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Ursa Hollington, die jüngste Tochter des Sprachwissenschaftlers Matthew Hollington, wird von ihrer Schwester gedrängt, in ihre Rolle als Lady Penelope Brackley, zu schlüpfen und deren blinden Schwiegermutter zu besuchen, während sie – in Abwesenheit ihres Ehemannes - Zeit mit ihrem Liebhaber Lord Vernon Winter verbringt. Ursa, als Penelope, trifft bei der verwitweten Lady Brackley deren Enkel den Marquis Guy Charnwood, dem sie aus einer misslichen Lage befreit und als seine Verlobte posiert. Der Marquis, ein sehr gutaussehender Frauenheld, ist bei der Marine tätig und viel auf Reisen und hat deswegen seine Tante Penelope noch nie kennengelernt. Ursa und Penelope ähneln sich äußerlich sehr und sind beide jung und bildschön; sie haben jedoch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten und Interessen. Ursa mit ihren Sprachkenntnissen, ihrem Wissen und ihrer Weltgewandtheit beeindruckt den Marquis sehr. Sie verliebt sich in den weltgewandten und gutaussehenden Marquis, doch wie kann sie erwarten, dass er ihre Liebe erwidern, ohne die Intrige ihrer Schwester bloßzustellen? Wird sie die perfekte Partnerin für den Marquis werden?
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Seitenzahl: 207
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Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2023
Copyright Cartland Promotions 1995
Gestaltung M-Y Books
www.m-ybooks.co.uk
Ursa betrat die Halle durch den Vordereingang. Wie still das Haus ist, dachte sie, jetzt, wo Vater verreist ist!
Gewöhnlich saß ihr Vater um diese Zeit in seinem Arbeitszimmer und wartete schon darauf, dass sie von ihrem Ausritt zurückkehrte.
Unwillkürlich schritt Ursa den Korridor entlang, der zu seinem Arbeitszimmer führte.
Die Macht der Gewohnheit, dachte sie und lächelte beim Gedanken an ihren Vater.
Matthew Hollington galt als einer der größten Sprachwissenschaftler seiner Zeit.
In seiner Bibliothek fand man unzählige Fachbücher, und es gab wohl keine Sprache der Welt, die dort nicht vertreten gewesen wäre.
Einige der Bücher, die er besaß, waren sehr alt. Er hatte sie persönlich in weltabgeschiedenen Klöstern, auf uralten Burgen und sogar, zu seiner höchsten Freude, auf den Trödeltischen ferner orientalischer Basare ausgegraben.
Weil Ursa immer mit ihm zusammen war und er keinen Sohn besaß, hatte er sie in vielen der wichtigsten Sprachen dieser Erde unterrichtet, mit dem verblüffenden Erfolg, dass sie diese erstaunlich gut beherrschte.
Auch sonst hatte sich Ursa im Laufe der Zeit eine große Kenntnis der Materie angeeignet und vermochte beinahe mit der gleichen Kompetenz wie er zu sagen, ob eine Handschrift echt war oder es sich um eine Fälschung handelte.
Als Ursa das Arbeitszimmer betrat, kam ihr erneut der Gedanke, wie verlassen und leer es doch wirkte, wenn ihr Vater nicht da war.
Er war zu einem kurzen Besuch nach Amsterdam gereist.
Einige Kollegen dort waren in den Besitz verschiedener Dokumente aus Niederländisch-Ostindien gelangt, vermochten sie jedoch ohne seine Hilfe und seinen Beistand nicht zu entziffern.
»Nimmst du mich mit, Papa?« hatte Ursa ihn gefragt, als er ihr von der Einladung berichtetet
Er hatte den Kopf geschüttelt.
»Es lohnt sich nicht, mein Liebes, und außerdem würden die Leute, bei denen ich wohne, dich entsetzlich langweilen. Sie sind schon ziemlich alt, und sie kennen nichts anderes als ihre wissenschaftlichen Interessen.«
Ursa war enttäuscht.
Zugleich wusste sie, dass ihr Vater es gut mit ihr meinte.
Er hatte sie schon auf einige Reisen mitgenommen. Manche davon waren höchst aufregend und interessant für sie gewesen, andere dagegen unglaublich fade und langweilig.
Vor seiner Abreise sagte sie zu ihm:
»Komm bald wieder zurück, Papa, denn ich werde dich vermissen. Gleichzeitig habe ich eine Menge im Garten zu tun, und überdies werde ich dafür sorgen müssen, dass nicht nur meine Pferde, sondern auch deine genügend Bewegung bekommen.«
Ihr Vater hatte gelacht.
»Davon bin ich überzeugt. Aber vor allem achte auf dich selbst, Liebstes, und ich verspreche dir, dass ich so rasch wie möglich wieder zurück sein werde.«
Weil er gesagt hatte, er würde nur eine Woche fortbleiben, hatte Ursa es nicht für nötig gehalten, jemanden zu sich einzuladen, damit er ihr für die Zeit seiner Abwesenheit Gesellschaft leistete.
Sie wusste, viele ihrer Freundinnen hätten ihre Einladung mit Begeisterung angenommen. Aber sie alle redeten ihr zu viel und hinderten sie meist daran, die Dinge zu tun, die zu tun waren.
Hollington Hall war ein herrliches Queen-Anne-Haus, und Ursas Mutter hatte daraus ein wirkliches Kleinod gemacht.
Es war das Entzücken eines jeden Kenners.
Sie bestand stets darauf, dass Ursa eigenhändig das kostbare Porzellan spülte und selber die wertvollen Gobelinbezüge der Stühle ausbesserte eine Arbeit, die sie der Dienerschaft auf keinen Fall hatte überlassen wollen.
»Wenn du möchtest, dass eine Sache ordentlich gemacht wird«, pflegte sie zu Ursa zu sagen, »musst du sie selber in die Hand nehmen «
Nach dem Tod ihrer Mutter stellte Ursa fest, dass diese mit ihrer Devise absolut recht gehabt hatte.
Sie ging ins Arbeitszimmer. Nicht nur hier, auch ein Stockwerk höher im Zimmer ihrer Mutter gab es zu tun. Einige Sachen harrten dringend der Ausbesserung.
Vor allem die Vorhänge, die noch aus der Zeit stammten, in der das Haus erbaut worden war, mussten kunstgestopft werden. Infolge ihres Alters besaßen sie einen solchen Wert, dass es ein Verbrechen gewesen wäre, wenn sie die Arbeit einem weniger Kundigen anvertrauen würde.
Ursa blickte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters um, dann begann sie den Schreibtisch aufzuräumen.
Liebevoll strichen ihre Finger über das goldene Tintenfass. Es war ein Geschenk des Königs von Italien zum Dank für die Arbeit, die ihr Vater in der Bibliothek des königlichen Palastes verrichtet hatte.
»Es herrschte ein unvorstellbares Chaos, als ich dort ankam«, hatte der Vater ihr erzählt, »doch es gelang mir in verhältnismäßig kurzer Zeit, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, und ich kann nur hoffen, sie lassen nicht wieder alles verkommen.«
Ursa war nicht dabei gewesen, während er sich im Palast aufgehalten hatte, war ihm aber später nachgereist, und zusammen hatten sie eine schöne Zeit in Süditalien verbracht.
Auch jetzt wäre sie gerne mitgefahren. Selbst wenn die Leute langweilig waren, hätte sie es aufregend gefunden, einige Tage in Amsterdam zu verbringen.
Sie hoffte, dass ihr Vater bald wieder eine interessantere Einladung erhielt und sie ihn begleiten konnte.
Als sie die Tür des Arbeitszimmers öffnete, hörte sie zu ihrer Überraschung Stimmen in der Halle.
Sie fragte sich, wer der Besuch wohl sein könne.
Wenn es Freundinnen waren, würden sie gewiss zum Tee bleiben wollen. Das, so dachte sie, würde sie davon abhalten, mit der Arbeit fortzufahren, die im Haus auf sie wartete.
Sie ging den Korridor hinunter und begegnete Dawson, dem alten Diener, der bei ihnen gewesen war, solange sie denken konnte.
»Wer ist da gekommen, Dawson?« fragte sie ihn, bevor er sie erreicht hatte.
»Ihre Ladyschaft, Miss Ursa«, erwiderte Dawson.
Ursa stutzte und schaute ihn fragend an.
Er merkte, dass sie nicht verstand, und sagte:
»Miss Penelope Lady Brackley.«
»Das glaube ich nicht!«
Ursa rief es ungläubig.
Ihre Schwester Penelope hatte vor drei Jahren Lord Brackley geheiratet. Er war ein einflussreicher und angesehener Peer, der als außenpolitischer Sprecher häufig im Oberhaus auftrat.
Ihr Vater hatte ihn auf einer seiner Auslandsreisen kennengelernt. Nach seiner Rückkehr hatte Lord Brackley ihn auf Hollington Hall besucht.
Dort hatte er zum ersten Mal Penelope gesehen, die damals neunzehn gewesen war. Auf der Stelle verliebte er sich in sie, verhielt sich jedoch äußerst zurückhaltend. Er glaubte nämlich, der Altersunterschied zwischen ihnen wäre zu groß, um eine glückliche Ehe zu garantieren.
Bei Penelope bewirkte seine Zurückhaltung jedoch das gerade Gegenteil. Sie fühlte sich herausgefordert und war geradezu wild entschlossen, ihn zu, heiraten.
Hollington Hall langweilte sie schon seit langem. Die Besessenheit, mit der ihr Vater das Studium fremder Sprachen betrieb, war ihr unverständlich.
Was sie sich ersehnte, war ein Leben in der großen Gesellschaft, und das war auf dem Land nur äußerst kümmerlich vorhanden.
Weil sie hartnäckig darauf bestand, hatte ihr Vater nach langem Zögern darin eingewilligt, dass eine entfernte Cousine sie bei Hof vorstellte.
Er hatte ihr ebenfalls gestattet, mit der gleichen Cousine als Anstandsdame eine Saison in London zu verbringen.
Penelope hatte jede Minute dieser Zeit genossen.
Und ihr Entschluss war unumstößlich geworden, einen Mann von Rang und Namen zu heiraten. Sie wollte unbedingt zu der glitzernden Welt gehören, deren Mittelpunkt der Prinz von Wales war.
Als sie wieder zu Haus war, sprach sie von nichts anderem mehr als von ihrem Besuch auf Marlborough House.
Und natürlich von ihren Einladungen in einige andere große Häuser, wo sie an verschiedenen Abendgesellschaften und Ballveranstaltungen teilgenommen hatte.
Unglücklicherweise zeigte die Cousine, die ihre Anstandsdame gewesen war, keinerlei Neigung, sie zu einem längeren Verweilen in ihrem Haus aufzufordern.
Deshalb war Penelope nach Hollington Hall zurückgekehrt, wo sie schmollend herumsaß, und Trübsal blies. Alles langweilte sie, alles fand sie fad und nervtötend — sogar die Jagd mit der zugegebenermaßen nicht sehr beeindruckenden Hundemeute.
Ursa dagegen war vollkommen glücklich, solange sie die hervorragenden Pferde reiten konnte, die ihr Vater für seine beiden Töchter angeschafft hatte.
Sie war zufrieden mit ihren Freundinnen in der Nachbarschaft und freute sich über deren Einladungen.
Penelope blickte mitleidig auf sie hinab und kannte nur ein Gesprächsthema: London.
Als dann Lord Brackley ihren Vater besuchte, war es kein Wunder, dass er ihr wie der Ritter aus dem Märchen erschien, der gekommen war, sie aus der Gewalt des bösen Drachen zu befreien.
In seiner Gegenwart blühte sie auf, zeigte sich von ihrer besten Seite und betörte ihn mit ihrer Schönheit und mit ihrem Witz.
Kein Wunder, dass er in Liebe zu ihr entbrannte, obwohl er schon über Vierzig war.
Er war schon einmal verheiratet gewesen, unglücklich, wie er gestand, und die Ehe war ohne Kinder geblieben.
Nachdem er Hollington Hall wieder verlassen hatte, stellte er fest, dass er Penelope nicht vergessen konnte.
Er sandte Matthew Hollington eine Einladung in sein Londoner Stadthaus, damit er ihm sein Urteil über ein Buch sage, das er gerade entdeckt habe.
Gleichzeitig lud er auch Penelope ein.
Doch für Matthew Hollington lag die Möglichkeit, seine Tochter könnte einen Mann heiraten, der so viel älter war als sie, außerhalb seines Vorstellungsbereiches. Deshalb hielt er es für unnötig, dass sie ihn nach London begleitete.
Penelope wurde fast verrückt bei dem Gedanken, ihr Vater würde sie nicht mitnehmen.
Dieser und Ursa waren daher völlig perplex und erstaunt, als sie feststellten, wie unleidlich und streitsüchtig Penelope deswegen wurde.
Natürlich setzte sie sich am Ende durch, und ihr Vater nahm sie mit nach London.
Nach dem Besuch der beiden begann Lord Brackley damit, einen Vorwand nach dem anderen zu erfinden, um auf Hollington Hall aufzutauchen.
Schließlich hatte Penelope ihr Ziel erreicht. Im Garten hielt er um ihre Hand an.
Sie nahm seinen Antrag an mit einem Eifer und einer Bereitwilligkeit, die er als äußerst schmeichelhaft empfinden musste.
Penelope bestand auf einer Hochzeit in London, und zwar wählte sie St. George’s, Hanover Square, als die Kirche, in der die Trauung stattfinden sollte.
»Aber du wurdest in unserer Pfarrkirche getauft«, widersprach Ursa der Schwester, »und alle im Dorf möchten dich als Braut sehen.«
»Interessiert mich nicht im Geringsten, was die Leute im Dorf möchten«, erwiderte Penelope. »Arthurs Freunde werden bei seiner Trauung dabei sein wollen, und St. George’s ist die vornehmste Kirche in London.«
Ursa wusste, dass es zwecklos war, ihr zu widersprechen, vor allem als Penelope fortfuhr: »Du wirst eine der Brautjungfern sein, und da Arthur eine Anzahl Cousinen hat, die alle aus sehr bedeutenden Häusern kommen, muss ich sie auch haben.«
Natürlich fuhren sie vor der Hochzeit nach London, damit Penelope dort ihre Aussteuer kaufen konnte.
Viele angesehene Leute in der Hauptstadt hatten von Matthew Hollington gehört und waren beeindruckt von seinem Ruf als weltbekannter Sprachwissenschaftler.
Doch Lord Brackleys Freunde und diejenigen, deren Bekanntschaft Penelope zu machen wünschte und die alle klangvolle Namen besaßen, waren ausschließlich an Vergnügungen nach dem Vorbild des Prinzen von Wales interessiert.
Penelope schritt am Arm ihres Vaters den Mittelgang hinauf, auf dem Kopf ein funkelndes Diadem, das zum Schmuck der Hollington-Familie gehörte. Begleitet wurde sie von zehn Brautjungfern, von denen alle außer Ursa hochgestellte Eltern besaßen.
Sobald Penelope und Lord Brackley die Flitterwochen angetreten hatten, kehrten Ursa und ihr Vater aufs Land zurück.
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein, Papa«, sagte Ursa aufatmend.
»Ist das wirklich dein Ernst?« fragte er. »Oder sehnst du dich nach den glanzvollen Festen der großen Gesellschaft und nach einem Ehemann, der eine Peerskrone sein Eigen nennt, mein Liebes?«
Er hatte mit einem Blinzeln in den Augen gesprochen, doch Ursa erwiderte ruhig: »Wenn ich heirate, möchte ich verliebt sein, wie du und Mama es gewesen seid.«
Ihr Vater legte den Arm um sie. »Ich hoffe, dein Wunsch geht in Erfüllung, Liebstes«, sagte er. »Wirkliche Liebe ist das Wundervollste auf der Welt.«
Er drückte einen Kuss auf Ursas Stirne und setzte hinzu: »Weil ich an das Schicksal glaube, bin ich sicher, dass du eines Tages bestimmt den richtigen Mann finden wirst und dich nicht mit dem zweitbesten zufriedengeben musst, mag er eine auch noch so blendende gesellschaftliche Persönlichkeit sein,«
Ursa wusste genau, was er damit sagen wollte, und gab ihm einen Kuss, bevor sie sagte: »Gewiss hast du recht, Papa. Aber bis es soweit ist, bin ich bei dir mehr als glücklich.«
Sie wusste, ihr Vater freute sich über ihre Worte.
Sie wusste auch, dass sie beide Penelope für immer verloren hatten.
Diese schickte ihnen aus ihren Flitterwochen zahllose Ansichtskarten von sämtlichen Orten, an denen sie sich aufhielten.
Danach jedoch ließ die Flut der postalischen Grüße spürbar nach. Schließlich schrieb sie ihnen nur noch zu Weihnachten und schickte ihnen von Zeit zu Zeit ebenso nutzlose wie teure Geschenke.
Unwillkürlich fragte sich Ursa, was alles sie wohl ihren hochgestellten Freunden schenken mochte.
Da Lord Brackley sehr reich war, würden die diesbezüglichen Ausgaben seiner Frau aller Wahrscheinlichkeit nach eine beträchtliche Höhe erreichen,
»Was soll ich nur damit anfangen?« fragte Matthew Hollington seine jüngere Tochter, als er am nächsten Weihnachtsfest einen Federhalter bekam, der viel zu klein war für die Sorte von Federn, mit denen er schrieb.
»Ich bin sicher, der Federhalter wird sich für den nächsten Basar durchaus als nützlich erweisen, Papa«, erwiderte Ursa.
Sie lachten beide.
Die Geschenke, die Ursa von ihrer Schwester erhielt, waren allesamt Dinge, die Penelope selbst von anderen Leuten geschenkt bekommen hatte und für die sie keinerlei Verwendung besaß. Jedenfalls legten die meisten davon eine solche Vermutung nahe.
Auch sie wurden aufbewahrt für den örtlichen Basar.
Die Dankesbriefe, die sie für ihre Geschenke an Penelope erhielten, waren stets äußerst kurz. Und es gab keine Zweifel, dass sie in höchster Eile verfasst waren.
Tatsächlich wurde Penelope im Laufe der Zeit immer mehr zu einer Schattenfigur, die - so war Ursas Eindruck - gar nicht zur Hollington-Familie zu gehören schien.
Zuletzt erfuhr sie über ihre Schwester nur noch aus den Rundschreiben des Hofes.
Und der Mensch, mit dem sie alles und jedes, Nanny und Gouvernante eingeschlossen, geteilt hatte, als sie noch Kinder gewesen waren, trat immer mehr in den Hintergrund und verwandelte sich in ein Wesen mit unwirklichen, nebelhaften Zügen.
Aber eigentlich war Penelope in der Familie schon immer eine Außenseiterin gewesen. Und vor allen Dingen hatte sie niemals etwas von dem verstanden, was ihr Vater sie zu lehren versucht hatte.
Ursa dagegen fand jedes Wort, das er sagte, interessant und faszinierend.
Weil er ein sehr sprachgewaltiger und beredsamer Mann war, vermochte er die Paläste Indiens und die schneebedeckten Berge des Himalaya so anschaulich zu schildern, dass Ursa sie vor sich zu sehen glaubte:
Mit unglaublicher Anschaulichkeit konnte er die Schönheit Persiens oder der Pyramiden Ägyptens vor ihrem geistigen Auge erstehen lassen.
Als sie dann größer wurde, nahm er sie immer häufiger mit auf seine Auslandsreisen.
Penelope besuchte zu dieser Zeit das Mädchenpensionat, auf das Ursa ihr, wenn sie alt genug sein würde, hätte folgen sollen.
Doch als es schließlich soweit gewesen war, hatte Ursa sich mit aller Kraft gegen den Besuch der Schule gewehrt, und war bei ihrem Vater geblieben.
»Wie könnte ich auf einer Schule mehr lernen als bei dir, Papa!« sagte sie eifrig. »Du weißt genau, dass du Sprachen unterrichtest, wie es sein soll, und nicht wie die meisten Lehrer, die wie du selbst so oft sagst, pädagogisch die reinsten Nichtskönner sind.«
Ihr Vater hatte nachgegeben.
Und weil er der Meinung gewesen war, ihr Spanisch lasse zu wünschen übrig, hatte er sie kurze Zeit danach mit nach Spanien genommen.
Besuche in Frankreich und Griechenland waren gefolgt. Am aufregendsten war es in Russland gewesen.
Und immer wenn sie nach Haus zurückgekehrt waren, hatte Ursa den Eindruck gehabt, dass sie ihr Wissen und ihre Kenntnisse enorm erweitert hatte, nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch, was das Land und die Menschen betraf, die so ganz anders waren als England und seine Bewohner.
»Es war Sprachschule, Geschichts- und Erdkundeunterricht und ein wunderschöner Auslandsurlaub zugleich, Papa!« hatte sie einmal nach einer solchen Reise zu ihm gesagt.
Ihr Vater hatte gelacht. »Genau das habe ich auch gedacht«, erwiderte er. »Und ich hätte mir dafür keine bessere Begleiterin wünschen können als dich, mein Liebes!«
Seine Stimme klang sehr ernst.
Keiner wusste nämlich besser als Ursa, wie schmerzlich er ihre Mutter vermisste und dass er über ihren Verlust eigentlich nie hinweggekommen war. Manchmal, wenn sie an Orten weilten, wo er zuvor schon einmal mit seiner Frau gewesen war, bemerkte sie eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen.
Sie wusste dann, wie unglücklich er ohne sie war.
»Das ist wahre Liebe«, sagte sie manchmal zu sich, »und ich kann nur beten, dass mir das Glück beschieden ist, sie eines Tages ebenfalls zu finden.«
Während sie nun den Salon betrat, um ihre Schwester Penelope zu begrüßen, hatte sie das Gefühl, einer Fremden gegenüberzutreten, mit der sie sich zuerst noch Würde vertraut machen müssen.
Penelope stand vor der Feuerstelle und bewunderte ihr Bild im Spiegel über dem Kaminsims.
Als Ursa eintrat, wandte sie sich um, und Ursa stellte fest, wie sehr sich ihre Schwester verändert hatte.
Sie sah noch schöner aus als zu der Zeit, da sie von zu Hause fortgegangen war.
Aber die Veränderung beschränkte sich nicht nur auf das Aussehen, da war noch etwas anderes. Etwas, das es beinahe unmöglich für Ursa machte, in ihr die Schwester wiederzuerkennen, die sie so viele Jahre gekannt und geliebt hatte.
»Oh, da bist du ja, Ursa!« rief Penelope. »Ich dachte schon, ich wäre ins falsche Haus gekommen.«
»Es ist lange her, seit du das letzte Mal hier warst!« sagte Ursa.
Penelope machte eine ungeduldige und zugleich sehr anmutige Handbewegung.
»Bitte«, sagte sie, »nun fang um Himmels willen nicht damit an, mir Vorwürfe zu machen! Ich bin nicht früher nach Hollington Hall gekommen, weil es so schrecklich viele Verpflichtungen gab, denen ich mich unmöglich entziehen konnte!«
»Du siehst wundervoll aus!« sagte Ursa ehrlich.
»Freut mich, dass du das denkst«, antwortete Penelope geschmeichelt. »Obwohl ich im Augenblick gar nicht zufrieden mit mir bin.«
Sie warf einen kritischen Blick auf das Haar ihrer Schwester, das ein wenig zerzaust war, dann drehte sie sich wieder zum Spiegel um und betrachtete sich unzufrieden.
»Ich frage mich«, sagte sie, »ob dieser grüne Farbton nicht etwas zu grell für mich ist.«
Sie trug einen zum Kleid passenden Hut, der mit einer großen Feder geschmückt war.
Ursa dachte, dass er für das Land viel zu elegant und auffallend war.
Auch das Kleid war viel zu elegant und auffallend.
Um den Hals trug sie eine zweireihige Perlenkette, und kunstvolle Brillantohrringe zierten ihre Ohren.
Eine riesige strahlenförmige Brosche steckte am Oberteil ihres tief ausgeschnittenen Kleides.
»Du siehst aus, als wolltest du zu einer Party!« bemerkte Ursa impulsiv.
Zu ihrer Überraschung streckte Penelope die Hand nach ihr aus. »Komm, und setze dich zu mir, Ursa!« sagte sie. »Ich möchte mit dir reden, und ich brauche deine Hilfe.«
»Meine Hilfe?« rief Ursa erstaunt.
Es war das Letzte, was sie von ihrer Schwester zu hören erwartet hätte.
Sie ließ sich auf dem Sofa nieder, wobei sie sich der Tatsache bewusst war, wie schäbig ihr Kleid, das sie schon einige Zeit anhatte, neben dem der Schwester aussah.
Gleichzeitig stellte sie fest, dass ihre Schwester das Gesicht gepudert hatte. Und auf den Lippen war ein Hauch Farbe, der nicht ganz natürlich sein konnte.
»Hast du vor, zu bleiben?« fragte Ursa, als ihre Schwester schwieg. »Wenn du etwas Tee möchtest, werde ich welchen kommen lassen:«
»Ich muss mit dir sprechen, Ursa«, sagte Penelope, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Sie schaute an Ursa vorbei zur Tür und sagte: »Ich hoffe, du hast die Tür geschlossen!«
Ursa war erstaunt. »Das hat Dawson bestimmt getan«, antwortete sie.
»Ich möchte nicht, dass jemand uns belauscht und mitbekommt, was ich dir jetzt sagen werde«, erklärte Penelope. »Wo ist Papa eigentlich?«
»Er ist nach Amsterdam gereist«, erwiderte Ursa. »Bis zum Ende der Woche bleibt er fort. Wenn er hört, dass du hier warst, wird er gewiss sehr traurig sein, dich nicht gesehen zu haben.«
»Nach Amsterdam!« rief Penelope aus. »Das ist ja wunderbar! Und wenn er eine ganze Woche fortbleibt, ist es genau das, was ich mir gewünscht habe!«
Fassungslos sah Ursa sie an. »Was meinst du damit? Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
Ihre Schwester beugte sich vor. »Hör zu, Ursa, was ich dir zu sagen habe, ist sehr, sehr wichtig, und ich weiß, dass du mir helfen wirst!«
»Wenn ich kann, werde ich dir helfen«, versprach Ursa, »doch ich wüsste beim besten Willen nicht, wie ich dir helfen könnte.«
Es wunderte sie, dass Penelope mit ihren einflussreichen Freunden, ihrem hochgestellten Ehemann und ihren funkelnden Juwelen noch Wünsche haben konnte. Sie hatte doch alles.
Penelope schien sich irgendwie schwerzutun, ihr Anliegen in Worte zu fassen. Es entstand eine Pause, bevor sie erklärte: »Ich bin hergekommen, Ursa, weil ich, wie ich schon sagte, deine Hilfe brauche, und es ist etwas, das nur du für mich tun kannst.«
»Natürlich werde ich dir helfen, Penelope«, erwiderte Ursa, »obwohl ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass ich dir etwas geben könnte, was du nicht schon hast.«
Penelope schaute sie an.
Dann sagte sie unerwartet: »Wir sehen einander nicht nur sehr ähnlich, auch unsere Stimmen gleichen sich auffallend.
»So, tun sie das?« fragte Ursa. »Ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht.«
»Natürlich ist es so!« erwiderte Penelope mit unerwarteter Schärfe in der Stimme, »Weißt du denn nicht mehr, dass Mama, wenn einer von uns sie rief, oft genug fragte: >Ist das Penelope oder Ursa?< Daran musst du dich doch noch erinnern!«
Ursa lächelte. »Ja, jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich wieder.«
»Und Papa pflegte uns ständig zu verwechseln, wenn er uns nicht sehen konnte.«
Penelope hatte so gesprochen, als wollte sie die Schwester regelrecht zwingen, ihr zuzustimmen.
Ursa wartete.
Sie begriff nicht, wieso ihre sogenannte Ähnlichkeit in irgendeiner Weise von Bedeutung sein sollte.
»Nun, weshalb ich hier bin und was ich dir sagen wollte, ist folgendes«, begann Penelope. »Arthur ist auf dem Weg nach Marokko, um den Sultan von Tanger zu besuchen, der eine sehr einflussreiche Persönlichkeit ist.«
»Wie interessant!«, versetzte Ursa mit einem fragenden Unterton. »Ich erinnere mich, dass auch Papa mal mit ihm zusammentraf.«
»Arthur wollte mich nicht mitnehmen«, fuhr die Schwester fort, ohne auf Ursas Bemerkung zu reagieren. »Er behauptete, man würde mich zu den Frauen des Harems sperren und mich bei keiner der Besprechungen, die zudem auch noch bis in die Nacht dauern dürften, zulassen.«
»Da hat er recht!« Ursa nickte zustimmend.
»Stattdessen bestand er darauf, dass ich in der Zeit seiner Abwesenheit seine Mutter, die verwitwete Lady Brackley, besuche!«
Entrüstung schwang in Penelopes Stimme.
»Wo wohnt sie denn?« wollte Ursa wissen.
»Zufälligerweise nicht weit von hier«, erwiderte Penelope. »Aber ich habe nicht die Absicht, meine kostbare Zeit auf dem Land zu vergeuden allein mit einer alten Frau.«
»Warum bleibst du dann nicht in London?« fragte Ursa verständnislos.
»Weil Arthur eifersüchtig ist«, antwortete ihre Schwester. »Er will unter allen Umständen verhindern, dass ich mich mit jemandem treffe, den ich unter allen Umständen treffen will, während er fort ist.«
Ursa blickte Penelope erstaunt ah. Dann fragte sie: »Du meinst einen Mann?«
»Natürlich meine ich einen Mann! Er ist sehr charmant, sehr attraktiv und natürlich viel jünger als Arthur, der geradezu lächerlich eifersüchtig auf ihn ist.«
»Aha, deshalb willst du die Zeit nicht mit seiner Mutter verbringen«, sagte Ursa und versuchte dahinterzukommen, welchen Sinn die Worte der Schwester ergaben.
»Ja, so ist es! Arthur verlangt das zwar von mir, aber ich denke nicht im Traum daran, ihm zu gehorchen.«
Wieder blickte Ursa die Schwester an, den Ausdruck absoluter Verständnislosigkeit in den großen Augen.
»Aber er ist dein Mann. Du wirst tun müssen, was er verlangt!«
Zu ihrer Überraschung lächelte Penelope.
»Nicht, wenn du tust, um was ich dich bitte.«
»Und was ist das? Ich verstehe dich nämlich noch immer nicht.«
»Hör zu!« verlangte Penelope gebieterisch. »Arthurs Mutter ist schon sehr alt und fast erblindet.«
Sie machte eine Pause, und schaute ihre Schwester an, um festzustellen, ob diese endlich begriffen hatte,
»Willst du damit sagen ...«, begann Ursa, doch Penelope fiel ihr hastig ins Wort:
»Wenn du mir helfen willst, wirst du zur verwitweten Lady Braekley fahren und bei ihr bleiben. Du wirst dich als ihre Schwiegertochter ausgeben, dich mit ihr nett unterhalten, ihr vorlesen, sie in den Garten führen und all das tun, was man eben so mit blinden alten Leuten macht, bis Arthur zurückgekehrt ist.«
Entsetzt starrte Ursa die Schwester an und schien das Gehörte nicht fassen zu können,
»Aber wie soll das gehen, Penelope? Sie wird merken, dass ich nicht du bin!«
»Wie sollte sie?« fragte Penelope. »Sie hat mich höchstens ein- oder zweimal im Leben gesehen. Sie wohnt ständig auf dem Land, während ich mich nur in London aufhalte, und, wie ich schon sagte, sind sich unsere Stimmen verblüffend ähnlich. Ich sehe da also nicht das kleinste Problem, und wenn du ein wenig nett zu der alten Dame bist, wird sie dir vor Dankbarkeit um den Hals fallen.«
»Aber wenn dein Mann nach Haus kommt, wird er sicherlich ...«, begann Ursa.
»Wenn Arthur nach Haus kommt, bin ich längst wieder in London und warte auf ihn. Er hat mir versprochen, mich frühzeitig über seine Rückkehr zu unterrichten. Ich werde einen Reitknecht nach Brackley Park schicken, mit dem Auftrag, dort darauf zu warten, dass du ihm Arthurs Brief, in dem er mir den genauen Zeitpunkt seiner Ankunft mitteilt, übergibst, damit ich die Nachricht unverzüglich erhalte.«