militärposten in die Luft gesprengt und dabei einen israelischen Soldaten mit in den Tod gerissen. Die beiden waren genau gleich alt. Der Reporter hatte auch zwei Frauen ausfindig gemacht, die Mutter des Palästinensers und die Mutter des Israeli. Die beiden haben sich nie getroffen, aber eigentlich müssten sie Freundinnen sein. Denn was sie in ihren Interviews sagten, war genau dasselbe:

Die palästinensische Mutter sagte:

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist ein Held.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist jetzt tot.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Du kannst stolz sein!

Und sein Blut – ach, sein Blut – war so rot.

Und die israelische Mutter sagte:

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist ein Held.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Das ist der Preis.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Du musst stark sein!

Und sein Gesicht – sein Gesicht – war so weiß.

Mein Sohn ist ein Held, mein Sohn ist ein Held.

Drum sitze ich da und weine.

Mein Sohn ist ein Held, mein Sohn ist ein Held.

Drum bin ich so ganz alleine.

La-la-la-la-la – La-la-la-la-la ... –

Drum bin ich so ganz alleine.

Wenn man ihn zum letzten Mal in seinen Armen hält, dann weiß man: Eine Welt, die Helden braucht, ist keine gute Welt ...

Die Kamera starrte die beiden an, wie die Leute starren, wenn irgendwo ein Unfall passiert ist. Die eine Frau sprach arabisch und die andere sprach hebräisch, aber was sie sagten, hätte man in jeder Sprache der Welt verstanden:

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Es musste sein.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Es ging ganz schnell.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist ein Märtyrer.

Und sein Lachen – ach, sein Lachen – war so hell.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist bei Gott.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Wie Allah will.

Sie haben ihn mir gebracht und gesagt:

Er ist ein Opfer.

Und seine Stimme – ach, seine Stimme – ist so still.

Mein Sohn ist ein Held, mein Sohn ist ein Held.

Ich habe ihn geboren.

Mein Sohn ist ein Held, mein Sohn ist ein Held.

Ich habe ihn verloren.

La-la-la-la-la – La-la-la-la-la ... –

Ich habe ihn verloren ...

Eine Antwort gibt es nur, wenn man die Frage stellt:

Ist eine Welt, die Helden braucht, denn eine gute Welt?

Nein! Eine Welt, die Helden braucht, ist keine gute Welt.

(Musik: Marcus Schönholzer · Text: Charles Lewinsky)

*

Wilhelmine jedenfalls machte es meiner Mutter alles andere als leicht. Im Nachhinein würde ich sie als stutenbissig bezeichnen. Im Grunde tat sie, als hätte sie eine bürgerliche Herkunft und sei etwas Besseres, was aber gar nicht stimmte. Denn auch Wilhelmine kam vom Land. Sie hatte das aber offenbar so weit »vergessen«, dass sie die Vermählung Vaters mit meiner Mutter als unstandesgemäß betrachtete. Sie hatte für Vater eine andere Frau im Sinn gehabt, am liebsten eine, wo man die Geschäfte zusammentun kann, eine aus reichem Hause. Dass da eine einfach so daherkam und in die Wohlstandsdynastie einheiratete, das passte ihr nicht.

Und doch konnte sie ihre landwirtschaftliche Herkunft nicht verleugnen. Hielt im Geschäftshaushalt Schweine und Hühner und wollte ihren Garten, der einige hundert Meter vom Haus entfernt war und alles zur Selbstversorgung im Notfall bereithielt, partout nicht aufgeben.

Der Garten. 700 Quadratmeter, rechteckig, leicht abfallend, direkt im Schatten der noch bestehenden mittelalterlichen Ortsmauer. Am unteren Ende plätscherte die Ankumerbeeke, die zu bestimmten Jahreszeiten unbändig über die Ufer trat. Ein Garten, der alles bot: Gemüse, Kräuter, Blumen, einen kleinen Teich mit Springbrunnen, einen großen Apfelbaum, dessen Zweige über den Gartenzaun hinaus auf den Weg rankten. Seine furzsauren Boskops taugten allenfalls für Mus. Wir aßen sie trotzdem – die Zeiten waren nicht rosig –, im Winter aus der Sandkiste im Kartoffelkeller, im Sommer direkt vom Baum. Meine Großmutter kannte jede einzelne Jahresfrucht und ahndete gelegentlich einfallende Mundräuber auf das Strengste.

In diesem Garten hatte Großmutter für jeden Enkel ein Beet angelegt, drei mal drei Meter. Enorm quadratisch. Das mussten wir selbst versorgen. Ich züchtete neben Salatköpfen und Erbsen zu Wilhelmines Leidwesen Wicken, die ich bis heute wegen ihrer zarten Blüten über alles liebe. Wenn man sie abschneidet und in eine Vase sperrt, sie also vereinnahmen will, gehen sie rasch ein. (Wie ich.) In Großmutters Augen war das unnützes Zeug. Dass ich auch den Löwenzahn behalten wollte, überstieg dann ihren auf Verwertbarkeit begrenzten Horizont doch erheblich. Dabei kann man Löwenzahnblätter sogar essen und aus den Blüten Kränze flechten oder Honig kochen. Löwenzahn ist für die meisten Unkraut, die Leute reißen ihn raus und schmeißen ihn weg. Und wenig später ist er wieder da. Da hat er sein gelbes Köpfchen durch die schmale, dunkle Mauerspalte gedrückt oder quasselt im Beet schon wieder mit den Erdbeeren. Wie der Kasper, der keine Angst vor dem Teufel hat, lugt sein leuchtendes, freches Köpfchen unbefangen und für jeden sichtbar der Sonne entgegen. Gestern? War da was? … Wenn man mich fragen würde, welcher Pflanze Mary ähnelt, würde ich sagen: einem Löwenzahn.

Und auch ich, Georg, fühle mich bis heute so. In meiner Kindheit und auch später im Künstlerleben hatte ich oft das Gefühl, dass man Teile von mir versuchte auszureißen, die anderen unnütz oder hässlich erschienen. Ich aber, Sternzeichen Jungfrau, ausgestattet mit dem Lebenswillen eines Löwenzahn, trieb immer wieder aus.

Ich hatte auch Erdbeeren und Kartoffeln. Kartoffeln, um Wilhelmine zu besänftigen. Auf der sicheren Seite aber war, wer sein Beet in Schuss hielt. Das machte ich. Meins war ordentlicher als das meiner Geschwister. Wilhelmine trieb es zum Wahnsinn, wenn man sein zugewiesenes Stückchen Erde nicht ordnungsgemäß ausbeutete. Ein ungeordnetes Gartenplanquadrat fand sie ausgesprochen erregend. (Ihr Triebleben blieb mir immer ein Rätsel.)

Nicht nur der Garten, auch die Küche unterstand dem Regiment meiner Großmutter. Das Essen war einfach und deftig. Oftmals gab es Eintopf, den ich als Kind hasste. Ich habe wenig gegessen. Aber Wilhelmine war knallhart: Wenn man mittags seinen Grünkohl nicht aß, gab es ihn abends wieder. Und dann wieder am nächsten Morgen. Bis er alle war. Bis heute hasse ich alles Aufgewärmte, im Berufsleben und privat.

Später wurde Grünkohl meine Lieblingsspeise, ich bereite ihn heute noch gern nach altem Rezept zu. Für manche Dinge im Leben muss man wohl erst erwachsen werden, um ihren Wert zu schätzen. Als Kind aber bevorzugte ich Pudding und anderen Süßkram.

Auch in der Wahl meiner Spielkameraden folgte ich nicht den Vorgaben meiner Familie. In der Ankumerbeeke wuschen die Vertriebenen während der Nachkriegszeit ihre Wäsche. Sie wohnten in Baracken, die mit Doppelstockbetten voll gestopft waren. Ich fand Doppelstockbetten toll. Darin konnte man wunderbar spielen, was ich auch ausgiebig tat. Aber sie gehörten den Aussiedlern, und Großmutter sah es überhaupt nicht gern, wenn sich die erlauchten Preußekinder mit ostpreußischem Kroppzeug umgaben. Was ich schon damals nicht verstand. Was sollte an diesen Kindern schlecht sein? Natürlich habe ich mit ihnen gespielt. Heimlich! Intoleranz gegen Stände, Hautfarben, Rassen oder sonst was bekommen Kinder von Erwachsenen beigebracht. Auf solch absurde Ideen würden sie nie von selbst kommen.

Ich habe immer gut zugehört, wenn es hieß: Mit Zirkuskindern spielt man nicht oder Das ist ein Jude, das sind alles durchtriebene Bänker oder Zigeuner, die klauen die Wäsche von der Leine. Oder wenn die Nonne uns im Religionsunterricht eindringlich vermittelte: Die Juden haben Jesus ans Kreuz genagelt. Solche Sätze schürten mein Interesse. Ich konnte schon frühzeitig sehr gut entscheiden, wann ich den Erwachsenen glaube und wann nicht. Ich war einfach still zwischen ihnen, lauschte ihren Lebensweisheiten und schied Richtiges von Falschem. Warum ich das so selbstbewusst tat, weiß ich nicht, vielleicht ist es eine Begabung.

Manchmal denke ich, dass diese Unbeirrbarkeit, dieses sichere Gefühl für das, was richtig und was falsch für mich ist, das größte Gut ist, das ich in meinem Leben mitbekommen habe. Eines, das ich bei vielen Menschen vermisse. Meinen Weg habe ich jedenfalls immer selbst bestimmt, auch wenn ich manchmal warten und mich zeitweilig im Schatten einer anderen Person verstecken musste – so wie Georg lange im Schatten von Mary lebte. Und ich glaube, deshalb bin ich trotz allen Befremdens, das man mir entgegenbrachte, auch selten bei anderen angeeckt: Sie spüren, es ist mein ureigenstes Leben, das ich selbstverständlich und ohne Aufsehen führe.

So habe ich mir auch mein kindliches Theaterspielen trotz Verbots nie unterdrücken lassen, auch wenn die Theaterleute unvernünftig und unanständig waren und das Theater eine brotlose Kunst. Ich wusste, es war gut für mich, auch wenn die Erwachsenen das Gegenteil behaupteten. Die Richtung meines Lebens bestimmte ich selbst.

Am meisten faszinierten mich die Zirkuskinder und ihre Art zu leben. Natürlich war es verboten, dort hinzugehen. Für so etwas gab Vater kein Geld. Also ging ich heimlich: Luke unter die Zeltplane gemacht und unter den Beinen der oftmals spärlichen Besucher bis an die Manege herangekrochen! Das machte auch mehr Spaß. Später, als ich als Mary mein Brot verdiente, erleuchtete es mein Gemüt, wenn Seil- und Rollschuhakrobaten, Zauberer und Bauchredner, Feuerschlucker und Schlangenbeschwörer mit mir gemeinsam in einem Programm auftraten.

Vater versuchte mich vom Lotterleben fern zu halten, weil er schon frühzeitig Angst bekam, ich könnte in diese Richtung abdriften. – War wohl auch was dran, hat aber nichts geholfen! – So durfte ich auch nicht ans häusliche Klavier, während meine Schwester sogar musste. Sie hasste ihre Klavierstunden. Da war es besser, ich begleitete sie heimlich, selbstlos wie ich war. Mir war das Klavierspielen von Vaters Seite streng verboten, bis dahin, dass er den Deckel zuschlug, wenn er mich dabei ertappte. Ob meine Finger noch darunter waren, interessierte ihn nicht. Dabei spielte er selbst gut. Das Einzige, was er mich in ausgelassener Stimmung auf dem Instrument lehrte, war der Flohwalzer. Eine spärliche Ausnahme.

Das erste Mal ins Theater durfte ich mit fünfzehn, da hatte Tante Irmgard zu Silvester in Osnabrück Karten für die »Fledermaus« besorgt. Ich überquerte die häusliche Schwelle fliegend in den höchsten Tönen der Fledermaus …

Was meinen Vater zur Weißglut brachte, wurde von anderer Seite goutiert – einer Seite, von der man es vielleicht gar nicht erwartete: Wilhelmine. Sie mochte es, wenn ich die alten Revuefilme nachspielte, wenn ich mich im Kostümchen drehte und sang. Wenn Vater das sah, konnte er schrecklich laut werden. Wilhelmine stellte sich dann immer vor mich und beruhigte ihn. Ohne ihren Schutz wäre ich sicher nicht geworden, was ich bin, sondern hätte irgendwann vor lauter Angst aufgegeben.

Sie hatte großen Einfluss auf uns Kinder, unsere Erziehung oblag größtenteils ihr. Und dem Hausmädchen Lena – einer gutmütigen Frau, die mir meine Lieblingsspeise Eiercreme stundenlang schlug, bis sie schön schaumig war. Mutter und Vater waren im Geschäft, Großmutter war die graue Eminenz. Grau und verdreht.

Und stur. Sie wollte anfangs nicht wahrhaben, dass mein älterer Bruder Karl-Heinz tatsächlich Vaters Kind war. Nach seiner Geburt ließ sich das nicht mehr leugnen. Meine Eltern warteten jedoch bis vier Wochen nach der Geburt mit der Hochzeit, was damals eher die Ausnahme und als kleiner Sieg Wilhelmines zu werten war. Die Leute heirateten immer noch schnell, wenn die Schwangerschaft feststand, der Bauch aber noch nicht zu sehen war, bis dahin, dass sie ihre Neugeborenen als Frühgeburten ausgaben. Das Vergnügen der unbefleckten Empfängnis war schließlich der Jungfrau Maria vorbehalten. Es war natürlich niemand so naiv, das zu glauben. Aber die Leute wären doch um ein Vergnügen ärmer gewesen: So hatten sie etwas zum Tratschen. Großmutter zog sich dann auf ihren Satz zurück: Wenn’s unten juckt, ist der Verstand im Arsch! Etwas, das ich später noch oft als Warnung zu hören bekam.

Zu Karl-Heinz hatte ich erst während meiner Pubertät engeren Kontakt, nachdem meine ältere Schwester Marianne, mit der ich bis dahin am meisten gespielt hatte, ins Internat gekommen war. Karl-Heinz und ich waren als Kinder sehr unterschiedlich, denn er war stark und kräftig und für jeden Jungenstreich zu haben. Er war ein richtiger Rabauke, hat lieber lange Fußball gespielt als zu lernen, sodass Vater ihn immer von der Straße holen musste. Von ihm wurde ich aufgeklärt. Er wusste mit vierzehn schon, wie alles geht, und zeigte es mir.

Karl-Heinz ist als Einziger von uns Geschwistern in Ankum geblieben. Sowohl er als auch seine Frau Hedwig, die ich immer sehr mochte, hatten es mit Vater nicht leicht, obwohl Karl-Heinz in Vaters Fußstapfen trat und lange Jahre im Familiengeschäft mitarbeitete. Aber Väter und Söhne in einem Laden, das geht selten gut. Es bekam ihm jedenfalls besser, als er irgendwann die Firma wechselte.

Wie meine Eltern beeilte er sich mit dem Kinderkriegen. Er war der Erste, der meinen Eltern, als sie Anfang vierzig waren, einen Enkel schenkte. Damals baute mein Vater ihnen den Dachboden zur Wohnung aus. Ich verlor zwar mein Jugendzimmer, aber ich gewann Hedwig als Freundin. Es war ein Drama, als das Kind verstarb. Solche Wunden heilen nie, auch wenn man, wie die beiden, irgendwann ein neues Kind in den Armen wiegt.

Doch zurück zu Wilhelmine. Bevor sie sich den abgewetzten Kittel über die schwarze weißkragene Tracht zog, um das Vieh zu versorgen, ließ sie sich jeden Morgen vom Hausmädchen eine Stunde lang ihre langen, bis zum Po reichenden blonden Haare kämmen und kunstvoll binden. Es war schon verrückt: Auf eine Art leugnete sie ihre Herkunft, auf eine andere Art hielt sie wie eine Löwin daran fest. Sie hielt einfach alles Alte fest. Mein Vater hingegen erkannte die Zeichen der Zeit und sah nach vorn. Als wir die erste Waschmaschine bekamen, in deren Verkauf Vater eine neue Möglichkeit sah, Geld zu verdienen, heulte sie. Meine Mutter übrigens auch. Einer der wenigen Momente, da sich beide mal einig waren. Wir bräuchten keine Waschmaschine, sagte Wilhelmine, und wollte lieber weiter unterm Schweinetrog Feuer machen, die Wäsche darin kochen, schrubben, stampfen und spülen – und anschließend das Schweinefutter darin rühren, bevor er uns zur wöchentlichen Körperpflege diente. Später ließ mein Vater zum Vergnügen aller ein Badezimmer ins Haus einbauen.

Auch in das neue Haus am Tiefen Weg, das meine Eltern bauten, als ich elf war, wollte Wilhelmine nicht einziehen. Sie weigerte sich bis zum letzten Tag und zeterte lange, dass ihr altes Haus, das sie einst mit ihrem Georg erbaut hatte, ja wohl noch immer gut genug gewesen sei, man brauche kein neues. Mein Vater aber wollte expandieren. Am Tag des Umzugs weigerte sie sich denn auch mitzuhelfen. Als der Pferdewagen mit Onkel Herrmann aber früh um sechs vor der Haustür stand, erschien sie mit fertig gepackten Köfferchen und saß als Erste auf dem Kutschbock, noch bevor der Anhänger beladen war.

Auch in anderen Dingen war sie verdreht. So schaute sie einmal, als die Eltern in den Großhandel fuhren, so lange aus dem Bürofenster, bis diese nicht mehr zu sehen waren, und sagte dann: »Jetzt sind sie weg, jetzt kriegt ihr erst mal ’ne Tracht Prügel.« Sie machte das dann auch wahr, nicht bei mir, aber bei meinem Bruder und meiner Schwester. Unser Kindermädchen weinte den ganzen Tag, bis meine Eltern zurückkamen und Lena, nach den Tränen befragt, den Vorfall berichtete. Es kam zu einem Riesenkrach zwischen meinen Eltern und Oma.

Und wenn Wilhelmine Appetit auf Hühnchen hatte, forderte sie den Stüt, das Hinterteil, weil sie das Fette daran liebte. Sie bekam ihn auch und beklagte sich am nächsten Tag bei den Nachbarn: »Ja, bei uns gab’s gestern Hühnchen, aber ich musste den Stüt essen, die Schenkel haben mir die anderen weggegessen!«

Obwohl Mutter und meine älteren Geschwister unter Wilhelmines Art litten, war sie doch auf eine bewundernswerte Weise ehrgeizig und zäh. Das habe ich sowohl von ihr als auch von meinem Vater geerbt. Nachdem ihr der Mann 1933 gestorben war, hatte sie das Geschäft, das später Vater zufallen sollte, und die Kinder allein durch schwierige Zeiten gebracht. Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, was das in unsere Zeit übersetzt bedeuten würde. Ich habe sie immer mit großer Ehrfurcht und Ambivalenz betrachtet. Was ich von ihrem Wesen begriff, hat mich abgestoßen, aber ich war ihr Lieblingsenkel, was damit zusammenhing, dass ich den Vornamen ihres Mannes trug und ihm sehr ähnlich gewesen sein muss. Obwohl er so ein Luftikus war. Er hatte den ersten französischen Rennwagen im Ort, war ein beliebter Unterhalter bei den Ortsansässigen und kam nicht immer pünktlich nach Hause. Ein Düsseldorfer. Ganz rheinische Frohnatur. Wenn Wilhelmine das Essen auf den Tisch stellte und er kam zu spät – gab es nichts mehr! Dann drehte er sich auf dem Absatz um, aß in der örtlichen Gaststätte und verließ diese mit den Worten: »Die Rechnung schicken Sie bitte meiner Frau.«

Vater ist in vielem seiner Mutter Sohn. Wie gesagt, er war sechzehn, als er sich freiwillig für den Krieg meldete. Wenn ich heute in das Gesicht eines Sechzehnjährigen blicke, erscheint mir das unvorstellbar, aber so war es damals, und niemand weiß bis heute, was Vater während dieser Zeit alles gesehen haben mag. Ich weiß nicht, ob es ihn tatsächlich so stark aus der Bahn geworfen hat, wie ich lange dachte. Vielleicht lag es auch daran, dass seine Kinderseele zu viel Strenge und Selbstdisziplin und zu wenig Wärme und Zuwendung erfahren hatte. Großmutters Erziehung und die Zeit haben ihn auf jeden Fall bis auf den heutigen Tag geprägt. Auch Vater war zäh und akribisch, er führte das Geschäft, den alten Elektroladen meiner Großeltern, mit demselben Ehrgeiz wie zuvor Wilhelmine. Zwischen dem Wohl der Firma und dem der Familie gab es für ihn keinen Unterschied. Insofern drehte sich alles um die Firma. Ging es ihr gut, so hatte es auch die Familie gut. Leider ging die Formel im wirklichen Leben nicht so auf, wie er in Firma und Beruf.

Er war unermüdlich und gut im Improvisieren. Nach dem Krieg hatte er nicht mal einen Schraubenzieher und zog kurzerhand mit dem Küchenmesser auf dem Fahrrad los, um irgendwelche Reparaturen zu erledigen. Er machte auch Erfindungen und konnte aus einem alten Kühlschrank einen Brutkasten für Hühnerküken basteln.

Damals war das Geschäft selbst sonntags geöffnet. Besonders da war der Laden voll, wenn die Bauern nach dem Kirchgang ihre Glühbirnen, Kabel und Sicherungen nachkauften. Vater hatte eine Krämerseele, was man daran sah, dass er selbst den Großvater Heinrich für seine Glühbirnen bezahlen ließ, wenn auch zum Einkaufspreis oder in Eiern. Es musste alles seine Ordnung haben.

Auch die Bücher mussten stimmen. Deren Führung oblag Mutter. Anfangs hatte sie überhaupt keine Ahnung davon, sie hatte lediglich eine Haushaltsschule besucht. Auch das Maschineschreiben war ihr fremd; zwischen Geschäftsführung und Kindererziehung hin und her pendelnd kam sie nie dazu, es zu lernen: Bis zum Ende schrieb sie alle Rechnungen mit der Hand. Sie gab sich die größte Mühe – aber Vater konnte es nicht würdigen. Ständig herrschte er sie an und ließ nicht ab, bevor nicht Tränen ihre Augen füllten.

Mutter bewahrte alles Geschäftliche in einer großen Kiste auf, die einem Seemannskoffer ähnlich sah. In meiner Phantasie hätte man mehrere Leichen darin verstecken können. Das galt es nachzuprüfen, und so bemächtigten wir uns eines Tages der verheißungsvollen Kiste. So viel schönes Papier! Und die vielen Hefte, sinnlos beschrieben, wie mir schien. Aber wunderbar zum Papierflieger Bauen. Karl-Heinz und Marianne hatten es mir gerade beigebracht. Ich weiß nicht mehr, wie viele Schwalben wir daraus bastelten, aber alle nahmen einen wunderbaren Weg durch die Luke im Dachboden. Mit sehnsüchtigen Augen verfolgte ich den Flug der Schwalben, die mit ihren weißen Flügeln so frei im Wind trieben. Freiheit – für kurze Zeit. Enge – kaum eine schaffte es über den First in die blühenden Nachbargärten oder in die Ortsausfahrtstraßen. Die meisten landeten auf dem Dach des Nachbarhauses oder in der Dachrinne.

Am selben Tag besuchte uns Max Mustermann, ein Steuerbeamter, um die Bücher und Belege einzusehen. Das erste Mal in seinem Leben hatte er eine kreative Arbeit. Für uns war das ein sehr abwechslungsreicher Nachmittag. Allerdings wurde uns am Ende dieses unvergesslichen Tages nacheinander gehörig der Hintern versohlt. Meine Abneigung gegen Finanzbeamte rührt wahrscheinlich daher. Diese Herrschaften haben meinen Eltern so oft wegen ein paar Pfennigen das Leben zur Hölle gemacht und den Familienfrieden ruiniert, dass ich bis heute einen Groll gegen sie hege.

Später wurde der Laden um eine Fernseh- und Rundfunkabteilung erweitert. Jede verdiente Mark steckte Vater in die neue Abteilung. Sie war sein ganzer Stolz. Wir waren natürlich die Ersten im Ort, die einen Fernseher besaßen.

Das war 1954, in jenem Jahr, als die kriegsgeschmälerte deutsche Heldenbrust sich wieder mit männlichem Stolz blähte. Es war der Fußball, der dies bewirkte, der deutsche Sieg bei der Weltmeisterschaft in der Schweiz. Das »Wunder von Bern«. Da standen ja Soldaten auf dem Spielfeld: die Rahns und Walters und wie sie alle hießen. Einige waren erst kurz zuvor aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Und die schossen nun plötzlich die ganze Welt k. o. Die gewannen doch noch den Krieg, obwohl man sie ein paar Jahre zuvor total entmannt hatte. Die zeigten plötzlich allen, dass der Schwanz nicht ab war, sondern nur eingeklemmt, und dass man so nicht rumlaufen muss.

In ganz Ankum dröhnten die alten Radioapparate aus den Wohnungen oder schallten von den Fenstern über die Straße für diejenigen, die draußen im Garten arbeiteten. Unser Fernseher, der im Büro als Ausstellungsstück stand, war natürlich die Sensation. Und so traf sich die geballte Männlichkeit von Ankum in unserer Küche, um durch die geöffnete Bürotür die Geschehnisse in dem neuen Wunderkasten zu verfolgen. Sie brachten ihre Stühle mit, weil unsere nicht ausreichten, sie saßen auf dem Küchentisch, und das Fenster zum Hinterhof wurde aufgemacht, weil nicht alle in die Küche passten. Als ich vierjährig diese ganzen geschlagenen ehemaligen Soldaten sah, versteckte ich mich unter dem ächzenden Holztisch. Es hämmerte, trampelte, jubelte, fluchte und grölte, dass mir die Ohren dröhnten. Und dort unterm Tisch hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich nicht dazugehöre und auch nicht dazugehören will: So ein Mann wie einer von denen wollte ich auf keinen Fall werden.

Es war die Zeit des Wirtschaftswunders, des Verschweigens und des Neuanfangs. Man war fleißig, gehorsam, pünktlich, aber wenig bei sich. Ich glaube, all die Kriegsheimkehrer mussten vor allem zur Ablenkung ackern, um ihre Verletzungen überhaupt auszuhalten. Wahrscheinlich hatten sie gar keine andere Wahl. Die wurden nach so vielen Jahren in der Fremde auch nicht unbedingt von ihren Frauen erwartet, oder wenn sie erwartet wurden, kam alsbald die Ernüchterung, was der Krieg aus ihnen gemacht hatte. Die Frauen, die sich während der Kriegsjahre allein durchschlagen mussten, sollten sich wieder diesen seelisch beschädigten Männern unterordnen? Das war ganz sicher schwer. Und undankbar.

In meiner Erinnerung war das eine sehr lieblose Zeit. All die Menschen versuchten den Faden der Vorkriegsjahre wieder aufzunehmen, aber der Krieg hatte sie zu anderen gemacht. Ich glaube, dass unter der ganzen Euphorie, die man dieser Zeit im Nachhinein andichtet, eine tiefe Verzweiflung lag. Um da nicht hinsehen zu müssen, schaute man lieber nach vorn. Alle bauten auf, aber niemand wollte mehr fragen, warum es kaputt gegangen war. Was hätten sie anderes tun sollen?

Später spielte ich selbst so einen Kriegsheimkehrer: den Beckmann in Borcherts Nachkriegsstück »Draußen vor der Tür«. Nach der Aufführung kam Vater mit feuchten Augen zu mir und sagte leise und dankbar: »Ja, so war’s.«

Die bleierne Stimmung dieser Zeit schlug sich in meinem ständigen Kranksein und körperlicher Schwäche nieder. Meine Neigung, seelisches Leid in Krankheit auszudrücken, ist mir bis heute geblieben. Mein Körper reagiert noch immer wie damals, als ich ein Kind war. Ich war nicht der Junge, den Vater sich wünschte: Zäh wie Leder, flink wie ein Wiesel, hart wie Kruppstahl. In seinen Augen war ich eine unbrauchbare Lusche. Ein Stigma, das mich tief verwundete und sich wie ein Brandmal auf der Stirn eingrub. Zu oft hatte ich gehört: Was dich hart macht, macht dich stark. Bei mir schlug es ins Gegenteil um: Was dich hart macht, macht dich krank. Heute frage ich mich: Sind nicht all die Leute, die stark und hart sind, krank?

Aber es gab eine Zeit in meiner Kindheit, da blieb das Kranksein aus. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mich meine Eltern 1956 zur Schwester meines Vaters und ihrem Mann, Tante Liesbeth und Onkel Alfred, nach Castrop-Rauxel gaben. Sie wohnten in einer Reihensiedlung, die für die Grubenarbeiter errichtet worden war. Bei ihnen sollte ich nach langer schwerer Lungenentzündung zu Kräften kommen. Der Hausarzt hatte mich als körperlich zu schwach für die Schule befunden und um ein Jahr zurückgestellt.

Onkel Alfred war der erste Mann in meinem Leben, der Wärme ausstrahlte. Er baute mir einen Sandkasten und bastelte mit mir in seinem Hobbykeller eine Schubkarre. Er brachte mir das Singen bei, und wir beide schluckten jeden Tag ein rohes Ei, das er zuvor vor meinen staunenden Kinderaugen mit dicken Backen ausblies. Die leeren Eierschalen wurden zur Krönung auf die Sandburgen gesteckt. Oftmals holte ich ihn mit Tante Liesbeth auf dem Fahrrad von der Zeche ab, in der er werkte. Anschließend ging er mit mir immer an die »Bude«, wie wir sagten, trank ein Bier, und für mich fielen stets ein paar Süßigkeiten ab. Und wenn ich mal nicht brav war, brauchte Tante Liesbeth nur zu drohen: »Soll ich den Koffer packen?«, und schon war wieder alles im Lot.

Die beiden kümmerten sich so sehr um mich, dass ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl hatte, richtig zu sein. Ich war ihr neues gemeinsames Kind. Die Kinder Georg und Anneliese, die Tante Liesbeth in ihre zweite Ehe eingebracht hatte, waren schon erwachsen und wurden meine neuen Geschwister. Als die Schulzeit auch für mich näher rückte, kauften sie einen Schultornister. Sie wollten, dass ich in Castrop-Rauxel zur Schule gehe. Alle Castroper gingen davon aus, dass ich auf immer bliebe. Bis Vater eines Tages vor der Tür stand: Er kam, um mich zurückzuholen. Für mich, Onkel und Tante brach die Welt zusammen.

Es war nicht das einzige Mal, dass Vater meine Welt zusammenbrechen ließ. Das nächste Erdbeben ereignete sich an einem Heiligabend. Zunächst mussten wir ohne Vater feiern. Er reparierte ja die Geräte, die er verkaufte, selbst, was für den Rest der Familie hieß, dass er auch an Feiertagen oft unterwegs war. Gerade da sahen die Leute ja unglaublich viel fern, und die Geräte gingen kaputt. Die riefen dann bei uns an oder kamen vorbei, und Vater zog mit seinem Werkzeugkoffer los. Das Geschäft hatte immer Vorrang.

Großmutter hatte mir zu jenem denkwürdigen Weihnachten ein Kostüm aus buntem Leinenstoff genäht, mit dem ich Theater spielen konnte. Dazu gab es ein Cape und eine Krone aus Goldpappe. Ich zog es sofort an, begann zu spielen, drehte mich im Röckchen selig unterm Weihnachtsbaum und fühlte mich wie ein König. Alle freuten sich mit mir. Vater war wie üblich bei irgendjemandem eine Sicherung wechseln. Als er heimkam, brannte bei ihm die Sicherung durch: Er sah mich im Kostüm tanzen. – Ich werde mein Lebtag nicht vergessen, wie er tobte. Diese starren, wütenden Augen. Es gab bittere Tränen. Das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen hatte, war völlig wertlos in seinen Augen.

Dennoch hat das Weihnachtsfest bis heute eine besondere Aura für mich. Weihnachten! Ein Fest der Menschlichkeit. Da brauche ich meinen Tannenbaum und baue meine Krippe auf, da brauche ich meinen Kitsch und meine Gäste, die ich bekoche. Aber: Niemand darf irgendjemandem etwas schenken außer sich selbst …

*

Am Samstagnachmittag guckten sich Mutter und ich immer diese Revuen mit Gisela Schlüter im Fernsehen an oder den »Blauen Bock«. Es gab viele dieser wunderbaren Shows. Ich schwärmte für das Ballett, sang und tanzte mit. Auch wenn im Radio schöne Musik kam. Wenn Vater kam, machte er als Erstes das Radio oder den Fernseher aus.

Als wir dann ins neue Haus umgezogen waren, hatten wir diesen riesigen Hausflur, in dem es hallte wie in einer Kathedrale. Ach, klang das schön, wenn man da laut sang! Und dann noch im Kostümchen drehen ... Ich wusste nämlich, in welchem Teil des neuen Hauses der Schatz versteckt war: Man musste ins Gästezimmer, da gab es einen Verschlag, davor stand ein Bett, da musste man drunter durch und dann – stand man mitten in der Schatzkammer vor lauter alten Kleidern, Vorhängen und Stoffen! Aber hier hallte es nicht so schön. Der Sound musste auch damals schon stimmen. Revuegirl Georg zog es zurück in die Kathedrale, in den heiligen Tempel der Kunst. Hier nun tanzte ich und sang, inbrünstiger, als Vater es ertragen konnte. Als ich auch hierfür gemaßregelt wurde, sang ich nur noch kleinlaut.

Vater hielt es einfach nicht aus, dass ich nicht seinem Wunschbild entsprach. Er konnte nicht ertragen, dass ich anders war, und tat alles, meine Neigungen zu unterdrücken. Immer wieder versuchte ich ihn mit meinen Vorführungen zu begeistern, seine Anerkennung zu erlangen, aber nie gelang es mir, egal wie gut ich war.

Ein einziges Mal gab es eine Ausnahme, die war zum Karneval, und ich war sechzehn. Er war Vorsitzender des örtlichen Karnevalsvereins, und es war sein Wunsch, dass ich mit dem Tanzmariechen den Major gab und mit den anderen Dorfburschen ein Männerballett im Matrosenröckchen einstudierte. Auf den Kölner Karnevalsveranstaltungen war das zu der Zeit der Hit. Ich erfüllte seinen Wunsch mit großem Eifer. – Einmal präsentierte er mich wohlwollend, aber dabei blieb es auch. Wie das so ist im bürgerlichen Leben: Einmal im Jahr die Sau rausgelassen, dann aber ist es genug! Mehr konnte er mir nicht zugestehen. Wie beim Flohwalzer.

Nachdem ich meinen Vater mit dem Singen, Tanzen und Verkleiden so sehr erbost hatte, hielt ich es für eine kluge Idee, mich von schlechten Angewohnheiten der Vergangenheit zu trennen und ihn stattdessen mit besseren neuen Gewohnheiten zu besänftigen. Ich hielt das Kasperletheater für das geeignete Medium, ebendies zu erreichen. Und schrieb streng klassische Stücke. Es spielten mit: der Kasper, der Teufel, die Hexe, die Großmutter und die Grete. Damit trat ich dann im Kindergarten auf. Leider hatte ich schon damals diese Neigung zur Unendlichkeit. Für Kinder zwei Stunden Kasperletheater … Zwischendurch ging meine Phantasie mit mir durch, ich hatte so viele spontane Ideen, die ich auch noch mit reinnehmen wollte. Dann fiel mir wieder eine neue Story in der Story ein und so weiter. Kurz: Es war wohl sehr anstrengend für die Kinder, und auch Vater fing damals irgendwie nicht richtig Feuer.

Heute ist es anders – mein Vater achtet, was ich tue, aber ich kann mich noch immer nicht entscheiden, die Dinge weniger perfekt zu machen oder etwas leichter zu nehmen. Wenn es um die Anerkennung als Künstler geht, geht es immer auch um meinen Vater. Er selbst kannte ja seinen Vater nicht, von dem er immer nur Gutes hörte, den er gleichwohl nie hatte. Vielleicht hat er etwas an uns abgearbeitet, eine Schuld, ein schlechtes Gewissen, eine verpasste Kindheit? Aber so kann ich das erst heute anschauen, damals verstand ich überhaupt nichts, außer dass an mir irgendetwas nicht richtig war. Ein beklemmendes Gefühl.

Rückblickend sehe ich vieles in einem Nebel, da fühlt sich meine Kindheit schwer an. Wahrscheinlich wird mich die Schwere bis an mein Lebensende verfolgen.

*

Es gibt auch schöne Erinnerungen. So wurde sonntags immer eine Ausfahrt gemacht. Zunächst war das furchtbar für uns Kinder, weil man uns in kurze Hosen, Matrosenhemd, Jacke und Schlipschen zwängte und uns eine Ausgehfeinfrisur zum Schämen machte. Zumindest für meine älteren Geschwister war das quälend, ich war gerne schön angezogen. Und ich war gerne sauber. Und eitel.

Solchermaßen zurechtgemacht mussten wir dann still sitzen, bis auch die Erwachsenen landfein waren. Dann ging es los: Alle in den Caravan, vorne die Erwachsenen, hinten auf der Ladefläche wir Kinder. Und da wurde dann gesungen. Vater konnte gut singen, er kannte von der Hitlerjugend viele schöne Volkslieder, die mit dem »Edelweiß« und so. Das wurde immer mehrstimmig intoniert, und Vater sang die zweite Stimme. Zuerst ging es zu Omas Äckern, um zu sehen, wie die Pflanzen wuchsen. Danach ging es an den Dümmersee zum Baden: der Ort der Befreiung von Hose, Jacke, Hemd und Schlips. Und mit den Haaren, das kam auch wieder hin.

Zu den schönen Erinnerungen zählt auch eine Familie in der Nachbarschaft: die Reinkes. Diese Familie mit ihren sechs Kindern war furchtbar arm. Der Vater war Postbote, die Mutter verdiente durch Aushilfsarbeiten ein Zubrot. Doch die Eltern zogen ihre Kinder mit so viel Liebe groß, dass ich Willi um sein reiches Familienleben heimlich beneidete. Die Mutter buk täglich selber das Brot, kochte für die acht Hungermäuler in riesigen Töpfen, und wenn man zu ihnen kam, war es selbstverständlich, dass man mitaß. Obwohl sie es so schwer hatten, konnten alle Kinder studieren. Es gab noch kein Bafög oder Ähnliches. Ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben.

Meine Schwester Marianne hatte sich mit der Tochter Christa angefreundet, ich schloss Willi ins Herz.

Willi Reinke hatte einen beachtlichen Leibesumfang und trug eine ebenso beachtliche Brille mit Gläsern, so dick wie eine Lupe. Dafür wurde er von den anderen Kindern als »Brillenschlange« verlacht. Ich war ein Einzelgänger, weil ich ständig in der Schule fehlte und so immer wieder lange von meinen Altersgenossen getrennt war. Außerdem konnte ich ob meiner körperlichen Schwäche kaum mit den Dorfjungen mithalten.

Außenseiter also wir beide. Pat und Patachon. Dick und Doof, nein Dick und Dünn. Das hat uns verbunden, und so sollten wir auch durchs Leben gehen, vom Kindergarten bis zum Studium und darüber hinaus. Bis jetzt. Willi ist heute Professor, was nur folgerichtig war. Mit so einer Brille!

Ich war auch ein bisschen sonderbar. Schmutzige Kleidung zum Beispiel konnte ich nicht ertragen. Weil ich nie dreckig war, hätte man mich als pflegeleicht empfinden können, wäre ich nicht ständig krank gewesen. Jedenfalls musste Mutter mit mir nie wie mit Karl-Heinz schimpfen, wenn der völlig eingesaut vom Fußballplatz heimkehrte. Bei der Dorfjugend allerdings war ich nicht gut angesehen. Die tobten durch die Wälder, dass man hinterher wie Rumpelstilzchen aussah. Ich ging lieber spazieren. So schön angezogen durch den Wald zu flanieren – hatte doch auch etwas. Aber das ging wohl nur mir so. Wenn wir Robin Hood gespielt hätten, hätte ich mich freiwillig als Insasse der zu überfallenden Kutsche gemeldet. Für alle anderen wäre nur der Räuber infrage gekommen. Lieber war mir Gummitwist. Ich war eben so ein bisschen ballettartiger, filigraner. Die ordinäre Landjugend war mir zu grobschlächtig. Ich war mehr so ein Feinschnitzer. Und deswegen hatte ich auch immer das Gefühl, anders und ein Außenseiter zu sein. Als Kind merkt man das ganz genau und zieht sich in sein Schneckenhaus zurück. Mein Schneckenhaus waren Krankheiten, die mich körperlich, aber auch seelisch noch mehr von den anderen entfernten.

So hatte ich keine Chance, mit Jungen in meinem Alter zu spielen, und wich auf Mädchen aus. Das hatte den Vorteil, dass Mädchen eher bereit waren, sich in meine frühen Inszenierungen einspannen zu lassen.

Ich hatte schon als Kind einen Hang zum Rollenspiel und spielte alles nach, was ich im Fernsehen im Kinderprogramm gesehen hatte: »Die Prinzessin auf der Erbse«, den »Froschkönig« – auf dem Hühnerhof hinterm Haus oder in der Waschküche entstand das dann als Theaterstück neu. Ins Kino durften wir bis in die späteren Jahre nicht, nur wenn es von der Kanzel empfohlen wurde. Allzu oft nämlich hatte der Teufel seine Finger im Spiel. Unser Pfarrer aber schlug ihm in göttlichen Filmkritiken stets die verfaulte Hand ab.

Mein schönstes Stück entstand, nachdem ich das erste Mal ins Kino durfte: Vor dem »Lied der heiligen Bernadette« war nicht gewarnt worden. Also gingen wir hin. Die riesige Leinwand und die Heiligkeit der Geschichte hatten mich komplett absorbiert – es war ein großes Erlebnis. So kam es unweigerlich dazu, dass ich den Film mit meiner Schwester Marianne und ihrer Freundin Christa nachzuspielen begann. In meiner Inszenierung bestand die Aufgabe der Mädchen jedoch lediglich darin, neben oder vor mir zu knien, da ich beide Hauptrollen bekleidete: die Bernadette und die Muttergottes. Ich bin mir sozusagen selbst erschienen, was gar kein schlechtes Gefühl war. Ich sagte meine Sprüche als Maria, rannte in den Schweinestall, zog mich um, kam im nächsten Moment tief bewegt als Bernadette heraus, fiel betend auf die Knie und fühlte mich schon ganz heilig. Das Ganze wurde vor zehn, zwölf und manchmal auch mehr Nachbarskindern aufgeführt.

Wilhelmine sagte immer: Georg, was nichts kostet, ist auch nichts wert. Deshalb mussten die Nachbarskinder immer bezahlen, wenn sie meine Stücke sehen wollten: ein und später dann zwei Bonbons. Ich habe schon als Kind aufgrund dieser Lebensmaxime nichts umsonst gemacht. (Das hat sich bis heute erhalten. Roland Müller, der damalige Besitzer des »Paradies« in Nürnberg, in dem ich in meinen Anfangsjahren oft auftrat, äußerte einmal gegenüber den NÜRNBERGER NACHRICHTEN: »Die war immer teuer, aber sie war auch die Einzige, die ihr Geld wert war und es immer eingespielt hat.«)

Während ich mich also eher Beschäftigungen hingab, die nicht ganz dorfburschentypisch waren, wollte Marianne lieber ein Junge sein und wünschte sich zu Weihnachten ein Schießgewehr. Sie bekam aber Inge, eine Pullerpüppie. Das Schießgewehr bekam ich. Marianne spielte nicht mit der Puppe und ich nicht mit dem Gewehr. Also tauschten wir. Da hatte alles wieder seine natürliche Ordnung.

Mit Marianne spielte ich, bis ich dreizehn war. Dann kam sie zu den Nonnen ins Internat, weil sie als schwer erziehbar galt. Marianne hatte es in sich, sie war nicht zu bändigen. Im Internat haute sie dann über die Mauer ab. Als sie weg war, hatte ich sie gleich noch lieber. Sie fehlte mir furchtbar.

Als Kinder spielten Marianne und ich nicht nur Theater, sondern hielten auch private Messen ab. Ich war der Priester und sie die Messdienerin. (Damit waren wir unserer Zeit voraus, denn das wurde in der Kirche erst viel später eingeführt.) Das waren keineswegs blasphemische Séancen, sondern liturgisch saubere Andachten.

Man muss dazu wissen, dass Ankum eines der letzten katholischen Bollwerke Niedersachsens ist. Der Artländer Dom, dem heiligen Nikolaus geweiht, steht majestätisch und Ehrfurcht gebietend mitten im Ortskern auf einem kleinen Hügel. Jedem Besucher schon aus vielen Kilometern Entfernung sichtbar, ragt sein Turm 79 Meter in den Himmel. Die alten Häuser des tausendjährigen Ortes umkreisen gleichsam das gotische Bauwerk. Die Grundmauern des Doms lassen sich bis in die Zeit zurückverfolgen, da Karl der Große das Christentum in diese Region brachte und die Taufkirche im Mittelpunkt des altsächsischen Varngaues in Ankum errichten ließ.

Über die Felder tönen viertelstündig die Glocken, jedem kundzutun, was die Stunde geschlagen hat. Auf der Kirchturmspitze prangt der goldene Wetterhahn. In Ankum muss man wissen, aus welcher Richtung der Wind weht. Und gewarnt sein: Noch ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben.

Es ist jedenfalls unmöglich, die Kirche in Ankum nicht wahrzunehmen, und es gibt wohl keinen Ankumer, der nicht von ihr geprägt wurde. Vor ein paar Jahren machte die ARD ein Porträt über mich und meine Arbeit. Auf die Frage des Reporters, wer wohl der berühmteste Ankumer sei, antwortete ein Einheimischer: »Der Pfarrer!« Herzerfrischend. Die Kirche bleibt hier im Dorf. Es ist klar, wer das Sagen hat.

Bei uns verheiratete man sich damals noch innerhalb des Ortes. Wenn man einen Bräutigam aus einem heidnischen, sprich: protestantischen Nachbarort anbrachte, kullerte eine Träne über das reine Antlitz der Muttergottes, und es verdunkelte sich hinter einem Schleier der Trauer. Und Katholiken trauern vor allem mit dem Zeigefinger. Einen Protestanten anzuschleppen war suspekt und allein dazu angetan, die heile Welt Ankums durcheinander zu bringen. Konvertieren war da noch das Mindeste, was man dem jungen Verirrten abverlangte. Am liebsten hätte man so einen erst mal ein paar Jahre in Quarantäne gesteckt. Als meine Tante Irmgard, die Schwester meiner Mutter, den Nicht-Ankumer Gert heiraten wollte, soll meine heilige Oma Maria gesagt haben: »Wenn du den Mann heiratest und der tritt nicht zur katholischen Kirche über, überlebe ich das nicht.« Und das war kein Gerede, das war bitterer Ernst. Onkel Gert konvertierte.

Sowohl meine Großmütter als auch Marianne und ich waren sehr gläubig. Und wie gesagt, Marianne und ich zelebrierten mit Inbrunst private Messen. Oma Wilhelmine hatte mir eine Monstranz geschenkt. Die stand auf der Kommode in unserem gemeinsamen Zimmer gleich unter dem Dach. Durch den Metallrahmen unseres kleinen ovalen Dachfensterchens lugte, da hatte niemand Zweifel, der Herrgott auch ab und zu auf uns herab. Also wollten wir, dass er sich an uns erfreuen konnte. Alles wurde schön ausgeschmückt, Tücher kamen auf die Kommode, Kerzen wurden entzündet, und dann hielt ich die Messe, assistiert von meiner Ministrantin. Dumm war nur, dass sie öfter mal mit ihren langen schwarzbraunen Zöpfen in die Kerzen kam. Da stank es erbärmlich, weil es ein bisschen brannte, allerdings auch wieder nicht so doll, dass es dem Herrn missfallen hätte.

Wie den Herrn liebte Marianne auch mich. Weil ich bis zu meinem siebenten Lebensjahr öfters noch ins Bett machte, stellte sie sich über Jahre jede Nacht den Wecker und setzte mich manchmal stündlich aufs Töpfchen. Denn wenn es ins Laken ging, konnte es am nächsten Morgen Prügel geben. Das war nicht witzig, weder für mich – ich hatte panische Angst einzupullern – noch für meine Eltern, immerhin musste in grauer Vorzeit noch alles mit der Hand gewaschen werden. Und für Marianne in ihrer ganzen Fürsorge war es auch ein Drama. Sie stand mir immer bei und half mir beim Vertuschen der Malheure.

Marianne ist die Intelligenzbestie in unserer Familie. Was die denken kann, schaffe ich nicht mal mit Mary zusammen! Ich glaube, sie hat uns allen die Gehirnzellen gestohlen. Auf jeden Fall wurde sie Psychologin. Als sie in Kiel studierte, habe ich sie oft besucht. Dort hatte ich meine Oase. Sie hat dann geheiratet und ist inzwischen leider im Rollstuhl. Aber nicht, weil sie jemanden von woanders geheiratet hat.

*

Oma Wilhelmine war wie gesagt link. Sie hetzte Vater ständig gegen Mutter auf, sodass es Streit gab und er – in seiner Hilflosigkeit – die Hand gegen meine Mutter erhob. Als Mutter mal wieder weinend im Schlafzimmer lag, habe ich gesagt: »Komm, wir gehen beide weg.« Ich konnte es nicht mehr ertragen. Aber sie kam nicht. Sie liebte Vater über alles, sie war eine grenzenlose Optimistin (was ich leider nicht von ihr geerbt habe) und hatte immer Entschuldigungen und Begründungen parat: »Es wird alles wieder besser.«Und wahrscheinlich hatte sie aus ihrer Sicht auch Recht. Immer wenn Vater schreiend durchs Haus lief, habe ich mich vor lauter Angst unterm Bett des Gästezimmers versteckt. Man hat ihn bis auf die Straße gehört. Alle hatten vor ihm Angst, die Familie wie die Angestellten. –

Mir hat Wilhelmine viel Gutes gebracht. Dass ich körperlich überhaupt in die Lage kam, etwas auf die Bühne zu bringen, habe ich ihr zu verdanken. Sie nahm mich zu sich ins Bett, wenn ich an Lungenentzündung litt. Das war wieder einer dieser seltenen Momente, in denen sie sich mit Mutter einig war. Sie hielten Tag und Nacht Wache und machten nasskalte Fußwickel, um das Fieber zu senken. Dann beteten sie zusammen, zündeten unterm Kreuz Jesu Kerzen für mich an, während ich mit dem Leben rang, der Pfarrer kam und mir unter Mutters Verzweiflung den Beistand gab. Ich entschied mich jedes Mal wieder gesund zu werden.

Bis ich dreizehn war, verbrachte ich wegen chronischer Lungenentzündung mehrere Wochen im Jahr in Landschulheimen an der Nord- oder Ostsee, wo besonders schwächliche Kinder wieder aufgepäppelt wurden. Deshalb kam ich auch anfangs in der Schule nicht zurecht. Ich hatte schlechte Leistungen, weil ich so oft fehlte. Da ging Mutter eines Tages zur Klassenlehrerin – das war eine ganz junge Lehrerin, Fräulein Rothe – und flehte sie an, mich nicht sitzen bleiben zu lassen. »Wenn das Kind sitzen bleibt, dreht mein Mann durch«, sagte sie.

Fortan litt meine Klassenlehrerin genauso wie ich und gab mir Noten, die meinen Leistungen gar nicht entsprachen. Besonders in Deutsch, Lesen und Erdkunde war ich schwach. Selbst wenn ich etwas gelernt hatte, einen Stoff oder ein Gedicht – sobald ich an der Tafel stand, fiel es mir nicht mehr ein. Man glaubt immer, dass diesen Schauspielern, die ganze Bücher auswendig lernen, doch das Auswendiglernen leicht gefallen sein muss in der Schule – bei mir war es jedenfalls nicht so. Ständig flog ich am ganzen Körper, aber die Angst ließ keinen Gedanken fliegen.

Im Sportunterricht spielten meine Beine nicht mit. Der Sportlehrer Lampe, ein gut aussehender, großer, kantiger Mann, hatte eine sadistische Ader. Zudem besaß er ein goldenes Feuerzeug, von dem ich ausgesprochen fasziniert war. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und wünschte mir immer, auch so eins zu besitzen, wenn ich einst groß bin. Lampe liebte es, das Feuerzeug hervorzuholen, wenn jemand beim Seilklettern nicht hochkam. Neben Willi, der zu dick war, schaffte ich es aufgrund meiner Schwäche nicht: Ich blieb wie ein nasser Strohsack am unteren Seilende kleben. Lampe nahm dann gern das Feuerzeug und zündete es unterm Gelächter der anderen Kinder unter meinem Hintern an. Er machte mir buchstäblich Feuer unterm Arsch. So war das, Ende der fünfziger Jahre.

Da wurde in der Schule auch noch ordentlich geprügelt. Lampe, der die ersten vier Jahre mein Klassenlehrer war, wischte die Tafel immer besonders nass, weil sie dann schön glänzte und er beim Schreiben sah, wer hinter seinem Rücken schwatzte. Dann drehte er sich blitzschnell um, warf zielsicher mit der Kreide oder zückte den Stock. Und er hatte unterm Podest, auf das wir kleinen Menschenkinder klettern mussten, um an die Tafel zu kommen, immer zwei Dutzend Rohrstöcke. Einmal habe ich die anderen aufgestachelt, und wir vernichteten alles Rohr. Am nächsten Tag jedoch brachte er schon neues mit, und jeder bekam erst mal vorsorglich eine Tracht Prügel. Danach ließen wir lieber die Finger davon.

Wenn Lampes Methoden dazu angetan waren, uns zu beugen, so gingen Wilhelmines Ambitionen in eine andere Richtung. Sie hätschelte mich, brachte mir Disziplin und den aufrechten Gang bei, sowohl seelisch als auch körperlich. Menschen, die einen krummen Buckel machen, waren ihr ein Gräuel. Sie selber ging bis ins hohe Alter gerade.

So hieß es auch immer: »Steh gerade!« – und schon prallte ihr Gehstock in meinen Rücken. Was schmerzhaft war, aber mit dreizehn mein Leben verändern sollte. Ich stand in Badehose im heißen Sommer vor ihr, ihren Äußerungen meiner schlechten, schiefen Haltung ausgeliefert, bis sie feststellte, dass mein rechtes Bein in der Luft hing, wenn ich mich zu ihrer Zufriedenheit gerade gestellt hatte und die Hüftknochen in der Waage standen. Sie veranlasste, dass ich sofort zu dem jungen Ortschirurgen Doktor Tschirdewahn kam, der eine Wachstumsstörung attestierte und mich umgehend an die Universitätsklinik Münster überwies.

Um sieben Zentimeter länger musste das rechte Bein gegenüber dem linken bis zur Beendigung meines Wachstums werden. Die Professoren konnten damals schon anhand der Röntgenbilder feststellen, wie groß ich mal werden würde, bis dahin, wie lang das eine und das andere Bein wüchsen. Man schnitt dann das linke Bein auf und band die Knochen mit Sehnen fest, sodass sie nicht mehr in die Länge, sondern nur noch nach hinten wachsen konnten. Eine Operation, die für damalige Verhältnisse noch ungewöhnlich war und das linke Bein stauchte. Die Operation hinterließ zwar hässliche Narben und deformierte mein linkes Schienbein, befreite mich jedoch vom Wehrdienst und ermöglichte sogar meine Künstlerlaufbahn.

Alle denken immer, Mary hätte so wunderschöne Beine. Aber es ist ein Unterschied, schöne Beine zu haben oder sie schön zu präsentieren. Ich habe keine schönen Beine, ich verkaufe sie nur gut – an einem habe ich zwei zwanzig Zentimeter lange Narben. Die Figur Mary ist wie ihre Beine: eine schöne Illusion. Insofern passen die Beine auch gut zu ihr …

Die Operation war jedoch auch noch aus einem anderen Grund ein Glücksfall. Er trug den Namen Fräulein Strauß. Das war eine gestrenge Grundschullehrerin, deren gefürchteter Ruf noch weit über ihre Berufszeit durch Ankum hallte. Sie wohnte mit ihrer Schwester gegenüber dem Friedhof in einem kleinen Häuschen, das sie sich vom Lehrergehalt zusammengespart hatten. Als Kinder machten wir selbst nach ihrer Pensionierung lieber einen Bogen um das Haus: Wir hatten Angst, sie könne hexen. Den KIRCHENBOTEN, den ich austrug, um mein Taschengeld aufzubessern, schmiss ich ihr immer ganz schnell durch den Briefschlitz. Ich kannte nur ihren Ruf, doch nicht sie! Sie hatte ihre Prinzipien, legte mit ihren damals über siebzig Lenzen großen Wert darauf, mit Fräulein angesprochen zu werden, und beharrte darauf, nie wieder Unterricht zu geben. Doch nachdem meine Mutter es geschafft hatte, sie an mein Krankenbett in Münster zu schleifen, und sie mich dort sah, rührte sich ihr steinernes Herz: Sie gab den Bitten meiner Mutter nach und mir Nachhilfe.

Des Fräulein Straußens Wort brandete wie Donnerhall, sie war unerbittlich streng, aber doch gut zu mir. Obwohl sie so eisern war, bin ich immer gern zu ihr gegangen. Ich spürte, dass sich hinter ihrer Strenge eine große Liebe zur Sache verbarg. Sie wollte mich nicht quälen wie manch anderer Lehrer, sondern schlicht, dass ich etwas lerne. Was ihr auch gelang. Manches Wort ließ sie mich hundertmal hintereinander schreiben, damit ich das Schönschreiben lerne. Lehrer und Erstklässler wurden in der Schule mit der damals neuen Ganzwortmethode konfrontiert, und die setzt voraus, dass man das Bild des geschriebenen Wortes im Kopf abgespeichert hat. Da ich aber nicht schönschreiben konnte und das gleiche Wort immer anders aussah, hatte ich auch kein Bild, das ich hätte abspeichern können. Nachdem das Fräulein Strauß es mir beigebracht hatte, entstanden die Bilder, und ich wurde besser in der Schule. Mehr noch: Ich musste nicht nur keine Angst mehr haben, überhaupt versetzt zu werden, sondern plötzlich kamen Schulkameraden zu mir und fragten mich, ob ich ihnen helfen kann! Ich wurde Klassensprecher, kam in den Vorstand vom Kolpingverein und organisierte Landjugendabende. Das alles gab mir Auftrieb. Ich wurde ein bisschen freier, ein bisschen frecher. Ich konnte gut Witze erzählen. Und Menschen, die andere zum Lachen bringen, sind beliebt. Also machte ich mich beliebt. Zuerst beim Fräulein Rothe, die ich schon deshalb so sehr mochte, weil sie mich so sehr mochte. Die Klassenkameraden mussten dann gleich mitlachen, wenn ich das Fräulein Rothe unterhielt, und da mochten sie mich auch. So einfach war das.

Auf einmal war ich nicht mehr der Junge, der nur mit Mädchen sprechen durfte, auch die Jungs zeigten plötzlich Interesse an mir. Das hat mich ungeheuer erhoben. Auch wenn zu Hause erst mal alles blieb, wie es war. Ich führte praktisch zwei Leben: Zu Hause war ich still, aber außerhalb fühlte ich mich schon freier. Eine neue Erkenntnis fing an, sich breit zu machen: Ich, Georg Preuße, der sich bisher als von Natur aus schwach und unnütz empfunden hatte, trug einen wertvollen Schatz in mir.

Und prompt gesundete ich auch körperlich, wurde stärker und widerstandsfähiger. Ich hatte meine ersten kleinen Erfolge zu verbuchen. Das heilte Wunden. Es entwickelte sich etwas Unbekanntes in mir: ein schwaches Pflänzchen, das sich Selbstbewusstsein nannte, das mir zurief: Auch du bist etwas wert.

*

Karl-Heinz, Marianne und ich kamen noch im Jahrestakt zur Welt, wie es damals in vielen Familien üblich war. Nach meiner Geburt wurde Mutter dann sehr krank. Sie litt unter Blutarmut und bekam Transfusionen von meinem Vater und ihrem Bruder Willi. Mein Vater hatte dafür sogar das Rauchen aufgegeben, dem er bis dahin leidenschaftlich gefrönt hatte. Offenbar liebte er sie doch sehr, wenn er es auch nicht direkt zeigen konnte. Meine Mutter sollte danach eigentlich keine Kinder mehr kriegen.