Mathematik und Wirklichkeit - Ulrich R. Rohmer - E-Book

Mathematik und Wirklichkeit E-Book

Ulrich R. Rohmer

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Beschreibung

...Der Däne Sören Kierkegaard hat als großer Kritiker Hegels genau dies getan und anstatt abstrakten und allgemeinen Aussagen, die doch wahr sein sollen, seine eigene Existenz entgegen gestellt, die in einem Prozess der Entscheidung mündet: entweder – oder heißt es (übrigens ein Buchtitel des Dänen), ich muss mich bewusst entscheiden, ohne mich auf abstrakte „Wahrheiten“ oder vordergründige Wesensbestimmungen einzulassen (das hat Hegel getan), denn vor allem Wesen kommt die Existenz, also mein eigener Ansatz, meine Einsicht, mein Involviertsein in der Begegnung mit der äußeren Welt, inklusive meiner inneren Welt! Ich finde also nicht Wahrheit durch Selektion zwischen Außen und Innen, nicht durch alternatives Denken und Auswählen, nicht durch Abstraktion und Willen, ein „Ding“ zu finden, das Wahrheit heißt: ich muss mich vielmehr entscheiden als Existierender, und zwar zu etwas, das mich als wahr betrifft. So gesehen ist Wahrheit kein Ding, sondern ein Prozess, der gleichsam mit mir redet, weil er mich angeht. Im System der „Dingwahrheit“ macht das freilich keinen Sinn, weil ich hier keine allgemein gültigen Begründungen und Beweise geben kann wie ein Ding oder eine Sache, auf die ich hinzeigen könnte. Also: die moderne Physik scheint einerseits gefangen im alternativen Spiel zwischen Außen und Innen, kann auch nicht annehmen, dass es andere als Ding- oder Sachwahrheiten gibt und kontert dem Theologen mit seinem Gottesglauben mit er Forderung, doch bitte schön nicht Gedanken zu verdinglichen! Andererseits aber macht genau dieses die moderne Physik: durch Leugnung der Arbeitshypothese Gott, wie sie sagt, hat sie einen Weg beschritten, der in Wahrheit nichts anderes als eine Substitution ist, ein Austausch der Arbeitshypothese, und zwar durch Reifikation gedachter mathematischer Vorstellungen hinein ins Wirkliche. Nun ist Mathematik als Gott allerdings einer, der auf Ding- und Sachwahrheiten aufgebaut ist. Credo in unum Mathematicam (ich glaube an die eine Mathematik) ist nichts anderes als die Auslieferung an Dinge und Verdinglichung, an Sachen und Versachlichung. Der Gott Mathematik kennt keine anderen Wahrheitsverständnisse, und er ist unbarmherzig mit Apostaten und denen, die Schwierigkeiten haben, ins mathematische Denken einzusteigen, von denen es ja heutzutage viele gibt. Die Mathematik ist ein gnostischer Gott, dem Wissen über alles geht und Demut fern ist. Nicht das Fach Mathematik ist ein Furcht und Zittern auslösendes Mysterium tremendum, ein numinoser Despot ohne Erbarmen, sondern der Gott Mathematik! Und mittlerweile hat er die ganze Welt, den weiten Globus unter seine Fittiche gebracht, um ihn vollständig zu technisieren und zu digitalisieren im Namen von Fortschritt, Ausbeutung und Gottlosigkeit, wobei ich an Gott, den Vater Jesu Christi, glaube, der die Welt gemacht hat im Gegensatz zu Mathematik und Physik: credo in unum Deum, patrem onmipotentem, wie es im Apostolikum seit Urzeiten heißt...

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Ulrich R. Rohmer

Mathematik und Wirklichkeit

Moderne Physik als intellektuelle Religion. Zwei Essays

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Essay I: Vom Glauben an eine allmächtige Mathematik

Prolog

Carbon Based Lifeforms, Erratic Patterns

 

Look at the pattern

Can you see what's wrong?

It's supposed to be perfect

(But really it's not)

But really it's not.

 

Can you find the flaws

Hidden in structured code

Hiding in the pattern

In between the rows?

 

Only illogics can find

Hidden flaws in a straight logic line.

Only erratics recognize

Errors in patterns of a perfect design.

Only illogics can find

Hidden flaws in a straight logic line.

Only erratics recognize

Errors in patterns of a perfect design.

 

Now that you know

That something's not right

Look at it carefully

In pale logic light.

 

Don't be sorry

If you can't recognize

The errors and faults

In such a perfect disguise.

 

Only illogics can find

Hidden flaws in a straight logic line.

Only erratics recognize

Errors in patterns of a perfect design.

 

Only illogics can find

Hidden flaws in a straight logic line.

Only erratics recognize

Errors in patterns of a perfect design.

 

http://lyrics.wikia.com/Carbon_Based_Lifeforms:Erratic_Patterns

 

I. Ich glaube an die eine Mathematik, die Mutter, die Allmächtige

Ich glaube an die eine Mathematik, die Mutter, die Allmächtige, die Schöpferin des Himmels und der Erde, und an die Physik, ihre eingeborene Tochter, unsere Herrin, empfangen durch die heilige Vernunft, geboren von der jungfräulichen Idee, gelitten unter Jesus Christus und seiner Kirche, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, doch eines Tages auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; sie sitzt zur Rechten der zum Gott erhobenen Vernunft, der allmächtigen Mutter, von dort wird sie kommen, zu richten die Dummheit aller Lebenden und Toten. Ich glaube an den Heiligen Platon, die heilige Vereinigung der Vernünftigen, Gemeinschaft der Eingeweihten, Gnadenlosigkeit bei Abfall, Sinnlosigkeit Gottes und die Herrschaft der Zeit.

Amen

 

Inhalt:

 

I. 1. Der Mann aus dem Wüstenland

 

I. 2. Ehre sei Mathematik in der Höhe

 

I. 3. Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir verherrlichen dich

 

I. 4. Wir sagen dir Dank ob deiner großen Herrlichkeit

 

 

I. 1. Der Mann aus dem Wüstenland

Lang ist die Geschichte europäischer Philosophie. Und Länge bedeutet nicht selten auch Eingeschliffenheit. Auf immerwährend ähnlichen Wegen hatte ein Empfinden gleichsam Spuren in die philosophische Wahrnehmung geschliffen, einer Gewohnheit ähnlich, die Werkzeuge abnutzt und in ihren Toleranzen (sollte es sich um Feinmechanik handeln) verändert. Wahrheit spielte da eine lange Rolle, Gott, Sein und Grund allen Seins. Gleich einem dauernden Wind, der feinen Sand mit sich führt und alles glättet und schleift, hat die lange Gebrauchsgeschichte von Grundpositionen europäischer Philosophie – metaphysischer Positionen, um genau zu sein – dahin geführt, wie selbstverständlich zum Beispiel davon auszugehen, dass Texte von Wahrheit sprechen, als hätten sie diese per se in sich. Und der Leser berühmter Texte, die zudem noch vorgeben, über Wahrheit zu berichten, könne sich ungefragt darauf verlassen, dass er nun von Wahrheit erfahre und sie womöglich im Verlaufe der Lektüre, im Text konserviert, unmittelbar zu vernehmen vermöge. Ich lese Platon & Co. bis hin zu Hegel und Heidegger und meine beim ein– oder zweimaligen Lesen (falls ich verstanden habe), nun zu wissen. Stillschweigend nehme ich dabei an, ich gerate nun in den Sog einer Wahrheitskonserve, die schon vor mir als Leser da war und Wahrheit – mal als Marmelade, mal als Wurst, mal als Trockenfutter – bereit ist, einfach so auszuteilen und die ich als evident anschauen könne.

 

Nö, sagte einst ein komischer Franzose und kam daher aus einem Teil der Welt, der in philosophischen Kreisen als Wüste betrachtet wird. Jacques Derrida, in Algerien geboren, kam als Kind erst nach Frankreich und auf Umwegen zu beidem, Bildung und Universitätskarriere. Nö, sagte er und eckte gleich damit an. Er hatte die Philosophen – die maßgeblichen im europäischen Raum - genau studiert und spürte in sich Widerstand: da stimmt doch etwas nicht!

 

Um die fünfzig Bücher hat der komische Franzose geschrieben, und alle sind – nun, sagen wir es milde – schwer zu verstehen. Um noch deutlicher zu werden: Derridas Bücher sind unmöglich zum Lesen. Eigentlich reicht ein Buch, und das empfehle ich gern: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits.

 

Derrida nenne ich gern „eine Granate vor dem Herrn“. Er kommt daher und wird von vielen gar nicht verstanden. Aber wie Intellektuelle zu erscheinen bevorzugen, geben sie das nicht gern zu und hassen ihn entweder, oder sie ahnen, was er meint und lieben ihn, vor allem Leute aus der Kunst- und Literaturszene. Philosophische Fakultäten machen es ihm schwierig, er sitzt immerzu wie zwischen den Stühlen. Philosophie hat doch mit Literatur nichts zu tu, sagen die einen und insistieren auf ihr Amt als Hüter über die klassischen Texte. Dabei hatte schon Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie die Borniertheit der Kaste der Philologen angegriffen und einen Verständniswandel gefordert, gleichsam ein existentielles Engagement. Ähnlich denkt Derrida. Haben nicht beide, Philosophie und Literatur, mit Texten zu tun? Mit Verstehen und Verständnis finden?

 

Das Gebiet des Verstehens – Hermeneutik genannt – war dabei schon längst ins Blickfeld der Philosophen gekommen, vornehmlich und berühmt geworden durch Gadamer in Heidelberg, der mit dem komischen Franzosen auch bald in Kontakt kam, obgleich nicht ohne Streitereien und Differenzen.

 

Derrida will das ungesagt angenommene Wahrheitsmonopol philosophischer Traditionen einerseits, überliefert in Texten und die durch die lange Tradition eingeschliffene und ungefragt angenommene Wahrheitsgerichtetheit des Lesers, als lebte sie metaphysisch in ihm, brechen. Der tief gelehrte Mann benutzt darum eine äußerst anspruchsvolle und gleichzeitig gebrochene Sprache. Man weiß niemals genau, ob er die Wahrheit sagt oder lügt. Er hat Spaß daran, den Leser in die Irre zu führen. Die Tradition sagt zum Beispiel, Sokrates hätte einen Becher mit Gift getrunken und sei gestorben. Derrida erinnert an den griechischen Text: Pharmakon heißt eben nicht nur Gift, sondern auch Arznei, Heilmittel. Was spricht dafür, beim Schierlingsbecher des Griechen daran zu denken, das er Arznei getrunken und geheilt wurde, durch den Tod geheilt? Solcherart provoziert Derrida den Leser. Übrigens gibt es einen Typen in Deutschland, den ich in einer Reihe mit dem Franzosen sehe und der ähnlich gehasst und geliebt wird und ein Meister neuer Worterfindungen und Provokationen ist: Peter Sloterdijk. Man lese nur sein Buch Sphären.

 

Autoren wie Derrida (und auch Sloterdijk) wollen sich konventioneller Lesestrategie entziehen. Der Leser soll verwirrt werden. Sie machen geläufige Konzepte kaputt, dekonstruieren sie. Darum wird Derridas Art Dekonstruktivismus genannt. Im dekonstruierten Text, der zunächst Verwirrung stiftet, sieht der Philosoph eine Chance, dass der Leser selber zum Denken kommt, indem die Krücke herkömmlicher Lesemodalität zerschlagen ist. Der Leser muss sich je immer neu dem Text zuwenden, ihn vielleicht neu übersetzen, auf alle Fälle sehen, was das mit ihm macht. Wahrheit, so der Franzose, ist ein sehr fragiles und unfassbares, schon gar nicht sicheres Unterfangen. Es sei besser, öfters zu schweigen und gar nichts zu sagen, so der Meister.

 

Und nach der Dekonstruktion nehme man die kleinen Stücke, mit deren Vermittlung sich Wahrheit dem Leser offenbarte und beginne, wenn möglich, das Werk der Rekonstruktion. Dekonstruktion und Rekonstruktion – das ist des geborenen Algeriers Ansinnen.

 

Bei Youtube finden sich einige Filmchen mit Jacques Derrida. Dort kann man erleben, wie bedächtig, zuweilen abgehackt der Philosoph redet, wie sich Wissen und Scheu abwechseln. Nein, der wackere Mann ist kein Denker im herkömmlichen Sinne. Er ist der große Fragende, der immer alles Hinterfragende. Er erhebt keinen Anspruch, leichtfertig von Wahrheit, Gott, Grund und Sein zu sprechen. Wenn so etwas, das die alten und großen Worte beschreiben, geschehen sollte, dann ist es sehr flüchtig und fragil und unsicher. Der Mensch berührt, wenn überhaupt, nur den Saum vom Mantel Gottes, um ein biblisches Bild zu bemühen. Niemals kann er etwas als Wahrheit in der Manier eines Dinges oder einer Sache gleichsam „haben“. Er muss immerzu neu schauen, neu Texte lesen, sich neu bewusst werden, dass er ein Botschafter nicht nur seiner Genetik ist, sondern auch von Texten, denen er sich ausliefert. Der Mensch ist ein Wandelnder und Reisender. Darum sind des Meisters Texte zerrissen. Wir kennen das übrigens schon von Nietzsche her. Und Sloterdijk scheint sich auch Mühe zu geben, dieser Einsicht folgen zu wollen – sein Sprachduktus ist dem Derridas, schaut man ihn im Fernsehen, nicht unähnlich.

 

Du musst selber gucken, selber denken, selber Erfahrungen mit Wahrheit machen, und du kannst dich nicht wie selbstverständlich an etwas von früheren Zeiten festhalten, nicht an Methoden und nicht an überlieferten Inhalten und Büchern, indem du annimmst, darin sei Wahrheit schon gratis verborgen erhalten – nein! Es hat mit dir zu tun! Und es fordert dich, immerzu! So etwa spricht der komische Franzose Jacques Derrida und legt sich nach der Jahrtausendwende schlafen, nachdem er noch dem alten Gadamer zu Ehren einem Ruf folgte. Und heute stipulieren und schwätzen viele Intellektuelle klug, wenn es um den Mann geht, der ursprünglich aus der Wüste kam.

 

Sprechen jene Schlauberger vom Anliegen Jackies, wie ihn seine Familie nannte, haben sie seine Botschaft verstanden? Oder ist er mehr als Modeerscheinung wahrgenommen worden, ein kleiner, giftiger Zwerg, der überall aneckte, unmögliche Bücher schrieb und dessen Vorträge schwer verständlich und nicht selten abgehackt klangen? Cool, oder? Avantgarde pur! Einer, der „die Kotbehausung des Geistes“ (um einen Ausdruck Baudelaires zu gebrauchen) mächtig aufrührte!

 

Mir scheint, ein Derrida der neuen Mathematik und jener Wissenschaft, welche sie als ein Werkzeug anwendet, nämlich der Physik, sei bis heute nicht wirklich erschienen. Vielleicht ist auch seine Zeit noch nicht reif, wiewohl einige kritische Stimmen wie einsame Rufer in der Wüste ihre Stimmen erhoben und noch heute vernehmbar sind. Jedoch – sie haben keine öffentliche Reputation, sie genießen keine Beachtung und ernsthafte Auseinandersetzung. Credo in unam Mathematicam ist in der Tat das neue Credo einer Gott – losen Welt, die es wohl erforderlich machte, eine Art Quasireligion, einen Ersatz für metaphysische Betrachtungen zu finden, die mittlerweile als suspekt gesehen werden und - so bezeugt es das neue Credo – vollständig in Mathematik und Physik aufgegangen und von diesen abgelöst worden seien.

 

Diese Schrift ist eine Kritik der neuen Religion. Denn diese spielt mit Initiationen, ähnlich antiker Geheimkulte: der Adept muss erst aufwendige Studien betreiben, um überhaupt das Heilige betreten zu können, nämlich die Graduierung zum diplomierten Physiker der neuen Zeit.

 

Zum Allerheiligsten schließlich gelangt der promovierte Akademiker in Sphären ziemlich dünner Luft – er ist nun darauf vorbereitet, wie ein mathematischer Asket die Welt zu erklären, wobei bekannte Meister wie Richard Feynman durchaus davon ausgehen, dass nur eine Handvoll von Menschen genau verstehen, was sie tun (und er, Feynman, rechnet sich zu einem dieser Elitisten). Zudem neigt die neue Physik dazu, zunehmend schon längst bekannte philosophische Einsichten zu vernachlässigen, wie das Beispiel von Meister Stephen Hawking (angeblich der intelligenteste Mensch unter den Physikern) und seinem Werk Der große Entwurf durchaus offenbart. Grundsätzlich sind die Jünger der neuen Religion – und darauf gerade hatte Derrida in der Philosophie hingewiesen, nämlich nicht darin gleichsam zu versinken – Anhänger eines mathematischen Platonismus. Und damit ist die Kritik nicht zu Ende – die physikalischen Welterklärer haben nun die Stelle von Priestern eingenommen, die Segen und Sakramente spenden, vornehmlich denen, die ihnen glauben, Verehrung spenden und die selber nichts verstehen oder zu verstehen meinen. Selten spricht einer dieser heiligen Menschen (in den letzten Jahren sind auch zunehmend Frauen wie Lisa Randall hervorgetreten mit öffentlich wirksamer kerygmatischer Bedeutung) von tiefgehenden Zweifeln seiner Ableitungen, Annahmen und Bedeutungen, seiner ganzen auf mathematischen Erklärungen aufgebauten Realitätsentwürfe wegen, und er vermengt nicht selten schon in der Wortwahl Unüberlegtheiten, die er wohl wegen der dünnen Luft in seinen Sphären für nicht weiter bedenkenswert hält: mal spricht er von Universum, dann von Multiversum, mal von Modell und dann von Realität. Und er rümpft schnell die Nase über Subjekte, die schlecht in Mathematik sind und seufzt, wenn er einen guten Tag hat, wie ein gütiger Vater hinunter zu seinem unwissenden Kind, dass es eben nur mit Hilfe der Mathematik möglich sei, die Welt zu beschreiben und zu verstehen. Und lächelnd wie ein Priester streicht er über das Haupt des Unwissenden und denkt im Stillen: du wirst es nie begreifen, kleiner Schwachkopf!

 

Woanders ist man recht angetan von den höchst Erleuchteten des neuen Credo. In Norwegen verteilen offensichtliche Schwachköpfe den Nobelpreis und halten sogar als Kriegsverbrecher geltende Subjekte wie Mister Obama oder Herrn Kissinger und andere Bagaluten für äußerst würdig. In Spanien verteilt ein König mit nicht erwähnenswerter mentaler Leuchtkraft die begehrte Fields - Medaille für Mathematik und geht danach auf Großwildjagd, von den gebeutelte Spaniern freilich bezahlt.

 

Jawohl, es stört mich gewaltig, dass die neue Religion ihr Credo spricht und in Wahrheit Vorschub leistet für eine Gesellschaft der Arroganz, Kälte und – Technikversessenheit. Dabei kommt der Nichtmathematiker, der Nichtflieger in extremen mathematisch – physikalischen Höhen, nicht gut weg. Solcherart verschafft man sich eine notwendige Begründung für ein westlich geprägtes Kastensystem mit dem Hang zu Standard, Uniformität, Abrechenbarkeit und Gottlosigkeit. Die neue Physik als neue Religion hat erst Kapitalismus, Utilitarismus und moderne Finanzwirtschaft ermöglicht. Die Brownsche Bewegung, von Einstein einst untersucht, ist nun Grundlage für die Berechnung von Börsenbewegungen. Physiker und Mathematiker sitzen an den Schaltstellen von Firmen, Versicherungen, Finanz- und Wirtschaftsinstituten. Die neuen Welterklärer sind gleichzeitig die neuen Weltgestalter. Die neue Religion als gnostische Religion des rechten Wissens kennt keine Barmherzigkeit und Vergebung. Zu viele dieser akademisch geadelten Priester sitzen auch dort, wo Rüstung, Technik und Töten geplant und produziert wird.

 

Das stört mich sehr. Ich bin ein tiefer Zweifler am neuen Weltbild der Physik geworden, obgleich ich beide, Mathematik und Physik sehr liebe, und zwar seit ich ein Kind war. Mein Großvater, ein belesener Landwirt mit einer riesigen Bibliothek, hatte Heisenberg und von Weizsäcker gelesen und nannte sie Opportunisten (wie auch von Ardenne, der Kenner wird ahnen, warum). Und er sagte mir einen Satz, der sich bis heute in mir festgehakt hat: schau genau hin, in der Natur gibt es kaum rechte Winkel und Geraden! Und: sie sind so schlau, dass sie gar nicht wissen, wie dumm sie sind! Später las ich Einsteins Aufsatz über Geometrie und Erfahrung und konnte mich des Eindrucks nicht entledigen, dass der wackere Mann vom mathematischen Platonismus wusste und doch nicht wagte, ihn ganz hinter sich zu lassen. Im Anfang war das Wort, und nicht der Urknall, sagte mein Großvater noch, und wer das verleugne, hätte nichts verstanden. Ich betrachte mich nicht als dumpfen Jesusschwätzer oder fundamentalistischen Gottesspinner, vielmehr als einen engen Verbündeten von Jesus. Gott hat für mich eine tiefe und elementare Bedeutung, ohne dass ich viel dazu sagen könnte. Aber erst jetzt erlaubt mir mein inneres Gespür die Veröffentlichung meiner Gedanken zur neuen Physik.

 

Freilich werde ich keine allgemeine und universal gültige Lösung in diese Welt werfen können. Ich rechne damit, dass mir Hass und Ablehnung entgegenschlagen, obgleich mir mein Nervenkostüm erlaubt, mich nicht zu scheren über Geschrei anderer Subjekte – niemals hat es mich zu Jubelveranstaltungen jedweder Art, noch in Gerichte und Schmähtheater gezogen, da über andere unanständig gerichtet und beurteilt wird. Die menschliche Natur in ihrer Gebrochenheit, Fragilität und Begrenztheit ist mir mitnichten unbekannt, und ich finde mich von ihr umschlossen mit einem, wie ich meine, gerütteltem Maß an Verständnis, Toleranz und Liebe.

 

Aus diesem prozesshaften Komplex heraus finde ich mich in tiefem Widerspruch zur neuen Physik und ihren mathematischen Weltbildern. Und darum fordere ich einen Derrida der neuen Physik. Mathematisch lässt sich Demut wohl kaum hinreichend ausdrücken. Aber genau dieses schwebt mir vor – dass die neue Physik ihre Grenzen erkennt und, wenn überhaupt, demütig ihr Priesteramt ausführt. In ihrer hochfahrenden und aus Illusionen geborenen Art der Bedeutungssicherung ihrer Stände liegt ihr Kerygma nämlich nicht selten in bedeutungslosen Fabeln, um ein Wort vom neutestamentlichen Paulus zu bemühen.

 

Studienempfehlungen

 

Dokumentarfilm Derrida (2002)

https://www.youtube.com/watch?v=CtcpwJCC6Co

 

Bericht über Hawkings Der große Entwurf

https://www.youtube.com/watch?v=aultFgae44c

 

Albert Einstein, Geometrie und Erfahrung Text

https://archive.org/details/geometrieunderf00einsgoog

 

Anklage wegen Kriegsverbrechen

http://www.westernjournalism.com/obamas-impeachment-trial-war-crimes/

http://www.thirdworldtraveler.com/Kissinger/CaseAgainst1_Hitchens.html

http://www.presstv.ir/detail/2013/05/24/305172/chomsky-calls-for-obama-trial-at-icc/

 

I. 2. Ehre sei Mathematik in der Höhe

Ganz tief in mir schlummert der Wunsch, ich könne dazu beitragen, eine Kultur der Liebe zur Mathematik um mich zu verbreiten. Mir ist durchaus die tiefe Apathie vieler Zeitgenossen gegenüber der mathematischen Beschäftigung aufgefallen, gepaart mit sprachloser Unfähigkeit. Und dass zum Behufe erfolgreicher Absolvierung von Matheprüfungen zahllose Schüler besonders mathematische Nachhilfe in Anspruch nehmen, hat schon zur Erhärtung der Meinung beigetragen, die Lehre von den Zahlen, Operationen und Proportionen sei schon per se ein schwieriges Fach und immer schon gewesen.

 

Nun kann ich selber als Liebhaber der Mathematik bezeugen, dass ich schon als Jugendlicher große Freude daran hatte, aus der Fülle von gut geschriebener mathematischer Literatur meine Neugier zu befriedigen – es war einfach ausreichend und leicht verständlich zugänglich, zumal Matheolympiaden noch eine größere Rolle spielten im Schulalltag, verglichen zur heutigen Zeit getrennter Schulpläne nach Ländern. Jedoch geht es mir nicht um eine nostalgische Beweihräucherung vorgeblich „guter, alter Zeiten“. Mir fällt nur der Mangel an guter und leicht verständlicher mathematischer Literatur, speziell für Schüler, in der heutigen Zeit auf. Und das finde ich mehr als schade.

 

Jeder einigermaßen vom Mathematikvirus Befallene wird sich nicht der tiefen Faszination entziehen können, in welche diese spezielle „Infektion“ hineinführt. Es beginnt mit dem Dezimalsystem und den zehn Fingern beider Hände: dezimal, weil wir zehn Finger haben? Ist die Zehn eine Grundnummer in der Welt?

 

Später entdeckt man vielleicht die seltsamen Regelmäßigkeiten im Spiel mit der Zahl Neun. Und gewinnt Verständnis von Verhältnissen in Dreiecken. Und von Zahlenreihen. Und man versteht mit der Zeit seltsame Verhältnisse oder Proportionen, die immer wieder auftauchen. Man trifft auf die Idee und Ausführbarkeit von Mengenoperationen und erfährt von unglaublichen Tricks, mit denen man Wege beschreiten kann, die vordem ungehbar erschienen: Operationen mit Null, Einführung von Koeffizienten zwischen Null und Eins, Hilfskonstruktionen, wie imaginäre Zahlen oder sogar „dreidimensionale“ Matrizen, Tensoren genannt, einen bestimmten Tangens als Differential, um mit dem Phänomen der Unendlichkeit im Kleinen sinnvoll operieren zu können, den Annäherungspunkt einer Zahl oder Folge, Limes genannt, um Grenzen zu kennen, und ich könnte hier ohne Mühe fortfahren und habe nur einen kleinen Teil genannt. Der Kenner wird sich erinnern und kann vielleicht noch heute staunen. Mir geht es so. Mathematik erweist sich für den Liebhaber als Zauberin und Erzählerin, die Märchen aus tausend und einer Nacht weit in den Schatten zu stellen in der Lage scheint.

 

Andere gehen nicht den Weg zur höheren Mathematik und verlieren sich in die phantastische Welt geometrischer Figuren und Konstruktionen. Ich weiß von einen Herrn, der über ein Jahrzehnt mit seinem Rechner unglaubliche Graphiken generierte, völlig unerreichbar und unvorstellbar für mich und andere. Und wieder andere liefen zu Höchstformen auf im Entdecken mathematischer Muster in Natur und Bauwerken. Aus gleichsam „grauen Mäusen“ mutierten innerhalb kurzer Zeit mathematische „Wundermenschen“. Ich hatte mit einem Feuerwehrmann aus Kanada über längere Zeit Kontakt, der nach langen Jahren Dienst seinen Sinn dafür entdeckte, Muster, Konfigurationen und Regelmäßigkeiten zu entdecken, die ihn in die Lage versetzten, ernsthaft über Denkwege eines bekannten theoretischen Physikers namens Edward Witten zu reflektieren und diskutieren. Heute hält er Vorträge über bestimmte Wirbelstrukturen in Kosmos und Kunstdarstellungen alter Kulturen.

 

Es ist nicht mit kleinem und großem Einmaleins getan, das ein mathematisch Begabter gefälligst wie am Schnürchen zu beherrschen hätte. Viele mathematische Liebhaber sind schwach im Kopfrechnen, andere erreichen dabei schier unglaubliche Fähigkeiten. Ich habe auch Typen getroffen, die wie Überirdische im Kopf den Wochentag eines beliebigen Datums zu nennen vermochten, ebenso die exakten Daten von Sonnen- und Mondfinsternissen auf Tag und Stunde. Und in einem Behindertenheim traf ich einen Jungen, der sämtliche Fußballtabellen bis hinunter zur Kreisklasse intus hatte und zusätzliche alle Daten und Zahlen sowjetischer Kosmonauten.

 

Die Welt der Mathematik lässt sich in der Tat unmöglich über den Schulweg allein erschließen – ein mathematisches Verständnis manifestiert sich offensichtlich über zahllose Wege und Schicksale. Dabei spielen Zahlen durchaus eine Rolle, jedoch nicht ausschließlich. Zur Mathematik gehören – ich erwähnte es bereits – auch Formen, Körper, Flächen, Proportionen, Mengen, Symmetrien, Verteilungen, Regelmäßigkeiten. Und genau hier scheinen Menschen oft Anknüpfungen zu finden, die es ihnen erleichtern, mehr oder weniger unmittelbar in ein ganzes Universum einzutauchen, das voller Wunder und Faszination ist: eine Welt, eng verbunden mit mathematischen Operationen, Figuren und nicht zuletzt Herausforderungen.

 

Vielleicht sollte die Rolle der Mathematik als besondere Binnenbegabung bei etlichen Individuen nicht unterschätzt werden. Gleichsam als spezielle Ausformung in mental–seelischer Hinsicht erlaubt die mathematische Affinität dem ansonsten womöglich verhaltenen Subjekt eine starke Expression. Die Geschichte kennt etliche dieser mathematischen Wunderkinder, und der Seltenheit halber erlangen sie leicht Berühmtheit und Respekt, welcher in einer Gesellschaft abrechenbarer und quantifizierbarer Werte dann gern verteilt wird, während Kinder beispielsweise mit hoher sozialer Intelligenz (im Gegensatz zu mathematischer) keine besondere Beachtung finden.

 

Ich entdecke hier tatsächlich einen tiefen inneren Bezug zwischen einem sich andeutenden Missverhältnis zwischen mathematischer Präferenz und gesellschaftlicher Humanität. Das hängt nicht zuletzt mit einer Mathematisierung der Gesellschaft in allen Bereichen zusammen, und ich meine, dass dies zweifellos einen tiefen Grund in der existenziellen Konstitution des Menschen hat, nämlich religiös zu sein. Die Austreibung Gottes aus den Systemen menschlicher Bezogenheiten, inklusive seiner als Seele demontierten und neu benannten Psyche, und zwar auf weitem Felde, hat nicht etwa das Phänomen Religion erledigt. Wer Gott aus dem Haus treibt, drückte es einmal jemand mit einem Bild aus, der muss sich nicht wundern, wenn andere Geister zum Fenster wieder hineinsteigen. Ich meine, dass die Mathematik und ihre Tochter, die Physik, mitnichten einfach so das entstandene Gottesvakuum ausfüllten mit humanen und existenziell–realen Substituten, welche in der Lagen wären, des Menschen Sehnsucht nach Gott zu stillen. Also musste sie sich, als Engel des Lichtes verkleidet, selber in eine Religion verkleiden, und das hat sie: nichts in dieser Welt ist vergleichbar mit ihrer Eleganz, Logik, Überzeugtheit, Geschlossenheit und Ernsthaftigkeit, und nichts auf diesem Planeten erheischt in der neuen Zeit mehr Bewunderung, Respekt, Ehre und ernstes Adeptentum, wenn auch ihre populären Formen nicht selten verdreht und wie seltsame Vogelscheuchen daherkommen, welche die einen verschrecken und andere im höchsten Maße zu inspirieren scheinen.

 

Ich hege in der Tat eine tiefe Liebe zu Mathematik und Physik und betrachte mich ausgestattet mit einer tiefen Sehnsucht und Bereitschaft zur Mission, dass möglichst viele ihr Desinteresse verlieren und mit offenen Armen und Sinnen in die phantastische mathematische Welt einsteigen würden. Gleichzeitig ist mir der quasireligiöse Charakter dieser ernsten Wissenschaft immerzu gegenwärtig und drängt mich, wie Derrida es immer forderte, zu neuen Sichten und Betrachtungen. Ich bitte den Leser höflich, mich in meinem Ansinnen zu verstehen, ohne vorzeitig sozusagen „den Vorhang zu schließen“. Ich suche keine Ehre, vielmehr trachte ich nach möglichen Lösungen, um Mathematik und Physik ihren Platz zuzuweisen, der ihnen gebührt: nicht als Ersatzreligion, die Gott ersetzt und abenteuerliche Thesen als Realität einer Welt verkauft, die zunehmend verwirrt ist durch Armut, Lüge, Verdummung, Unmenschlichkeit und Entmenschlichung durch Technik, an denen auch Mathematik und Physik einen nicht unbedeutenden Anteil haben.

 

Womöglich ist der eine oder andere doch in der Lage, gemäß seiner oder ihrer seelischen Stabilität, Anregung zu empfangen und selber weiter zu forschen. Dazu bedarf es wohl nicht außergewöhnlicher Fähigkeiten. Eine der tiefsten Einsichten in die Natur des Geistes fand einst William Ockham: entia non sunt multiplicanda praeter sine necessitate (Entitäten sollen nicht über Notwendigkeit hinaus vermehrt werden), oder einfacher: jede Theorie und These müssen so einfach und logisch wie möglich sein. Das wird heute Ockhams Rasiermesser genannt – bitte alles so einfach wie möglich! Und dies schließt freilich auch Aussagen der Existenz ein, welche aus Theorien und Thesen abgeleitet werden.

 

Die herrliche Mathematik als anspruchsvolle und wunderliche mentale Aktivität des Menschen bildet an sich schon ein ziemlich unübersichtliches Feld, dessen geistige Herausforderung wohl kein Ende in Sicht rücken lässt als fundamentale Wissenschaft mentaler Auseinandersetzungen mit allerlei Axiomen, Definitionen, Sätzen, Regelungen und logischen Operationen. Und weil zehn Finger an unseren Händen sind, findet sich leicht eine tiefe Beziehung des Dezimalsystems zur menschlichen Realität.

 

Die Mathematik fand ihren Platz hin zur Ausweitung bloßer mentaler Beschäftigung: sie firmierte zum probaten Mittel, Abbildungen von Realitäten gleichsam zu ermöglichen und zu beschreiben. Sie erlangte ihre Krönung in der Applikation in anderen Wissenschaften als Werkzeug, mit ihrer Anwendung und Hilfe fand man nun Berechtigung, Abbilder von realen Prozessen und Erscheinungen zu generieren. Während die Photoemulsion ein zweidimensionales Bild eines realen dreidimensionalen Gebildes fast unmittelbar erzeugt und damit den menschlichen Blick einer Illusion aussetzt, wenn auch einer allgemein akzeptierten, fungiert angewandte Mathematik sozusagen als „verzögerte Photographie“, indem sie Abbilder liefern sollte, die, sukzessive zusammengesetzt, letztlich ein ziemlich genaues „Photo“ einer Realität liefern würden. Mathematik lieferte die Grundlagen für Modelle von Realitäten, zunächst im Aufstellen von Gleichungen und Formeln, welche gelehrige Hermeneuten so oder so mit Sprache deuteten und vielleicht populär darzustellen versuchten, später sogar in graphischen Darstellungen, und heute beeindrucken virtuelle Filme, gespeist mit den einstigen Gleichungen und angepasster Software, eine große Masse von medienbegabten Subjekten, die staunend auf einen weiterhin zweidimensionalen Bildschirm starren. Physikalische, mit Hilfe der Mathematik und mathematischer Software generierte Modelle sind immerzu höchstens zweidimensionale „Photos“ oder „Filme“, falls mit Büchern oder Bildschirmen gearbeitet wird. Das fällt zwar kaum auf, führt aber bei näherer Betrachtung zu ziemlich ernüchternden Einsichten.

 

Nach einer Anekdote soll Frau Einstein beim Besuch eines großen Observatoriums, da ein Mitarbeiter erklärte, mit diesem großen Instrument machten sich die Wissenschaftler ein Bild des Universums, erstaunt entgegnet haben, dass ihr Albert das gleiche auf dem Rücken alter Briefumschläge mache. Die Beschreibung von Weltprozessen, ja sogar der ganzen Welt, des Universums, in Formeln, Gleichungen, Graphiken, virtuellen Filmen, und alles auf Papier oder einem Bildschirm, also in zweidimensionaler Manier! Genau dieses ist es, was mich bewegt und am Fragen bleiben lässt, wenn ich das Thema dieses Buches reflektiere. Wie kann es sein, dass einerseits Mathematik ein unglaublich schönes und herausforderndes Geschehen ist, sogar zur anerkannten Wissenschaft geronnen, zugleich jedoch die Versuchung stark ist, diese Zauberbeschäftigung so einfach hokuspokus als „verzögerte Photographie“ von Realitäten zu stilisieren? Wie kann es sein, ein internes, mentales und als solches geistig–seelisches Gebaren einfach so zu externalisieren in reale Beschreibungen realer Prozesse eines realen Universums? Oder kurz: was rechtfertigt die Erhebung mentaler Konstrukte zur Beschreibung realer, also physikalischer Prozesse und Entitäten? Was rechtfertigt diese Art von Reifikation?

 

Mir scheint, mathematische Aussagen sagen zunächst nichts über externe Status aus. Vielmehr geben sie Zeugnis vom der internen Konstitution des mathematischen Menschen: er oder sie benutzt mathematische Operationen in seiner oder ihrer Art zu denken. Seine oder ihre mentale Struktur ist hochgradig durchsetzt mit einer bestimmten Art zu denken. Und diese Art erlaubt nicht zuerst eine Beschreibung externer Realien in einem realen Universum, sondern vielmehr Schlüsse auf ein Psychogramm des Denkers.

 

Studienempfehlungen

 

Sehr gute Mathematikvideos finden sich bei Youtube unter njwildberger. Der Interessierte möge unter Videos schauen, da ist zum Beispiel ein ganzer Kurs zu Differential Geometry und zahllose andere Themen.

 

Wunderbare und sehr klare Physikvideos bei Youtube finden sich unter DrPhysicsA. Dort sind zum Beispiel gute Beschreibungen zur Herleitung der Maxwellschen Gleichungen oder der Einsteinschen Feldgleichungen zu sehen und noch vieles mehr. Das Englisch ist sehr klar und leicht zu verstehen. Bitte unter Videos aussuchen.

 

Sehr gute Einleitungen in mathematisches Denken findet sich bei Youtube unter mathspacewien. Ein Professor aus Wien ist ein sehr guter Lektor in diesen Dingen. Bitte unter Videos aussuchen.

 

Eine gutes Beispiel zur Einleitung in höhere Mathematik findet sich hier: http://www.mathematik.uni-stuttgart.de/studium/infomat/HM-Griesemer-WS0809/Vorlesung/HM1-skript-0809.pdf

 

Eine Einleitung in die Kosmologie findet sich hier:

http://www.astro.uni-wuerzburg.de/~niemeyer/lectures/Kosmologie.pdf

 

I. 3. Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an, wir verherrlichen dich

Es war kein anderer als Rene Descartes, der vor vierhundert Jahren in der Tat seine Gedanken nicht ins Externe hinaus zu explizieren gedachte, sondern vielmehr fragte, was sein ganzes Denken mit ihm selbst zu tun habe, was er denn sicher in der Lage wäre, genau zu wissen, intern, ganz bei sich drin.

 

Der gelehrte Mann wollte allerlei wissen und fragte sich, ob denn all jenes, das er wahrnehmen und verarbeiten konnte in seinen Sinnen und seinem Denken, wahr sei oder bloße Illusion. Schaut man ein Bild des wackeren Herrn Descartes an, sieht man auch heute noch ein schönes Gesicht mit wachen, großen Augen. Der viel herum gekommene Monsieur wollte alles genau wissen, und er war sich unglaublich unsicher. Alles, so murmelte er und blickte frustriert zum Himmel, alles, das mir heute morgen noch sicher schien zu wissen, kann mir am Abend schon zweifelhaft vorkommen! Mon Dieu! Was ist denn das für ein Durcheinander!

 

Und alsdann fand er Erleichterung. Ihm war aufgefallen, dass, wie er bemerkte, sein ganzes Zweifeln doch Zeugnis davon war, dass er dachte! Da war es, das Vademekum, das er zu seiner Erleichterung als Erklärung suchte: je pense, donc je suis, ich denke, also bin ich! Das, so der Herr, genau das kann ich sicher wissen: ich zweifle, also denke ich, und wenn ich denke, dann bin ich! Später wird man den französischen Ausspruch lateinisch cogito ergo sum nennen und so überliefern.

 

Dieses ist gleichsam der erste Schritt zu einem Psychogramm, wie ich es verstehe. Anstatt unmittelbar und gleich das Externe, also die Außenwelt zu betrachten und beschreiben zu wollen, frage ich zuerst nach dem Internen, nach mir selbst und dem, was in mir vorgeht. Ich möchte zunächst einmal Spuren des Denkens nicht in der Außenwelt suchen, sondern im Denker selbst: was sagt ein bestimmtes Denken über den Denker selbst? Das meine ich mir Psychogramm. Und ich meine, dass auch und gerade mathematisches Denken in erster Linie wenig über äußere Dinge und die Welt oder ein Universum aussagen sollte, sondern über den Mathematiker und dessen Verwerter, den Physiker, als Denker des Denkens oder Gedachten.

 

Es war im Jahre 1989, als Eugen Drewermann ein äußerst provokantes Buch auf den Markt warf, welches ihm Hass und am Ende den Entzug der Lehrerlaubnis einbrachte. Der katholische Theologe und Psychotherapeut hatte mit seinem Werk Kleriker. Psychogramm eines Ideals offenbar in ein Wespennest gestochen. Der schlaue Mann und Autor von heute über fünfzig Büchern verarbeitete darin seine Beobachtungen über die Auswirkungen kirchlichen Redens auf die Seelen von Klerikern und fand ziemlich ernüchternde Befunde. Herkömmliches, frommes und dogmatisches Sprechen als Kategorien pastoraler Existenz würde, so Drewermann, die Seele verbiegen und krank machen. Der Kleriker würde dem Druck auf Dauer nicht standhalten, Spannungen zwischen externer Hinwendung und interner und eigener Akzeptanz zu überspielen. An vielfältigen Beispielen sucht der Therapeut das ungesunde Missverhältnis zu erleuchten und fordert ein neues und heilendes Reden, wie es das Evangelium, so Drewermann, intendiere. Nicht dogmatische Wahrheit als zu verkündendes Kerygma sei dem Evangelium gemäß, sondern eine Kohärenz zwischen interner, eigener Wahrheitsklärung, also dem Finden einer inneren, entspannten Öffnung einer Wahrheit gegenüber, und externer Hinwendung in Predigt und Seelsorge an andere sei das Gebot der Stunde. Oder einfach: rede nicht nach außen zu anderen in dogmatischer Manier davon, was du selbst (also intern) nicht in der Lage bist, entspannt und ohne Verbiegung anzunehmen! Rede nicht von Wahrheiten, die du selber nicht verstanden hast oder annehmen kannst! Internes – Du selber – und Externes – die Welt draußen – bedürfen eines entspannten Verhältnisses, einer Kohärenz, einer Abstimmung! So aber konstatiert Drewermann Klerikern fast durchweg ein von Ängsten und Zwängen bestimmtes Menschsein und blickt dabei durchaus auch auf ein entsprechend deformiertes Gesellschaftsbild.

 

Die Analysen und Schlussfolgerungen des gelehrten Priesters und Therapeuten haben tatsächlich viel Staub aufgewirbelt vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren, jedoch, aus heutiger Sicht, hat sich grundsätzlich nichts geändert. In ähnlicher Weise erwarte ich auch nicht viel, wenn ich in ein mathematisches Wespennest steche. Wahrscheinlich wird man mich gar nicht groß wahrnehmen, zumal ich kein studierter Mathematiker oder Physiker bin. Als Theologe und Philosoph allerdings meine ich, etwas zu sagen zu haben. Ich glaube auch, in vielen Gebieten die Mathematik verstanden zu haben nebst Formalismus und gängigen Deutungen. Jedoch habe ich zunehmend den Eindruck gewonnen, die ganze Mathematisierung unserer Welt und Gesellschaft, ausgedehnt gar zum Universum, entspringt etlichen Missverständnissen, worunter ich philosophische Fehldeutungen verstehe, und außerdem denke ich an starke ideologische Mächte, welche der Mathematik verhalfen, eine Religion zu werden, mit Priestern, Kulten, Dogmen, Liturgien und sogar einer Inquisition, die heutzutage offenbar effektiver zu laufen scheint als damals, im Mittelalter.