Gangsterblues - Joe Bausch - E-Book

Gangsterblues E-Book

Joe Bausch

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Beschreibung

Sie sind Mörder, Dealer, notorische Betrüger, Vergewaltiger oder haben schwere Raubüberfälle begangen. Und sie alle wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Knast haben sie viel Zeit, um sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen - und irgendwann wollen sie reden: der psychopathische Serienmörder über eine eiskalte Entführung, die beiden Halbbrüder über einen fast perfekten Mord, oder der Rettungssanitäter über den Zufall, der ihn zum Verbrecher machte - mit verheerenden Folgen. Sie alle vertrauen sich Joe Bausch an und lassen ihn tief in den Abgrund ihrer Seele blicken. Die besten dieser Geschichten hat er hier aufgeschrieben. Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen.

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Gangsterblues

Der Autor

Joe Bausch, Jahrgang 1953, arbeitet als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort sowie als Experte, Host und Moderator verschiedener Fernsehformate u.a. Kriminalzeit, Überführt, Im Kopf des Verbrechers. Er ist Autor des Bestsellers Knast, der 2012 im Ullstein Verlag erschienen ist.Bertram Job, Jahrgang 1959, lebt als freier Autor für Gesellschafts- und Sportthemen in Düsseldorf. 2012 schrieb er mit Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel das Buch Soko im Einsatz, die authentische Geschichte der Soko Mirco, das bei Ullstein extra erschienen ist.

Das Buch

Sie sind Mörder, Vergewaltiger, notorische Betrüger, Dealer oder haben schwere Raubüberfälle begangen. Und sie wurden alle zu hohen Haftstrafen verurteilt. Im Knast haben sie viel Zeit, um sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen – und irgendwann wollen sie reden: der verurteilte Mörder und Vergewaltiger über seine angebliche Unschuld, der junge Drogendealer aus Ghana, der im Gefängnis ausrastet, oder der brutale Frauenmörder, der nach dreißig Jahren Haftverbüßung auf keinen Fall entlassen werden will. Sie alle vertrauen sich Joe Bausch an und lassen ihn tief in den Abgrund ihrer Seele blicken. Die besten dieser Geschichten hat er hier aufgeschrieben. Wahre Geschichten, die unter die Haut gehen.

Joe Bausch

Gangsterblues

Harte Geschichten

Ullstein

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Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagabbildung und Autorenbild: © Wolfgang SchmidtE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-1747-2

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Vorwort

Nach dem Schützenfest

Sixpack

Struth geht nicht

Kalt erwischt

Lautrach

Altes Eisen

Auf die Knochen

Unter dem Radar

Ein guter Schnitt

Blutgruppen

Die beste Prognose

Mörderkind

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Vorwort

Widmung

Für meine Tochter Ella

Dieses Buch befasst sich mit dem Alltag in deutschen Gefängnissen, nicht mit individuellen Biographien. Es handelt vom Zustand des Strafvollzugs, nicht von Einzelschicksalen. Die geschilderten Fälle hat der Autor so verfremdet, dass sie niemandem zuzuordnen sind. Sie beschreiben also keine lebenden oder toten Personen; sie haben sich nicht zugetragen, hätten sich aber so wie beschrieben zutragen können.

Vorwort

Die Zeit in Haft kann lang werden, häufig länger als gedacht. Und hin und wieder schieben auch Verbrecher den »Blues«. Dann erzählen sie sich gegenseitig Geschichten von den Straftaten, für die sie verurteilt wurden. Dabei stellen sie ihre Taten meistens viel spannender dar als das, was über sie im vergleichsweise nüchternen Urteil oder in kurzen Presse­artikeln zu lesen ist. Sie berichten, wie es dazu kam, und von den Momenten, die ihr Leben für immer veränderten. Was dem Verbrechen vorausging und wie ihr Leben danach weiterlief. Was sie gewonnen, verloren oder zerstört haben. Weil keiner gern als ausgemachter Loser dastehen möchte – schließlich wurden sie ja alle geschnappt und sind im Knast gelandet –, erzählen sie sich gegenseitig und eben gerne auch mal dem »interessierten Hausarzt« und »bekannten Schauspieler« von Verbrechen, für die sie nie belangt oder nicht verurteilt werden konnten. Häufig geben sie nicht nur ihre eigenen Geschichten zum Besten. Bei einigen Verbrechen waren sie Mittäter, Augen- oder Ohrenzeuge, von anderen sind sie stille Mitwisser. Manche haben sie in langen Nächten auf der Gemeinschaftszelle von einem »Spannmann« erfahren, sie auf sich umgeschrieben und weitergesponnen. »Gangsterblues« halt.

Geschichten von Gewalt und Entsetzen, von Schuld und Unschuld, von Einsamkeit und Reue, vom Sterben, stumm ertragenem Leid, von Versuchungen, gefährlichen Begegnungen und unglücklichen Lieben, von größter Not, von Verrat, Enttäuschung und Wut, von den Abgründen kranker Seelen und von Todesangst. Kaum eine Saite, die nicht angeschlagen wird. Klänge, die man erst mal aushalten muss. Storys, die im Knast unter Insassen wie Bediensteten kursieren, weitergegeben werden und dazu dienen, der Tristesse des Gefängnisalltags für kurze Zeit zu entfliehen oder sich etwas besser zu fühlen. Wie unsereins nach dem Hören eines Lieblingssongs.

Außergewöhnliche Begegnungen und die Geschichten, die mir dabei erzählt wurden, oder Geschichten, von denen ich nebenbei erfuhr, inspirierten mich für dieses Buch. Die Idee, die interessantesten von ihnen zu anonymisieren, zu fiktionalisieren und weiterzuspinnen, trieb mich dabei an.

Die häufigste Floskel, mit der mir ein Gefangener zu verstehen gab, dass er Lust darauf habe, mir im Vieraugengespräch mal seine Geschichte zu erzählen, lautete: »Ich habe gestern Abend wieder mal einen ›Tatort‹ mit Ihnen gesehen. Nicht schlecht gemacht, zeitweilig sogar einigermaßen spannend und unterhaltsam. Aber, wenn Sie was richtig Spannendes und Abgefahrenes aus dem wirklichen Leben hören wollen, nehmen Sie sich zwei oder drei Stunden Zeit.« Die Zeit habe ich mir oft genommen. Meistens dauerte es länger, weil das, was ich dabei zu hören bekam, mich nicht mehr losließ.

Aber die meisten Verbrechen sind nur banal, die wenigsten haben für sich allein genommen das Zeug zu einem Krimi. Erst in der Verbindung von Tatsächlichem und Fiktivem wird daraus ein hintergründiger und spannender Plot. So sind die folgenden Short Storys entstanden. Zwölf Geschichten wie die zwölf Saiten einer Gibson, auf der die Bluesmusiker spielen. Eine Gitarre, bei der neben jeder Stahlsaite noch eine dünnere eingespannt ist, die gleichzeitig angeschlagen wird, also immer mitschwingt, aber ganz anders klingt.

Joe BauschWerl, im Mai 2018

Nach dem Schützenfest

Wie lange hat es gedauert, bis ich von Markus Lesser mehr wahrgenommen habe als seinen lautlosen Schatten, der über die Flure der Krankenstation huscht? Und wer von uns war es eigentlich, der den Abstand zwischen uns als Erster verkleinerte, indem er den anderen ansprach? Heute, etliche Jahre danach, möchte ich glauben, dass ich es vielleicht gewesen bin, der sich aus einer Stimmung heraus mit einem der Gefangenen unterhält, der bei ihm im Einsatz ist; einem sogenannten Hausarbeiter, der in seiner Abteilung die Instrumente und das sonstige Inventar reinigt. Solche Aufgaben sind im Knast keine Lakaienarbeit, sondern Vertrauenspositionen; sie werden erst durch fortgesetztes, einwandfreies Verhalten über viele Jahre erworben.

Mit Sicherheit hat aber auch Gunnar, einer meiner langjährigen Krankenpfleger, dabei eine Rolle gespielt. Der unermüdliche, an allem interessierte Gunnar, der mit jedem sprach und nebenher Dokumente aus dunkleren Zeiten sammelte, als das hier noch ein »Zuchthaus« war, in dem mancher Bedienstete völkische Parolen über die Gänge rief. Er hatte schon mal angedeutet, dass unsere so geräuschlos arbeitende Reinigungs- und Aufräumkraft ein ganz spezieller Fall sei. Und dabei betont, dass es sich lohnen könnte, sich mit seiner Geschichte zu befassen. Das hat er allerdings über viele hier gesagt, weshalb dann noch mal eine gewisse Zeit verging. Bis Markus Lesser gerade mal wieder mein Büro blank bohnerte oder dort sonst wie Ordnung schuf, während ich in meinen Unterlagen blätterte und er sich durch meinen neugierigen Blick ermutigt fühlte. Oder ich mich durch seinen?

Plötzlich habe ich jedenfalls mehrere Ordner in der Hand, akkurat und säuberlich beschriftet, und höre dieser gedämpften, höflichen Stimme zu. Es ist mindestens der zehnte Frühsommer, den ihr Besitzer hinter dicken Mauern verbringt, irgendwann in den Neunzigern kam er zu uns, und für ihn ist das jetzt ein ganz wichtiger Moment. Das spüre ich sehr schnell, weil alles an dem eher unscheinbaren Mann Mitte dreißig mit den schmalen Schultern nun immer mehr Fahrt aufnimmt, von seinen Sätzen bis zu den gestikulierenden Bewegungen mit den Armen. Als befürchte er, dass ich mich gleich wieder abwenden könnte. Noch so einer aus dem System, den er einfach nicht erreicht – obwohl er ihm soeben erklärt hat, dass er nur durch eine fatale Fehlerkette dort hineingeraten ist. Eigene, ganz dumme Fehler, dazu die von anderen.

»Ich kann Ihnen das gerne mal hierlassen«, sagt er, scheinbar beiläufig, »und Sie geben es mir irgendwann zurück. Zusammen mit Ihrer ehrlichen Meinung. Wie wäre das?«

»Das ist in Ordnung so«, sage ich, »wenn Sie nicht gleich morgen oder übermorgen was von mir hören wollen. Ich weiß nämlich nicht, wann ich dazu kommen werde. Sie sehen ja selbst, was hier so alles los ist, Tag für Tag.«

»Völlig klar, verstehe ich. Würde mich trotzdem freuen, wenn Sie mir … Na ja, die Tage. Ich bin ja hier …«

Und ich bin auch hier, inmitten von hundertzwanzig Dingen, die von morgens bis abends auf mich und mein Team einströmen. Also gehen noch mal zwei, drei Wochen ins Land, vielleicht auch etwas mehr, in denen Markus Lesser immer wieder mal auffällig nah um mich herumbohnert. Seine verstohlenen Blicke fragen mich so eindringlich, ob ich inzwischen Zeit gefunden hätte, dass es mir langsam ein wenig peinlich wird. Und tatsächlich finde ich irgendwann die Zeit – schon um in den Momenten, in denen sich unsere Wege kreuzen, nicht immer woanders hinsehen zu müssen. Das wird ein ganz besonderer Moment, weil ich da auf eine Geschichte stoße, die mich sofort und so stark wie kaum eine andere berührt. Sie geht durch die dicke Haut, die auch ich mir in dieser eigenartigen Welt zulegen musste, einfach hindurch.

Im Grunde kenne ich das längst. Ein Gefangener, der erzählt, zu Unrecht eingebuchtet worden zu sein, eine zu harte Strafe zu verbüßen oder Opfer einer perfiden Verschwörung beziehungsweise des bösartigen Justizapparats geworden zu sein. Das ist weder in Werl noch in sonst einem deutschen Knast ein außergewöhnliches Ereignis. Jeden verdammten Tag des Jahres sind Beamte und Sozialarbeiter, Ärzte und Psychiater einem gigantischen Schwall von Beteuerungen und Anschuldigungen durch empörte bis wütende Knackis ausgesetzt. Er schleift viele von ihnen über die Jahre dermaßen ab, dass sie in solchen Momenten kaum noch empathisch, sondern eher gleichgültig oder zynisch reagieren. »Hier sitzen fast neunhundert, die unschuldig sind«, kommt es dann zurück. Oder auch: »Wir haben hier einen Friseur, vielleicht kannste dem das erzählen.« Wie das eben so geht, wenn man sich in diesem Dschungel abschotten will.

Auch ein Arzt ist dagegen nicht gefeit. Schon durch seine Sonderstellung, die Schweigepflicht, ist er ein beliebter Anlaufpunkt für viele Beschwerden. Viele von ihnen gehen über rein medizinische Dinge weit hinaus.

Eines Abends, an dem ich allein in meiner Wohnung bin, gehe ich dann tatsächlich die Ordner durch, die Lesser mir in die Hand gedrückt hat. Ich sitze am Küchentisch, mit dem Rücken zu den Fenstern, die den Blick auf ein Stück Mauer und vergitterte Fenster freigeben, und bin verblüfft. Eben hatte ich noch Leerlauf, doch in den nächsten Stunden erhebe ich mich nur noch, um Zigaretten zu suchen oder kurz zur Toilette zu gehen. Was ich da lese, Schriftstück um Schriftstück, ist tatsächlich unglaublich. Und trotzdem glaubhaft, soweit ich das im ersten Durchgang einschätzen kann. Die aberwitzigsten Geschichten erfindet eben immer noch das Leben.

Und diese hier ist gerade mal ein paar Jahre her.

Das Schützenfest ist der konkurrenzlose Höhepunkt im Jahreskalender der kleinen Ortschaft im Bergischen Kreis, irgendwo zwischen Opladen und Gummersbach. Dort, wo die Fensterläden im alten Fachwerk so grün leuchten wie die sanft geschwungenen Hügel an alten Landstraßen. So ist das auch an diesem Frühsommerabend 1990, dem ersten Samstag nach Pfingsten. Im Schützenzelt wird den ganzen Abend musiziert und getanzt, gebaggert und gelacht und gesoffen. Man hebt Pils und Korn, Sekt oder Jägermeister, und wer am Ende mit wem verschwindet, darüber schweigt die laue Nacht. Sie lässt die Männer und Frauen, die im schwachen Laternenlicht aus dem Zelt laufen oder torkeln, gnädig zu Silhouetten werden.

Am nächsten Morgen ist allerdings erst mal Schluss mit lustig. Da stehen mit einem Mal mehrere Polizeiwagen und ein halbes Dutzend Kripobeamte um eine frisch abgesperrte Scheune herum. In ihrem Innern liegt die übel zugerichtete Leiche von Susanne Drygalski, einer zwanzigjährigen Studentin der Rechtswissenschaften, die fürs große Wochenende aus Köln zurückgekommen ist, zu Eltern und Schulfreundinnen. Die stets unbeschwerte, hübsche Susanne, die so gern Handball gespielt und getanzt hat. Wer im Ort hat sich nicht nach ihr umgedreht!

Es dauert nur einige Stunden, bis die Ermittler auch am Elternhaus von Markus Lesser klingeln. Der junge Angestellte der nächsten Sparkassenfiliale hat am Abend öfter mit Susanne getanzt, wie im Zelt beobachtet wurde. Und dass er sie nach Mitternacht begleitet hat, in Richtung ihres Elternhauses, haben ebenfalls alle mitbekommen. Das bleibt nicht aus in so einem kleinen Ort. Der Mittzwanziger dürfte der Letzte gewesen sein, so heißt es, der Susanne lebend gesehen hat. Eine Feststellung, die ihn erst mal verdächtig macht.

Ganz nach Hause habe er die Susanne allerdings nicht gebracht, macht Markus gegenüber den Kripobeamten geltend. Und getanzt habe er gestern mit so vielen. Das wollen manche im Ort allerdings anders gesehen haben. Sie geben zu Protokoll, dass der junge Mann schon länger hinter dem Mädchen her war, offenbar jedoch ohne Erfolg. So entsteht die Geschichte des glühenden Verehrers, der vergeblich alles auf eine Karte setzt und wegen dieser Zurückweisung durchdreht, praktisch von allein. Sie gibt auch die einzige Richtung vor, in die nun ermittelt wird. Mit einigem Druck, weil sich Nachrichten über die übel zugerichtete Leiche, halbwahre wie falsche, rasend schnell im Ort verbreiten.

Ein ganzer Ort im Schockzustand. Und knapp zweitausend Menschen, die sich und die im einzigen Gasthof logierenden Ermittler fragen, ob das wirklich einer von ihnen gewesen sein kann. Einer wie der Markus, der bei den Mädchen wenig Glück hatte und weiterhin im Jugendzimmer bei seinen Alten wohnte. Das stille, tiefe Wasser. Also, wenn überhaupt schon einer, dann noch am ehesten der.

Möglicherweise sind die ermittelnden Beamten auch selbst aufgebracht. Ein junges Mädchen, dem jemand den Schädel eingeschlagen hat, bevor es vergewaltigt wurde; dazu die beiden mit einem scharfen Gegenstand tief eingeritzten Brüste. Das kann auch noch so hartgesottene Polizisten wütend machen. So wütend, dass sie sich mit aller Macht auf den Ersten stürzen, der in Frage kommt. Und versuchen, ihn so lange in die Mangel zu nehmen, bis er geständig ist.

Gib es doch zu. Du warst doch geil auf sie. Du wolltest es ihr mal so richtig besorgen.

Tatsache ist, dass der Verdächtige an diesem Sonntag bis in die Nacht hinein verhört wird, fast pausenlos und ohne Rechtsbeistand. Bis er, übermüdet und eingeschüchtert, irgendwann die Tat gesteht. Und dass er dieses Geständnis am nächsten Tag bereits widerruft. Weshalb er erneut verhört wird, etliche Stunden lang, und seinen Widerruf endlich widerruft. Ich war es nicht, ich war es, ich war es nicht, ich war es. Da ist eine ganze Achterbahnfahrt in den gerichtlichen Unterlagen festgehalten, die Lesser mir mit anderen Dokumenten überlassen hat. Mir und einem renommierten Rechtsanwalt, Spezialist für Strafrecht und Wiederaufnahmeverfahren, den er inzwischen eingeschaltet hat, wie er erzählt, damit der Fall neu aufgerollt wird.

Denn Markus Lesser möchte freikommen aus jener Haft, in die er sich selbst hineingeredet hat. Er könnte sich selbst verfluchen, dass er sich von den Polizisten so sehr drangsalieren ließ, wie er Gunnar und mir später sagen wird, und nicht zuletzt auch seinem Pflichtverteidiger. Der hat ihm vor dem Prozesstermin geraten, geständig und ansonsten stumm zu bleiben, um ein milderes Urteil zu bekommen; eine andere Chance habe er nicht. Es war die dümmste aller möglichen Strategien, denn dadurch ist alles nur noch schlimmer geworden. Der Angeklagte wird am Kölner Landgericht wegen des brutalen Mordes zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt.

Die Mühlen haben in diesem Fall, der die Öffentlichkeit erregt hat, unheimlich schnell gemahlen. Die Kripo hat bei den Ermittlungen nicht eine andere Spur verfolgt und keinen zweiten Verdächtigen befragt; mit mehreren Beweisstücken wurde geschludert. Und der Prozess war nach wenigen Tagen schon vorüber. Dann ist Lesser aus der Untersuchungshaft nach Werl hinübergewechselt, und ich kann nicht behaupten, dass er mir bei der obligaten Eingangsuntersuchung oder danach, etwa bei einem ärztlichen Routinetermin, wirklich aufgefallen ist. Nicht hier, in einer Anstalt mit knapp neunhundert Haftplätzen, wo immer gerade einer randaliert, krank wird, behandelt, verlegt oder operiert werden muss.

Auch nachdem er anfing, in unserer Abteilung zu arbeiten, habe ich Markus Lesser nicht wirklich wahrgenommen. Es gibt Menschen, die einfach nicht der Typ dafür sind. Aber in dem Moment, in dem ich diese Unterlagen aus seiner Hand entgegengenommen habe, bin ich eine Verpflichtung eingegangen. Ich werde mir diese Geschichte ansehen, so unbefangen es geht, und anschließend meine Meinung dazu abgeben; das habe ich versprochen. Nicht als der Mediziner, den er jeden Tag erlebt, sondern als einer der wenigen, denen er zwischen diesen Mauern seine Not anvertraut – warum auch immer.

Wie viele bleiben einem denn nach so einem Schuldspruch? Gunnar erzählt mir, dass die Eltern und beide Brüder sich von Lesser offenbar komplett abgewendet hätten. Besuch erhalte er einzig von Brigitte, der jüngeren Schwester. Sie wolle nicht glauben, dass ihr Bruder imstande ist, einem Mädchen aus dem Ort mit der Querstange eines Traktoranhängers den Schädel einzuschlagen, um sie anschließend zu schänden. Darum habe sie auch den Anwalt eingeschaltet, der auf Wiederaufnahmeverfahren spezialisiert ist. Eine echte Koryphäe, die irgendwo einen Lehrstuhl für Strafrecht innehabe. Um das Honorar dafür zu stemmen, hätten sie und ihr Mann kürzlich sogar eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen.

»Da hat aber jemand eine Schwester aus dem Bilderbuch«, sage ich zu Gunnar. »Sich zu verschulden, um den Bruder freizubekommen: Wer macht das schon?«

»Die Brüder jedenfalls nicht. Die haben sogar versucht, ihrer Schwester das auszureden. Hat Markus jedenfalls mal erzählt …«

Nach den Argumenten und Expertisen zu urteilen, die der Staranwalt auffährt, ist dieses Geld zumindest an der richtigen Stelle investiert. Dr. jur. Krupka hat als Erstes die Protokolle der kriminalpolizeilichen Vernehmungen auseinandergenommen. Sie zitieren Markus Lesser in einer so drastischen, vulgären Diktion, dass erhebliche Zweifel an ihrer Authentizität angebracht sind. Ein Sprachwissenschaftler, den Krupka auf Kosten von Brigitte Lesser beauftragt hat, ist sogar fest davon überzeugt, dass der Zitierte sich so nie geäußert hat oder äußern könnte. Das wird auch durch die gezielte Befragung einiger Arbeitskollegen und Bekannter von Lesser gestützt.

Der protokollierende Beamte müsse da sein ausgeprägtes, literarisches Talent eingebracht haben, heißt es im Resümee der Expertise. Ein Talent, welches hier allerdings nichts zu suchen habe. Das wird Dr. Krupkas erstes Geschütz. Das zweite ergibt sich durch die Mängel des gerichtsmedizinischen Gutachtens. Die erheblichen Blutspuren der Tat etwa sind nur lückenhaft dokumentiert. Vor allem findet sich keine Erklärung dafür, warum sie nirgendwo an Lessers heller Kleidung anhafteten, die er am betreffenden Abend getragen hatte. Das ist eigentlich kaum möglich bei solch einem brachialen Akt. Dass der Gerichtsmediziner auf Befragen nur versichert, es habe damals schon alles seine Richtigkeit gehabt, macht das Ganze nicht transparenter.

Eine Metallstange, die auf einen Schädel niedersaust, nicht nur einmal, und ein Täter, der die Stange in unmittelbarer Nähe zum Opfer schwingt und doch so rein bleibt wie ein frisch aufgezogenes Bettlaken: Das muss nach menschlichem Ermessen ein Kunststück gewesen sein.

Jeder kann sich vorstellen, wie Markus und seine Schwester durch diese Argumente und Expertisen ermuntert worden sind, ihren Weg weiterzugehen. Noch aber ist im Grunde kaum etwas passiert. Es braucht etliche solcher Gutachten und Schriftsätze, inklusive Glück und günstiges Timing, um gemäß Paragraph 359 der Strafprozessordnung im deutschen Justizapparat ein sogenanntes Wiederaufnahmeverfahren durchzusetzen. Und einen nicht zu abgebrühten Richter beziehungsweise Staatsanwalt, der sich tatsächlich noch mal in den Fall kniet und sich nicht scheut, eventuell einen Fehler im System einzugestehen. Einen, der sich wenig darum schert, wer von den Kollegen demnächst noch mit ihm sprechen wird.

Aber wie findet man den? Nur in jedem 8900. Fall soll es in diesem Land tatsächlich dazu kommen, dass ein bereits verhängtes Strafurteil im Zuge eines neu aufgenommenen Verfahrens noch mal unter die Lupe genommen wird. So weist das eine Statistik aus, die von kritischen Strafverteidigern häufiger zitiert wird. Solchen, die eine »Vergötzung der Rechtskraft« in der gängigen Praxis beklagen und daraus schließen, dass das Recht auf begründete Revision im Grunde so gut wie abgeschafft ist – weil es de facto nicht zum Tragen kommt. Die Fehleranalyse ist in diesem System eben nicht wirklich eingebaut. Wer nach Jahren eine neue Idee in eine alte Strafsache reinbringen möchte, bei der im Zweifel gleich zu Anfang einiges verbockt wurde, stößt meist auf taube Ohren.

Was kann ich Markus Lesser also sagen, wenn ich ihm die Unterlagen zurückgebe? Wie kann ich einen Funken Hoffnung in der Sache lassen, ohne ihm seine Erfolgsaussichten in allzu rosigen Farben zu schildern? Ein Gefängnisarzt, der sich zu oft auf die Seite seiner Patienten schlägt, kann im Knast schnell zu einer fragwürdigen Figur werden. Wenn sich das herumspricht, wird er den Respekt, den die Gefangenen vor ihm haben, eher verlieren. Sie behandeln ihn dann als einen, den sie leicht für ihre Zwecke manipulieren können. Wie das eben so läuft in einem Haifischbecken, wo Sentimentalität als Schwäche gilt.

Trotzdem sagt mir mein Bauch, dass ich in diesem Fall ganz realistisch bleiben sollte. Ich werde ihm ganz bestimmt nichts vormachen, wenn ich demnächst mit ihm unter vier Augen spreche.

Zwei Tage, nachdem ich die Ordner mit wachsendem Interesse durchgearbeitet habe, gebe ich Markus Lesser also einen Wink. Er hat gerade den Warteraum gebohnert und streift sich erst mal die Plastikhandschuhe ab, bevor er sich in meinem Büro mir gegenüber auf dem Stuhl niederlässt – betont langsam, um die innere Spannung halbwegs zu verbergen. Im gleichen Moment ist Gunnar, der mir gerade Formulare zum Unterschreiben vorlegen wollte, augenzwinkernd nach draußen verschwunden.

»Das ist starker Tobak«, beginne ich, »wer hat das bisher noch alles gesehen?«

»Mein Anwalt, natürlich. Und meine Schwester, die glaubt an mich. Gott sei Dank.«

»Und Gunnar?«

»Davon erzählt, immer wieder mal. Aber bisher noch nix gezeigt. Ich wollte erst Ihre Meinung hören, Doc.«

»Aber ich bin hier nur der Arzt, sorry. Kein Jurist und kein Anwalt.«

»Nee. Schon klar.«

»Also gut …« Dann höre ich mich sagen, dass in diesem Fall offenbar ganz viele Ungereimtheiten zusammenkommen und dass man hier nach meinem Verständnis von Gerechtigkeit noch mal gründlich ermitteln müsste, im Zuge einer erneuten Beweisaufnahme. Und dass irgendeine Stelle im Apparat irgendwann zugeben sollte, dass da vielleicht ein tragischer Fehler fabriziert wurde. Tragisch, weil ihn, Lesser, das Jahre seines Lebens kostet, die er in Unfreiheit verbringt. Es ist das erste und bisher letzte Mal, dass ich mich einem Gefangenen gegenüber so eindeutig positioniere, face to face, und ich kann spüren, wie mein Gegenüber das förmlich einsaugt.

Im nächsten Moment setzt er dann noch einen drauf. »Klar, ich sitze im Knast, und das ist für mich hart genug«, sagt Lesser. »Aber der Kerl, der Susanne wirklich ermordet hat, läuft immer noch draußen rum, und das ist viel schlimmer. Was ist denn, wenn in dieser Gegend demnächst wieder so etwas passiert? Möchte ja nicht sehen, wie die dann am Rad drehen.«

»Völlig richtig«, sage ich. »Nur weiß ich leider nicht, wen oder was ich in dieser Sache anschieben könnte.«

Es folgen Wochen, in denen Lesser mir eher aus dem Weg geht. Wer als Knacki zu oft mit einem vom Personal zusammensteht, macht sich vor den anderen als Schleimer verdächtig; oder gar als Informant, was noch brisanter ist. Auch das hat der gedrungene Mann seit seiner Ankunft in Werl schnell begriffen. Es ist eine völlig andere Welt, in die er vor zehn Jahren geraten ist, und wie er sich da hineingefügt hat, nötigt mir Respekt ab. Es gibt andere, die an so einer Situation zerbrechen.

Ab und zu aber ergibt es sich danach, dass Lesser einige frisch gereinigte Kittel vorbeibringt oder sonst irgendwas, und dann wechseln wir wieder kurz ein paar Worte. Dabei erfahre ich, dass Dr. Krupka nun den Antrag auf Wiederaufnahme des Falls stellen will, an einem OLG. Bis dahin soll noch ein neues, gerichtsmedizinisches Gutachten in Auftrag gegeben werden. Natürlich in der Hoffnung, dass es die erste Version gründlich zerpflückt.

»Kennen Sie nicht einen Gerichtsmediziner, der so ein Gutachten in unserem Auftrag anfertigen könnte?«, fragt er mich. Ich kenne viele.

Krupka schwebt vor, dafür die Gewalttat in der Scheune nachstellen zu lassen. Irgendwer soll mit einer Stange auf einen frischen Tierkadaver eindreschen, um zu prüfen, wie dann das Blut spritzt. Ein Spezialist soll das Ganze mit einer Hochgeschwindigkeitskamera festhalten. Das Ergebnis könnte Lesser ein ganzes Stück weit entlasten.

Aber die Scheune, in der das damals geschah, ist längst abgerissen worden; man müsste sie praktisch nachbauen. So erzählt es mir der Gefangene Monate später. Alles so nachzustellen, dass es einwandfreie Beweiskraft hat, könnte also immer teurer werden. Und allein mit dem restlichen Geld von der Schwester ist das nicht zu stemmen. Dieses Geld ist zu einem guten Teil auch schon aufgebraucht.

So vergehen wieder Monate, in denen sich offenbar nichts bewegt. Und Jahreszeiten und Jahre. Markus Lesser bleibt ein zuverlässiger Hausarbeiter, er wird in der medizinischen Abteilung als immer freundliche Hilfskraft geschätzt. Nimmt regelmäßig an Umschluss und Hofgang teil und dann und wann auch am Sport. Legt sich nicht mit den Silberrücken an, von denen es auf jeder Etage mindestens einen gibt, und lässt sich nicht auf Drogengeschäfte oder sonstige subkulturelle Aktivitäten ein. Bleibt also ziemlich genau der dezente Mensch, als der er bis zum Schützenfest hinter dem Schalter der Sparkasse stand: offenes Jackett, nicht zu schrille Krawatte.

Und bleibt eingesperrt.

Selber schuld? Manche Kollegen vom Personal vertreten diese Ansicht, wenn mal wieder vom Fall Lesser die Rede ist. Für sie ist der leise Mann schon allein deshalb schuldig, weil er sich schuldig bekannt hat. Das mache doch keiner einfach so, heißt es dann: »Würdest du denn etwas zugeben, was du gar nicht verbrochen hast?« Dieses Geständnis ist in den Akten und alle Zweifel an Gutachten und Protokollen sind es nicht. Also existieren sie nach alter Juristenweisheit auch nicht.

Quod non est in actis non est in mundo.

Andere halten Lesser für unschuldig, mit hoher Wahrscheinlichkeit, und wundern sich mit mir, dass er trotz Anwalt und vieler guter Ideen nicht entscheidend vorankommt. Sie sagen: »Hoffentlich hält der das durch.« Es gibt inzwischen nämlich Phasen, in denen die Skepsis in seinem blassen Gesicht die Regie übernommen hat: Don Quijote, der allmählich merkt, wie mächtig die Windmühlen sind. Noch aber sind das nur Phasen.

Aber gerade, als er erkennbar an einem Tiefpunkt angelangt ist, macht die Nachricht von einem weiteren Gewaltverbrechen im Bergischen Kreis die Runde. Keine zehn Kilometer von Lessers Heimatort entfernt wird in einem Waldstück die übel zugerichtete Leiche einer achtundvierzigjährigen Frau entdeckt. Sie ist mit einem schweren Gegenstand erschlagen und nach ihrem Tode geschändet worden. Beide Brüste sind mit einem scharfen Gegenstand tief eingeritzt worden.

Wieder ist ein ganzer Ort, eine ganze Region zwischen grünen Hängen in Aufruhr. Wieder arbeitet die Kriminalpolizei unter Hochdruck. Im Fall Lesser dagegen hätte es kaum günstiger kommen können. Der hat als Gefangener der JVA ein wasserdichtes Alibi. Und nun fragen sich hier auch einige, die ihn bisher für schuldig gehalten haben, ob sie sich nicht angesichts der neuen Fakten den Fall wieder aufrollen müssen. Zwei Mal die gleiche Gegend, zwei Mal der gleiche Tathergang mit den gleichen abstoßenden Details.

Das bringt auch Dr. Krupka wieder in Stellung, wie ich bald von Lesser erfahre. Der Anwalt nimmt noch mal Geld in die Hand, von wem auch immer, vielleicht sogar sein eigenes, und gibt bei einem renommierten Kriminologen ein neues Gutachten in Auftrag. Der soll die Details beider Fälle als erfahrener Profiler abgleichen und beurteilen, ob zwei verschiedene Täter am Werk gewesen sein könnten. Oder tatsächlich nur einer.

Das ist keine Sache von Tagen, sondern eine von Monaten. Am Ende kommt der Kriminologe zu dem Schluss, dass in beiden Fällen angesichts des Vorgehens, der Details sowie der übrigen Tatumstände nur ein und derselbe Täter in Frage kommt. Das bedeutet: ein ziemlich gestörter, hochgefährlicher Mensch, der bisher noch nicht ermittelt worden ist.

Ab sofort ist Markus Lesser wieder im Aufwind, jeder in Werl kann das spüren. Aufgeweckt durch die Berichte über das neue Verbrechen, und vielleicht auch von Dr. Krupka, berichtet nun eine Regionalzeitung aus dem Bergischen von ihm und dem alten Fall. Und nach dem regionalen berichten zwei überregionale Blätter, und nicht viel später steht ein ­Ü-Wagen vor dem Haus von Brigitte Lesser, für ein TV-Feature in einem Privatsender, zur besten Sendezeit. Endlich ist sie in ihrem Kampf für Markus nicht mehr allein. So fühlt es sich zumindest eine Zeitlang an. Und die Eltern, die damals aus dem Bergischen regelrecht geflüchtet sind, irgendwo an den Stadtrand von Köln, schicken jetzt, nach all den Jahren, die ersten Briefe.

Aber was Leser und TV-Zuschauer beeindruckt, kann die Verantwortlichen im Justizapparat dennoch kaltlassen. Für sie ist die Expertise, die Dr. Krupka erstellen ließ, noch lange kein Beweis. Das gibt man dem Anwalt in den informellen Gesprächen mit Richtern und Staatsanwälten schnell zu verstehen. Sein Vorhaben, den alten Fall detailgenau zu simulieren, um ihn mit High-Speed-Kameratechnik aufzuzeichnen, hat er schon vor einiger Zeit fallen lassen müssen. Zu viele, kaum überwindbare Schwierigkeiten. Nun gilt es genau abzuwägen, ob er genug Munition beisammenhat.

Folgt man den Paragraphen, ist das längst der Fall. Demnach ist eine Wiederaufnahme möglich, »wenn neue Tatsachen oder Beweise einen Freispruch oder eine Milderung bewirken könnten«. So steht es in der Strafprozessordnung. Möglich heißt jedoch nicht zwingend, und wird ein Antrag auf Wiederaufnahme einmal abgelehnt, kann der Herr Anwalt sich wieder hinten, am Ende der Schlange anstellen. Darüber vergehen in aller Regel einige Jahre.

Heute weiß ich nicht mehr genau, wann Krupka den Antrag tatsächlich gestellt hat. Sein Mandant ist nach ungefähr fünfzehn Jahren in Werl in eine Anstalt des offenen Vollzugs verlegt worden. Das geschieht regelmäßig nach tadelloser Führung in einer geschlossenen Anstalt und dient der Vorbereitung der Entlassung unter gelockerten Bedingungen – die noch mal zwischen einem und drei Jahren dauern kann.

Es muss kurz danach gewesen sein, als mir jemand erzählte, dass der Antrag auf Wiederaufnahme abgelehnt worden sei. Das wird nach deutschem Recht bei einem kurzen, internen Termin ohne mündliche Verhandlung entschieden. Bei seiner Entscheidung bezog sich das Gericht auf ein zweites Gutachten eines nicht minder renommierten Experten, das den zweiten Mord an der achtundvierzigjährigen Frau als Nachahmungstat einstufte: zwei Verbrechen, zwei verschiedene Täter.

Wie Lesser diese Entscheidung verkraftet hat, habe ich nicht mehr mitbekommen. Es muss ein Wirkungstreffer gewesen sein, wie Boxer sagen, der manch einen ausknockt. Lesser aber hat sich wieder aufgerappelt, um auch in der nächsten JVA ein mustergültiger, völlig unauffälliger Gefangener zu sein. Er arbeitet bald in einem freien Beschäftigungsverhältnis in einer Düngemittelfabrik. Weitere Versuche, sich vor Gerichten Gehör zu verschaffen, unternehmen er und sein Anwalt nicht mehr.

Das kann ich verstehen. Wenn du dich zehn und mehr Jahre an eine Option klammerst, ohne damit Erfolg zu haben, lässt du es irgendwann sein. Du bist weichgekocht. Und zu zermürbt, um immer weiter gegen die Windmühlen anzurennen und die Zweifel auszuräumen, die dich immer noch umgeben. Noch dazu, wenn sich jemand aus deiner Familie auf Jahre hinaus verschuldet hat, um dir zu helfen.

Und dann, nach fünfzehn oder sechzehn Jahren, hörst du plötzlich davon, dass man über deine vorzeitige Entlassung nachzudenken beginnt. Die tadellose Führung, die günstige Perspektive. Deine Schwester würde dich fürs Erste bei sich und ihrem Mann aufnehmen. Jetzt ist die Chance auf Gnade von oben weit größer als die Chance auf Gerechtigkeit. Das macht Lesser eher noch stiller, noch geschmeidiger – wenn das in diesem Fall überhaupt noch geht.

Einen besonderen Stolperstein erlebt ein Gefangener trotzdem noch, wenn er bis zum Schluss auf seine Unschuld pocht. Der Psychologe, der das letzte Gutachten anfertigt, wird ihm zwanghaftes Leugnen bei mangelhafter Aufarbeitung seiner Straftat attestieren – klassischer Fall von Verdrängung also. So erhält Lesser nach gut achtzehn Jahren in Haft einen Persilschein mit Schmutzrand: Der glaubt noch immer, es nicht getan zu haben, ist aber völlig harmlos und hat sich über viele Jahre gut geführt; von dem geht keine Gefahr mehr aus. Den kann man rauslassen.

Erst mal wieder in Freiheit pflegt Markus Lesser seinen »Wahn« jedoch weiter – schon, um sein Ansehen und das der Familie ein Stück weit zu retten. So berichtet es mir Dr. Krupka, den ich irgendwann bei einem Gerichtstermin in Arnsberg treffe. Ein robuster, selbstbewusster Mann, Mitte fünfzig, der mit seinem Mandanten tatsächlich an einem neuen Wiederaufnahmeantrag arbeitet. Und überdies ein engagierter Dozent, der in seinen Seminaren und Veröffentlichungen in scharfer Rhetorik gegen den hochmütigen Umgang mit Revisionsanträgen zu Felde zieht.

»Nennen Sie mich ruhig eitel«, schließt Krupka unser kurzes Gespräch auf dem hallenden Gang. »Ich nenne es kampfbereit. Denn ob Sie es nun glauben oder nicht: Ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass Lesser keiner Fliege etwas zuleide getan hat. Für mich ist das der krasseste Fall, der mir in dieser Hinsicht begegnet ist. Und ich sage Ihnen noch eins: Ganz tief drinnen, da wo keiner hineinschauen kann, sehen Sie es doch haargenauso.«

Und wer bin ich, einem so angesehenen Mann zu widersprechen?

Sixpack

Alles geschieht so schnell, dass er es kaum begreifen kann. Wer sich da hinter ihm angeschlichen hat, und wie viele, oder was da auf einmal auf ihn niedergesaust ist. Der wuchtige Schlag kommt zu plötzlich, und der Schmerz ist absolut, alles überwältigend. Als würde eine Lok in seine Weichteile fahren. Sobald er mit einem durchdringenden Schrei die Langhantel loslässt, durchfährt ihn auch schon der nächste unerträgliche Schmerz. Hundertfünfzig Kilo stürzen auf seinen Brustkorb. Er hört noch, wie Rippen brechen.

Zwei traumatische Ereignisse in derselben Sekunde, zwei heftige Schocks. Dann ist da nichts mehr außer tiefer, gnädiger Bewusstlosigkeit.

Im Film sieht ein Verletzter, der so wegkippt, als Nächstes das Licht an der Decke auf der Intensivstation. Im wirklichen Leben kommt er oft noch mal zu sich; auch das Adrenalin in der Infusion, die er in der Regel erhält, hat daran seinen Anteil. Nur dass er überhaupt nichts dabei empfindet, nichts versteht und sich später nicht mehr daran erinnern kann. Was eigentlich immer ein großes Glück bedeutet.

Udo Weigold sieht uns wohl für ein paar Momente, mich und mehrere Helfer, die sich über ihn beugen, während ich geplatzte Adern an seinem Unterleib abklemme, eine große Dosis Schmerzmittel injiziere und den Tubus zur künstlichen Beatmung in seinen Rachen schiebe. Sieht uns und sieht uns nicht. Dann ist er wieder weg und wird im nächsten Moment auf einer Trage aus dem Kraftraum gebracht. Irgendwo da draußen, jenseits der Anstaltsmauern, können wir schon den Notarztwagen hören. Weigold hört ihn nicht mehr.

Wie sich eine Lage in Sekunden komplett verändern kann. Eben ist Weigold noch ein kraftstrotzender Mann bei seiner Lieblingsbeschäftigung in der JVA gewesen, mit schweißglänzenden Armen, dick wie Oberschenkel. Pyramidentraining an der Langhantel, von achtzig bis hundertfünfzig Kilo in Zehnerschritten. Was man sich so gibt, um in Form zu bleiben. Nun ist er von einem Beamten, der den Kraftraum abschließen wollte, bewusstlos auf der Hantelbank gefunden worden, eingequetscht von der Langhantel, wie ein toter Käfer, der auf dem Rücken liegend fixiert wurde, in einer großen Lache aus Blut und Urin. Wie lange er da schon gelegen hat, weiß keiner.

»Schnell Doc, da liegt einer im Kraftraum. Sieht verdammt übel aus.« Viel mehr wurde nicht gesagt, als sie mich holten. Nur dies noch: »Nimm gleich alles mit, was wir für den Notfall dahaben.« So bin ich dazugekommen und muss an Ort und Stelle alle Erfahrungen als Rettungsarzt abrufen, um das Schlimmste zu verhindern: dass in diesem übel zugerichteten Körper plötzlich kein Leben mehr ist.

Hundertfünfzig Kilo. Er wollte sie dreimal hintereinander drücken, mit kurzen Pausen, heißt es später, so wie immer. Ein Handtuch neben sich auf der Bank und ein paar Spackos dahinter, die auf ihn aufpassen und ihn bestaunen dürfen. Nun ist es bei zweimal Drücken geblieben. Wegen der zwanzig Kilo schweren Kurzhantel, die ihm einer in die Weichteile gekloppt hat, als er das Gewicht fast oben hatte. Irgendein feiges Arschloch, das sich von hinten angeschlichen hat.

Von wegen aufpassen: Plötzlich war von seinen Spackos keiner mehr da. Als hätten sie einen Wink gekriegt, einfach mal woandershin zu sehen. Oder sie hatten sich verdünnisiert, ganz leise.

Das Gewicht der Kurzhantel ist wie eine Axt eingeschlagen, das ist nicht zu übersehen. Und dann noch der Flurschaden, den die Langhantel angerichtet hat. Hundertfünfzig Kilo! Hoffentlich ist der Brustkorb nicht komplett zerschmettert. Wäre die Hantel auf seinen Hals geknallt, hätte sie ganz sicher den Kehlkopf zerschlagen – wenn nicht mehr. Dann wäre es mit dem hier schon vorbei, und wir hätten noch mehr Theater. Ein tödlicher Anschlag auf einen Gefangenen, das ist so ziemlich das Letzte, womit eine Vollzugsanstalt in die Schlagzeilen kommen möchte.

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