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Ein Sommerhaus an der Ostsee - der Schlüssel zu einem tragischen Familiengeheimnis. In einer Lebenskrise flüchtet sich Juliane zu ihrem Großcousin Johann an die Ostseeküste bei Greifswald. Der alte Herr lebt dort nahezu autark in einem Sommerhaus aus den 1920er Jahren, das einst seiner Mutter Marianne gehörte. Sie war eine der ersten deutschen Pilotinnen und ist mit ihrem Flugzeug ‹Mauersegler› bis nach Afrika gekommen. Juliane taucht immer tiefer ein in das bewegte Leben dieser mutigen, faszinierenden Frau und entscheidet sich schließlich für einen radikalen Tapetenwechsel: Auf Mariannes Spuren reist sie in den Senegal, wo sie eine unglaubliche Entdeckung macht – und sie erfährt, wie hoch der Preis für Freiheit und Liebe sein kann. Zwei Frauen in unterschiedlichen Jahrzehnten kämpfen um Liebe und Selbstbestimmung – atmosphärisch, bewegend und sehr unterhaltsam erzählt.
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Seitenzahl: 463
Valerie Jakob
Mauersegler
Roman
In einer Lebenskrise flüchtet sich Juliane zu ihrem Großcousin Johann an die Ostseeküste bei Greifswald. Der alte Herr lebt dort nahezu autark in einem Sommerhaus aus den 1920er Jahren, nur manchmal in Gesellschaft eines engagierten Insektenforschers. Das Haus stammt von Johanns Mutter Marianne, einer faszinierenden Frau, die als eine der ersten deutschen Pilotinnen mit ihrem Flugzeug «Mauersegler» bis nach Afrika gekommen war.
Juliane entscheidet sich für einen radikalen Tapetenwechsel: Auf Mariannes Spuren reist sie in den Senegal, wo sie eine unglaubliche Entdeckung macht – und erfährt, wie hoch der Preis für Freiheit und Liebe sein kann.
Unter dem Namen Valerie Jakob schreibt eine der erfolgreichsten Übersetzerinnen von Romanen aus dem angloamerikanischen und französischen Sprachraum. In ihren Werken erzählt sie auf kluge und berührende Weise von den Verstrickungen einzelner Schicksale in den großen Lauf der Geschichte.
Wir sind alle eines Tages auf diesen unbekannten Planeten gefallen.
Antoine de Saint-Exupéry
Langlebiger Kleinvogel mit weiter Verbreitung. Gefieder rauchbraun bis schwarzgrau, große, an Falken erinnernde Augen. Geschlechter äußerlich nicht unterscheidbar.
Langstreckenzieher. Nach Tausenden Flugkilometern Ankunft in den europäischen Brutgebieten Anfang Mai, Rückzug in die afrikanischen Überwinterungsregionen Anfang August.
Arttypischer Aufenthalt nahezu ausschließlich in der freien Luft, lediglich zur Brutzeit werden Nistplätze angeflogen. Am Brutplatz orts- und nesttreu. Nisthöhlen bevorzugt in hochgelegenen, verborgenen Mauerschlupfwinkeln.
Gesellige Akrobaten der Lüfte. An Sommerabenden pfeilschnelle Flugspiele im Schwarm, die von ausgelassenen, durchdringend hellen Rufen begleitet werden.
Deutliche lokale Bestandseinbrüche. Die Veränderung unverzichtbarer Lebensvoraussetzungen durch den Eingriff des Menschen gefährdet diesen Wanderer zwischen den Horizonten.
Als Juliane die Wohnungstür aufschob, hörte sie Christian sagen: «Warte mal, da kommt sie gerade.» Dann rief er: «Braunschweig is calling. Deine Mutter!»
Juliane stellte die Einkaufstasche im Wohnzimmer auf den Boden und nahm Christian den Apparat ab. «Hallo, Mama», sie ließ sich in die Sofaecke fallen, «geht’s euch gut?»
«Alles bestens. Und bei dir? Hast du dich inzwischen an Berlin gewöhnt?»
«Geht so.» Juliane dachte an den Einkauf, den sie gerade hinter sich gebracht hatte. Sie wohnten in der Nähe des Kollwitzplatzes, und dort war immer alles voller Touristen und Jungunternehmer, sodass sie sich wie beim Schaulaufen vorkam, wenn sie an den gut besuchten Cafés vorbeikam. Überhaupt ging ihr der ganze Hype in dieser Stadt eher auf die Nerven.
Sie hatte nach den Osterferien ihre Stelle als Lehrerin gekündigt und war zu ihrem Freund gezogen, der dabei war, sich in diesem Mekka der Start-ups selbständig zu machen, auch wenn es mit der Finanzierung noch haperte. Es ging um eine Plattform, die für Kunden individualisierbare Produkte unterschiedlichster Firmen zusammenfassen sollte. Das reichte von Stofftaschentüchern mit gestickten Monogrammen, die angeblich bald wieder in Mode kommen würden, bis hin zu Torten mit Fotodruck auf der Marzipandecke. Nachmittags hatte Christian wieder einmal einen Termin bei einer Bank gehabt, aber ein Gründerkredit zu annehmbaren Bedingungen war schwer zu bekommen. Heiner dagegen, Christians Geschäftspartner, hatte seinen Anteil des Kapitals schon zusammen.
«Hast du bereits was Neues gefunden?», fragte ihre Mutter.
Juliane stöhnte. «So einfach ist das nicht.» Als sie nach zwei Monaten noch so ratlos gewesen war wie bei ihrem Umzug, hatte sie Christian vorgeschlagen, fürs Erste bei seinem Start-up mitzumachen, doch er hatte mit einer Bemerkung über Beruf und Privatleben abgewinkt.
«Daran hättest du denken sollen, bevor du deine Stelle gekündigt hast.» Ihre Mutter verstand überhaupt nicht, wie sie «ohne Not» einen so guten Posten hatte aufgeben können.
«Mama, ich bin einfach keine Lehrerin. Ich hab dir lang und breit erzählt, wie es für mich war. Ich konnte einfach nicht mehr weitermachen.» Sie dachte an ihre Schulklasse, die sie nicht respektiert hatte und vor der sie sich nicht hatte durchsetzen können. Im Französischunterricht hatte ihr trotz all ihrer Motivationsversuche kaum jemand zugehört, stattdessen waren unter oder auch gern auf der Bank SMS getippt worden, und im Leistungskurs Englisch hatte bei der Shakespeare-Lektüre die Meinung vorgeherrscht, dass «dieser alte Scheiß» nichts brachte. Aggressives Desinteresse, so hatte Juliane das Verhalten ihrer Klasse insgeheim getauft, und irgendwann hatte sie sich morgens beinahe davor gefürchtet, in den Unterricht zu gehen. «Man braucht eine Begabung für diesen Beruf», sagte sie, als ihre Mutter schwieg, «muss die Jugendlichen für das Fach motivieren können. Und darin war ich eindeutig eine Niete.»
«Du hättest vielleicht noch ein bisschen durchhalten müssen», sagte ihre Mutter darauf nicht zum ersten Mal. «Erfahrung sammeln, mit der Zeit wäre es bestimmt leichter geworden.» Sie seufzte. «Na ja, Lehrer werden gesucht, du könntest jederzeit wieder einsteigen.»
«Mama», Juliane war genervt, «ich habe diese Arbeit jahrelang gemacht. Das reicht vollkommen aus, um festzustellen, dass ich niemals eine gute oder womöglich glückliche Lehrerin geworden wäre.»
Sie sah Christian an, der ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte und mit der Einkaufstasche in Richtung Küche verschwand. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor bei der Geburtstagsfeier einer ehemaligen Studienkollegin in Göttingen kennengelernt. Juliane dachte an den milden Sommerabend, an dem es auf der Gartenparty zwischen ihnen gefunkt hatte. Christian, energiegeladen und voller Pläne, hatte wie ein Magnet auf sie gewirkt. Noch am gleichen Abend waren sie miteinander im Bett gelandet – beziehungsweise auf einer lauschigen Wiese oberhalb der Stadt. Obwohl Juliane in Göttingen arbeitete und Christian direkt nach dem Studium wieder in seine Geburtsstadt Berlin zurückgezogen war, hatte die Beziehung gehalten.
Sie schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß, sodass ihre Sandale auf den Boden fiel. Im Telefonhörer herrschte Stille. «Mama», sagte sie versöhnlicher, «ich weiß, dass du dir Sorgen machst.» Ihre Mutter war eine entschiedene Verfechterin der persönlichen Selbständigkeit und sah Juliane vermutlich schon auf dem Weg zum Sozialamt. «Was macht Paps?», fragte Juliane, um das Thema zu wechseln.
«Wedelt mit dem Autoschlüssel rum. Wir müssen gleich aus dem Haus.» Im Gegensatz zu Julianes Mutter, die eher streng wirken konnte, war ihr Vater ein heiterer Charakter, der sein noch recht neues Rentnerdasein nach einem Arbeitsleben als Produktionsleiter im Maschinenbau in vollen Zügen genoss.
«Weshalb ich überhaupt anrufe», sagte ihre Mutter, «Johann hat sich gemeldet.» Johann war der Cousin ihrer Mutter an der Ostsee. Die beiden hatten seit jeher wenig Kontakt, auch nach dem Mauerfall war es bei seltenen Anrufen und einer Weihnachtskarte geblieben.
«Ja?», fragte Juliane, die nicht recht wusste, was sie mit dieser Information anfangen sollte.
«Er fragt, ob du oder ich mal bei ihm vorbeikommen könnten», sagte ihre Mutter.
«Mal bei ihm vorbeikommen? Der ist gut.» Von Berlin aus waren es allein bis nach Greifswald über zweihundert Kilometer, und dann folgte noch eine Strecke auf kleinen Sträßchen. «Wieso überhaupt? Wir sehen uns doch nie.»
«Er will etwas besprechen.»
«Und was?», fragte Juliane.
«Das hat er mir nicht gesagt.» Ihre Mutter klang gereizt, als wäre Juliane schwer von Begriff. «Nachdem du zurzeit keine … Verpflichtungen hast, kannst du ruhig mal hinfahren, oder? Er ist meistens da, hat er gesagt, und falls nicht, sollst du einfach reingehen oder dich in den Garten setzen, bis er wiederkommt.»
«Aber …» Juliane fühlte sich überrumpelt. Sie wollte nicht an die Ostsee fahren, sie wollte nirgendwohin fahren, sondern zur Ruhe kommen und überlegen, was sie demnächst mit ihrem Leben anfangen sollte.
«Julchen, überleg’s dir einfach, wir müssen los, das Konzert fängt bald an», hörte sie ihren Vater im Hintergrund rufen, «wir können morgen noch mal telefonieren.» Auch Julianes Mutter hatte sich vor einiger Zeit aus ihrer Sekretärinnenstelle in den Ruhestand verabschiedet, und seitdem hatten ihre Eltern gefühlt mehr Konzerte besucht, Ausflüge gemacht und Kurzreisen unternommen als in ihrer gesamten über dreißigjährigen Ehe davor zusammen.
«Ich denke darüber nach», sagte sie zu ihrer Mutter. «Viel Spaß dann.»
Juliane streifte auch die zweite Sandale ab und ging in die Küche. «Ich dachte, wir essen zusammen zu Abend», sagte sie zu Christian, der mit einem Käsebrot an der Arbeitsfläche lehnte.
«Hab noch einen Termin, sorry.» Er trank einen Schluck Orangensaft. «Kann länger dauern», erklärte er dann, «es geht um die Webseite.»
«Schade.» Aber diese Phase war wichtig für Christian. Er musste Kontakte knüpfen und Entscheidungen treffen, deren Tragfähigkeit sich erst später erweisen würde.
«Was wollte deine Mutter eigentlich?», fragte er.
«Sie will, dass ich zu Johann fahre, weil er möchte, dass jemand von uns ‹mal› bei ihm vorbeikommt.» Sie grinste. «An der Ostsee. Ganz schön weiter Weg für einen Nachmittagskaffee, was?»
«Wer war das gleich wieder? Euer einziger Ostverwandter?» Christian biss in sein Brot.
«Ja, mein Großcousin. Seine Mutter und meine Großmutter waren Schwestern.» Juliane schenkte sich Orangensaft ein.
«Und warum sollst du bei ihm vorbeikommen?»
«Keine Ahnung. Ich habe ihn nur als Sechsjährige mal gesehen, da kam er mir uralt vor, dabei …», sie dachte nach, «… war er damals vielleicht so was wie Mitte fünfzig. Also müsste er inzwischen um die achtzig sein.»
«Und jetzt hat er Altersmelancholie und will dich noch mal sehen, bevor er abtritt.»
Juliane sah ihn an. «Keine Ahnung.»
«Worum soll es denn sonst gehen? Ihr beide hattet ja die ganze Zeit nichts miteinander zu tun, oder?» Juliane schüttelte den Kopf. «Hat er noch andere Verwandtschaft?», fragte Christian.
«Weiß ich nicht, kann sein.»
«Ist ja auch egal. Wenn du hinfährst, wirst du schon erfahren, warum er jemanden von euch sehen will.» Christian räumte das Messer in die Spülmaschine und hob die Saftpackung hoch. «Noch mehr?» Sie schüttelte den Kopf, und er stellte die Packung in die Kühlschranktür.
«Würdest du denn mitkommen? Zu Johann, meine ich?»
Christian war mit den Gedanken schon bei seinem Termin. «Ja, wenn es sich einrichten lässt», sagte er unkonzentriert, während er in den Flur ging. «Bin dann mal weg», rief er und schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Juliane überlegte kurz, ob sie für sich alleine kochen sollte, aber dann nahm sie nur einen Apfel mit an den Schreibtisch in ihrem Zimmer. Vor ihrem Einzug war es Christians Schlafzimmer gewesen, und er hatte einiges herausgeräumt, damit sie Platz für ein paar ihrer Sachen hatte. Ihr gemeinsames Bett stand hier, während in Christians Arbeitszimmer kreuz und quer die Unterlagen zu seinem Start-up lagen. Die Wohnung war klein, und es ging ziemlich eng zu. Lustlos scrollte sie sich am Computer durch alle möglichen Stellenanzeigen.
Nichts davon sprach sie an. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Anders als ihre Mutter anscheinend glaubte, hatte sie ihre Arbeit nicht bei den ersten Problemen geschmissen, sondern erst, als sie ständig Magen- oder Kopfschmerzen hatte und sich auch langfristig keine Änderung der Situation abzeichnete. Entspannt war sie allerdings auch nach Kündigung und Umzug nicht. Sie rupfte an einem Faden herum, der vom Saum ihres T-Shirts abstand. Dolce far niente, das süße Nichtstun – was für ein Schwachsinnsausdruck. Stattdessen fühlte sie sich einfach nur erschöpft, obwohl sie inzwischen seit Monaten kaum noch etwas tat und die Ursache abgeschaltet war. Das lähmende Gefühl der ständigen Überforderung aus ihrem Lehrerinnendasein war geblieben, und deshalb konnte sie für nichts richtige Energie entwickeln.
Eine Woche später fuhr Juliane vormittags nach Reinickendorf, einem nordwestlich gelegenen Berliner Bezirk, um Christian bei seinem Vater abzuholen.
«Musst du wirklich ausgerechnet heute Morgen zu ihm?», hatte sie Christian beim Frühstück noch einmal gefragt. Sie war schlecht gelaunt. Hatte frühmorgens Richtung Ostsee aufbrechen wollen, um genügend Zeit zu haben und nicht bei Dunkelheit zurückfahren zu müssen. «Ja, geht nicht anders, und es spielt doch keine Rolle, ob wir ein bisschen später loskommen», hatte Christian gesagt, seinen Kaffee runtergestürzt und war zur U-Bahn gerannt.
Als sie in die Wohnstraße einbog, sah sie Christian und seinen Vater schon vor dem Haus stehen. Christian war einen halben Kopf größer als sein Vater, der an diesem ganz gewöhnlichen Wochentag seltsamerweise Jackett und Hemd mit Krawatte trug. Das war eigentlich nicht sein Stil. Wenigstens muss ich jetzt nicht noch in die Wohnung rauf. Sie fuhr schräg auf den Bürgersteig, und Christians Vater machte einen übertriebenen Schritt rückwärts.
«Frau am Steuer, Abenteuer!», rief er und lachte, während Christian nur mit den Schultern zuckte.
Das war genau so ein Spruch, wie er zu Christians Vater passte. Juliane beschloss, überhaupt nicht erst auszusteigen, und ließ nur das halboffene Fenster ganz herunter, als Christian zu ihr ans Auto kam.
«Ich hab noch versucht, dich zu erreichen», sagte er und stützte sich mit der Hand am Autodach ab, um sich zu ihr herunterzubeugen. Die Sonne stand hinter ihm, sein Gesicht lag im Schatten, und seine Augen wirkten viel dunkler blau, als sie es waren.
Juliane griff nach dem Smartphone in ihrer Handtasche. Ein verpasster Anruf. «Hab ich nicht gehört, ich war noch tanken. Was gab’s denn?» Sie wandte kurz den Blick nach vorn und sah, dass Christians Vater sie beobachtete.
«Ich wollte …» Christian verstummte einen Moment, bevor er weitersprach. «Ich kann nicht mit. Jedenfalls nicht jetzt gleich.» Juliane sah ihn nur an. «Mein Vater hat uns einen Termin gemacht, von dem ich nichts wusste.» Er rollte mit den Augen.
«Und wie lange dauert der?», fragte Juliane.
«Ein, zwei Stunden, denke ich», sagte Christian mit einem Blick auf seinen Vater, der demonstrativ mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr pochte.
«Wir hatten aber etwas anderes ausgemacht.» Noch zwei Stunden später, und sie könnten die Fahrt vergessen. Christians Vater dachte anscheinend, alle müssten nach seiner Pfeife tanzen. Und offensichtlich dachte er es nicht nur, sondern setzte es auch durch.
«Ja, ich weiß, aber wir könnten doch an einem anderen Tag fahren, oder?», sagte Christian. «Das spielt bei dir doch gerade keine Rolle und bei Johann sowieso nicht.»
«Sag mal, spinnst du?» Wenn sie nicht den taxierenden Blick von Christians Vater auf sich gespürt hätte, wäre sie laut geworden. «Das könnte eins zu eins von deinem Vater stammen. Oder kommt es sogar von ihm?»
«Quatsch.»
«Dein Vater arbeitet schließlich auch nicht mehr und kann an einem Tag so gut wie an jedem anderen. Stattdessen muss es unbedingt heute sein. Was ist denn eigentlich so unheimlich wichtig?»
«He, ihr beiden, dauert das noch lange?», rief sein Vater. «Ich stehe mir hier die Beine in den Bauch.»
«Nein, ist schon alles geklärt!», rief ihm Christian zu.
«Ach ja?»
«Jetzt sei doch nicht so. Das ist einfach dumm gelaufen. Wir machen heute Abend einen anderen Tag für die Fahrt aus, okay?» Juliane schnitt ein Gesicht, schwieg aber. Christian richtete sich auf. «Also, bis dann.»
Sie fuhr aus der Wohnstraße heraus und setzte den Blinker, um Richtung Berlin-Mitte abzubiegen, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie hatte keine Lust, in der Wohnung herumzusitzen. Hinter ihr hupte jemand. Jaja, Frau am Steuer, dachte Juliane, als sie Richtung Norden fuhr und das Navi einschaltete. Die Strecke hatte sie schon bei der Abfahrt von zu Hause einprogrammiert.
Bis sie aus der Stadt heraus war, dauerte es über eine halbe Stunde, der Verkehr war dicht und wurde durch Baustellen, die in Berlin wie Unkraut wucherten, noch weiter behindert. Dann aber war es, als sei ein Schalter umgelegt worden. Spärlicher Verkehr, weite Horizonte mit bauschigen weißen Wolken am Himmel und grüne Felder. Dazwischen Dörfer mit alten Feldsteinkirchen und Kopfsteinpflasterstraßen, auf denen kein einziger Mensch zu sehen war.
Sie hatte nur noch wenige Erinnerungen an die Autofahrt, die sie als Kind mit ihren Eltern zu Johann gemacht hatte. Eine davon war die an den Grenzübergang zur DDR und die barsche Frage eines bewaffneten Beamten, ob sie Waffen, Funkgeräte oder Druckerzeugnisse im Auto hätten, was ihr Vater seltsam angespannt verneinte. Dieser Uniformierte hatte Macht über ihren Paps, das war sofort spürbar, und es war verunsichernd. Danach hatte der Grenzer ihre Pässe verlangt, die er auf ein schmales überdachtes Laufband legte, über das sie in einem grauen Gebäude mit sehr kleinen Fenstern verschwanden. Als sie die riesigen Grenzanlagen mit all den Mauern, Schildern und dem Stacheldraht hinter sich gehabt hatten, waren sie auf holprigen Straßen durch graue Städte und vorbei an leuchtend gelb blühenden Feldern weitergefahren.
Als sie angekommen waren, hatte Johann mit einem alten Hut auf dem Kopf im Gemüsegarten auf den Fersen gehockt und mit einer kleinen Hacke den Boden aufgelockert. Bevor er sich zur Begrüßung ihrer Eltern aufrichtete, hatte er Juliane mit einer rauen, warmen Hand über die Wange gestrichen, an der noch Erdkrümel hafteten wie Schmirgelsand.
Während sie nun vergeblich versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Johann eigentlich aussah, fuhr Juliane bei Neubrandenburg auf die Autobahn, um die nächste Etappe schneller hinter sich zu bringen. Ab Greifswald ging es über die Dörfer weiter, und als die See vor ihr aufblitzte, machte sie Pause in einem Restaurant-Café und aß einen Happen.
Christian saß jetzt vermutlich wieder in einer Besprechung. Dass er nach dem Termin mit seinem Vater Däumchen drehte, war undenkbar. Er hätte wenigstens mal anrufen können, dachte Juliane mit einem Blick auf ihr Telefon. Nichts. Nachdem er sie wegen seines Vaters versetzt hatte, wollte sie sich nicht als Erste melden. Sie trank einen Schluck von ihrem Espresso und ließ den Kaffeelöffel zwischen Daumen und Zeigefinger wippen. Im Grunde war klar gewesen, dass Christian eigentlich keine Zeit oder jedenfalls keine Ruhe für diese Fahrt hatte. Wahrscheinlich hatte er nur zugesagt, um ihr einen Gefallen zu tun. Und auch wenn das keine Entschuldigung für plötzlich gecancelte Abmachungen war, stimmte es, dass sie im Moment keine Termine hatte, während Christian ständig unterwegs war.
Bin doch noch gefahren, sitze gerade am Meer und denke an dich. Bis heute Abend, J. – Nach dieser SMS fühlte sie sich besser.
Bis sie die restliche Strecke hinter sich hatte, war es früher Nachmittag. Die letzten Kilometer führten durch einen Wald, dann bog sie auf einen Weg ab, der zu einer Lichtung führte. Dahinter leuchtete die Helligkeit des Meeres.
«Sie haben Ihr Ziel erreicht», verkündete das Navi.
Juliane hielt an. Sie sah das Haus nicht. Langsam fuhr sie weiter und entdeckte auf der rechten Seite eine Zufahrt, umwuchert von Brombeeren. Die Ranken kratzten über das Auto, als sie bis zu einem Vorplatz weiterfuhr, auf dem ein alter blauer Passat vor einem Garagenschuppen stand.
Eine geschwungene Treppe führte zur Haustür. Das Gebäude war kleiner, als es ihr von ihrem Kindheitsbesuch in Erinnerung geblieben war. Ein Bungalow, der schon bessere Tage gesehen hatte.
Sie entdeckte keine Klingel. «Johann?», rief sie und klopfte an die Tür. Nichts regte sich. Sie drückte auf die Klinke. Nicht abgeschlossen. Durch den Türspalt zog ihr von innen kühle Luft entgegen. «Johann?», rief sie erneut.
Weil sie nicht einfach so hineingehen wollte, nahm sie den schmalen Weg aus festgetretener Erde, der am Haus vorbeiführte. Auf der Rückseite hatte sie einen Rasenplatz vor sich. Am rechten Rand blühten im Schatten eines Baumes Pfingstrosen bei einer Sitzgruppe aus Holz. Links erstreckten sich Gemüsebeete hinter einer niedrigen Hecke. An hohen, grau verwitterten Holzstangen, die unterhalb der Spitzen zusammengebunden waren, als bildeten sie das Gerüst eines schmalen Indianertipis, rankten Bohnenpflanzen empor, an denen wie Schmetterlinge weiße Blüten saßen. Über allem hing die Wärme des strahlenden Spätjunitages. Juliane ging auf einem kurvigen Weg, der in eine hochgewachsene Wiese gemäht war, tiefer in den Garten hinein und kam zu einer größeren Freifläche mit einem Baum. Darunter stand, dem Meer zugewandt, eine breite Holzbank.
«Da bist du ja», sagte Johann und stand auf.
«Ja», gab Juliane zurück. Die ganze Situation schien ihr seltsam entrückt. Das abgelegene Haus. Der verschlungene Weg durch den Garten, in dem außer Wind und Insekten nichts zu hören war.
Johanns sonnengebräuntes Gesicht war zerfurcht wie der Baumstamm hinter ihm, und auch sonst wirkte er knorrig mit seinen sehnigen Unterarmen, die aus den hochgekrempelten Ärmeln seines blauen Hemdes hervorsahen. In seinem störrischen weißen Haar war noch ein Anflug von Braun zu erkennen. Er musterte sie. Juliane hatte keine Ahnung, was ihm dabei durch den Kopf ging. Leicht verunsichert von dieser wortkargen Begrüßung, strich sie sich eine Locke hinters Ohr.
«Wir haben uns lange nicht gesehen», sagte er schließlich. «Das letzte Mal warst du ein kleines Schulmädchen.»
Einen Moment lang hatte Juliane das unklare Gefühl, sich für den seltenen Kontakt rechtfertigen zu müssen. Doch Johanns Ton hatte nach einer reinen Feststellung geklungen. «Ja», sagte sie nur.
Er schaute aufs Meer hinaus, und Juliane folgte seinem Blick. Hinter wenigen windschiefen Bäumen am Abbruch der Küste senkte sich ein steiler, mit Flechten und Strandhafer bewachsener Abhang bis zu einem blendend weißen Strandstreifen. In der Ferne glaubte sie eine Insel zu erkennen, aber das konnte auch eine Täuschung sein. «Schön hier», sagte sie.
«Das stimmt.» Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Juliane. «Sollen wir trotzdem reingehen, damit du was zu trinken bekommst? Was möchtest du? Ich trinke Pfefferminztee, aber es gibt auch was anderes.»
«Nein, Tee ist gut», sagte Juliane.
Sie gingen durch den Garten zurück. Während Johann zu den Beeten abbog und ein paar sattgrüne Pfefferminzblätter abpflückte, blieb Juliane stehen. Ihr fiel auf, dass das Haus von dieser Seite aus ganz anders aussah. Es war kein flacher Bungalow, sondern ein zweistöckiges Gebäude. Sie runzelte die Stirn. Es sah aus, als wäre eine kleinere Schachtel auf eine größere gestellt worden, denn das zweite Geschoss lag leicht zurückversetzt, sodass sich ein umlaufender Balkon ergab, den ein schwarzes oder jedenfalls schwarz angelaufenes Metallgitter einfasste. Auf der gesamten Gartenseite des oberen Stocks schien es Fenstertüren auf den Balkon hinaus zu geben.
Als Johann mit der Pfefferminze kam, betraten sie durch die weit aufgeschobenen Glastüren zur Terrasse ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer. Rechts stand eine schlichte Sitzgruppe vor einem Kamin. Die letzten drei Meter des Raumes lagen als Estrade leicht erhöht, den Übergang bildete auf der gesamten Breite eine dreistufige Treppe. Auf der einen Seite der Estrade zeigte eine Durchreiche hinter einem abgestoßenen Esstisch, wo vermutlich die Küche lag, die andere Seite war mit Bücherregalen und einem Schreibtisch ausgestattet, und in der Mitte öffnete sich ein breiter Durchgang.
Juliane folgte Johann über die kurze Treppe und den Durchgang in einen großen, beinahe quadratischen Eingangsbereich. Rechts stand die Tür zur Küche offen. Eine schneckenartig geschwungene Betontreppe führte ins obere Stockwerk. Die halbhohe Betonsäule, von der die Windung ihren Ausgang nahm, krönte eine Betonkugel, die von den vielen Händen, die beim Hinaufgehen schon darübergeglitten waren, eine graue, leicht glänzende Oberfläche angenommen hatte.
«Falls du ins Bad willst», sagte Johann und deutete auf eine der geschlossenen Türen, während er sich zur Küche wandte.
«Ja, danke», sagte Juliane.
Als sie wieder herauskam, blieb sie einen Moment stehen. Neben der Treppe hing ein altes, gerahmtes Schwarzweißfoto über einer dunklen Kommode. Es zeigte zwei junge Frauen in Nahaufnahme, die untergehakt vor einer Metallkonstruktion standen. Sie waren etwa gleich groß und dunkelhaarig. Die eine trug einen eleganten Kurzhaarschnitt, die andere einen kinnlangen Bob, und beide strahlten sehr fröhlich und sehr selbstbewusst in die Kamera.
«Möchtest du wieder nach draußen, oder sollen wir uns ins Wohnzimmer setzen?»
Juliane drehte sich um und sah Johann mit einem Tablett an der Küchentür stehen. «Warte», sagte sie und nahm ihm das Tablett ab. Der frische, aromatische Geruch des Tees stieg ihr in die Nase. «Ja, lass uns rausgehen bei dem schönen Wetter.»
«Was machst du denn jetzt?», fragte Johann, als sie sich an den Holztisch gesetzt hatten.
«Na ja», sie zuckte mit den Schultern, «eigentlich nichts. Hat Mama dir das nicht erzählt?» Sie blies auf den heißen Tee. Es war vollkommen klar, dass ihre Mutter am Telefon darüber geredet hatte.
«Doch, sie hat so etwas gesagt.» Er lächelte leicht. «Aber das meinte ich eigentlich nicht. Sondern eher, ob du dir schon etwas anderes vorstellen kannst.»
Sie schüttelte den Kopf. «Mama hätte am liebsten, dass ich wieder als Lehrerin anfange.» Sie spürte, wie sich schon bei dem bloßen Gedanken Stress in ihr ausbreitete. «Aber … das geht nicht», fügte sie etwas zu heftig hinzu.
«Dann geht es nicht.» Er ließ einen Moment seinen Blick auf ihr ruhen. «Irgendwann ergibt sich was, du wirst schon sehen.» Mit einer langsamen Handbewegung schob er eine Biene weg, die über der Zuckerdose tanzte. Juliane entspannte sich, als ihr klarwurde, dass Johann nicht vorhatte, in die gleiche Kerbe zu hauen wie ihre Mutter.
«Du bist Biologe, oder?»
«Entomologe», erklärte er, «Insektenkunde. Käfer und Schmetterlinge, aber mein Spezialfach ist die Arachnologie.» Auf Julianes fragenden Blick fügte er hinzu: «Spinnentiere.»
«Spinnen.» Sie schüttelte sich.
Er lachte, als er sah, wie Juliane den Rasen um ihre Füße musterte, und sein Gesicht legte sich in Falten. «Das sind ganz außergewöhnliche Lebewesen, musst du wissen. Völlig verkannt und unzureichend erforscht. Da gibt es noch jede Menge Entdeckungen zu machen.» Er stellte seinen Becher ab. «Aber ich weiß, dass sich viele Menschen vor ihnen ekeln.»
«Jetzt kommt gleich das mit dem Desensibilisierungstraining, oder?»
«Nein, dazu muss man nämlich bereit sein, sonst bringt es nichts», sagte er gelassen. «Du kannst dich also gern so lange vor Spinnen fürchten, wie du möchtest. Das stört mich überhaupt nicht.»
Wieder hatte er anders reagiert, als Juliane angenommen hatte. Keine Ratschläge, weil sie ihre Arbeit aufgegeben hatte, keine Belehrungen zu seinem Spezialgebiet. Er saß einfach mit ihr zusammen in seinem Junigarten und ließ sie so sein, wie sie war. Sie sank auf ihrem Stuhl zurück und spürte das sonnenwarme Holz der Armlehne unter ihrer Haut.
«Weißt du, Johann», sagte sie, «diese Arbeit als Lehrerin … das ist alles einfach so gekommen. Ich habe mich nicht dafür entschieden, weil ich es unbedingt gewollt hätte.» Johann sah sie aufmerksam an. «Ich bin da so reingerutscht, weil mir nichts Besseres eingefallen ist oder … weil ich eigentlich nie wusste, was ich wirklich selber will.» Sie schnitt ein Gesicht. «Ich war eine total miese Lehrerin. Bin nicht in die Aufgabe reingewachsen, wie man so sagt.»
Eine Fliege landete auf dem Tisch und rieb die Vorderbeine aneinander, bevor sie sich immer wieder über den Kopf strich, wie jemand, der sich unter der Dusche einseift. «Und nicht mal jetzt weiß ich, was ich will», fügte Juliane nach einem Moment hinzu.
«Selbst wenn man eigene Pläne gemacht hat, wird ja nicht immer etwas daraus», sagte Johann, «vielleicht hat man irgendetwas nicht einkalkuliert, oder die Umstände ändern sich, oder es ergibt sich etwas anderes.» Er betrachtete die Fliege, die sich inzwischen mit den Hinterbeinen über die Flügel fuhr. «Womöglich ist das sogar der Normalfall. Deswegen ist es wahrscheinlich genauso wichtig, darüber nachzudenken, was einen wirklich zufrieden oder glücklich macht, bevor man große Pläne schmiedet.»
Das klingt einfacher, als es ist, dachte Juliane.
«Aber das klingt einfacher, als es ist», sagte Johann. Juliane wandte ihm so ruckartig den Kopf zu, dass die Fliege wegflog.
Johann trank seinen Tee aus. «Also», sagte er, «ich habe deine Mutter angerufen, weil ich etwas zu besprechen habe.»
Eine Stunde später warf Juliane einen Blick auf ihr Smartphone. Es war inzwischen fast sechs Uhr. Sie würde bald zurückfahren müssen und wäre trotzdem erst spät daheim.
«Du kannst hier übernachten», sagte Johann, der anscheinend ihren Gedankengang erraten hatte. «Oben gibt es noch drei Zimmer und ein Bad.»
«Aber ich muss …», begann Juliane und unterbrach sich. Warum eigentlich? Sie hatte zurzeit ja bekanntlich «keine Verpflichtungen». Außerdem fuhr sie viel lieber bei Tageslicht als im Dunkeln. Sie grinste ein bisschen schief. «Ich muss gar nicht. Ich sollte nur Christian Bescheid geben, das ist mein Freund.»
«Ja, tu das. Der Empfang mit dem Handy ist hier manchmal schlecht, dann kannst du das Telefon im Wohnzimmer benutzen.»
Juliane stand auf und ging ein paar Schritte. Der Empfang reichte aus, aber Christian nahm das Gespräch nicht an. Sie hinterließ ihm eine Nachricht auf der Sprachbox.
Als sie wieder an den Tisch kam, räumte Johann die Becher zusammen. «Ich zeige dir das Zimmer», sagte er. «Brauchst du eine Zahnbürste? Oben sind noch welche.» Auf Julianes fragenden Blick sagte er: «Wir hatten hier ein paar Jahre lang ein Studentenprojekt zur Artenzählung. Da hatte öfter mal jemand abends keine Lust, noch nach Hause zu fahren.»
Sie gingen die Treppe hinauf und kamen in eine Art oberen Eingangsbereich, der genauso großzügig angelegt war wie im unteren Geschoss. Auf der Gartenseite führten Glastüren auf den umlaufenden Balkon, zur Haustür hin befanden sich große Fenster. Von den beiden Seitenwänden gingen je zwei Türen ab.
«Hier drin sind Bettwäsche, Zahnbürsten und so weiter», sagte Johann und öffnete einen der Wandschränke zwischen den Türen. Der vergilbte weiße Lack war stellenweise vom Holz abgeblättert. Juliane nahm sich eine in Plastik verpackte Billigzahnbürste und ein Handtuch von einem Regalbrett. Johann ging zu einem der beiden Zimmer auf der Gartenseite weiter. Durch die halb offen stehende Tür gegenüber sah Juliane eine dunkelgrüne Jacke auf einem ordentlich gemachten Bett liegen.
Die Einrichtung des Zimmers war spärlich. Ein Tisch mit einem Freischwingerstuhl, ein Bettsofa mit einem Beistelltisch und einer Lampe, deren Kabel sich zu einer Steckdose an der Fußleiste ringelte, und zum Fenster ausgerichtet ein Sessel. «Das ist eigentlich sehr praktisch», sagte Juliane mit einem Blick zur Rückwand des Zimmers, die von den gleichen Einbauschränken eingenommen wurde wie im Vorraum.
«Das war eine der neuen Ideen damals, als das Haus gebaut wurde. Hat sich aber nicht durchgesetzt.»
Auch aus diesem Zimmer konnte man auf den breiten, umlaufenden Balkon gehen. Johann warf einen Blick auf die zurückgezogenen Vorhänge. «Könnten etwas staubig sein.»
«Ich mache sie ohnehin nicht zu», sagte Juliane, die an die Fenstertür gegangen war. Ihr Blick fiel über die Baumreihe hinweg auf einen Streifen blauer Ostsee.
«Gut», sagte Johann und verließ das Zimmer. «Nachher machen wir uns ein Abendessen.»
Als sie wieder nach unten kam, sprengte Johann mit einem Wasserschlauch die Pflanzen. An vielen Stellen des Gemüsegartens und an seinen Rändern blühten Blumen auf naturbelassenen Stücken, die Beete aber waren systematisch angelegt und gejätet. Juliane erkannte Salat und Mangold. Die wuchernden Blattranken weiter hinten gehörten vermutlich zu einer Kürbispflanze. «Was ist das da?», fragte sie und deutete auf eine Reihe Grünzeug mit halbhohen Blättern.
Johann folgte ihrem Blick. «Das sind Mairübchen. Kennst du dich mit Gemüse aus?»
«Nein, ich hole es nur im Gemüseladen.» Juliane schaute auf einen einzelnen Erddamm, wie sie sich hunderttausendfach auf den Feldern ausdehnten. Daneben stand ein Korb, in dem zusammen mit einem alten Küchenmesser sandige Kartoffeln, Spargelstangen und Petersilie lagen. «Ich wusste gar nicht, dass man Spargel selber ziehen kann.»
«Man muss eben erst mal drei Jahre Geduld haben, bevor es was zu ernten gibt», sagte Johann. «Und nach zehn Jahren sind die Pflanzen erschöpft, also muss man nach sieben Jahren neue setzen, wenn man keine Ertragslücke haben will.»
«Drei Jahre warten!», rief Juliane. «Das wollen doch bestimmt nicht mal viele Gartenbesitzer, wo es doch an jeder Ecke bergeweise Spargel zu kaufen gibt.»
Johann richtete den Wasserstrahl auf einen breiten Kübel, aus dem an Schnüren, die an ein kleines Schutzdach geknotet waren, ein paar Tomatenpflanzen emporwuchsen. «Diese Massenware ist eine Pest für die Natur. Tonnenweise Unkrautvernichtungsmittel und das ganze Land mit Folie abgedeckt, sodass es keine Insekten mehr gibt und keine Vögel, die von ihnen leben.»
«Und keine Spinnen», stellte Juliane fest, ohne sich richtig darüber freuen zu können.
«Und keine Spinnen. Aber der Mensch liebt seine Bequemlichkeit.»
Juliane blickte auf das Spargelbeet, in dem sich hier und da durch eine sanfte Aufwölbung zeigte, wo vermutlich bald eine Stange gestochen werden konnte. «Wie alt sind diese Pflanzen jetzt?», fragte sie.
«Sieben Jahre.»
«Und wo hast du die neuen gesetzt?»
Er schien sie nicht gehört zu haben, denn er drehte nur an dem Aufsatz des Schlauchs, sodass kein Wasser mehr kam, und sagte: «Nimmst du mal den Korb mit in die Küche? Ich rolle noch den Schlauch auf.»
Beim anschließenden Kochen und Essen sprachen sie, abgesehen von einem «Wo ist das Schälmesser?» oder «Ich bringe die Reste auf den Kompost», nicht viel miteinander, aber es störte die Atmosphäre nicht, dass sie offenbar beide lieber ihren Gedanken nachhingen.
Nach dem Essen verabschiedete sich Johann in sein Schlafzimmer, das der Küche gegenüberlag. Es war erst kurz vor zehn, aber Juliane war trotzdem müde. Lag wahrscheinlich an der Autofahrt. Sie ging nach oben und stellte sich auf dem Balkon ans Geländer. Vom Meer zog leichter Wind herein und ließ das Blattwerk der Bäume rauschen.
Aus Johanns Schlafzimmerfenster fiel ein Lichtviereck schräg über die Terrasse und den Rasen. Wie es wohl war, hier allein zu wohnen, überlegte Juliane, der nächste Nachbar mindestens einen halben Kilometer entfernt und das Dorf einen Kilometer. Dann erlosch das Lichtviereck aus Johanns Fenster, und der Garten wurde in tiefe Schwärze getaucht. Fröstelnd kehrte sie in das Zimmer zurück und nahm ihr Telefon von dem Tischchen am Bett. Eine SMS von Christian. «Okay.» Also hatte er seine Sprachbox abgehört. Bei ihm würde sie später anrufen, aber zuerst wollte sie mit ihrer Mutter sprechen.
Das Telefon brauchte ewig zum Verbindungsaufbau, und dann setzte der Besetztton ein. Juliane schaute auf das Balkensymbol. Nur zwei Striche. Beim nächsten Versuch nahm ihre Mutter ab.
«Mama? Hörst du mich?»
«Ja, aber es knistert in der Leitung. Ist was passiert?»
«Nein, der Empfang ist schlecht hier. Ist es dir zu spät zum Telefonieren?»
«Wo hier?», erkundigte sich ihre Mutter, ohne auf die Frage einzugehen.
«Bei Johann. Du hast doch gesagt, dass ich zu ihm fahren soll. Jetzt übernachte ich bei ihm. Wollte nicht im Dunkeln zurückfahren.» Sie setzte sich auf den Sessel am Fenster. «Johann hat gefragt, ob wir … also du oder ich uns vorstellen können, dass er uns das Haus hier überschreibt, damit wir es übernehmen können, wenn er irgendwann stirbt.»
Einen Moment herrschte Stille. «Hätte man sich vielleicht denken können, dass es um so etwas geht», sagte ihre Mutter dann. «Er ist ja nicht mehr der Jüngste.»
Juliane dachte daran, dass Johann vielleicht keinen neuen Spargel mehr gepflanzt hatte. Dann begann es wieder in der Leitung zu knacken. «Hörst du mich noch?», fragte sie.
«Ja, ich höre dich.»
«Ist Johann krank?»
«Nicht, dass ich wüsste. Wirkt er denn krank auf dich?»
«Überhaupt nicht. Er wirkt …», sie musste einen Moment nachdenken, «… zufrieden. Und heute Abend haben wir Spargel und Kartoffeln aus dem schönsten Gemüsegarten gegessen, den ich je gesehen habe.»
Ihre Mutter lachte. «Könnte es sein, dass es auch der einzige Gemüsegarten war, den du je gesehen hast? Soweit ich mich erinnere, war dir bei uns schon das bisschen Rasenmähen in unserem winzigen Vorgarten zu viel.»
«Oh Mama, darum geht es doch nicht.» Warum musste sie solche Sachen sagen?
«Ja, stimmt», lenkte ihre Mutter ein. «Es geht um das Haus. Wie denkst du darüber?»
«Ich habe noch gar nicht richtig darüber nachdenken können. Es wäre ja sowieso erst mal nur ein Papier.» Sie lehnte sich zurück. «Außerdem geht sein Angebot an uns beide, nicht nur an mich.»
Darauf folgte ein so langes Schweigen, dass Juliane schon dachte, die Verbindung wäre abgebrochen. «Wir haben hier unser Zuhause, Juliane», sagte ihre Mutter dann. «Und jetzt, wo dein Vater und ich endlich mehr Zeit füreinander haben, brauchen wir keinen alten Kasten mit Renovierungsbedarf. Du kannst dir also ganz allein überlegen, ob du das machen willst.» Irgendwie störte Juliane diese Beschreibung von Johanns Haus, obwohl es stimmte, dass es einen Anstrich und noch weitere Erneuerungen vertragen könnte.
«Falls wir es nicht wollen, gibt es hier in der Gegend Interessenten, hat er gesagt», berichtete Juliane weiter, «aber es würde ihm gefallen …», sie versuchte, sich an Johanns Wortwahl zu erinnern, «… wenn es auf ‹unserer Seite› der Familie bleibt.» Sie runzelte die Stirn. «Gibt es denn noch eine andere Seite der Familie?»
«Sein Vater hat ein zweites Mal geheiratet …» Der Rest ging in dem Geknister unter, das wieder den Empfang störte.
«Was hast du gerade gesagt?», fragte Juliane. «Ich kann dich kaum verstehen.»
«Dass ich glaube, sie hatten kein besonders gutes Verhältnis», drang die Stimme ihrer Mutter nun wieder klar an Julianes Ohr. Ebenso wie das Gähnen, das sie unterdrückte.
«Lass uns Schluss machen, Mama, ich rufe dich aus Berlin wieder an.» Danach versuchte sie noch, Christian zu erreichen, bekam aber keine Verbindung.
«Sollen wir einen Strandspaziergang machen, bevor du fährst?», fragte Johann am nächsten Morgen. Juliane nickte. Als sie den steilen Pfad zum Wasser hinuntergingen, streiften steife Gräser mit lautem Schaben an ihren Hosenbeinen entlang. Auf dem festen, beinahe weißen Sand des schmalen Strandes lagen Treibholzstücke und Tang; ein Saum aus kleinen Muscheln und Steinen markierte die Wasserlinie, an der träge die Wellen schwappten.
Johann blickte über die See. Bis zum Horizont unterbrachen nur wenige hellere Streifen die dunklen Wolkenbänder. «Die Sonne kommt heute nicht mehr raus, gibt schlechtes Wetter.»
Juliane hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und hielt ihr Gesicht in den Wind. «Aber am Meer hat man auch bei schlechtem Wetter immer das Gefühl von Weite und Freiheit.»
«Mit dem Gefühl von Weite und Freiheit war es zu meiner Zeit hier nicht besonders weit her», stellte Johann nüchtern fest.
«Daran habe ich gar nicht gedacht. Man sieht ja auch nichts mehr von dieser Zeit.»
«Woanders schon», sagte Johann, «aber an diesem Küstenabschnitt hat es keine Zäune oder Mauern gegeben. Trotzdem war das hier zu DDR-Zeiten ein ‹Schutzstreifen›.» Er verzog spöttisch den Mund. «Schwimmen war in der Uferzone erlaubt, Zelten, Campen und so weiter verboten, und eine Genehmigung zum Segeln gab es nur mit Zustimmung der Staatssicherheit. Hatten Angst, dass ihnen zu viele Bürger abhandenkommen.»
Juliane schaute am Ufer entlang. Überall nur Strand und ein paar Möwen, die zwischen dem Treibgut herumpickten. Nirgendwo eine Menschenseele. «Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man so eine Küste überwachen will.»
«Das ging schon», sagte Johann. «Die Grenzbrigade war sehr mobil und sehr aktiv.»
«Haben denn viele versucht, über die Ostsee wegzukommen?»
«In dieser Gegend weiß ich von keinem. Zu weit östlich. Die meisten haben es wohl an der Grenze zur Bundesrepublik bei Travemünde riskiert. Aber man hat vieles nicht erfahren. Hinterher wurde von mehr als fünfeinhalbtausend Fluchtversuchen über die Ostsee geredet, von denen keine tausend geglückt sind.»
«Und die anderen?»
Er wandte sich zum Wasser. «Flucht abgebrochen, schlechtes Wetter, Verhaftung … und immer mal wieder wurde eine Wasserleiche angespült.»
Juliane sah ihn bestürzt an.
«So etwas kann einem wieder einfallen», fuhr er fort, «wenn man jetzt von einem anderen Meer liest, an dessen Strände Wasserleichen gespült werden.»
Nach diesen Erklärungen erschien Juliane ihre Bemerkung über Weite und Freiheit am Meer peinlich und naiv. «Und du?», fragte sie. «Wolltest du nie weg?»
«Nein.» Er drehte sich wieder zu ihr um. «Ich hatte hier alles. Vor allem das Haus und den Garten. Früher habe ich mehr Gemüse angebaut und Hühner gehalten. Es gab in der DDR so eine Art Tauschhandel unter manchen Nachbarn. Heute gebe ich dir ein paar Eier, morgen schleifst du mir die verzogene Tür ab, das hat häufig sehr gut geklappt.» Er blieb kurz vor dem Abhang stehen, den sie nun wieder hinaufmussten. «Ich verstehe jeden, der gegangen ist, aber für mich war dieses Fleckchen hier mein glücklicher Winkel.»
Sein glücklicher Winkel. Das klang seltsam aus der Zeit gefallen und zugleich äußerst selbstbewusst. Juliane überlegte, ob sie auch einen Ort hatte, den sie so nennen könnte. Aber da war nichts.
«Möchtest du was aus dem Garten mitnehmen?», fragte Johann, als sie beim Haus waren. «Du kannst Salat und Zucchini haben und was sonst jetzt reif ist. Erdbeeren gibt es auch.»
«Wirklich?», fragte Juliane. «Fehlt dir das denn dann nicht?»
Johann lächelte. «Mir fehlt hier gar nichts.» Er deutete auf den Korb, der vor der Terrassentür stand. «Da liegt ein Messer drin. Ich suche dir inzwischen eine Tüte oder so was. Ein Kräuterbeet gibt es übrigens auch.»
Bald darauf stellte Johann die kleine Kiste, die er ihr für das Gemüse gegeben hatte, vor den Beifahrersitz in den Fußraum.
«Vielen Dank für alles», sagte Juliane, «ich melde mich.» Ihr wurde bewusst, dass sie in zwei oder drei Stunden wieder in Berlin sein würde. Und am Abend würde sie sich vermutlich wieder durch die Stellenanzeigen scrollen. Phantastische Aussichten.
Johann betrachtete sie nachdenklich. «Du kannst jederzeit wiederkommen, wenn dir danach ist», sagte er dann. «Das Zimmer oben ist frei.»
Das Wetter wurde tatsächlich schlechter, und als Juliane auf der Autobahn war, setzte leichter Regen ein. Während der Fahrt ließ sie sich Johanns Angebot durch den Kopf gehen. Das Haus lag schön, aber einsam. Von Berlin war es zu weit entfernt, um mal eben «kurz» vorbeizukommen. Dass Christian Lust hätte, sich für so ein Objekt zu engagieren, war auch nicht zu erwarten; davon abgesehen, dass er noch weniger Zeit haben würde als jetzt schon, wenn er mit seinem Start-up auf dem Markt war. Außerdem hatte ihre Mutter wahrscheinlich recht, und später wären kostspielige Renovierungsarbeiten nötig.
Als sie in Berlin angekommen war, hatte sich der würzige, frische Duft der Kräuter, die mit dem Gemüse in der Kiste lagen, im gesamten Wagen ausgebreitet. Juliane atmete tief ein. Sie würde aus den Sachen ein Überraschungs-Abendessen kochen.
Um acht Uhr war Juliane mit den Vorbereitungen fertig. Der Tisch war gedeckt, sie hatte sogar ein Tischtuch aufgelegt und eine Kerze angezündet, auch wenn sie schon ziemlich weit heruntergebrannt war. Sie hielt ihre Nase in den köstlichen Duft, der von dem Gemüse aufstieg. Gleich würde Christian kommen. Sie freute sich schon auf sein Gesicht. Und das war ja noch nicht alles.
Wie aufs Stichwort hörte sie den Schlüssel in der Tür. «Hallo!», rief Christian.
Juliane ging ihm in den Flur entgegen und umarmte ihn. «Warte mal, meine Tasche», sagte er und schob Juliane ein Stück weg, um die Umhängetasche von der Schulter zu nehmen.
Als er die Küche betrat und den schön gedeckten Tisch sah, riss er die Augen auf. «Ich hab schon …», setzte er an.
Juliane war wieder zum Herd gegangen und hatte ihn nicht gehört. «Solltest dich mal sehen!», sagte sie und lachte. «Aber du hast recht, es gibt die beste Gemüsepfanne aller Zeiten! Der Reis ist auch fertig.» Sie stellte die Pfanne auf den Tisch und füllte Reis in eine Schüssel. Christian wirkte müde. «Hattest du einen anstrengenden Tag?»
«Was? Nein, ging so.»
Beim Essen erzählte Juliane von ihrem Besuch bei Johann, während sich Christian meistenteils auf kommentierende Brummtöne beschränkte. «Sein Garten sieht genau aus wie die Cover von diesen Landlust-Heften», erklärte Juliane. «Die sollten mal ihren Location-Scout bei ihm vorbeischicken. Sogar den wirklich alten, grau verwitterten Holztisch im Garten gibt es, auf dem sich eine Handvoll frisch gepflückter Erdbeeren oder Bohnen so super ausnimmt.»
Nach dem Essen blieben sie noch bei ihrem Wein am Tisch sitzen. «Aber jetzt kommt die größte Überraschung!», verkündete Juliane und legte eine dramatische Pause ein. «Ich habe eine Lösung für deine Unternehmensfinanzierung gefunden!» Sie strahlte ihn an. «Was sagst du dazu?»
Christian zog verständnislos die Augenbrauen zusammen. «Was meinst du damit?» Nachdem Juliane ihren Plan mit der Hypothek erklärt hatte, schwieg er einen Moment. Begeisterung sieht anders aus, dachte Juliane.
«Es ist wirklich lieb von dir, dass du dir diese Gedanken machst», sagte Christian schließlich, «aber das ist nicht nötig.» Er trank einen Schluck Wein. «Mein Vater greift mir unter die Arme. Mit einem Darlehensvertrag. Deswegen waren wir gestern bei seinem Finanzberater.» Also deshalb hatte sein Vater ein Jackett getragen, als sie Christian abholen wollte. «Er hat darauf bestanden, die Sache noch mal ausführlich durchzusprechen und den Schriftsatz aufsetzen zu lassen, damit wir keinen Fehler machen. Und danach sind wir zusammen zu seiner Bank gefahren.»
«Aber warum …» – Julianes Euphorie fiel in sich zusammen – «… warum hast du mir nichts davon gesagt? Das ist doch seit Monaten dein Hauptthema.»
Christian zuckte mit den Schultern. «Bei meinem Vater weiß man eben nie. Es hätte genauso gut sein können, dass ich zu ihm komme und er es sich wieder anders überlegt hat.»
Einen Moment lang herrschte Stille in der Küche. Juliane schaute in die Kerzenflamme, die im Luftzug flackerte. «Na ja, ist doch toll», sagte sie dann. «Jetzt bist du diese Sorge los.»
«Ja», kam es von Christian.
«Du scheinst dich aber nicht besonders zu freuen.» Er sah mit dem abwesenden Blick von Menschen auf den Tisch, die mit ihren Gedanken woanders sind. Wahrscheinlich war es nicht sein Traum gewesen, seinen Vater um ein Darlehen zu bitten. Als er nicht antwortete, wollte Juliane aufstehen, um den Tisch abzuräumen.
«Warte mal.» Christian sah sie an. «Ich …», er strich sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn, «ich weiß, das ist jetzt kein guter Moment, und ich wollte auch nicht, dass es so kommt, aber ich», er atmete tief ein, «ich hab jemanden kennengelernt.»
Juliane erstarrte auf ihrem Stuhl. Die Gegenstände vor ihr schienen einen Augenblick lang merkwürdig scharf konturiert. Die Gabel, die in einem Rest Olivenöl lag, der sich ein paar Millimeter weit an den gebogenen Zinken emporschmiegte. Die winzige schwarz verkohlte Krümmung des Kerzendochts, um den die weiße Tropfenform der Flamme einen hingehauchten, regenbogenfarbenen Saum bildete. Nur vier Worte, aber sie sagten alles.
«Ich wollte schon länger mit dir darüber reden, aber ich … hab mich davor gedrückt», drang Christians Stimme an ihr Ohr.
Ohne die Situation noch ganz verstanden zu haben, fragte Juliane reflexartig: «Wie lange?»
«Was?»
«Wie lange wolltest du es mir schon sagen?» Sie sah ihn an.
Christian wand sich. «Also seit …», aber dann sprach er nicht weiter.
Juliane sprang auf und stand einen Moment lang einfach nur da. Dann lehnte sie sich an die Arbeitsfläche. «Heißt das, du hast sie nicht gerade erst kennengelernt, sondern du kanntest sie schon, als ich noch gar nicht hierhergezogen war?»
«Ja. Aber», kam es heftig von Christian, «da war noch nichts. Wir haben nur zusammen gearbeitet.»
«Also hat sie was mit eurem Start-up zu tun.»
Christian schob seinen Stuhl zurück. «Sie macht den Onlineauftritt und richtet den Webshop ein.» Er begann, in der Küche herumzulaufen.
«Wie war das noch, von wegen Arbeit und Privatleben?»
«Ich hab doch gesagt, ich wollte nicht, dass es so kommt.» Hilflos zuckte er mit den Schultern.
«Wir wollten zusammenbleiben, deswegen bin ich doch nur nach Berlin gezogen.» Julianes Stimme klang zittrig.
«Es ist», er schien nicht zu wissen, wie er sich ausdrücken sollte, «es ist etwas ganz anderes als mit uns.»
Juliane dachte an die ständigen Termine und Besprechungen, die Christian in der letzten Zeit gehabt hatte. Wie viele davon hatte er mit dieser Frau verbracht? Auch in der Wohnung hatten mehrere Teamsitzungen stattgefunden. «Sag mal», sie richtete sich höher auf, «war sie bei den Besprechungen hier dabei? In der Wohnung, meine ich?»
«Es war nicht so, wie du denkst, zu der Zeit gehörte sie einfach nur zum Team.» Die Kerze flackerte, als Christian weiter auf und ab lief.
«Das heißt also, dass ich womöglich sogar den Pizzakarton dieser Frau zum Müll getragen habe, mit der es anscheinend keine Probleme gibt, wenn Arbeit und Privatleben nicht getrennt werden!»
«Bitte, lass das doch, ich weiß, dass das ein blöder Spruch war.» Er drehte mit einer heftigen Bewegung zu ihr um, und in dem Luftstrom, den er dabei erzeugte, verlosch die Flamme. «Können wir nicht vernünftig reden?»
«Vernünftig?», rief Juliane. «Bei dir bricht die große Liebe aus, aber ich soll vernünftig sein, wenn du mit mir Schluss machst? Da passt doch was nicht zusammen, oder?»
«Ja.» Christian seufzte. «Du hast recht.»
Je klarer Juliane wurde, was das alles bedeutete, desto mehr regte sie sich auf. «Ich gebe meine Wohnung auf und ziehe mit dir zusammen, obwohl ich Berlin nicht gerade toll finde, damit du mir ein paar Monate später erklärst, du hast eine andere! Da musst du doch schon vorher geahnt haben, dass dir nicht mehr so viel an uns liegt, sonst hätte das gar nicht passieren können!»
«Manchmal läuft es eben nicht so, wie man denkt.»
«Hast du eigentlich eine Ahnung, wie bescheuert ich mich gerade fühle?», fragte Juliane. «Und gestern Abend?», fuhr sie aufgebracht fort. «War sie gestern Abend hier?»
«Nein.»
«Und du warst auch nicht hier, oder?»
Er sah sie an. «Nein.»
1926
«Hier ist Ihr Platz», sagte die Erzieherin, «Ihnen gegenüber sitzt Mademoiselle Roseanne Arnaud.» Sie hob die Stimme, um von den übrigen Schülerinnen im Speisesaal gehört zu werden. «Meine Damen, das ist unsere neue Mitschülerin, Mademoiselle Marianne Lenzen.»
Mademoiselle Roseanne begnügte sich mit einem Nicken, als sich Marianne setzte. Überhaupt wirkte sie sehr ernst. Sie hatte glattes dunkelbraunes Haar, ein regelmäßiges Gesicht mit einer kräftigen, geraden Nase und volle, ideal geschwungene Lippen. Am auffälligsten aber waren die großen, etwas weit auseinanderstehenden braunen Augen unter der hohen Stirn, deren Blick sich jetzt auf ihren Teller senkte.
Marianne sah sich um. Der Speisesaal war weitläufig. Auf den Tischen, an denen etwa vierzig Internatsschülerinnen saßen, lagen weiße Tischdecken, und durch die hohen Fenster flutete das Licht herein. Wie im ganzen Saal war auch am anderen Ende ihres Tisches eine rege Unterhaltung im Gange. Mariannes Französisch war ausgesprochen mäßig, aber sie verstand genug von dem Gespräch, um zu wissen, dass die gezierten Gesten und das Gekicher nur allzu gut dazu passten.
«Hier bin ich also gelandet, selber schuld», murmelte sie auf Deutsch. Ihr Gegenüber sah sie schweigend an. Marianne dachte an das große Haus in der Bayernallee in Berlin und ihr freies Leben dort. Stattdessen musste sie sich nun ein Zimmer mit drei anderen Mädchen aus diesem Hühnervolk teilen, und einen Reitstall gab es auch nicht. Lustlos nahm sie die Gabel und stocherte auf ihrem Teller herum.
«Mademoiselle Marianne», erklang die Stimme der Erzieherin neben ihr, «wir benutzen das Besteck für die jeweiligen Gänge so, wie es in der Reihenfolge von außen nach innen ausgelegt ist.» Vom anderen Ende des Tisches wurden verstohlene Blicke herübergeworfen.
«Das weiß ich», sagte Marianne. Aber sie hatte nicht aufgepasst, weil sie an ihre Ritte durch den Grunewald gedacht hatte.
«Das freut mich», gab die Erzieherin zurück und setzte ihren Weg durch den Saal fort.
Marianne verdrehte die Augen und nahm die andere Gabel. Das Essen war gut, etwas anderes wäre in dieser kostspieligen Institution auch undenkbar gewesen. Der erste Gang hatte in einer klaren Gemüsesuppe bestanden, als zweiten gab es Tafelspitz mit gedämpften Kartoffeln. Sie sah zum Fenster hinaus. Das Internat stand auf einer Anhöhe über dem Genfer See, und das Sonnenlicht flirrte über dem Wasser. Dann spürte sie, dass Roseanne sie ansah. Als sie ihr den Kopf zuwandte, ließ Roseanne ihren Blick seitlich über Mariannes Schulter wandern. Die Erzieherin war wieder in ihre Nähe gekommen. Marianne setzte sich aufrechter hin, und die Erzieherin ging kommentarlos vorbei.
«Warum selber schuld?», fragte Roseanne.
«Du kannst also sprechen», sagte Marianne.
Roseanne sah sie nur auffordernd an.
«Weil mir mein Vater die Entscheidung überlassen hat», gab Marianne zurück.
«Er hat dich selbst entscheiden lassen, ob du ins Internat gehst?», fragte Roseanne ungläubig.
Marianne legte ihr Besteck auf den Teller. Gabel und Messer parallel auf zwanzig nach vier, versteht sich. «Na ja», sagte sie, «Schule war bisher nicht gerade blendend bei mir. Ich war lieber draußen und so.» Sie warf einen Blick zum Fenster. «Nach meinem letzten Zeugnis hat er gesagt, ich kann mir aussuchen, ob wir wieder eine Hauslehrerin nehmen» – so wie sie das Gesicht verzog, besaß sie mit Hauslehrerinnen einschlägige Erfahrungen – «oder ob ich für die letzten Schuljahre in ein gutes Internat gehe und meine Wissenslücken fülle. Weil Bildung wichtig sei und weil ich selbst bestimmen könne, ob ich später imstande sein wolle, eigene, durchdachte Entscheidungen zu treffen, oder ob ich andere für mich denken lassen wolle.» So hatte er sich ausgedrückt.
«Mein Vater ist ziemlich liberal eingestellt», fügte sie auf Roseannes erstaunten Blick hinzu, «und nach seiner Argumentation konnte ich ja gar nicht anders, als hier was lernen zu wollen.» Sie setzte ein klägliches Grinsen auf. «Ich hasse es, wenn er an meine Vernunft appelliert!»
Stirnrunzelnd nahm sie die Dessertgabel und stach auf ihre Nachspeise ein. «Aber Klavierunterricht muss ich nicht nehmen», fügte sie kriegerisch hinzu, dieses Mal mit einem Gesichtsausdruck, der darauf hinwies, dass sie mit dem Klavierspiel noch viel einschlägigere Erfahrungen gemacht hatte.
Sie wartete auf eine Bemerkung. Und als von Roseanne nichts kam, fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. «Meine kleine Schwester Ruth lernt es mit Begeisterung. Das hat sie von unserer Mutter. Die hatte richtige Verehrer, die zu uns nach Hause kamen, um sie spielen zu hören.» In dem großen Empfangszimmer zu Hause stand ein schwarz glänzender Konzertflügel, an dem ihre Mutter musiziert hatte. Ab und zu hatte sich ihr Vater danebengestellt, um die Noten umzublättern, aber das war eigentlich nicht nötig gewesen, denn ihre Mutter hatte sämtliche Stücke auswendig gekonnt.
«Hatte?»
Manchmal war Marianne nicht sicher, ob solche frühen Erinnerungen an ihre Mutter überhaupt echt waren oder vielmehr aus Erzählungen von anderen oder von den wenigen Fotografien stammten, die es von ihr gab. Nur bei einer Erinnerung täuschte sie sich bestimmt nicht. Ihre Mutter hatte auf einem Stuhl gesessen und Marianne, die vor ihr stand, eine Schleife ins Haar gebunden, die aus demselben blau-weiß gestreiften Stoff genäht war wie ihr Kleid. Noch jetzt konnte Marianne die zärtliche Bewegung in sich wachrufen, mit der ihre Mutter ihr die Locken von der Schläfe nach hinten gestrichen hatte. Sie sah Roseanne an. «Meine Mutter ist bei Ruths Geburt gestorben.»
Nach dem Essen bot Roseanne an, Marianne herumzuführen, damit sie das Internat kennenlernte. In dem villenartigen Hauptbau befanden sich der Speisesaal, ein Musiksalon und die Schlafzimmer. Die Unterrichtsräume waren in einem prächtigen Anbau untergebracht. Als sie durch den Garten gingen, erzählte Marianne gestikulierend von den Zumutungen des Mädchenlyzeums, das sie in Berlin besucht hatte. Die vernichtenden Marianne-ist-mit-den-Gedanken-nicht-bei-der-Sache-Kommentare neben dem «Ungenügend» in Betragen. Während sie ihre todlangweiligen Klassenkameradinnen von damals nachahmte, wie sie mit stolzgeschwellter Brust ihre hochgelobten Eigener-Herd-ist-Goldes-wert-Stickbordüren mit nach Hause nahmen, kamen sie an einer offenen Rosenlaube vorbei, in der eine Mitschülerin am Tisch saß und einen Brief schrieb. Sie blickte auf, als Roseanne vor der Laube in lautes Gelächter ausbrach. Wahrscheinlich ging der Briefeschreiberin durch den Kopf, dass sie Roseanne noch nie so hatte lachen hören.
Roseanne war in diesem recht fortschrittlichen Internat, in dem die jungen Damen auf eine Ehe in gehobenen Kreisen, aber auch auf ein mögliches Studium vorbereitet wurden, eine Einzelgängerin. Sie blieb einsilbig, wenn die anderen begeistert neue Kleider vorführten oder mit geröteten Wangen von den Söhnen befreundeter Familien erzählten, mit denen sie beim Opernbesuch ein paar Worte gewechselt oder unter den Augen ihrer Mütter eine Partie Croquet gespielt hatten.
Doch es herrschte Verständnis dafür, dass Roseanne in diesem Schwarm lebensbejahender Mädchen an der Schwelle des Erwachsenenalters wie ein Fremdkörper wirkte. Sie hatte in ihrer Kindheit Schreckliches erlebt, und das musste die Erklärung sein. Alle wussten von jenem Karfreitag im Kriegsjahr 1918, an dem Roseanne mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Wintergarten ihres Hauses war, als das Gebäude einen Volltreffer des Paris-Geschützes abbekam. Diese furchterregende Waffe besaß eine Reichweite von hundertdreißig Kilometern. Aus heiterem Himmel und fern der Front gingen die schweren Sprenggranaten nieder. Und die Deutschen benutzten dieses Geschütz nicht, um den Frontverlauf zu ihren Gunsten zu verändern, sondern nur, um die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.
Der Einsturz des Hauses riss den hohen Wintergarten aus Glas und Eisen mit. In ohrenbetäubendem Lärm lösten sich die festen Konturen auf, die Eisenträger knickten, und die Fensterscheiben barsten. Roseanne wurde verschüttet, ihr Bruder aus dem Gebäude geschleudert. Und ihr Bruder war es auch, der sich von einer Frau in der Menge losriss, die fassungslos vor der lodernden Ruine stand. Charles verschwand in der mörderischen Wolke aus Rauch und Staub und tauchte nicht wieder auf. Während die Alarmglocke hörbar wurde, mit der sich ein Löschwagen näherte, sahen sich die Nachbarn mit traurigem Kopfschütteln an. Doch sie hatten Charles zu früh aufgegeben, denn gleich darauf zeichnete sich eine Gestalt in dem Qualm ab, die etwas voranhievte. Ein beherzter Mann sprang vor, nahm Roseanne auf die Arme und zog sich eilig zurück, während hinter ihm die Decke des Salons einbrach, an den der Wintergarten angegrenzt hatte. Erst die Feuerwehrmänner konnten Charles befreien, dessen linkes Bein unter einem abgestürzten Deckenbalken des Salons eingeklemmt worden war.
Ihre Mutter wurde erst später gefunden. Die explosionsartig auseinanderjagenden Scherben der großen Fensterscheiben waren als schartige Sternenzacken zu Geschossen geworden. Eines davon hatte sich tief in ihre Brust gebohrt. Um die Stelle, an der die Scherbe eingedrungen war, lag ein feuchter rötlicher Hof, während ihr Kleid und ihr gesamter übriger Körper mit weißem Staub überzogen war, auch ihr Gesicht, ihr Haar und ihre offenen Augen. Sie sah aus wie eine der griechischen Marmorstatuen aus der Antikensammlung des Louvre.
Charles hinkte seitdem, und Roseanne zog sich in sich selbst zurück.
«Sie ist schwermütig geworden, kein Wunder», tuschelte ihre Tante Marthe ihren Freundinnen beim Tee zu, «das wächst sich hoffentlich aus. Ein Glück, dass sie noch das Bankvermögen haben.»
Das Bankvermögen ihres Vaters, der 1916 bei Verdun gefallen war, gab es noch, ebenso wie sein Handelsunternehmen, das von einem Treuhänder geführt worden war, bis Charles seine Ausbildung beendet hatte. Alles andere aber hatten die Geschwister beim Untergang der elterlichen Villa verloren. Kaum ein Erinnerungsstück hatte gerettet werden können.