Verrücktes Blut - Joe Bausch - E-Book

Verrücktes Blut E-Book

Joe Bausch

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Beschreibung

Schonungslos ehrlich und tief bewegend: die persönliche Geschichte des beliebten TV-Stars und Bestsellerautors Joe Bausch  Mit aller Härte, die der Vater für nötig hält und die ihm selbst widerfahren ist, erzieht er den Sohn zum Hoferben. Doch der will kein Bauer werden und nichts wie weg aus dem Westerwald, raus aus der Welt der Enge und Verlogenheit. In seinem neuesten Buch spricht Joe Bausch erstmals über die Zeit, in der er tiefste Demütigung, Gewalt und Übergriffigkeit erleben musste.  Ein Bauernhof im kargen Westerwald, Anfang der Fünfzigerjahre. Die Schrecken und Entbehrungen des Krieges stecken den Menschen noch in den Knochen. Ohnehin herrscht in dieser Gegend seit jeher ein raues Klima. Für freundliche Aufmerksamkeit haben die Eltern keine Zeit, für zärtliche Zuwendung keinen Sinn. Josef Hermann, der sich später Joe nennen wird, ist ein aufgewecktes Kind. Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, noch vor der Einschulung lesen lernt mit den Zeitungen, die auf dem Plumpsklo ausliegen, und von klein auf im Familienbetrieb mithelfen muss. Aufs Gymnasium darf er nur, weil er weiterhin schuftet bis zum Umfallen. Schläge sind an der Tagesordnung – und der dreizehn Jahre ältere Pflegesohn, den seine Eltern aufgenommen haben, führt nichts Gutes im Schilde. Joe Bausch spricht erstmals über die Traumata seiner Kindheit und Jugend und darüber, wie sie seinen Lebensweg geprägt haben. 

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Verrücktes Blut

JOE BAUSCH, Jahrgang 1953, arbeitete als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort. Seine bei Ullstein erschienenen Bücher Knast, Gangsterblues und Maxima Culpa waren allesamt Bestseller.KERSTIN CANTZ, seine Co-Autorin, hat bislang acht Romane veröffentlicht und schreibt Drehbücher fürs Deutsche Fernsehen.

Ein Bauernhof im kargen Westerwald, Anfang der Fünfzigerjahre. Die Schrecken und Entbehrungen des Krieges stecken den Menschen noch in den Knochen. Ohnehin herrscht in dieser Gegend seit jeher ein raues Klima. Für freundliche Aufmerksamkeit haben die Eltern keine Zeit, für zärtliche Zuwendung keinen Sinn. Josef Hermann, der sich später Joe nennen wird, ist ein aufgewecktes Kind. Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, noch vor der Einschulung lesen lernt mit den Zeitungen, die auf dem Plumpsklo ausliegen, und das von klein auf im Familienbetrieb mithelfen muss. Aufs Gymnasium darf er nur, weil er weiterhin schuftet bis zum Umfallen. Schläge sind an der Tagesordnung – und der 13 Jahre ältere Pflegesohn, den seine Eltern aufgenommen haben, missbraucht das Vertrauen des Kindes. Joe Bausch spricht erstmals über sein Aufwachsen als Bauernsohn in der Nachkriegszeit und darüber, wie die zum Teil traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend ihn prägten.

Joe Bausch

Verrücktes Blut

oder: Wie ich wurde, der ich bin

Ullstein

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ISBN 978-3-86493-248-9

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

2009, Werl

Der Vorname

Kind vom Land

Mehr Blut

Der Bauer und seine Scholle

Der Hof

Spiele

Das andere Kind

Das Dorf

Die Farbe des Geldes

Fürs Leben lernen

Im Namen des Herrn

Fürs Leben lernen

Geschichtsstunde

Von Oberzeuzheim nach Hellas und zurück

Reifeprüfung

Nichts wie weg

Gegen die Wand

Sprung ins Leere

Jahre später

Abschied

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

2009, Werl

Widmung

Für meine Eltern

Motto

Durch so viel Formen geschritten,durch Ich und Wir und Du,doch alles blieb erlittendurch die ewige Frage: wozu?Das ist eine Kinderfrage.Dir wird erst später bewusst,es gibt nur eines: ertrageob Sinn, ob Sucht, ob Sagedein fernbestimmtes: Du musst.Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,was alles erblühte, verblich,es gibt nur zwei Dinge: die Leereund das gezeichnete Ich.Gottfried Benn

2009, Werl

Ich schaffe es gerade so nach Hause. Ich fühle mich zerschlagen, als hätte man mich gegen eine Wand geschleudert. So wie früher auf dem Hof meiner Eltern die neugeborenen Ferkel, die schwachen, die Freckerlinge.

Mein Vater nannte mich gern so. Freckerling.

In meiner Küche kriege ich die Flasche Rotwein nicht auf. Aus dem Fenster sehe ich die beleuchtete Knastmauer aus rotem Backstein. Ich heule. Widerwillig, haltlos.

Wütend über die Wucht des Schmerzes, der aus seinen Verstecken hervorbricht.

Düstere Horizonte, graue Himmel. Mehr Schatten als Licht. Zusammengepresste Lippen in verhärmten Gesichtern. Angst, Gewalt, Scham. Schuld und Scheiße. Das Leiden Christi zu Pferd.

Es sind Bilder aus dem Film Das weiße Band, den ich an diesem Abend im Kino gesehen habe. Es sind Szenen, die mir von meinem Vater erzählen. Von Dingen, über die er nie gesprochen hat und nach denen ich nie auf die Idee gekommen wäre zu fragen. Ich war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu bekämpfen, zu hassen, seiner Anerkennung nachzujagen.

Der Film trifft mich bis ins Mark, weil er von Vätern und Söhnen erzählt, von Einsamkeit, Brutalität und Schweigen.

In dem Dorf, wo schwere Arbeit das Leben bestimmt, sehe ich das Dorf, in dem ich groß geworden bin. In den Erwachsenen erkenne ich meine Eltern, in den Kindern erkenne ich mich.

Ich heule Rotz und Wasser.

In den nächsten Tagen sehe ich den Film noch dreimal. Doch es wird nicht besser.

Der Vorname

Meine Mutter war eine Spätgebärende, als sie mich am 19. April 1953 unter den üblichen Strapazen einer spontanen Geburt auf die Welt presste. Schauplatz des lang ersehnten Ereignisses war der Bauernhof meiner Eltern in Ellar, einem kleinen Dorf im Westerwald.

Ich war ein Sonntagskind. Das Dorf erfuhr von der Niederkunft auf dem Bausch-Hof in der Kirche, umgehend nach der Missa Cantata. Ein Sohn.

Hochgelobt sei der da kommt.

Im Namen des Herrn.

Ein Hoferbe war geboren. Niemand im Dorf hatte damit noch gerechnet, am wenigsten meine Eltern, die zu diesem Zeitpunkt fünfunddreißig und vierzig Jahre alt waren. Sie hatten bereits ein fremdes Kind angenommen in ihrer Not. Es würde stören, aber darüber machte sich damals noch niemand Gedanken.

An diesem gloriosen Sonntag nahm mein Vater in ungetrübter Freude Glückwünsche entgegen. Beim Frühschoppen nach dem Hochamt begoss er seinen Erstgeborenen in geschlossener Männergesellschaft. Eine Runde folgte auf die nächste, Bier auf Schnaps und Schnaps auf Bier.

Vielleicht heiße ich deshalb nicht Wolfgang oder Gerd, wie meine Mutter es sich gewünscht hatte. Mag sein, dass mein Vater es im Rausch vergessen hatte. Wahrscheinlich ist, dass der nebenamtliche Gemeindeschreiber, hauptberuflich Bauer wie mein Vater, am 19. April 1953 ebenso betrunken war wie er.

Wenn früher mein Geburtsdatum fiel, folgte so gut wie sicher die Bemerkung: »Ein Tag vor Führers Geburtstag.« Das ging über viele Jahre so, bis ich in meiner Pubertät selbst begann, die provozierende These zu pflegen, dass ich wegen Göring und Goebbels Hermann Josef heiße.

Acht Jahre nach Kriegsende geboren, schien mir die Geschichte schlüssig, mit der ich meinen Vater ungerührt dem Verdacht aussetzte, ein Nazi zu sein. Dabei wusste ich es schon damals besser. Wegen allem, was ich ihn hatte erzählen hören.

Zweifellos ist mein Vater, Jahrgang 1913 und in der Weimarer Republik groß geworden, mit der Angst vor den Kommunisten aufgewachsen. Von den Bauern waren die Spartakisten vor allem deshalb gefürchtet und gehasst, weil sie Getreidemühlen überfielen, um dem hungernden Volk Mehl fürs tägliche Brot zu beschaffen. Einen Nazi machte das aus meinem Vater später trotzdem nicht.

Realistisch betrachtet wird es sich am Tag meiner Geburt so verhalten haben, dass Gemeindeschreiber Hermann Jeuck und mein Vater Josef Bausch sternhagelvoll entschieden, mir schlichtweg ihre Vornamen zu verpassen. Zudem soll erwähnt sein, dass alle männlichen Erstgeborenen der Familie Bausch Josef genannt wurden.

Meine Mutter nahm es klaglos hin, ganz wie es ihre Art war.

Vielleicht schlachtete meine Großmutter Anna ein Huhn und kochte über Stunden eine gute Suppe, um die Wöchnerin wieder auf die Beine und an die Arbeit zu bringen. Doch vermutlich wird es sich so nicht abgespielt haben.

Es waren karge Zeiten. Der Krieg saß den Leuten noch in den Knochen. Vom Wirtschaftswunder war auf dem Land keine Rede. Schmalgesichtig präsentierten meine Eltern ihren Sohn für das Familienalbum. Mich. Ein rundes gesundes Kind, das ihnen und dem Hof eine Zukunft versprach.

Kind vom Land

Da, wo ich herkomme, war es üblich, ein Neugeborenes erst dann zu fotografieren, wenn man sicher sein konnte, dass es überlebte. Ich mag sechs Monate alt gewesen sein, als ein Fotograf bestellt wurde. Bauern fotografierten nicht.

Der erste Fotoapparat kam als Geschenk zu meiner Kommunion auf unseren Hof. Liane, eine Tochter der Sudetendeutschen, die zu Kriegszeiten auf dem elterlichen Hof meiner Mutter einquartiert gewesen waren, hat ihn mir geschenkt. Aus den jungen Frauen waren Freundinnen fürs Leben geworden.

Im Herbst 1953 also zog mein Vater seinen guten Anzug an und trug Krawatte, meine Mutter ihr bestes Kleid und Perlenkette. So stellten sie sich vor dem Küchenfenster, an dem Kondenswasser herabrann, für den Fotografen auf.

Ich war offensichtlich fasziniert von dem Geschehen.

Meine ersten bildhaften Erinnerungen gehen auf das Alter von vier bis fünf Jahren zurück. Sie sind mit sehr unterschiedlichen Gefühlen verbunden.

Ich sehe mich in der Küche im Waschstein stehen. Mal ist es meine Mutter, mal die Tante, die Mühe hat, mich von Kopf bis Fuß abzuseifen. Ich glitsche ihnen durch die Hände wie ein zappelnder Fisch, bis es was hinter die Ohren gibt.

Die Küche ist immer der wärmste Raum im Haus. Hier kommen alle zusammen. Hier wird gekocht, gebacken, gegessen. Hier können jederzeit auch Gäste mit am Tisch sitzen.

Am schönsten ist es, wenn meine Oma Anna zu uns kommt. Sie ist die Mutter meiner Mutter und ein ganz anderer Mensch als die meines Vaters. Oma Anna ist freundlich, warmherzig und zugewandt. Wenn sie Kuchen backt, darf ich den Löffel ablecken. Sie bringt meine Mutter zum Singen, wenn die beiden gemeinsam Marmelade einkochen und das ganze Haus danach duftet, oder wenn sie das Essen für zehn Männer zubereiten, die meinem Vater beim Getreidedreschen helfen. Das Singen macht die Küche zu einem glücklichen Ort. »Wir müssen es uns schön machen«, sagt Oma Anna, »das Leben ist hart genug.«

Samstag ist in der Küche Badetag. Alle waschen sich am Waschstein mit dem warmen Wasser, das von einem großen Topf auf unserem weißen Emaille-Herd kommt. Dem Herd mit seiner blank polierten Chromstange darf ich nicht zu nahe kommen. Er ist groß wie ein Schiff, mit glühender Kohle in seinem Inneren.

Erstes Bild im Herbst 1953

Sommer. Ich sitze ich mit meinem kleinen Bruder Anton, der zweieinhalb Jahre nach mir geboren wurde, in einer Zinkwanne draußen im sonnigen Hof. Ich kann den Misthaufen in der Nähe riechen. Bäuchlings mache ich Schwimmbewegungen. Meine Fußnägel schrammen über den Wannenboden. Ein Geräusch wie Kreide an der Tafel.

Mit dem Schwimmen sollte ich mich im Übrigen später noch schwertun. An heißen Sommertagen badeten wir Dorfkinder oft im Lasterbach, der an unserem Garten vorbeifloss. Manchmal trieben dort tote Hühner. Die Leute warfen das verendete Federvieh schlichtweg in den vorüberfließenden Bach, wenn es für den Kochtopf nicht taugte. Ich kann versichern, dass es ein ausgesprochen widerwärtiges Gefühl ist, mit nackten Füßen auf ein zum schlammigen Grund gesunkenes Huhn zu treten. Es hat mir das Schwimmen auf lange Zeit vermiest. Bis heute gelingt mir das ausschließlich in klaren Gewässern, in denen ich bis auf den Grund sehen kann.

Ähnliches Grauen bereitete mir als Kind der Keller. Wurde ich geschickt, um ein Glas Eingemachtes aus einem der vergitterten Vorratsschränke zu holen, Kartoffeln oder Äpfel, die dort unten auf Holzstiegen eingelagert waren, versuchte ich mich zu drücken, die Zeit auszudehnen, bis ich dem nachkam, was man mir aufgetragen hatte.

Mit den Eltern

Im Keller gab es Ratten. Noch bevor ich den ersten Schritt die Steintreppe hinunter machte, sträubten sich mir die Haare im Nacken, wenn ich das hohe Fiepen der Tiere hörte, ihr hastiges Huschen. Die verstaubte Glühbirne an der Kellerdecke verbreitete wenig Licht, dafür umso mehr tiefschwarze Schatten, in denen ich ein angriffslustiges Rattenheer vermutete. Die Stille aus der Dunkelheit machte mir ebenso viel Angst wie ein fremdes Geräusch. »Nimm ein Messer zwischen die Zähne und geh«, sagte mein Vater.