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Die achtzehnjährige Laraina Vetsch wird tot im Mattawald aufgefunden, die Polizei geht von einem Suizid aus. Doch Larainas Schwester glaubt nicht an einen Selbstmord und bittet ihre ehemalige Schulkollegin Allegra Cadisch um Hilfe. Die junge Jura-Studentin nimmt undercover in einem Davoser Hotel eine Stelle an und ermittelt vor Ort - nicht ahnend, dass sie sich damit selbst in Lebensgefahr bringt. Eine interlandschaft, eine Tote und eine unkonventionelle Ermittlerin: atmosphärisch und tiefgründig erzählt.
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Seitenzahl: 458
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Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete mehrere Jahre in Davos. Seit der Jugend widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Sie ist leidenschaftliche Kriminalschriftstellerin mit Hang zu den dunklen Abgründen der Seele. Sie hat sich vor allem in der Zentralschweiz einen Namen mit der Kramer-Krimi-Reihe gemacht. Seit 1998 ist sie freischaffende Autorin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und lebt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern. Im Emons Verlag erschien von ihr bereits der Kriminalroman «Jakobshorn».
www.silvia-goetschi.com
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/NeoVipa Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-761-1 Originalausgabe
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Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt,die Wahrheit steht von alleine aufrecht.
Benjamin Franklin
PROLOG
Trink! Liebes, trink!
Über ihr der Himmel, bleigrau und schwer. Nur sie war da, sonst nichts. Um sie herum alles tot und weiss und kalt.
Und weit entfernt die Geräusche, die sie an den Winter erinnerten, an fröhliche Menschen, das Feiern im letzten Jahr, wo alles noch einigermassen erträglich gewesen war.
Sie umschloss mit zitternden Fingern das Glas. Nicht sicher, ob der Mut sie verlassen würde, es zu tun. Endlich zu tun.
Die gelblich zähe Flüssigkeit schwappte über den Glasrand, zeitlupengleich, nicht wirklich. Sie hatte noch nie ein solches Getränk gekostet, geschweige denn so eine Farbe gesehen. Es sickerte in ihren Ärmel, tropfte in den Schnee. Sie sah es nicht. Sie spürte nur, wie sie alles an sich spürte.
Wie sie nichts mehr spürte.
Da war dieses Nichts, das allmählich von ihr Besitz ergriff.
Der Winter hatte die Landschaft unter sich begraben. Durch die Baumkronen schimmerte violett der Himmel. Die kurze Dämmerung machte der Nacht Platz. Der Neumond hing als schwarze Scheibe wie ein gelöschter Lampion, von blossem Auge nicht zu sehen. Diese Nächte waren die schwärzesten.
Sie vernahm Stimmen. Sie mussten irgendwo in ihrem Kopf sein. Tief drin, wo schwarze kleine Teufel an die Stirn hämmerten bis hinunter zum Herz. Stimmen und Geräusche tief drin in ihr. Oder draussen in der Nacht, wo ein Tier vielleicht nach Nahrung suchte. Geräusche, die sie nicht wirklich zuordnen konnte, weil sich alles in ihr nach dem Letzten, Endgültigen sehnte.
Und doch Angst davor hatte.
Der Wald war Zeuge, die Lärchen mit ihren orange gefärbten Nadeln, die sich noch immer an die Äste klammerten, als müssten sie der Kälte trotzen oder dem Schnee. Sie fror und wartete darauf, dass es warm wurde. In ihrem Inneren, wo der Saft sich über die Kehle ausbreitete und reflexartig durch die Speiseröhre sickerte, ob sie schluckte oder nicht.
Trink! Liebes, trink!
Die Stimmen kamen näher. Sie sah Schatten vor sich. Schatten im dunklen Schnee der Nacht. Und sie dachte sich Diamanten darauf und silberne Sterne, wie sie sie als Kind gesehen hatte, als kleines Mädchen, als die Welt in Ordnung war. Und später, als sie davon geträumt hatte, Dornröschen zu sein. Von einem Prinzen wach geküsst. Wie er sie auf seine starken Arme nahm und auf sein Pferd hob und davongaloppierte. In der Ferne das Schloss mit den Türmen und dem hellen Schein, der durch die schön geschwungenen Fenster sickerte. Und wie er sie küsste und versprach, immer bei ihr zu bleiben. Sie hatte ihn geliebt und weitergeträumt.
Sie nippte nur am Glasrand. Das Getränk schmeckte bitter.
Nicht so bitter wie das Leben, das hinter ihr lag.
Sie setzte das Glas an die Lippen, kippte es. Ihr Kopf in den Nacken. Sie schluckte und schluckte so viel, dass sie husten musste. Doch sie wollte nicht ausspucken.
Schlucken wollte sie. Jetzt! Hinunter mit dem Gebräu. Es schmeckte scheusslich und brannte in der Kehle. Ihr Magen rebellierte.
Ein Zwang ergriff sie, es wieder auszuspucken.
Dennoch schluckte sie.
Trink! Tu es endlich! Trink!
Sie schrie.
Sie schöpfte nach Atem.
Wollte sich spüren. Es endlich spüren, wie es sich anfühlte, wenn es vorbei war.
Wenn die Gedanken zerfledderten wie der Schnee, in dem sie jetzt lag.
Sie konnte die Diamanten sehen und die silbrigen Sterne. Sie fielen vom Himmel vor ihre Füsse. Und wenn sie die Augen schloss und wieder öffnete, stand der Prinz vor ihr. Er hob sie auf sein Pferd.
In der Ferne leuchteten schon die Fenster.
Sie würgte. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte Krämpfe, und der Schmerz traf sie gnadenlos. Überall war der Schmerz, und tausend Lichtpunkte tanzten über ihr.
Sie legte sich ins Wintergrab. Die Kälte des Schnees spürte sie nicht. Da waren nur dieser Schmerz und die traurige Bilanz in ihrem Kopf, alles falsch gemacht zu haben.
Trink! Liebes, trink!
EINS
Mitte Dezember. Nachdem die Landschaft bereits eingezuckert gewesen war, hatte es über Nacht erneut geschneit. Am Morgen lag sie wie unter einem Watteflaum, und jeglicher Laut versank im neuen Tag. Noch immer fielen vereinzelt Schneeflocken.
Ich stand am Panoramafenster in Valerios Wohnung und liess meinen Blick über das Dorf streifen. Auf der Strasse, weit unter mir, mühte sich ein Automobilist mit seinem Wagen ab. Er kam nicht vom Fleck. Beim vergeblichen Versuch, die Strasse hochzufahren, rutschte er zur Seite. Mittlerweile hatte sich eine Menschentraube darum herum gebildet. Ich war wohl nicht die Einzige, der dieses Schauspiel ein Schmunzeln entlockte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn der Fahrer dort unten einer der Touristen war, die sich vor Saisonbeginn hier einfanden. Diese stellten sich einstweilen etwas unbeholfen an, sobald der erste Schnee fiel und die Strassen unter sich begrub. Schwarzräumung war in Davos nicht erlaubt. Gesalzen wurde nur im äussersten Notfall. An den exponierten Stellen wurde Kies ausgestreut. Bereits am Morgen in der Früh hatte ich die Schneeräumfahrzeuge gehört, die mit ihren Schaufeln die Schneemengen von den Strassen schoben.
Ich hatte mich auf den Winter und auf Davos gefreut. Zum ersten Mal seit längerer Zeit erfüllten mich eine gewisse Unbeschwertheit und das süsse Gefühl von Freisein. Ich war zurück an dem Ort, wo ich geboren worden war und wo ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr gelebt hatte. Ob es auch ein Heimkehren war, wusste ich noch nicht. Das hing nicht allein von mir ab.
Die Universität in Luzern hatte geschlossen. Ich würde hier genügend Zeit finden, mein Studium der Rechtswissenschaften fortzusetzen und endlich alle erforderlichen Bücher zu lesen, was ich eigentlich längst hätte tun sollen. Mein Freund Tomasz Kandinsky hatte im Sommer den Anwalt gemacht. Jetzt arbeitete er in einer der renommiertesten Kanzleien in Zürich und fand kaum noch Zeit für mich. Einen Vorgeschmack hatte Tomasz bereits während des Studiums bekommen. Der Lerndruck war zwar weg, hatte jedoch weit gefährlicheren Strapazen Platz gemacht. Jetzt ging es darum, mit den Kollegen mitzuhalten. Er verdiente zwar gut, dafür leistete er viele Überstunden, die er niemals kompensieren würde.
Tomasz hatte mir versprochen, über die Weihnachts- und Neujahrstage nach Davos zu kommen. Darauf freute ich mich. Jetzt hatte ich den Wunsch, unser Liebesnest einzurichten. Mein Bruder Valerio war noch immer in Cancún unterwegs. Neu entdeckte Ruinen nahmen ihn und sein Team in Anspruch. Er würde nicht vor dem Frühling zurückkehren. Die Wohnung hatte er behalten. Ein einheimischer Immobilienmakler hatte nach Vaters Tod das Wohnhaus von der Bank zurückgekauft. Die eigenen vier Wände um mich zu haben, vermittelte mir ein behagliches Gefühl. Mit ein paar Handgriffen würde ich aus der puristischen Einrichtung ein kuscheliges Ambiente zaubern.
Ungern dachte ich daran zurück, als meine Halbgeschwister, Valerio und ich sowie Vaters fünfte Frau Letícia vom Notar eingeladen worden waren. Wir hatten gehofft, dass von Vaters Hinterlassenschaft alle so profitieren würden, wie Vater es zu seiner Lebzeit versprochen hatte. Der Schock war gross gewesen, als sich herausstellte, dass von dem einstigen Cadischen Vermögen nichts als ein paar Bilder zurückgeblieben waren, deren Wert wir zum damaligen Zeitpunkt nicht abschätzen konnten. Keine Liquidität. Vater hatte sich verspekuliert, war aber dreist genug gewesen, immer noch mehr neue Projekte zu planen. Ich war froh, mussten wir nicht irgendwelche Schuldscheine übernehmen. Selbst die Alimente während meines Studiums waren nicht mehr sicher. Ich war auf Mam angewiesen, was es für mich nicht einfach machte. Ich wohnte noch immer bei ihr, hatte zwar mein eigenes Refugium mit Badezimmer. Aber ich träumte schon lange von meiner eigenen Wohnung. Doch vorerst konnte ich mir diese abschminken.
Seit der Testamentseröffnung im Mai, wo wir die eiskalte Dusche erlebt hatten, gingen wir fünf Kinder einander aus dem Weg. Mein Halbbruder Luzi und seine Frau Sibylle hatten im Mai Zwillingsmädchen bekommen. Luzi hatte sich Söhne gewünscht, derweil er unter dem Druck stand, den Stammbaum der Cadischs mit männlichen Nachkommen erhalten zu müssen. Er war da sehr altmodisch.
Einzig mit Valerio blieb ich in Kontakt. Er erlaubte mir, in seinem Appartement zu wohnen. Wie lange ich dort sein würde, das wussten die Götter.
Ich schlug eine alte Davoser Zeitung auf, die seit November in der Küche lag. Ich fand erst jetzt Zeit, darin zu blättern. Den Bericht über eine Feld-, Wald- und Wiesenveranstaltung überging ich und las ein paar Zeilen über den Ärztekongress, an dem über eine neue technische Errungenschaft in der Chirurgie diskutiert worden war. Ein Porträt einer Davoser Persönlichkeit füllte die nächsten eineinhalb Seiten. Am Rande wurden ein paar Neuigkeiten aus der übrigen Welt erwähnt. Nichts, was meine Aufmerksamkeit auf sich hätte ziehen können. Gegen meine Gewohnheit blieb ich an den Todesanzeigen hängen. Ein Fünfzeiler fiel mir ins Auge. Am oberen linken Rand sass ein Engel ohne Unterleib– eine feine Bleistiftzeichnung. Eine junge Frau war gestorben. Der Name war mir bekannt.
Laraina Vetsch.
Ich war mit ihrer Schwester Ursina in dasselbe Schulhaus gegangen. Sie hatte die vierte Klasse in meiner Parallelklasse wiederholt. Zwischen den Zeilen las ich, dass es sich weder um einen Unfall noch um eine Krankheit gehandelt habe. Lara hatte sich still vom Leben verabschiedet, genauso, wie sie ins Leben getreten war. Nur achtzehn Jahre alt war sie geworden.
Selbstmord, durchfuhr es mich. Fröstelnd legte ich die Zeitung beiseite.
Ich ging ins Badezimmer, wo ich mich unter die Dusche stellte. Ein in verschiedene Farben wechselnder Wasserstrahl bestätigte mir Valerios Hang zur Extravaganz. Vielleicht beglückte er damit seine ständig neuen Frauen. Ansonsten sah es hier eher düster aus. Schwarze Teppiche auf grauem Granit, schwarze Handtücher und Waschlappen. Einzig die futuristische Leuchte, die von der Decke hing, schimmerte in zartem Ocker, und die Spiegel brachen ein wenig den morbiden Eindruck. Auch hier würde ich einiges ändern müssen, damit ich mich in den nächsten Wochen wohlfühlte.
Ich hatte mich mit Dario Ambühl zum Mittagessen verabredet. Kurz nach meiner Ankunft vor vier Tagen hatte er mich angerufen und gleich ein Candle-Light-Dinner vorgeschlagen. Aber das war mir zu riskant, nachdem er mir im letzten Frühling einige Avancen gemacht hatte. Wenn ich ihm jetzt aber einfach einen Korb erteilte, war es nicht fair, nach allem, was er für mich getan hatte. Ein Mittagessen war okay. Ein Mittagessen würde alles offenlassen im Gegensatz zu einem Nachtessen, das leicht mit einem Schlummertrunk und den absehbaren Konsequenzen in einem fremden Zimmer enden würde. Auf so etwas wollte ich mich erst gar nicht einlassen.
Bleischwer lag der Himmel über Davos, als ich auf die Strasse trat. Meine klassischen Pumps hatte ich in die hinterste Ecke des Kastens verräumt; Yetischuhe waren angesagt. Der Schnee auf den Trottoirs lag bereits fünfzehn Zentimeter hoch, und es schneite weiter. Heftiger wieder. Er verschluckte die Laute um mich herum. Ich lief in Richtung Bushaltestelle. Skifahrer und Snowboarder buckelten ihre Bretter zur Unterführung, die zur Talstation der Jakobshorn-Bahnen führte. Ich nahm mir vor, gleich morgen eine Wochenkarte zu lösen, um auf die Pisten oberhalb Davos zu gelangen. Zudem wollte ich eine Kollegin besuchen, die in der Jatz-Hütte arbeitete.
«Hey, Allegra», rief mir jemand zu. Ich drehte mich um und erkannte Dario. «Du siehst so glücklich aus. Ich hoffe, es ist meinetwegen.»
Ich hatte ihn nicht hier erwartet. «Wie willst du denn sehen, ob ich glücklich bin?»
«Ich habe dich schon eine Weile beobachtet. Ich kenne nur eine Frau, die mit solch einem stolzen Schritt durch den Schnee stapft.»
Ich lachte. «Du Charmeur. Bist du umgezogen, oder warst du auf Besuch?»
«Weder noch, ich wollte dich abholen.»
Dario Ambühl, einst ein Schulkamerad, jetzt Polizist. Ich wusste nicht, wie er es anstellte, dass er noch besser aussah als vor einem halben Jahr. Offensichtlich machte ihm das Tragen seiner Uniform Spass. Neu an ihm war der Dreitagebart, der etwas Wildes, Unbezähmbares vermittelte. Dario umarmte mich und drückte mich dabei so fest, dass ich glaubte, einen Moment keine Luft mehr zu bekommen. Ich sah nicht nur die Schneeflocken vor meinem Gesicht tanzen.
«Allegra! Mein Herz macht Sprünge. Ein halbes Jahr habe ich auf diesen Augenblick gewartet.»
«Du hättest zum Theater gehen sollen.»
Wir lachten beide etwas zu laut.
Dario hängte sich bei mir ein, und wir marschierten im Laufschritt los.
«Wie lange bleibst du in Davos?»
«Sicher bis nach Neujahr. Ich habe Ferien. Ab Mitte Januar gilt es dann ernst.»
«Im Frühling machst du den Master?»
«Wenn's gut läuft.»
«Das klingt nicht sehr überzeugt.»
Hätte ich zugeben sollen, dass mir das Lernen Mühe bereitete? Ich unterliess es, darüber zu sprechen.
Den Rathausstutz entlang kam ich beinahe ausser Atem. Die kalte Luft kratzte in meinem Hals. Eine Mutter mit zwei Kindern rutschte uns auf einem Schlitten entgegen. Wir wichen ihr mit einem Sprung zur Seite aus.
«Ich habe uns einen Tisch im Enzian reserviert.»
«Im Enzian! Ja, kenne ich. Ich war mit meinem Vater oft dort.»
«Dort gibt es Abartiges zu essen.»
«Affenhirn?» Ich sah in ein erschrecktes Gesicht.
«Nein, aber Kalbskopf und Schnecken.»
«Ich weiss. Ich mag Schnecken.» Ich stoppte. Verschnaufpause.
Dario stiess mich sanft in die Seite. «Schnecken in Kräuterbutter.»
«Kräuterbutter wird mit Knoblauch zubereitet…» Ich grinste ihn an, während ich an die Nachwirkungen des Verzehrs dachte. «Ja», wiederholte ich lachend. «Ich mag Schnecken.»
Dario blickte mich mit zusammengekniffenen Augen an. «Mensch, Allegra, das verhindert, dass ich dich nach dem Essen küssen kann.»
«Sehr spitzfindig. Wusstest du, dass man die Weinbergschnecken drei Tage aushungern lassen muss, ehe man sie essen kann?»
«Nein, wusste ich nicht.» Dario zog mich die Strasse hoch.
«Erst wenn sich eine dünne Haut über das Weichteil bildet, ist die Schnecke geniessbar.» Ich überlegte. «Warum gerade das Enzian?»
«Ich kenne dort den Küchenchef gut. Er stammt ursprünglich aus Goa.»
«Indien. War dort früher nicht das Mekka der Hippies? Mam hat mir davon erzählt.»
Dario verzog seine Lippen. «Im Alter von zwei Jahren kam Mahesh mit seinen Eltern als Flüchtling hierher. Er hat sich vor einem Jahr einbürgern lassen. Du siehst, Davos ist multikulti.»
«Und er kennt sich aus mit der hiesigen Küche? Oder tischt er uns am Ende Curry-Schnecken auf?»
«Das muss ich ihm sagen. Ein Versuch wäre es wert.»
Wir erreichten die Parkplätze beim Rätia-Center. Rechts von uns die Sankt-Johann-Kirche, deren spitzer Turm sich in den Himmel schraubte. Jemand säuberte mit einer Schleuder das Trottoir von Schnee. Dario schubste mich an der Maschine vorbei hinauf zur Promenade. Achtzehnter Dezember, und Davos versank im Winterweiss. Die Luft roch frisch. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und liess die weissen Flocken auf mein Gesicht nieseln. Erinnerungen an die Winter, in denen meine Mam Valerio und mich auf den Schlitten gesetzt hatte, eingepackt in Schaffelle und Daunenanzüge, wenn sie mit uns zum Einkaufen ging.
«Woran denkst du?» Dario fuhr mit seiner Hand über meine Stirn.
«An früher. An ganz früher.» Ich gab mir einen Ruck. «Komm, gehen wir essen. Ich habe einen Mordshunger.» Ich verspürte kein Bedürfnis, mich über die Zeit auszulassen, wo alles unbekümmert und fröhlich gewesen war, wo wir Kinder nichts von den dunklen Seiten unseres Vaters mitbekommen hatten. Dass diese Idylle heute einen tiefen Einschnitt preisgab und ich deswegen vielleicht nie mehr in Davos leben würde, wollte ich nicht zur Sprache bringen.
Das Drama hatte in mir Spuren hinterlassen. Spuren, die ich zu verbergen wusste.
Das Enzian lag an der Promenade und war bekannt für seine unkonventionelle Küche. Mam hatte mir erzählt, dass es früher der ortsansässigen Feuerwehr als Spritzenhäuschen gedient hatte, bis es 1904 von einer Adeligen gekauft wurde, einer entfernten Verwandten des Kaisers Napoleon, die gesundheitshalber nach Davos habe kommen müssen. Zwei Jahre später hatte die Französin zwei Schaufenster und einen Anbau errichten lassen, als Dank dafür, dass ihre Bronchien gesund geworden waren. Ein Jahr danach hatte sie einen Kochherd in den hinteren Raum eingebaut. Einige Jahre später hatte die Davoserin Elisabeth Gredig die mittlerweile zum angesehenen Haus herausgeputzte Liegenschaft erworben und ein Restaurant eröffnet. Ihre absonderlichen Kochkünste, welche vorwiegend von den Unterländern verzehrt wurden, hatten den Dorfbewohnern zu reden gegeben. Es kursierten Gerüchte, dass der damalige Pfarrer dieser Entwicklung mit Besorgnis entgegengesehen habe, zumal er davon überzeugt war, hier oben in den Bergen etwas von der Unschuld erhalten zu müssen, die den Städtern schon längst abhandengekommen war. Schnecken! Wer ass denn Schnecken?
Weinbergschnecken waren auf dieser Höhe eine Rarität gewesen. Schulkinder hatten sie in ihrer Freizeit gesammelt, um sie Elisabeth zu bringen. Elisabeth hatte ihr Geheimrezept um die Sauce wie einen heiligen Gral gehortet: eine Mixtur aus Butter, Knoblauch und wilden Bergkräutern.
Kurz vor ihrer Pensionierung hatte die Dame das Restaurant für einen überrissenen Preis an einen Einheimischen verkauft. Das Ambiente der goldenen Jahre war etwas verblasst– geblieben waren jedoch die Schnecken in Kräuterbutter.
Wir setzten uns an einen kleinen runden Tisch an das Fenster, das mit aufgesprühten Sternen und Lichtgirlanden geschmückt war. Über die Strasse schob sich eine Blechlawine. Mittendrin der Bus. Die Autos kamen nur langsam vorwärts.
«In der Hochsaison verdoppelt sich die Einwohnerzahl.» Dario folgte meinem Blick. «Davos ist dann ganz in den Händen der Touristen und Saisonarbeiter. Die Einheimischen sind dann nur noch geduldet. Oder sie verkriechen sich in ihre Löcher.» Er sah lachend in die Speisekarte. «Sennenrösti mit Spiegelei… hättest du auf so etwas Lust?»
«Nein, ich habe mich schon entschieden: auf alle Fälle Schnecken.»
Ein Kellner erkundigte sich nach unseren Wünschen.
Wir bestellten je sechs Schnecken in Kräuterbutter und eine Flasche Chardonnay.
Dario erzählte von seiner Arbeit und davon, was im letzten halben Jahr in Davos geschehen war. Er sei mit vielen kleineren und grösseren Delikten konfrontiert gewesen, allen voran mit einer Messerstecherei zwischen zwei Jugendlichen, die einen der Betroffenen das Leben gekostet hatte. «Du hast sicher davon in der Zeitung gelesen. Es ging durch alle Medien.»
Ich erinnerte mich vage daran. «Ging es nicht um eine Frau?»
«Der eine hat dem andern die Freundin ausgespannt. Das war die Ausgangslage. Die gegenseitigen Sticheleien hatten schon zwei Monate im Voraus begonnen. Niemand hatte bemerkt, was sich da anbahnte. Aber als es eskalierte, wusste es jeder plötzlich besser…» Dario seufzte. «Man will einfach nicht hinsehen.»
Hätte ich ihn auf die verstorbene Lara ansprechen sollen? Vielleicht hatte man dort auch nicht hingesehen. Ich unterliess es. Ich wollte mir die Unbeschwertheit mit Dario nicht nehmen lassen.
Andauernd ging die Tür auf, und Gäste in Skischuhen trampelten in die Gaststädte. Der Kellner hatte grosse Mühe, sie auf ein andermal zu vertrösten. Er brachte uns den Wein an den Tisch, war aber nicht ganz bei der Sache.
«Wie geht's dir eigentlich mit dem Studium?»
«Heikle Frage.» Ich prostete Dario zu. «Auf dich!»
«Gib zu, dass das Studium dich überfordert.» Darios Schalk in den Augen entging mir nicht. «Du bist nicht der Typ Frau, die ihr Gehirn mit Paragrafen füttert. In dir steckt etwas anderes.»
«Worauf willst du hinaus?»
«Du hast ein Ermittler-Gen in dir.»
Beinahe hätte ich den Wein ausgeprustet.
«Die Davoser Polizei braucht versiertes Personal.»
«Nicht dein Ernst, oder?»
«Ich könnte dich mir ganz gut bei der Polizei vorstellen. Du bist intelligent, hartnäckig und lässt dich nicht unterkriegen.»
«Ich werde mein Studium beenden», sagte ich. «Mit oder ohne Master.»
Der Kellner brachte uns die Schnecken in einem Pfännchen. Sie brutzelten goldbraun unter der Kräuterbutterhaube.
«Na dann, guten Appetit!» Ich tunkte Brot ein.
«Wann bist du denn damit fertig?», fragte Dario mich mit vollem Mund.
«Im Sommer.»
«Ab Herbst wird eine Stelle frei.»
«Mach dir keine Hoffnungen. Ich habe mich daran gewöhnt, in der Stadt zu leben. Hier oben ist mir alles ein wenig zu rückständig und eng. Ich brauche Luft zum Atmen und Möglichkeiten zum Ausgehen. Hier gibt es einzig die Hauptstrasse, an der sich alles abspielt.» Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich Darios entsetzten Blick sah.
«Dann hast du das Nachtleben noch nicht richtig kennengelernt. Die besten Clubs liegen nicht an der Hauptstrasse.»
Es blieb nicht bei der einen Flasche Chardonnay. Zum Dessert assen wir Zwetschgen in Rotweinsauce. Als wir das Enzian verliessen, waren wir so betrunken, dass wir den Weg zurück nur lachten.
«Soll ich dich nach oben begleiten?», fragte Dario, als wir später vor dem Wohnhaus standen. Hätte einer seiner Kollegen ihn in diesem beschwipsten Zustand gesehen, hätte er bestimmt den Job bei der Polizei quittieren müssen.
«Ich muss hinter meine Bücher», wich ich aus.
«Aber heute Abend kommst du doch ins Postillon. Es ist zurzeit der angesagteste Club in Davos.»
«An einem gewöhnlichen Mittwoch?»
«Warum nicht? Jetzt ist Saison. Der Club ist praktisch jeden Abend gut besucht.»
«Gut, okay, ich verspreche es dir. Um neun bin ich dort.» Ich hielt inne. «Das liegt jedoch auch an der Hauptstrasse…»
* * *
Das Postillon lag in der Nähe des Rätia-Centers, ein Traditionshaus, das seit der dritten Generation von derselben Familie geführt wurde. Das Hotel war schon mehrmals renoviert worden und erstrahlte heute in seinem altehrwürdigen Charme. Ein Rundbogen dominierte den Eingang, der rechts- und linksseitig mit Sgraffito verziert war.
Bereits in der Garderobe bekam ich von der Stimmung etwas mit, die im Club herrschte. Irgendein Techno-Remix dröhnte mir entgegen, als ich meine unechte Pelzjacke dem Garderobier überreichte. Ich steckte die Nummer in mein Umhängetäschchen und zwängte mich zwischen zwei älteren Herren mit Schnurrbart in den Saal.
Ohrenbetäubende synthetische Töne und fluoreszierendes Licht empfingen mich. Ein Geflimmer von Rot bis Lila und Leute, die, wie befallen von epileptischen Akutanfällen, auf dem Tanzboden ihre Extremitäten und Köpfe verrenkten. Auf der Bühne einDJ in seinem Element, der sich genauso grotesk benahm wie sein Publikum. Auf seinem Gesicht haftete ein blödes Dauergrinsen.
Mittwochabend, und die Davoser Jugend im Fieber.
Tomasz hätte ich nie in einen solchen Club gebracht. Er schwärmte von den Konzerten im KKL. Dann scheute er sich nicht, sich in Schale zu werfen. Erst einmal war es ihm gelungen, mich zu überzeugen, dass mir ein Konzert des London Symphony Orchestra auch gefallen könnte. Im letzten Sommer hatte er mich mit zwei Eintrittskarten überrascht. Für ein Konzert von Mahler und Schumann. Tomasz zuliebe hatte ich sogar ein bodenlanges Kleid aus dem Kostümverleih angezogen.
Anstelle der langen Kleider und schönen Anzüge dominierten hier die Miniröcke bei den Frauen und ärmellose Leibchen bei den Männern. Schliesslich wollte man zeigen, was man hatte. Über allem lag der schwere Geruch nach Hitze und Schweiss. Ich selbst hatte mir eine Bluejeans und eine weisse Bluse angezogen und meine grünen Augen mit ein wenig Eyeshadow und Kajal betont. Die schwarzen Haare trug ich offen. Trotzdem kam ich mir fast bieder vor.
Ich erblickte Dario. Er hatte seine Polizeiuniform abgelegt. Verwaschene Jeans und ein saloppes T-Shirt mit Aufdruck unterstrichen sein legeres Auftreten. Wir winkten einander zu. Meine Augen blieben fasziniert an ihm hängen. Als er sich auf meiner Höhe befand, schrie er mich an und gestikulierte, weil es die Lautstärke erforderte. Ich deutete ihm, dass ich dennoch absolut nichts verstand. Der dumpfe Bass malträtierte mein Gehör, und ich war drauf und dran, den Saal zu verlassen. Falls ich gedacht hatte, mich hier weiter mit Dario zu unterhalten, täuschte ich mich. Dario zog mich auf die Tanzfläche, und wir hopsten genauso wie der Rest der Anwesenden im Viervierteltakt, während Snare jeden Viertel und Hi-Hat den Off-Beat betonte. Die Klangfarben pendelten im metallischen Bereich. Perkussionselemente fügten sich nahtlos ins Rhythmusmuster ein.
Irgendwann machten Sektgläser die Runde. Die beiden Schnauzbärte waren zurückgekehrt und spendierten grosszügig Getränke. Ich vermutete eine Absicht dahinter.
«Rocktime für Grossväter!», schrie ich Dario an und zeigte auf die beiden älteren Herren. Dario erklärte mir, auch mit überhöhtem Dezibel, dass die beiden Männer von einer Fotoagentur und auf Modellsuche seien. «Am zweiten Januar findet hier die Veranstaltung ‹Postillon sucht die Superwoman› statt.»
Zu Darios Leidwesen wünschte ich, eine Pause einzulegen, als derDJ auf Schmusemusik wechselte. Klatschnass setzte ich mich an die hintere Wand, wo wir uns noch zwei freie Plätze ergattern konnten. Während ich eine halbe Wasserflasche leer trank und Dario Richtung Toilette ging, inspizierte ich meine nähere Umgebung. Auch Leute älteren Jahrgangs hatten sich hier eingefunden. Allgemein herrschte eine ausgelassene Stimmung. Es gab welche, die tanzten in den Skischuhen, zwei Mädchen auf dem Tisch vor der Bühne– Tabledance, und die Meute schrie.
Auf einmal sah ich sie.
Ursina Vetsch.
Sie sass zwei Stühle vor mir, hatte ihr Gesicht mir zugewandt und liess sich von einem Typen begrapschen. Ob sie mich erkannte, wusste ich nicht. Sie schien ziemlich zugedröhnt zu sein. Etwas war anders, als ich es in Erinnerung hatte. Ihre Mähne war gefärbt. Ihre einstmals hellbraunen Haare hatte sie blondiert. Ansonsten war sie etwas magerer geworden. Die weit auseinanderstehenden Augen blickten ins Leere. Über ihrer schmalen Nase hatte sich eine tiefe Falte eingekerbt. Sie machte den Eindruck, nicht sehr glücklich zu sein. Dies konnte ich einerseits gut nachvollziehen. Andererseits wunderte es mich, sie hier anzutreffen. Ob sie die Traurigkeit auf diese Weise verdrängte? Bei diesem Typen, der doppelt so alt war wie sie und ihr unanständig an die Brüste griff?
Dario kam mit zwei Gläsern Mojito zurück. «Mein Lieblingsdrink.»
«Ich trinke keine harten Sachen.»
«Da kenne ich dich aber anders.»
«Nein!»
«Ach, komm schon. Eine Ausnahme. Die Pfefferminzblätter stammen aus Davoser Gärten.» Darios Lachen gelangte zu Ursina, denn sie sah uns plötzlich an. Ein kurzes Lächeln, das schnell verschwand.
Ich griff nach dem Glas, schob den Strohhalm zwischen meine Lippen und trank in kleinen Schlucken. «Für meinen Geschmack etwas arg sauer. Und das mit den Pfefferminzblättern nehme ich dir nicht ab.» Mein Blick hing an Ursina. Sie befreite sich aus den Männerarmen, stand auf und näherte sich unserem Tischchen.
Ich überlegte mir, was ich zu ihr sagen sollte. Ihre Schwester war erst seit einem Monat tot. Ursina wusste nicht, dass ich es wusste. Kam sie zu mir, um es mir zu erzählen? Wollte sie meine Reaktion auf die Probe stellen? Sie hatte tatsächlich abgenommen und sah burschikos aus. Ein dünnes Fähnchen Stoff gab mehr von ihren Konturen preis, als es verhüllte. Dunkle Knospen stachen über einer kaum gewölbten Brust durch das Kleid mit den Spaghettiträgern. Draussen herrschten Minustemperaturen, und Ursina posierte wie mitten im Sommer. Doch sie war erregend schön. Ihre langen Haare umspielten ein anmutiges, offenes Gesicht, das sich entspannt hatte, ihre dunklen Augen waren von einem dichten Wimpernkranz umgeben. Die vollen Lippen hielt sie halb geöffnet, als wäre diese Mimik einstudiert, als wüsste sie, wie erotisch sie damit wirkte. Dario pfiff leise durch die Zähne.
«Buna sera, Allegra.» Ursina warf Dario einen kecken Blick zu, bevor sie sich wieder an mich wandte. «Jeu dess bugen ina paterlada?»
Zu Hause sprachen sie rätoromanisch. Ursinas Mutter stammte aus der Surselva. Ich erinnerte mich an die Schulzeit, als ihre Freundin und sie sich in ihrer Sprache unterhielten, in ihrer Geheimsprache, denn ausser ein paar wenigen verstand sie niemand. Mein Grossvater väterlicherseits war ein Bündner Oberländer gewesen, der das Rätoromanisch noch gesprochen hatte. Mein Vater hingegen hatte sich ganz davon distanziert. Vater war in Davos geboren und hatte sich geweigert, die vierte Landessprache der Schweiz zu gebrauchen. Das Latein im Gymnasium kam mir zugute. Ein paar Brocken Rätoromanisch verstand ich zumindest. «Warum willst du mit mir reden?»
«Ich habe gehört, dass dein Vater im letzten Frühling gestorben ist.»
Ich schluckte leer– ein Reflex. Würde sie den Tod meines Vaters als Anlass nehmen, um über den Tod ihrer Schwester zu sprechen? Mir war es nicht recht. Dieses Thema passte nicht hierhin.
Sie griff nach meinem Arm. Ihre Hand fühlte sich kühl an. «Ich habe keine Ahnung, an wen ich mich wenden soll. Ich kann mit niemandem reden.»
«Worüber?»
«Die nehmen mich nicht ernst.»
Meine Befürchtung, dass sie nicht mehr ganz nüchtern war, bewahrheitete sich. «Wer sind die?»
Sie liess die Fragen unbeantwortet. «Du kennst unsere Situation. Meine Mutter ist ein Sozialfall. Sie säuft. Mein Vater existiert nicht wirklich.»
Ich fragte mich, weshalb Ursina dies mir anvertraute. Ich hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Aber ich erinnerte mich, dass sie schon während der Schulzeit keinen Vater gehabt hatte. Entweder hatte er die Familie früh verlassen, oder er war gestorben. Ein Geheimnis hatte die Familie umwittert. Lange war das Gerücht kursiert, dass die Vetsch-Mädchen der Mutter weggenommen würden, weil sie nicht fähig sei, diese allein zu erziehen. Doch einige Gemeindemitglieder aus dem Kreis der katholischen Minderheit hatten sich für die gebeutelte Frau starkgemacht. Jelsha Vetsch hatte sich aufgefangen. Wenn sie heute dem Alkohol verfallen war, resultierte dies wohl aus dem Verlust ihrer jüngsten Tochter.
«Allegra, ich…» Ursina strich sich verlegen über ihr blondiertes Haar. «Ich muss dir etwas zeigen. Könntest du morgen zu mir kommen? Wir wohnen noch immer an der Bündastrasse, in diesem Bauernhaus… du weisst schon.»
«Ich verstehe dich nicht ganz…»
«Ich weiss ehrlich gesagt nicht, an wen ich mich mit meinem Anliegen wenden kann. Morgen um zehn, bitte. Morgen habe ich frei, und Mutter ist nicht zu Hause. Es würde sie sonst aufregen.»
Ich suchte den Augenkontakt mit Dario. Er hatte sich ein paar Stühle weiter weggesetzt und zierte sich. Morgen wollte ich eigentlich aufs Jakobshorn fahren. Der Wetterbericht hatte Sonne vorausgesagt. Es gab nichts Schöneres, als an den frisch verschneiten Hängen zu carven. Andererseits würde ich auch an einem der nächsten Tage hochfahren können.
«Bitte, bitte!» Ursina jetzt schon eindringlicher. «Es geht um Leben und Tod.»
«Na, na…» Ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich konnte mir wirklich keinen Reim darauf machen, was Ursina von mir wollte.
«Ich werde es mir überlegen», sagte ich. «Kann ich dich anrufen?»
«Ja klar.» Ursina wandte sich ab. Ich wurde nicht klug aus ihr und sah ihr nicht an, ob sie enttäuscht war.
«Wie ist deine Telefonnummer?», rief ich ihr hinterher. DerDJ hatte zwischenzeitlich das Stück «IWill Die For You» aufgelegt und wieder lauter gestellt.
«Die steht im Telefonbuch.»
«Die verarscht dich.» Dario näherte sich mir. Er hatte den Mojito ausgetrunken und knabberte an einem Minzeblatt.
«Warum bist du denn vor ihr weggelaufen?»
«Ich bin nicht weggelaufen.»
«Aber du hast das Weite gesucht.»
«Ich werde nicht gern mit ihr konfrontiert.»
«Und warum nicht? Sie ist hübsch.»
«Nicht mein Geschmack.»
«Du hast ihr aber hinterhergepfiffen.»
Dario lächelte ertappt. «Ich habe sie verwechselt.» Er zog mich am Arm. «Komm, wir tanzen noch eine Runde.»
Ich gab keine Ruhe. «Etwas zwischen euch ist vorgefallen, oder täusche ich mich?»
«Wie kommst du darauf?»
Ich spürte plötzlich, wie mich jemand anstarrte. Ich drehte meinen Kopf und sah in ein schwarzes Augenpaar auf einem unnatürlich hellen Gesicht, das mit rotblonden Locken umrahmt war. Die abstehenden Ohren verliehen der ganzen Erscheinung ein clowneskes Aussehen. Der Mann, kaum älter als ich, kam mir unheimlich vor. Ertappt wandte ich mich ab.
«Reine Intuition.»
«Ich mochte sie früher schon nicht leiden. Sie ist mir eine Nummer zu vulgär. Wenn ich wie sie aus der Gosse käme, würde ich mich zurückhaltender geben.»
«Jetzt bist du unfair. Sie hat es nie leicht gehabt. Vielleicht möchte sie einfach nur akzeptiert werden.» Ich zögerte. «Ihre Schwester ist gestorben.»
«Suizid», sagte Dario wie aus dem Kanonenrohr. «Das musste ja so kommen…»
Dann verstand ich nichts mehr. Die Musik dröhnte mit zunehmender Lautstärke, und der Bass hämmerte nervtötend, sodass ich mir die Ohren zuhalten musste. Ein Gekreische einer Gruppe Mädchen setzte ein, bis ich den Grund sah: Lukas Jenny– ein gelacktes Bürschchen, das einmal einen Song-Contest im Schweizer Fernsehen gewonnen hatte– war auf die Bühne gestiegen. Ich vermutete, dass er, wie alle hier Anwesenden, zu den Gästen des Postillons gehörte. Seine Präsenz mutete etwas unwirklich an, zumal einige der Mädchen sich dermassen ausser Rand und Band aufführten, als würden sie demnächst in Ohnmacht fallen. Der Schwarm der hyperventilierenden Backfische hatte seine Haare himmelwärts geföhnt. Das verdoppelte zwar das Kopfvolumen, machte jedoch sein Babyface kaum männlicher. Es gibt Dinge, die muss man nicht verstehen. Aber ich hatte nur ein Ziel vor Augen: Ich wollte den Club verlassen, bevor ich durchdrehte. Ich riss mich von Dario los und zwängte mich zwischen nackten Armen und schwitzenden Köpfen zur Garderobe. Vor der Tür glaubte ich, einen Tinnitus zu haben. Einen Moment lang lehnte ich mich über den Tresen. In meinem Kopf summte es, als sässe ich in einem Bienenstock.
«Ist Ihnen nicht gut?» Der Mann vor mir sah mich besorgt an.
«Es geht schon.» Umständlich kramte ich die Nummer aus dem Täschchen, steckte sie dem Garderobier hin und verfolgte seine Bewegungen, während er nach meiner Jacke suchte. Er zog ein schwarzes Kleidungsstück vom Bügel und reichte es mir über den Tisch.
Ich starrte darauf und griff nach dem Fell. «Das ist nicht meine Jacke.» Ich hielt einen Nerzmantel in der Hand.
«Aber das ist Ihre Nummer.»
Ich überlegte. Wenn ich frech genug gewesen wäre, hätte ich den Mantel angezogen. Es war nicht mein Problem, wenn der Garderobier die Nummer verwechselte. Ich würde niemals mehr an einen solchen Luxusmantel kommen und hätte ihn als kleine Entschädigung für das Ausbleiben des Millionenerbes meines Vaters ansehen dürfen. «Das muss ein Irrtum sein. Kann ich mal nachschauen? Ich kenne meine Jacke.»
Ich ging um den Tresen herum auf die Gestelle zu. Ich stöberte in den Jacken und Mänteln, bis ich meinen unechten Pelz gefunden hatte. «Da ist er ja. Sie haben die Nummer vertauscht.»
* * *
Es hatte aufgehört zu schneien. Licht und klar lag die Nacht über Davos. Der Schnee verbreitete ein ganz besonderes Leuchten, etwas Magisches.
Vor dem Postillon parkten Taxis und warteten auf Kundschaft. Auf dem Trottoir rauchten ein paar Leute. Trotz der klirrenden Kälte hielten sie es eine Zigarettenlänge aus. Ich zog meine Jacke enger, schlug den Kragen hoch und machte mich auf den Weg zu Valerios Wohnung. Den Rathausstutz runter, die Talstrasse entlang.
Wie aus dem Nichts tauchte beim Rätia-Center eine dunkle Gestalt vor mir auf und stellte sich mir in den Weg.
Ich erschrak heftig. Mein Herz drohte zu zerspringen. Ich sah zum Eingang des Postillons. Die Raucher hatten sich in den Club zurückgezogen. Einzig die Taxis standen noch dort. Doch ich konnte niemanden in den Wageninnern sehen.
Der Unbekannte rempelte mich an. «Hey, du, du bist doch die Tochter von diesem Krimi… Krimi… Kriminellen!»
«Das muss eine Verwechslung sein.» Ich starrte in ein halb vermummtes Gesicht. Die Haare hatte der Mann unter einer Mütze versteckt. Darüber hatte er die Kapuze einer dick wattierten Jacke gezogen. Er sah aus wie ein Eskimo.
«Dass du dddd… dich getraust, nach Davos zu kommen», stotterte er. «Ich an deiner Stelle… Stelle würde im Unterland bleiben. Du bbbb… bist keine von uns. Und ich warne dich: Misch…sch…sch… Misch dich nicht in Angelegenheiten, die ddddd… dich nichts angehen.»
Was meinte er damit?
Vielleicht durfte ich es nicht allzu ernst nehmen. Der Fremde war betrunken.
Trotzdem blieb ein flaues Gefühl zurück.
Die Flucht nach vorn. Was blieb mir anderes übrig?
Ich boxte ihn weg, rannte los. Hinter mir vernahm ich eine Tirade unzimperlicher Anschuldigungen, die ich ob seines Stotterns nicht wirklich verstand. Ich hastete die Promenade entlang bis zur Kreuzung, wo die Oberstrasse einmündete, und schlug den Weg Richtung Bahnhof ein. Ich wandte mich um, um zu sehen, ob mich jemand verfolgte. Die Angst blieb unbegründet.
Dennoch packte mich das Entsetzen. Eine Unverschämtheit war das. Musste ich in Zukunft mit solchen Übergriffen rechnen? War es denn meine Schuld?
Ich kannte diesen Mann nicht. Hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Trotzdem hatte er sich das Recht herausgenommen, mich anzugreifen. Sein Suff entmündigte ihn deswegen noch lange nicht. Der Alkohol brachte aber zutage, was ansonsten hinter vorgehaltener Hand diskutiert wurde. Ich musste davon ausgehen, dass Vaters Tod noch immer ein grosses Thema war in Davos. Es wurde getuschelt und spekuliert.
Unter meinen Füssen knirschte der Schnee. Ich liess mir die Freude am Winter nicht nehmen. An der Talstrasse schlug ich den Weg zur Brämabüelstrasse ein. Ich passierte die Unterführung, die um diese Zeit alles andere als einladend wirkte. Dass ich einen Umweg gemacht hatte, verzieh ich mir nicht. Die Strassenlampe war defekt. Ich tastete mich die gefrorene Steinmauer entlang. Ich hätte mir ein Taxi nehmen sollen. So etwas Idiotisches. Ich sah zurück. Litt ich etwa unter Verfolgungswahn? Lächerlich! Im Gegensatz zu anderen Städten galt Davos als sicher.
Ich zückte den Schlüssel und wollte ihn ins Schloss der Haustür stecken, als es mir erneut in die Knochen fuhr. Noch bevor das Geräusch hinter mir mein Gehirn erreichte, legte mir jemand die Hand auf die Schultern. Abrupt wandte ich mich um. Der Schlüssel fiel in den Schnee.
«Dario! Verdammt, Dario! Was soll das?» Ich boxte auf ihn ein. Ich trat gegen sein Schienbein. Ich war ausser mir vor Wut.
«He, he…!» Dario hob abwehrend die Hände vor seine Brust. «Schleichst du dich immer weg, ohne dich von mir zu verabschieden?» Schwarze Augen waren auf mich gerichtet. «Kein sehr feiner Zug.» Er griff nach meinen Händen.
Ich beruhigte mich. «Es tut mir leid.» Ich verschwieg ihm meine Aversion gegen laute Musik. «Und sorry, bei Jenny kriege ich Bauchkrämpfe.»
«Bei mir auch?» Dario suchte nach dem Schlüssel, fand ihn und reichte ihn mir.
«Ich wollte mir nur die Beine vertreten.» Ich wischte den Schnee vom Schlüssel. «Da hat mich so ein Typ angequatscht.» Ich erzählte Dario von dem Betrunkenen und fragte mich, ob ich dieses Intermezzo ernst nehmen musste.
«Ein Typ hat dich angesprochen? Hübsche Frauen sollte man nachts nicht allein nach draussen lassen. Aber ich nehme an, du hast ihn mit einem Kinnhaken ausser Gefecht gesetzt. Ich kenne dich doch.»
Dario begleitete mich bis vor die Wohnungstür. Zu meiner grossen Erleichterung drängte er nicht, auf einen letzten Drink reinzukommen. Er hauchte mir einen Kuss auf die Wange. «Wie sieht es morgen aus mit dem Jakobshorn?»
Ich zögerte. «Ich habe bereits ein Date.»
«Vielleicht übermorgen.»
«Musst du nicht arbeiten?»
ZWEI
Das Haus sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Mit Schindeln, von den Sonnenstrahlen geschwärzt. Rechts- und linksseitig ein Eingang. Einer war über eine Holz-, der andere über eine Steintreppe zu erreichen. Auf dem zweiten Geschoss lag die Veranda, auf der an einer langen Leine drei Hosen hingen. Ein Stück Dachrinne hatte sich aus der Verankerung gelöst. Die Jalousien standen offen, ebenso zwei Fensterflügel. Ich bemerkte die Vorfenster, die man während der kalten Jahreszeit installiert hatte. Ich stieg rechtsseitig die Treppe hoch– «die Werktagstreppe», erinnerte ich mich an Ursinas Bemerkung. Den linken Eingang dürfe man nur sonntags benutzen oder wenn hoher Besuch angesagt sei. Meistens sei die Tür unbenutzt, auch an Sonntagen. Ich zog an einem Strang ineinander verflochtener Garne, an dessen oberem Ende eine Glocke angebracht war. Ich erschrak über ihren lauten Klang, denn noch immer reagierte mein Gehör äusserst empfindlich.
Die Tür wurde aufgerissen, und Ursina erschien auf der Schwelle, eingehüllt in eine blaue Strickjacke. Ihre gefärbten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie war ungeschminkt, was ihr eine gewisse Unschuld verlieh. Ihre fragile Schönheit überwältigte mich von Neuem.
«Komm rein. Du warst noch nie in unserer Wohnung, nicht wahr? Wahrscheinlich bist du dich an grösseren Luxus gewöhnt.»
Ich fand mich unmittelbar in einer Küche wieder. Ein antiker gusseisener Herd mit einem Bain-Marie entlockte mir einen Ausruf des Entzückens. Die Steinmauer dahinter war von Russ dunkel verfärbt. Das hier war wirklich museumsreif. Ursina kauerte mit ernster Miene vor den Herd und versuchte, das Ofentor zu öffnen. Der Riegel liess sich schwerlich verrücken. Mit einem krachenden Laut schlug er zurück. Noch leckten Flämmchen gierig nach den Scheiten. Ursina griff nach Briketts, die in einem Korb neben dem Herd lagen, und schob sie nach. «In der Stube heizen wir elektrisch, manchmal auch in den Schlafzimmern. Im Winter gehen wir jedoch jeden Abend mit Kirschsteinsäckchen zu Bett. Nostalgisch, nicht?» In ihrer Stimme erklang jetzt der blanke Hohn.
«Ich finde es romantisch», entgegnete ich etwas gehemmt.
«Aber nicht, wenn man sich jeden Abend den Arsch abfriert.» Sie erhob sich und prustete eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. «Ich hätte gern meine eigene Wohnung. Aber mit meinem Lohn kann ich mir nichts Eigenes leisten. Mutter ist froh, wenn ich ihr unter die Arme greife. Das Geld von der Gemeinde und Mutters Aushilfejob beim Putzinstitut reichen bei Weitem nicht. So kann ich ihr wenigstens eine Kleinigkeit für Kost und Logis bezahlen. Zudem legen wir noch den Notgroschen für besondere Fälle auf die Seite. Vielleicht für einmal in meinem Leben Ferien in Griechenland.»
Ich schluckte leer. Ferien. Wie oft war ich mit Vater in fremden Ländern gewesen. Für mich war es schon fast selbstverständlich, in meiner freien Zeit in ein Flugzeug zu steigen und auf Reisen zu gehen. Mit meinen fünfundzwanzig Jahren hatte ich bereits viele Länder gesehen und Städte besucht, war auf den Malediven tauchen gegangen oder war zwischen Peru und Argentinien getrampt.
Wie fühlte es sich an, wenn man nicht über Davos hinauskam? Wenn man dazu verdammt war, jede Jahreszeit im Landwassertal zu verbringen? Wenn der einzige Höhepunkt vielleicht eine Bahnfahrt über das Landwasserviadukt war?
«Arbeitest du noch immer beim Denner?», lenkte ich ab.
«Denner ist der Renner.» Ursina verzog den Mund. «Seit Jahren den gleichen langweiligen Mist. Habe mich bei vielen anderen Geschäften beworben. Verkäuferin in einer Modeboutique würde mir gefallen. Aber, wer will mich denn schon? Die Tochter einer Sozialhilfebezügerin?»
«Du bist hübsch und hast Ausstrahlung.»
«Mag sein.» Ursina schlug das Ofentor zu. «Ich werde von Motten umschwärmt, als wäre ich eine Glühbirne. Aber diese Typen haben auch nichts auf der hohen Kante. Die würden eine Frau wie mich auch nicht ernähren können. Ich möchte einmal Kinder haben. Vielleicht liegt hier mein Potenzial. Einen Sugardaddy müsste man finden… Die gibt's doch in Davos. Ich frage mich nur, weshalb sie immer mit ausländischen Frauen auftrumpfen müssen, wenn die jungen Schönen vor der Tür liegen.»
Ich fand keine Worte, um dies zu kommentieren. Für eine Zusatzausbildung reichte das Geld wohl auch nicht. Ursinas Schicksal schien besiegelt.
«Du wolltest mir etwas zeigen.» Ich stellte mich vor den Küchentisch, der mitten im Raum stand. Braun und klobig mit vier Taburettli. Die Chaiselongue an der hinteren Wand diente gewiss als Bett. Es gab ein Kopfkissen und ein Duvet, das, obwohl es zurechtgestreckt war, keinen sehr sauberen Eindruck machte.
Ursina folgte meinem Blick. «Dort schläft für gewöhnlich Mutter, wenn sie ob ihrem Suff die Treppe ins Obergeschoss nicht schafft.» Sie zögerte. «Komm einen Stock höher.»
Sie ging mir voraus, öffnete die Tür in einen engen Vorraum, von wo aus man über zwei Tritte zu einer weiteren Tür gelangte. «Wenn du aufs Klo musst, hier ist es.» Ursina lachte gekünstelt. «Unser Abtritt oder nenne es, wie du willst. Vor fünf Jahren hat uns die Gemeinde das Plumpsklo gegen eine richtige WC-Schüssel ausgetauscht. Im Sommer war der Gestank ja nicht zum Aushalten. Auch einen Boiler haben wir bekommen. Ich hätte gern eine Dusche… na ja, vielleicht in meinem nächsten Leben.»
Wir stiegen die Holztreppe hoch. Jeder Tritt knarrte unter unserem Gewicht. Oben gelangten wir in einen kleinen Korridor, von dem drei Türen weggingen. Ursina stiess eine Tür auf. Die Kälte des Zimmers schlug mir wie eine Faust entgegen.
«Hier wird seit November nicht mehr geheizt. Das Zimmer liegt brach.»
Diesen Eindruck hatte ich allerdings nicht. Ein Bett mit Rüschenwäsche und ein Nachttisch nahmen die Hälfte, ein dunkelbrauner Schrank, eine schmale Kommode und ein Schülerpult den Rest des Zimmers ein. Am Fenster hing roter Tüll, was nicht ganz hierhin passte. Doch irgendwie wirkte es noch bewohnt, als hätte der- oder diejenige das Zimmer nur für einen kurzen Augenblick verlassen. Das Bettzeug war zerknautscht, auf dem Nachttisch lag ein gebrauchtes Taschentuch, auf dem Pult ein Laptop. Am Schrank hing eine Jacke.
«Das war Laras Zimmer.» Ursina fixierte mich mit starrem Blick, als wollte sie herausfinden, ob ich von Laras Tod eine Ahnung hatte. «Meine Schwester lebt nicht mehr», fügte sie hinzu.
«Ich habe es gelesen.» Ich verspürte das Bedürfnis, Ursina in meine Arme zu nehmen. Trotzdem tat ich es nicht.
«Ich vermisse meine kleine Schwester.» Aus Ursinas rechtem Auge löste sich eine Träne.
«War sie krank?» Meine Beklemmung gegenüber Ursina wuchs ins Unermessliche. Es war nicht bloss die Tatsache, dass ihre Schwester nicht mehr lebte. Etwas Unheimliches ging von Ursina aus, dem ich bis anhin kein Gesicht hatte geben können. Ich erinnerte mich jedoch an die Schulzeit. Schon damals war Ursina als nicht greifbar aufgefallen. Sie hatte sich stets mit den übelsten Typen abgegeben, hatte bereits mit zwölf gekifft und sich damit gebrüstet. Ihre Koketterie hatte in ihrer Bekleidung den Höhepunkt gefunden. Niemand sonst war dermassen auffällig angezogen wie sie. Sie hatte keine tollen Sachen gehabt. Im Gegenteil: Es hatte immer so ausgesehen, als hätte sie in Mutters Kleidern aus den siebziger Jahren gestöbert und sie wieder salonfähig gemacht. Wenn jemand von uns Schlaghosen getragen hatte, so war das Ursina. Auch die farbigen Blusen mit Trompetenärmeln gehörten zu ihrem Markenzeichen. Und sie hatte Janis Joplin gehört.
Was tat ich überhaupt hier?
«Man sagt, sie habe sich das Leben genommen.»
«Wer sagt das?»
Ich bereute sogleich mein Voreiligsein.
«Mutter hat ihren Abschiedsbrief gefunden.»
Ursina öffnete ein Kästchen, das als einziges Schmuckstück auf der Kommode stand. Sie entnahm ihm einen Umschlag. Sie öffnete die Lasche und zog einen Papierbogen heraus. «Hier, lies.» Sie streckte mir den Brief unter die Nase.
Ich faltete ihn auseinander.
Liebe Mutter, liebe Ursina,
ich kann nicht mehr. Das Elend in unserer Familie vertrage ich nicht mehr. Ich habe einfach keine Kraft mehr weiterzuleben.
Bitte verzeiht mir.
In Liebe
Eure Lara
Ich schwieg und musterte Ursina. Ihre Mimik hatte sich verschärft. Wieder tauchte die steile Falte zwischen ihren Augen auf, die ich schon im Postillon an ihr bemerkt hatte.
«Selbstmord», flüsterte sie. «Man hat es akzeptiert und nicht weiter gebohrt.»
«Wer hat es akzeptiert?»
«Mutter, die Polizei, die Gerichtsmediziner in Chur.»
«Sie war auf der Rechtsmedizin?» Ich hätte mir die Zunge abbeissen mögen.
«Erinnerst du dich an Jackos Tod? Eine Überdosis Medikamente. Hat auch wie Selbstmord ausgesehen. Die Medien haben einen grossen Wirbel darum gemacht. Zuletzt wurde sein Leibarzt angeklagt.» Ursina winkte ab. «Ich weiss, du liest keine Klatschhefte. Aber wenn man berühmt ist oder eine Menge Kohle hat, wird der Tod untersucht. Ansonsten…»
«Heisst es, dass du nicht an den Suizid deiner Schwester glaubst?»
«Ja!»
Das war unmissverständlich. «Was begründet dein…» Ich suchte nach dem richtigen Wort. «… dein Ansinnen?»
Ursina deutete auf den Brief. «Das ist nicht Laras Schrift.»
Ich schritt zum Fenster, hob den roten Tüll und sah hinaus. Es hatte aufgeklart, die Wolken lichteten sich. Blauer Himmel schimmerte durch und versprach einen sonnigen Nachmittag. Ich wäre gern auf dem Jakobshorn gewesen. Ich wandte mich wieder um. «Seit wann hegst du diese Zweifel?»
«Ich habe es Mutter gesagt. Aber sie beharrte darauf, dass sie Laras Schrift kenne.»
«Und die Polizei? Hast du deinen Verdacht der Polizei mitgeteilt? Man hätte ein graphologisches Gutachten machen müssen.»
«Und wer hätte das bezahlt?»
Bevor ich ihr eine Antwort gab, überlegte ich mir, dass die Familie Vetsch nie an die Möglichkeit gedacht hatte, einen Rechtsbeistand beizuziehen. Man hatte es ihr wahrscheinlich nicht einmal vorgeschlagen.
«Lara war zwar ein theatralisches Mädchen», fuhr Ursina fort, «aber nicht trübsinnig. Sie betrachtete das Leben als ein Spiel. Sie war intelligent und wollte studieren. Du kannst am Gymnasium nachfragen. Sie war eine gute Schülerin. Das pure Gegenteil von mir. Ich sehe keinen Grund, weshalb ausgerechnet sie sich das Leben hätte nehmen sollen… Es ist nicht ihre Schrift.»
Ich fragte mich, weshalb Ursina mich zu sich gerufen hatte. Rechnete sie damit, dass ich ihr auf dem Weg zur Wahrheitsfindung half? «Warum hast du mir diesen Brief gezeigt?»
«Man sagt, dass du für Gerechtigkeit bist.» Ursina wandte sich ab. «Ich kenne die Geschichte von eurer Familie.»
Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte diese Geschichte nicht gekannt. Ich war nicht stolz darauf. Ich liess meinen Blick wieder über die verschneite Landschaft schweifen. Wie eine ungeheure Woge, erstarrt über der Waldgrenze, ragte das Jakobshorn in den Himmel.
Plötzlich spürte ich zwei Hände auf meinen Schultern.
«Du bist meine einzige Hoffnung, Allegra. Finde heraus, was genau hinter dem Tod meiner Schwester steckt.» Sie liess mich los und griff nach einem Bilderrahmen, den ich nicht beachtet hatte. «Hier, das ist sie. Sieht so eine Todeskandidatin aus?»
Wunderschön war Lara: Ihr Gesicht, umrahmt von braunen hochgesteckten Haaren, strahlte von überwältigender Frische. Über ihren schwarzen Augen tanzten losgelöste Locken. Das Bild wirkte auf mich, als hätte es ein Künstler gemalt. Sie war erst fünf gewesen, als ich Davos verlassen hatte. Doch ihre kindliche Schönheit hatte schon damals eine Vorahnung gegeben, wie sie als Frau einmal aussehen würde. Ein Engel in Menschengestalt. Von ihren dunklen Augen ging ein Leuchten aus, das mich eigentümlich berührte.
Arm und schön, aber ohne Perspektiven.
Hätte es ein Motiv für ihre Selbsttötung sein können?
«Welchen Weg wollte sie nach der Matura denn einschlagen?», fragte ich mit belegter Stimme.
«Sie wollte Ärztin werden. Vielleicht hätten wir das Geld für ihr Studium zusammengebracht– Mutter und ich. Vielleicht hätte sie sogar mit einem Stipendium rechnen können. Die Lehrer haben sie verehrt. Es hätte bestimmt eine Lösung gegeben.»
«Wusste sie das?»
«Sie hat von nichts anderem geredet.»
«Wer hätte denn einen solchen Abschiedsbrief schreiben können?» Ich zeigte auf den Papierbogen.
«Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass es Lara nicht war.»
* * *
Den Weg von Davos Dorf nach Davos Platz legte ich zu Fuss zurück. Die zweieinhalb Kilometer Strecke schaffte ich in einer halben Stunde. Der Bus, den ich bei der Talstation zur Parsenn gesehen hatte, erreichte fast zeitgleich mit mir den Bahnhof. Die Promenade war verstopft. Die ersten Feriengäste reisten aus dem Unterland an. Ob des schönen Wetters und der guten Schneeverhältnisse wegen, waren zudem viele Tagestouristen hier. Das Problem mit der Verkehrsbewältigung war noch nicht gelöst. Alternativen gab es kaum. Futuristische Ideen, wie zum Beispiel eine Hochstrasse, fanden bei den Einheimischen kein Gehör. Über den Bau eines unterirdischen Tunnels war man sich nicht einig. Allein eine neue Instandstellung des Kanalisationssystems hätte die Kosten in unkalkulierbare Höhen getrieben. Eine autofreie Promenade hätte ein Modell sein können, doch niemand war bereit, die Konsequenzen zu tragen. Die dazu erforderliche Umleitung über die Mattastrasse schien ob der verloren gehenden Idylle nicht diskussionswürdig. Zu viele Einsprachen vonseiten der Bevölkerung, die sich im Gebiet des Föhrenwegs und des Lärchenrings ihr ruhiges Domizil errichtet hatten. Die gute Luft, für die sich Davos noch bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gerühmt hatte, existierte auch nicht mehr wirklich.
Zwei Züge aus entgegengesetzten Richtungen waren auf den Gleisen eingefahren. Die roten Wagen spuckten Touristen mit Skiern und Snowboards aus. Ich sah dem Treiben eine Weile zu. Dazwischen schoben sich fiktive Bilder.
Lara Vetsch.
Ich hatte sie kaum gekannt. Ihre Schwester war mir genauso fremd.
Ursina hatte mich auf Knien gebeten, das Rätsel um den Tod ihrer Schwester zu lösen.
War ich überhaupt bereit dazu? Im Frühling begannen die Prüfungen für den Master. Ich hatte also weder Zeit noch das Interesse, mich um die Flausen einer Durchgeknallten zu kümmern. Über die Weihnachtstage wollte ich zudem Ski fahren gehen und das Leben geniessen. Ich hatte es verdient. Mein Studium forderte mich. Jetzt musste ich ein wenig Abstand gewinnen, zumindest bis nach Neujahr. Nachdem ich mich nach Vaters Tod und nach allem, was er nach sich gezogen hatte, erholt hatte, musste ich meinen Kopf leeren. Schnee, Sonne, frische Luft, zumindest auf den Bergen: Das brauchte ich. Zudem wollte ich Valerios Wohnung so verändern, dass Tomasz und ich uns über die Festtage wohl darin fühlten. Ich nahm mir vor, nach Chur zum Einkaufen zu fahren.
Trotzdem ging mir Lara nicht mehr aus dem Kopf. Ich hätte Ursina fragen sollen, wo man sie gefunden hatte, und vor allem, wer
DREI
Ich fuhr mit der Rhätischen Bahn– mit dem Schnellzug, und trotzdem in gemütlichem Tempo– nach Chur. Die Fahrt dauerte knapp eineinhalb Stunden. Mit dem Auto hätte ich es schneller geschafft. Ich genoss es, mich zurückzulehnen und mir zu überlegen, was ich alles besorgen wollte. Nebst den Dekorationen wollte ich ein paar Bücher kaufen, obwohl ich mit Lesestoff eingedeckt war. Ich empfand jedoch überhaupt keine Lust, mich in die Lehrmittel zu vertiefen. Dario hatte recht gehabt: Das Studium überforderte mich. Ich wusste nicht mehr, ob ich den richtigen Weg gewählt hatte.
Ich mochte die Stadt, die im Tal des Alpenrheins liegt, eingebettet in den nordwestlich gelegenen Calanda und die Felstürme des Montalins östlich davon. In den letzten Jahren hatte sie sich wesentlich verändert. Hochhäuser waren entstanden, Strassen ausgebaut, neue Läden wie Pilze aus dem Boden geschossen, doch noch immer fuhr die Bahn nach Arosa durch einen Teil der Stadt. Es mutete nostalgisch an.
Als kleines Mädchen war ich mit Mam oft in Chur gewesen. Wenn in Davos die Schneeschmelze einsetzte, fuhren wir in die Kantonshauptstadt und schnupperten den Frühling. Bedingt durch den Einfluss des Föhns gehört Chur zu den wärmsten Städten der Schweiz. Bereits Anfang April blühen hier die Forsythien und ganze Tulpenbeete und lassen den Winterausklang im Landwassertal wie einen Schatten erscheinen.
Ich legte den Weg zur Innenstadt zu Fuss zurück. Die Strassen waren aper. Die Schneegrenze lag zwischen Cavadürli und Klosters. Der Flaum von vorletzter Woche war infolge der hohen Temperaturen weggeschmolzen.
Chur war nicht mit Luzern zu vergleichen. Dennoch fand man hier alles, was es in Luzern auch gab. Die Geschäfte waren zu einem Einheitsbrei geworden. Wenn man lokale Trouvaillen finden wollte, musste man wissen, wo sie sich versteckten. In der Altstadt zum Beispiel– aber dorthin wollte ich heute nicht gehen.
Ich stöberte fast zwei Stunden in den Abteilungen für Haushalts- und Dekorationswaren bei Manor, City-Shop und der Migros. Mit zwei grossen Einkaufstaschen, gefüllt mit farbigen Kissen, einer Glasvase, verschiedenen Kerzen und Servietten, fand ich mich bei der Busstation beim Postplatz ein. Es war noch früh. Sollte ich zurück nach Davos? In eine Wohnung, die steril und kalt auf mich wirkte? Wo ich allein sein und der Lerndruck auf mir lasten würde?
Die Rechtsmedizin, ging es mir durch den Kopf. Wenn ich schon mal hier war, konnte ich den Aufenthalt in Chur mit einem Besuch im Kantonsspital verbinden.
Unter einem Vorwand würde ich dort sicher hineinkommen. Den Studentenausweis hatte ich bei mir. Für alle Fälle. Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen, ging mir durch den Kopf.
Der Bus erreichte wenig später die Haltestelle. Ich quetschte mich mit meinen Taschen hinein, kramte umständlich das erforderliche Geld aus meiner Handtasche und legte es unter dem geräuschvollen Schniefen des Mannes hinter mir auf die Zahlstelle des Chauffeurs.
«Zum Kantonsspital, bitte», sagte ich.
«Sie hätten Ihr Billett beim Automaten lösen sollen», entgegnete der Mann am Lenkrad geduldig. «Sie sind wohl nicht von hier. Sehen Sie den Kasten dort?»