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True Crime Stories von Joe Bausch, dem Experten für Verbrechen und das Böse »Von unvorstellbarem Ausmaß«, so werden Gewaltakte mit tödlichem Ausgang in der Öffentlichkeit häufig genannt. Nur wenige Menschen kennen persönlich so viele Schwerverbrecher wie der langjährige Gefängnisarzt und True-Crime-Spezialist Joe Bausch. In seinem neuen Buch geht er der Frage nach, wie Gewalttaten entstehen. Er erzählt den Fall von der »Eislady«, aus Portugal, die sich von ihren dominanten Männern nur durch Mord zu befreien wusste. Oder vom dreifachen Familienvater, der auf Jersey elf Jahre lang ein Doppelleben als Sexualstraftäter führen konnte. Immer zeigt Bausch faszinierende Täterprofile und subtile Kausalitäten auf, die auch etwas vom zerstörerischen Drive unserer Gesellschaft offenbaren.
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Maxima Culpa
Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitete über dreißig Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort.
Bertram Job, 53, hat die Kriminalfälle von Ingo Thiel aufgeschrieben. Er ist Buchautor und Journalist und hat unter anderem für das SZ-Magazin, Geo und Die Zeit Gesellschaftsreportagen verfasst.
Joe Bausch kratzt nicht bloß an der Oberfläche. Wie in seiner Rolle als Gerichtsmediziner Dr. Josef Roth im Kölner Tatort legt er auch als beredter Autor die tieferen Schichten menschlichen Verbrechens frei. Das gilt für die gelernte Rechtsanwältin aus dem Badischen, die durch eine Trennungserfahrung zur furchtbaren Amokläuferin wird, ebenso wie für den Eigenbrötler, der Arbeitskollegen in einem westfälischen Betrieb die Pausenbrote vergiftet, oder für ein sadistisches Mörderduo aus dem Westerwald. Der wahre Schrecken dieser authentischen Kriminalfälle liegt für ihn nicht in den monströsen Dimensionen, sondern in ihrer Psychogenese. Denn sie werden alle im Kopf ausgedacht – von eher unscheinbaren Menschen, die sich an einem kritischen Punkt in blutige Anfänger und Serienmörder verwandeln.
Joe Bausch und Bertram Job
Jedes Verbrechen beginnt im Kopf
Ullstein
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022 Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagfoto: © Thea Weires Autorenfoto: © Wolfgang SchmidtE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2693-1
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Die Autoren / Das Buch
Titelseite
Impressum
Das Böse hat viele Gesichter – ein Vorwort
Toxische Männer
Hinter einem roten Vorhang
Die Beifahrerin
Fatale Verbindungen
Blutsschwestern
Bis dass ein Tod euch scheidet
Der trockene Tod
Im Tunnel
Der Tod kommt im weißen Kittel
Es geht nicht aus dem Kopf
Nachwort
Anmerkungen
Social Media
Cover
Titelseite
Inhalt
Das Böse hat viele Gesichter – ein Vorwort
Vor ein paar Jahren habe ich von einer ziemlich ausgefallenen Statistik erfahren. Demnach begegnet jeder von uns während seines Lebens im Durchschnitt rund sechsunddreißig Mördern, einundfünfzig Sexualstraftätern und Vergewaltigern sowie rund dreihundertsiebzig Psychopathen. Mancher wird sich die Frage stellen, mit welcher Art von Wahrscheinlichkeitsrechnung diese Zahlen ermittelt worden sind. Für mich aber haben sie ohnehin kaum erschreckende Wirkung. Während meiner zweiunddreißig Berufsjahre als Anstaltsarzt entsprachen die Zahlen grob überschlagen dem Pensum einer gewöhnlichen Arbeitswoche mit zwei »großen Sprechstunden« in einem Hochsicherheitsgefängnis für besonders gefährliche Verbrecher. Hier bin ich Tag für Tag meiner Verantwortung für zuletzt eintausendeinhundertfünfzig Insassen nachgekommen und habe dabei Psychopathen und Narzissten, Sadisten und Pädophile, Impuls-, Affekt- und Triebtäter sowie eher unauffällige Delinquenten kennengelernt. Sie waren meine Patienten und, wenn sie nicht schwiegen, auch meine Gesprächspartner.
Der stete Austausch hat mir auch immer wieder klargemacht, wo jedes Verbrechen in erster Linie seinen Ursprung nimmt: im Kopf von Menschen, die den Kampf gegen mächtige Triebe, Defizite und Störungen in ihrer Persönlichkeit, wenn überhaupt, dann nur durch langwierige, professionelle Hilfe gewinnen können. In vielen Fällen gelingt das nicht. Tatsache ist ja, dass knapp zehn Prozent der Straftäter hierzulande für über fünfundsiebzig Prozent der schwersten Verbrechen sowie das damit verbundene Leid der Opfer und ihrer Angehörigen verantwortlich sind. Dieser harte Kern besteht aus vorwiegend notorischen Täter:innen, deren Mindset sich in der Regel nahezu unbemerkt – und unbehandelt – von den Vorstufen einer schweren Persönlichkeitsstörung bis zu deren Vollbild entwickelt hat. Dann begehen sie entsetzliche Verbrechen, verursachen furchtbares Leid – und laden allerschwerste Schuld auf sich.
Quia peccavi nimis cogitatione, verbo et opere: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Auf Deutsch: Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken: durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine allergrößte Schuld. So heißt es im »Confiteor«, das nach dem »Vaterunser« das bekannteste Gebet in unserem überwiegend christlich geprägten Kulturkreis ist. Dieses Ritual, Verfehlungen in Gedanken, Worten und Werken einzugestehen, ist den meisten von uns vertraut – einschließlich der Büßergeste, sich dabei zum Zeichen der eigenen Verantwortung dreimal mit der Faust auf die Brust zu schlagen. Sie zeigt Reue und zielt auf Vergebung ab. Das gilt bis heute, weil auch das moderne, auf Resozialisierung ausgerichtete Strafrecht das Böse in uns nicht verhindern kann.
Der ewige Wettstreit zwischen Gut und Böse, Eros und Tod ist seit jeher eines der großen Themen in unserer Kultur. Er beschäftigt unser Denken, Fühlen und Handeln seit dem ersten Sündenfall und lässt uns einfach nicht los. Nicht ganz zufällig wurde mir immer wieder diese eine Standardfrage zu meiner Arbeit im Knast gestellt: »Was fasziniert Sie denn so am Verbrechen, dass Sie sich die längste Zeit Ihres Lebens mit Straftätern und Verbrechern der übelsten Sorte umgeben und beschäftigt haben?«
Anders als vermutet, war es bei mir jedoch nicht die Faszination für das Verbrechen, die mich über dreißig Jahre im Knast ausharren ließ. Sondern zum einen die Neugier des Arztes, dem sich dadurch die Gelegenheit bot, mehr als nur einen flüchtigen Blick hinter die Mauern zu werfen und mutmaßliche wie verurteilte Straftäter aus unmittelbarer Nähe kennenzulernen. Und zum anderen auch das besondere Interesse des Schauspielers, der hinter jeder Fassade oder Maske nach dem Alter Ego sucht und mehr Aufmerksamkeit für gestörte, getriebene, gewalttätige, gescheiterte und gebrochene Charaktere aufbringt als andere. Schließlich ist es für jeden Darsteller die größte Herausforderung, die Rolle eines Bösen möglichst echt und überzeugend zu geben sowie der Figur ein überraschendes Spektrum zu verleihen.
Selbstverständlich hat mich auch die Frage beschäftigt, wie es mancher Delinquent über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg schafft, seine Umgebung so gründlich zu täuschen, wie es einem Schauspieler gerade mal für die Dauer eines Theaterstücks oder eines Filmes gelingt. Was gehört mehr zu so einem Charakter, was kostet ihn mehr Kraft: die Rolle des hilfsbereiten Nachbarn, aufmerksamen Familienvaters und liebevollen Partners oder die des sadistischen Kinderschänders und Serienmörders? Fällt es ihm leicht, immer wieder hin- und herzuswitchen? Hat er manchmal sogar Angst vor dem, wozu ihn seine Perversion treibt? Wie lange bleiben einem Mörder die von Angst und Todesqual gezeichneten Gesichter seiner Opfer vor Augen? Wie lebt man mit so einem Geheimnis, und wie fühlt es sich an, wenn einem im Gerichtssaal die Maske vom Gesicht gerissen und man mit der eigenen teuflischen Fratze dahinter konfrontiert wird? Empfindet so jemand tatsächlich Scham, Einsicht und Reue, oder sind das auch nur gefällige Posen, hinter denen sich hauptsächlich Selbstmitleid und die Hoffnung auf ein mildes Urteil verbergen?
Auf etliche dieser Fragen habe ich bis heute keine schlüssigen Antworten bekommen, und das war wohl einer der Gründe dafür, warum ich es so lange hinter Gittern ausgehalten habe. Inzwischen weiß ich, dass ein Sadist auch im Knast zunächst ein Sadist bleibt, ein Psychopath eben psychopathisch, ein Pädophiler pädophil und ein Narzisst sich selbst treu. Nur dass man in einem Hochsicherheitsgefängnis alles dafür tut, solche Menschen am Ausleben ihrer Fantasien, Impulse und Affekte zu hindern.
An Nachschub mangelt es dem Vollzugssystem nicht: Während die Zahl der schweren Gewaltdelikte tendenziell zurückgeht, wächst der Katalog der kriminellen Delikte weiter an. Für eine ganze Reihe davon gelingt es fast allen von uns, ein gewisses Verständnis, ja sogar etwas Nachsicht aufzubringen. Bei anderen fällt das im Vergleich viel schwerer, und bei einigen gelingt es uns nur mit erheblicher Mühe, das impulsive Bedürfnis nach Rache und Vergeltung zu unterdrücken. Diese Einstellungen schimmern auch immer wieder durch, wenn ich auf meine Aufgabe im Strafvollzug angesprochen werde.
Viele tun sich eben schwer mit den Urheber:innen grausamster Verbrechen, die über die Grenzen ihrer Vorstellungskraft hinausgehen. Das gilt selbst für manch routinierten Staatsanwalt, Kripobeamten oder Richter. Viele von ihnen können im kleinen Kreis ihre Genugtuung kaum verhehlen, wenn sie erfahren, wie etwa Kinderschänder und -mörder in der Knasthierarchie brutal nach unten durchgereicht werden. Selbst denen, die sich von Berufs wegen tagtäglich mit schwersten Straftaten beschäftigen, stockt gelegentlich noch der Atem, wenn sie mit den Einzelheiten monströser Taten konfrontiert werden – und mit Verbrechern, die allergrößte Schuld, also maxima culpa, auf sich geladen haben.
Von ihnen und all dem, was sie dazu gebracht hat, wird in den zehn nachfolgenden Geschichten exemplarisch erzählt. Eines ist ihnen allen gemein: Sie zeigen, dass jedes Verbrechen im Kopf beginnt und das Böse viele Gesichter hat. Es variiert von entsetzlich banal über furchtbar grausam bis wahnsinnig krank – und kann uns in der Tat überall begegnen.
Regeln und absperren, sichern und ableiten: Das sind die vordinglichsten Funktionen der Qualitätsschwerarmaturen, die in dem über siebzig Jahre alten mittelständischen Unternehmen im Kreis Gütersloh hergestellt werden. Hier fertigt der Großteil von über siebenhundert Mitarbeitern vor allem Absperr-, Regulier- und Rückschlagventile für Industrieanlagen, den Schiffsbau und die Gebäudetechnik. Die Produktion der mannigfaltigen Komponenten und Systeme ist so komplex wie das Ensemble der Werkshallen, die sich da unweit der A33 aneinanderreihen, irgendwo zwischen Bielefeld und Paderborn. Es braucht seine Zeit, sich in dieser Landschaft aus Flachdächern erst mal zu orientieren.
Im Grunde ist es aber nicht notwendig, dass jede und jeder hier den Durchblick übers Gesamte hat. Auch ein Mitarbeiter wie Stefan Rösler (Name geändert) kennt sich in erster Linie nur in seinem Arbeitsbereich aus. Dort, im Werkzeugbau, wandelt und wirkt er mit einer überschaubaren Anzahl von Kollegen, die sich schon aus Gewohnheit vertrauen. Jeder von ihnen macht seinen Kram und sorgt dafür, dass es an seiner Stelle nicht hakt. Und jeder ist während der drei Schichten etwa im gleichen Rhythmus. Der Austausch bleibt in aller Regel auf die Pausen beschränkt. Dann kommen in einer abgetrennten Ecke der Abteilung Zeitungen, Thermoskannen und Brotdosen auf den Tisch – sowie die neuesten Ansichten zur großen Politik, zu Kollegen und Vorgesetzten und den Fußballern von Arminia Bielefeld.
Im Sommer 2016 aber ist plötzlich etwas anders für Rösler: Dem Endzwanziger aus dem Ort schmeckt das mitgebrachte Mineralwasser nicht mehr. Es hinterlässt beim Trinken einen süßlichen Geschmack, wie er findet. Außerdem muss er sich nach ein paar Schluck öfter mal übergeben. Eine Erklärung dafür findet er nicht – nur einen Vorgesetzten, dem es manchmal genauso geht. Trotzdem gibt er erst mal nichts darauf. Er will ja nicht gleich »die große Welle« machen oder andere verdächtigen – schon gar nicht ohne konkreten Anhaltspunkt.
Doch der seltsame Geschmack ist immer wieder mal da, und dazu kommen irgendwann erste Schmerzen. Rösler spürt sie im Rücken, in dem Bereich, wo die Nieren sind. Aber zum Arzt geht ein echter Kerl wie er deshalb noch lange nicht. So dauert es etliche Monate, bis er mit akuten Beschwerden ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dort stellen die Ärzte fest, dass die beiden Organe nur noch zu gut zwanzig Prozent funktionsfähig sind. Das gilt ganz ähnlich für ihn selbst: Der bisher so zuverlässige, robuste Mann fällt wegen zunehmender Schwäche und etlicher Untersuchungen nun häufiger aus.
Ab März 2018 ist dann ab und zu ein ominöses helles Pulver auf seinem Pausenbrot. Das ist der Punkt, an dem Rösler endlich Betriebsleitung und Polizei alarmiert. Letztere bringt mit Zustimmung des Betriebsrats bald eine Videokamera in einem Versorgungsschacht an. Sie ist auf die Pausenecke der Abteilung gerichtet und zeichnet eines Tages im Mai einen regelrechten Sabotageakt auf. Der Geschäftsführer und die Männer vom Betriebsrat wollen ihren Augen kaum trauen, als ihnen die Bilder vorgespielt werden.
Da tritt ein Mann auf den Plan, der Röslers Rucksack öffnet, um dessen Brotdose herauszuholen und zu öffnen. Er klappt die Stulle auf und streut ein helles Pulver, das er aus einem kleinen Umschlag holt, auf den Belag. Dann legt er die Stulle wieder in die Dose und die Dose in den Rucksack, bevor er eilends verschwindet. Die ganze Szene dauert nur wenige Sekunden, aber ihr Akteur ist in den Aufzeichnungen einwandfrei zu erkennen – und das ist eine große Überraschung für alle.
Mit Lothar Pohl (Name geändert) hat Rösler eigentlich nie richtig Streit gehabt. Voraussetzung dafür wäre ja, dass man ab und zu miteinander spricht. Aber der hagere Mitfünfziger, der deutlich jünger wirkt, ist in über fünfunddreißig Betriebsjahren ein Schweiger vor dem Herrn geblieben. Ein »eigener Pitter«, wie man auf Westfälisch sagt, der am liebsten die Kopfhörer aufbehält, um nicht ansprechbar zu sein, und seine Pausen allein am Arbeitsplatz verbringt statt in Gesellschaft. Ihn einzubeziehen ist ein aussichtsloses Unterfangen geblieben. Selbst wer ihn im Vorbeigehen grüßte, bekam außer skeptischen Blicken nie etwas zurück.
In diesem Stil hat der Mann eine unsichtbare Mauer um sich herum errichtet, und wer da durchdringen will, muss sich auf einiges gefasst machen. Einen Kollegen, der ihn mal »Lothi« rief, hat er gleich am Kragen gepackt und zusammengefaltet. Eine junge Mitarbeiterin, die ihn um Hilfe bat, brüllte er postwendend an: »Kümmer dich gefälligst selbst drum!« Und wenn die Männer mit dem Gabelstapler ihr Material nicht auf Kante genau bei ihm abstellten, schickte er ihnen wüste Beschimpfungen hinterher. Das spricht sich herum: Hier ist einer offensichtlich immer knapp unterm Siedepunkt. Ganz kurze Lunte, wie man hinter seinem Rücken flüstert.
Aber warum nur? Eine Frau, zwei Kinder und ein Eigenheim in Bielefeld: Viel mehr als diese Basisdaten ist von Lothar Pohl kaum bekannt geworden im Betrieb. Darüber hinaus wissen Rösler und Kollegen der Polizei allenfalls noch zu erzählen, dass er mit dem Fahrrad zur Arbeit kam. Jeden Tag zwanzig Kilometer hin, bei Wind und Wetter, und zwanzig Kilometer zurück; das wurde gnadenlos durchgezogen. So einer kommt weder zur Betriebsfeier noch zum Straßenfest in seiner Nachbarschaft. So einer erklärt sich auch nicht, wenn die Polizei ihn nach Motiven für seine lebensgefährlichen Attacken fragt. Die Verhaftung durch vier Zivilbeamte an seinem Spind, kurz vor der Spätschicht, hat er stumm über sich ergehen lassen.
Dass er den Giftanschlag auf Rösler nicht leugnen kann, ist Pohl völlig klar. Außerdem kommen jetzt noch weitere Vorfälle ans Tageslicht, die vermutlich ebenfalls auf sein Konto gehen. Zum Beispiel die plötzliche Erkrankung eines Kollegen aus der Abteilung, er kam mit Krämpfen und Magenblutungen ins Krankenhaus. Nachdem seine Nieren im Frühjahr 2018 komplett versagten, muss sein Blut nun dreimal die Woche an einer Dialysemaschine gereinigt werden. Oder das plötzliche Siechtum jenes Werksstudenten, keine dreißig Jahre alt, der zum Sommer 2016 mit einer schweren Quecksilbervergiftung und akuten Hirnschäden eingeliefert wurde. Er liegt seit zwei Jahren im Wachkoma: die Augen geöffnet, aber sonst ohne jeden eigenen Impuls.
Eindeutige Indizien, wenn nicht Beweise hat die Polizei schon vor der Verhaftung sichergestellt. Sie ergeben eine lange Spur. Vor rund acht Jahren hat der Einzelgänger nachweislich damit begonnen, sich in einem Kellerraum ein wahres Chemielabor einzurichten. Die Vorräte an Quecksilber, Bleiacetat, Kadmium und anderen Stoffen würden Schätzungen zufolge ausreichen, um die gesamte Bevölkerung von Bielefeld zu vernichten. Dazu finden sich im Keller auch Grundlagenwerke wie die mit eigenen Notizen gespickten Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft von 1903, etliche Reagenzgläser in verschiedenen Größen und mehrere Goldwaagen. Alles, was ein Giftmischer braucht.
Aber warum gerade diese Kollegen, und warum weisen bei anschließenden Untersuchungen dann auch die Frau des Täters und ihre beiden Kinder alarmierende Quecksilberwerte im Körper auf? Hat da einer die ganze Menschheit um sich herum peinigen und über kurz oder lang vernichten wollen? Die Berichte in den Regionalzeitungen, die sich auf den Fall stürzen, können keine schlüssigen Antworten geben. Das gilt ganz ähnlich für den Prozess, der zum Winter 2018 am Landgericht Bielefeld beginnt. Dort soll sich der gelernte Industrieschlosser wegen heimtückischen und besonders grausamen versuchten Mordes in mehreren Fällen verantworten – während man in über zwanzig weiteren plötzlichen Todesfällen im Unternehmen seit der Jahrtausendwende vorsichtshalber ermittelt.
Der Angeklagte selbst hat sich bereits im Vorfeld geweigert, mit den Psychiatern zu reden, die ein Gutachten über seine Persönlichkeit anfertigen sollen. Auch mit Anwälten spricht er nicht. Das beharrliche Schweigen wird auch während der Verhandlungen nur ein einziges Mal gebrochen. Am vorletzten Tag, nach dem abschließenden Plädoyer seiner beiden Verteidiger, gibt Pohl tatsächlich einen vollständigen Satz zu Protokoll. Er lautet: »Ich schließe mich den Ausführungen meiner Verteidigung vollumfänglich an.«
Es ist ein kleiner, drahtiger Mann mit einem getrimmten Vollbart, der da völlig ungerührt zwischen den beiden Pflichtanwälten sitzt, und mancher Beobachter fragt sich, ob ihn das Geschehen im Saal überhaupt interessiert. Dabei sind die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft erheblich. Sie werfen ihm vor, dass er seine Kollegen in unregelmäßigen Abständen mit Quecksilberverbindungen vergiftet habe, um deren Schmerzen und Qualen mitzuerleben. Ein Forscher von eigenen Gnaden, der Privatstudien über die Wirkung toxischer Stoffe am lebenden Objekt betreibt. Und das Feldexperiment ungerührt fortsetzt, während die Probanden links und rechts von ihm schwerstgeschädigt zusammenbrechen.
Mangelnde Auffassungsgabe kann nicht dahinterstecken. Bekannte aus der Jugendzeit versichern Journalisten, dass hinter der stillen Fassade ein überdurchschnittlich intelligenter Geist sitzt. Pohl imponierte allen mit ausgeprägtem musischem Interesse und viel Leidenschaft für anspruchsvolle Filme. Er verfügte schon früh über eine umfassende Allgemeinbildung und ein ausgeprägtes Talent zum Tüfteln. So wusste er als Schüler aus ein paar Glasscheiben ein Teleskop zu basteln und lieferte im Deutschunterricht oft herausragende Arbeiten ab. Nicht selten forderte ihn der Lehrer auf, sie vor der Klasse vorzutragen. Dann las er mit hochroten Wangen vor.
»Er schrieb wie ein Erwachsener, pointiert, mit gewaltigem Wortwitz«, schildert ein früherer Mitschüler einem Reporter des Stern. Vor dem Hintergrund war es umso tragischer, dass ihm gleichzeitig eine Rechtschreibschwäche zusetzte. Dazu kommt offenbar noch ein anderes Defizit: Lothar Pohl findet seit je einfach keinen Weg, aus sich herauszugehen. Er kann nicht recht vermitteln, was ihn bewegt, und schert sich umgekehrt auch wenig darum, wie es anderen geht. Der Mangel an Empathie und die Unfähigkeit, Konflikte auszutragen, schränken den Kreis seiner Bekannten über die Jahre immer mehr ein. Zur Hochzeit mit einer Frau aus Bremen lädt er kaum noch eigene Freunde ein. Auf Familientreffen spielt er später lieber mit Kindern von Verwandten, als sich unter die Erwachsenen zu mischen.
Was ihm diese Frau bedeutet, wie er sie kennengelernt hat: All das oder gar mehr aus dem Innenleben hat auch der Schulfreund nie erfahren. Ihm habe Pohl zu Beginn der Liaison bloß gesagt: »Ich bin jetzt öfter in Bremen.« Die knappe Diktion war typisch für das bisschen Nähe: »Mit Lothar war man zusammen, ohne viel zu sprechen.«
Das kann man schrullig, verklemmt oder so unangenehm finden, dass man ganz pragmatisch in den Meide-Modus wechselt. So wie es in Pohls Betrieb oder auch in der Wohnsiedlung nahe Bielefeld geschieht. Dort hat eine Nachbarin am Morgen nach einem kleinen Streit einmal lauter Nägel auf ihrem Rasen entdeckt – so hinterrücks ausgestreut wie das Bleipulver auf den Pausenbroten. Man kann darin aber auch das stille Drama des gewaltbereiten Soziopathen sehen. Einer dissozialen Persönlichkeit also, die kein Mitgefühl kennt und nur ihre eigenen Ziele verfolgt. Allzu schnell gewillt, sich über die Bedürfnisse der anderen, allgemeine Konventionen, Normen und Gesetze hinwegzusetzen.
Die eingebaute Rücksichtslosigkeit macht aus dem einen Soziopathen unter Umständen einen durchsetzungsfähigen Geschäftsführer mit einem sechs- bis siebenstelligen Jahresgehalt – und aus dem anderen einen skrupellosen Kriminellen. Es kommt oft nur darauf an, wie clever oder charmant, dominant oder manipulativ er mit seiner Umgebung umzugehen weiß. Manche schaffen es, sich nach oben durchzubeißen; andere werden, wenn das nicht gelingt, völlig unscheinbar. So wie der introvertierte Lothar Pohl, über den der Personalleiter des Armaturenherstellers zum Reporter des Spiegel sagt: »Wenn es eine graue Maus gab, war Lothar unter den Grauen die Graueste.«
Hinter der Fassade der unauffälligen Randfigur, die häufiger zurücksteckt, brodelt es jedoch. Denn die Frustration, die der Soziopath dabei empfindet, löst starke Emotionen aus. Sie bauen sich in kleineren oder größeren Wellen auf und suchen sich irgendwann ein Ventil. Keines in der Art, wie es in den Werkshallen des mittelständischen Unternehmens hergestellt wird, sondern eines zum Ableiten von aufgestauten psychischen Energien. Dann braucht es nicht mehr viel, bis die graue Maus irgendwann Grenzen überschreitet – und heimlich zum Panther wird.
Der forensische Psychiater, mit dem der Angeklagte nicht sprechen will, hat im Auftrag des Gerichts gleichwohl dessen Vorleben recherchiert. Dabei ist er bald auf ein einschneidendes Erlebnis in der Familie gestoßen: Eines der beiden Kinder, das durch eine künstliche Befruchtung entstand, ist mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen; es entwickelt sich nur verzögert. Die Enttäuschung darüber könnte der Auslöser für die sich häufenden Giftattacken gewesen sein – auch wenn sich das nicht mit letzter Sicherheit belegen lässt, wie der Psychiater betont. »Der Angeklagte stand der Behinderung des eigenen Sohnes hilflos gegenüber«, heißt es im Gutachten. »Auf der anderen Seite schwang er sich zum Herrn über Leben und Tod auf.«
Das passt ins Profil des Soziopathen, der bei allen abrupten Stimmungsschwankungen doch die Kontrolle behalten will. Wird sie akut bedroht, kann er in helle Aufregung verfallen. Und das ist recht genau das Verhalten, das Lothar Pohl an den Tag legt. Er sabotiert jetzt das Glück der anderen und pickt sich dafür willkürlich Opfer heraus, mit denen es gar keine Konflikte gibt. Im Gegenteil: Gerade zu dem jungen Studenten, der in den Semesterferien in seiner Abteilung arbeitete, hat Pohl wohl einen betont freundlichen Umgang gepflegt. Nur ist das für eine dissoziale Persönlichkeit im Zweifel nicht von Bedeutung.
Es kann sogar sein, dass der verdeckt operierende Täter Befriedigung, wenn nicht Freude dabei empfindet, wann immer er sich das Ausmaß des verursachten Leidens vorstellt. Die heftigen Krämpfe wie die inneren Blutungen sind dann Indikatoren seiner Macht. Dazu kommt das erhebende Gefühl der Überlegenheit, solange seine kriminellen Attacken nicht entdeckt werden: In einer Landschaft von lauter Ahnungslosen ist er der Einzige, der den Durchblick hat. Er weiß, was da gespielt wird.
In der Summe ist all das nicht dazu angetan, die Geschworenen am Bielefelder Landgericht besonders mild zu stimmen. Sie mögen die Ausführungen des Gutachters interessiert zur Kenntnis genommen haben. Dennoch stehen die besondere Heimtücke der Gewalttaten sowie ihr enormer Kollateralschaden bei der Bemessung des Strafmaßes im Vordergrund. Hier hat einer in Serie, über mehrere Jahre hinweg die Gesundheit und das Leben beliebig ausgewählter Menschen nachhaltig ruiniert. Ein gefährlicher Hangtäter, wie das heißt, mit dem der Richter bei der Urteilsverkündung schonungslos abrechnet: »Sie haben Ihren Opfern schwerstes und lebenslanges Leid zugefügt und einen Hang zu weiteren schweren Straftaten. Sie sind eine Gefahr für die Allgemeinheit.«
Darum wird gegen Pohl das maximale Strafmaß verhängt, obwohl zu diesem Zeitpunkt (noch) keines seiner Opfer an den Folgen der Giftattacken gestorben ist. Das ist eine Ausnahme in der deutschen Justiz; sie bedeutet, dass der Angeklagte eine lebenslange Haftstraße zu verbüßen hat. Die besondere Schwere der Schuld verhindert zudem, dass er mit dem Ende der Haftstrafe in die Freiheit entlassen werden kann. »In der Sicherheitsverwahrung haben Sie die Chance, sich ihre Ungefährlichkeit zu erarbeiten«, sagt der Vorsitzende Richter noch in seine Richtung.
Ob Lothar Pohl diese kleine Chance jemals zu nutzen versteht, ist allerdings fraglich. Es würde voraussetzen, dass er seine ungerührt verübten Taten irgendwann reflektiert und tatsächlich bereut. Genau dafür haben Soziopathen wie er jedoch ausgesprochen wenig Talent. Sie fühlen sich niemals verantwortlich, gar schuldig, und die Belange ihrer Mitmenschen sind ihnen in aller Regel völlig egal. Salopp formuliert, müsste Pohl in der Haft also aufhören, Soziopath zu sein. Aber das setzt einen langen Weg durch die psychiatrische Therapie voraus.