Meet Me Under The Stars - Lena Herzberg - E-Book

Meet Me Under The Stars E-Book

Lena Herzberg

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Beschreibung

Die Sterne zeigen dir die Liebe  Nova glaubt an Horoskope, überzeugt von der Weisheit der Sterne. Auch Weston widmet sich den Sternen, allerdings streng wissenschaftlich. Als Rockstar der Astronomie hält er Astrologie für reine Illusion. Wenig überraschend, dass bei ihrem ersten Aufeinandertreffen die Funken fliegen. Einige Jahre später braucht Nova ausgerechnet Westons Hilfe, als es um ihre Vergangenheit geht. Deshalb nimmt sie unter einem falschen Vorwand einen Job in dem Freizeitcamp an, in dem Weston mittlerweile lehrt. Zwischen Sternbildern und Sternzeichen ist da sofort wieder diese heftige Spannung. Ist es ihre Gegensätzlichkeit, die sie anzieht? Oder liegt es an diesem Moment, als sie sich beinahe geküsst hätten? Sie hört auf ihr Herz, er nur auf seinen Kopf – der erste Teil der Above-Us-Trilogie

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Seitenzahl: 440

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Lena Herzberg

Meet Me Under The Stars

 

 

Über dieses Buch

 

 

Weston ist ein gefeierter Astronom und hat eine eigene Fernsehshow. Doch von einem Tag auf den anderen zieht er sich aus der Öffentlichkeit zurück. Nicht einmal seinen Freunden vertraut er den Grund dafür an. In der Küstenstadt Whitstable hofft Weston, die Ereignisse zu verarbeiten. Dort hat er sich ein Anwesen mit einer Sternwarte gekauft und arbeitet in dem Freizeitcamp aus seiner Jugendzeit. Langsam findet er wieder zur Ruhe, bis Nova auftaucht – die Astrologie-Journalistin, die ihn in einem Artikel zerrissen hat. Aber es kommt noch besser: Er soll mit ihr im Camp zusammenarbeiten. Umgeben von Sternenkarten und Kosmologie beginnt eine Zeit voller Knistern und Wortgefechten.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Lena Herzberg erzählt ihre Geschichten über die Liebe aus einem idyllischen Städtchen in der Nähe von Frankfurt am Main, wo sie mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrem Hund Ecki lebt. Lena kommt aus einer Familie, in der Bücher und das Lesen schon immer einen großen Stellenwert hatten. Seit 2016 entführt sie ihre Leserinnen und Leser in weit entfernte Metropolen oder heimelige Kleinstädte.

Inhalt

[Motto]

1. Nova

2. Weston

3. Nova

4. Weston

5. Nova

6. Weston

7. Nova

8. Weston

9. Nova

10. Weston

11. Nova

12. Weston

13. Nova

14. Weston

15. Nova

16. Weston

17. Weston

18. Nova

19. Nova

20. Weston

21. Nova

22. Nova

23. Weston

24. Nova

25. Weston

26. Nova

27. Weston

28. Nova

29. Weston

30. Nova

31. Weston

32. Nova

33. Nova

34. Weston

35. Nova

Danksagung

Sie war wie ein Stern.

Um für andere Licht zu spenden,

nahm sie in Kauf, zu verbrennen.

- Weston Jones -

1Krebs

Krebse sind gute Zuhörer, aber noch bessere Beobachter.

Nova
Vier Jahre zuvor

»Suchen wir Menschen uns nicht immer Dinge, an die wir glauben können, um unser Leben einfacher zu gestalten? Warum ist es also das Schicksal der Astrologie, teilweise belächelt zu werden? Oder ist die Astrologie so gefürchtet, weil sie ein unabänderliches Schicksal prophezeit?«

»Wenn Thompson noch einmal das Wort Schicksal sagt, schreie ich.« Ich versuchte, das dumpfe Gemurmel des Mannes neben mir zu ignorieren, der wie ein billiges Double von Rowan Atkinson aussah, einschließlich der buschigen Augenbrauen. Es war nicht das erste Mal, dass sich jemand über die Astrologie lustig machte, und auch bestimmt nicht das letzte Mal. Als eine der größten Astronomie-Messen weltweit fuhren die Organisatoren der AstroFair groß auf. Es gab kostenlose Thunfischhäppchen – um die ich einen riesigen Bogen gemacht hatte, mein Sitznachbar aber, seinem Atem nach zu urteilen, augenscheinlich ganz und gar nicht. Hübsche Hostessen verteilten Flyer, die ohnehin im Mülleimer landeten, und dann war da natürlich noch ein monströser Haufen von sich und ihren Theorien überzeugter Forschender. Der pompöse Konferenzraum war bis zu seinen stuckverzierten hohen Decken gefüllt mit einer Wolke aus billigem Aftershave und Überheblichkeit.

Dabei würde ich nicht behaupten, dass alle Wissenschaftler so waren. Ich kannte durchaus Astronomen, Astrophysiker und andere Studierte, die klug und nichtsdestotrotz empathisch genug waren, mit anderen Menschen umgehen zu können. Nicht alle waren ein unempathischer Sheldon-Cooper-Verschnitt.

Dennoch wirkte es so, als hätte sich die gesamte Wissenschaftsarroganz Englands hier versammelt. Es fühlte sich an wie ein Laborexperiment eifriger Psychologiestudenten. Man nehme einen Raum und fülle diesen randvoll mit superschlauen Wissenschaftlern. Die Möglichkeiten dessen, was passierte, waren unendlich und liefen trotzdem immer auf das gleiche Ergebnis hinaus: Jeder wollte recht behalten, und das gipfelte in einem riesigen Tumult aus hinausgeschrienen Thesen und wilden Theorien.

»Wir sollten ein Trinkspiel draus machen«, erwiderte plötzlich der Mann zu meiner Linken und lehnte sich ein wenig zu mir, so dass ich seinen Atem riechen konnte. Definitiv noch jemand, der sich an den kostenlosen Thunfischhäppchen satt gegessen hatte. Er warf mir einen grinsenden Blick zu. Wollten sie, dass ich mich an ihrer Unterhaltung beteiligte? Ich fand, dass Marcus Thompson, der nun auf der Bühne auf und ab ging, einer der klügsten Astrologen des Landes war. Die beiden Gründe, weshalb ich zwischen den Männern hier festsaß, waren meine Chefin Geraldine, die von mir einen spannungsgeladenen Artikel über dieses Spektakel erwartete, und dass ich Mr. Thompsons Vortrag unbedingt hören wollte.

Vielleicht war ich heute ganz mutig und besorgte mir später sogar ein Autogramm. Was würde das Komikerduo Rowan Atkinson und sein untersetzter Freund mit Halbglatze Benny Hill dann tun? Ich wandte den Blick ab, versuchte, mich weiter auf den Vortrag auf der Bühne zu konzentrieren, und verfolgte Thompsons Theorien. Astrologie gegen Astronomie. Persönliche Sterndeutung gegen trockene Wissenschaft. Ein Kampf, der bereits jahrzehntelang ausgefochten wurde und bei dem es niemals einen Gewinner geben konnte, denn beides hatte völlig unterschiedliche Ansätze.

Verhaltenes Klatschen durchdrang die Stille, die nur hin und wieder von einem Räuspern oder respektlosen Flüstern unterbrochen worden war. Thompson nickte den Menschen vor sich freundlich lächelnd zu, und ich gab alles als größter Fan des Abends.

Der Moderator bedankte sich bei ihm, und auf einmal war es so, als hätte jemand ein Fenster aufgemacht, und die kühle Oktoberluft weckte die Menschen aus ihrem tiefen Schlaf. Köpfe schossen hoch, aufgeregtes, nervöses Kichern erklang. »Prof. Dr. Weston Jones, Astrophysiker und unser Starredner des Abends.« Es folgte eine lange Lobrede auf einen Mann, den alle seit kurzem als den Rockstar der Astronomie bezeichneten. Und das sicherlich nur, weil er optisch voll in die göttliche Süßigkeitentüte gegriffen hatte und seit einem halben Jahr der Star der Sendung The Universe and the Stars eines bekannten Streaminganbieters war. Die wenigen Frauen im Saal reckten die Hälse, und die Männer flüsterten ehrfürchtig voller Respekt etwas über seine herausragende Arbeit. Ja, okay, unter den Nerds aller Nerds war er wohl der Oberboss. Er hatte es drauf, aber warum feierten die Merkmale attraktiv und klug so oft gemeinsam eine Party mit arrogant?

Weston betrat die Bühne in einem schicken Zweiteiler aus hellgrauem Stoff, der sich über seinen breiten Schultern spannte. Er hatte auf eine Krawatte verzichtet und trug weiße Turnschuhe, die wohl seine absolute Lässigkeit unterstreichen sollten. Er wirkte genauso groß und eindrucksvoll wie in seiner Sendung. Die Menge huldigte ihm mit Standing Ovations. Weston war für sie so etwas wie die gigantische Sahnetorte mit kandierten Kirschen, und allen hier lief das Wasser im Mund zusammen. Als Journalistin war es äußerst interessant, den Stimmungsumschwung hautnah mitzuerleben.

Er nickte mit einem geheimnisvollen, sexy Lächeln in die Menge und stellte sich hinter das Podium. Die Menschen setzten sich und klebten an seinen Lippen, als er seinen Vortrag über die Kartierung der Metallizitätenentwicklung im Universum mit einem Gag einleitete. Ich musste zugeben, das war nicht gerade eines der Themen, in denen ich mich besonders auskannte, weshalb ich nur mit halbem Ohr zuhörte. Dafür gab sein gesamtes Äußeres mit den zerzausten dunkelbraunen Haaren, durch die er sich hin und wieder fuhr, und dem verwegenen Dreitagebart ein wirklich beeindruckendes Bild ab. Er sah aus, als würde er mit seinem schicken Anzug direkt auf eine Harley-Davidson steigen. Hinten drauf selbstverständlich eine gertenschlanke Blondine, deren langes Haar selbst durch einen engen Helm nicht durcheinandergebracht werden konnte, während beide in den Sonnenuntergang fuhren.

Es war merkwürdig faszinierend, mit welchem Herzblut Weston über dieses trockene Thema dozierte, und für einen Moment verstand ich seine Leidenschaft. Als er allerdings einen Witz über Sternzeichen riss, wusste ich, er war wie alle anderen hier. Er hielt Astrologie für Humbug, was uns definitiv unterschied. Denn dem, was die Leute hier als Esoterik bezeichneten, war ich komplett verfallen. Durch meine Mum und Grandma liebte ich die Deutung der Sternzeichen und konnte mich glücklich schätzen, seit beinahe einem halben Jahr für das Frauenmagazin The Stunning schreiben zu dürfen. Dort war ich alleinige Herrscherin über den Horoskop- und Astrologiebereich. Ja, gut, ich schrieb oft Artikel darüber, wann der Mond perfekt für eine neue Liebe oder zum Abnehmen einiger Kilos stand, doch hin und wieder durfte ich spannende Recherchereisen unternehmen wie heute.

Und da kam mir die Idee, wie ich meine Chefin ziemlich beeindrucken könnte. Vielleicht verkürzte sie sogar die Probezeit, wenn ich ihr einen Artikel über Weston Jones lieferte. Normalerweise zählte es zu meinen Talenten, jemanden zu interviewen, aber Jones war dafür bekannt, Journalisten zu hassen. Und das, als einer der angesagtesten Fernsehstars, auf den gerade jeder zu stehen schien, doch vielleicht machte gerade seine Geheimnistuerei seine Faszination aus.

Wie dem auch sei, Rowan und Benny klebten genauso an seinen Lippen wie alle anderen, denn sie hatten geschlagene zehn Minuten weder gesprochen noch laut geatmet. Jeder Hustenreiz im Saal wurde augenblicklich unterdrückt, um Weston bei seinem Vortrag nicht zu stören. Ich versuchte, hinter seine Fassade zu schauen. Er war kühl und trotzdem charmant. Das musste man erst mal hinbekommen.

Plötzlich war es, als würde jeder der dreihundert Anwesenden die Luft anhalten.

Weston unterbrach seinen Redefluss, und sein Blick flog suchend durch die Menge, während ich begann, hektisch in meiner unordentlichen Beuteltasche zu kramen, um nicht zum negativen Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu werden. Ich musste nicht erst aufsehen, um zu spüren, dass er den Störenfried lokalisiert hatte. Mich. Trotzdem tat ich es. Sein kalter Laserblick bohrte sich durch meine Augen direkt in mein Hirn und verbrutzelte meine Zellen. Ich fühlte, wie ich knallrot anlief, während ich weiter in meiner Tasche wühlte. Wake Me Up Before You Go-Go – alias mein Klingelton – schien Westons Fanclub im Raum fast in Tränen der Panik ausbrechen zu lassen. Ich wartete auf schrille Schreie, die verkündeten, mich als die Hexe auf ihrem Scheiterhaufen aus Sternenstaub verbrennen zu wollen.

Meine Finger griffen immer wieder ins Leere, und ich befürchtete, dass Weston gleich wie ein übermenschlicher Vampir in einem Satz von der Bühne springen und mich mit seinen Krallen zerfetzen würde. Die Luft im Raum kühlte merklich um mehrere Grad ab.

»Ähm, ich … hab’s gleich!«, rief ich und zog endlich mein Smartphone aus der Tasche. Mein schneller Atem und peinliches Glucksen hallten von den vertäfelten Wänden wider. »Da ist es ja!« Erleichterung durchflutete mich, als ich auf den roten Knopf drückte. »Sorry, Sie können weitermachen«, sagte ich kleinlaut.

Weston bebte vor Zorn, seine Lippen waren zu einem perfekten Strich zusammengepresst, und aus seinen Ohren trat weißer Rauch aus. Okay, das bildete ich mir vielleicht nur ein, aber es würde nicht mehr lange dauern, da war ich mir sicher.

»Ausgesprochen großzügig«, sagte er mit kühler, distanzierter Stimme und steckte lässig die Hände in die Taschen seiner Anzughose. Seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich unangenehmerweise auf mich. »Ich habe mich schon länger gefragt, ob Wham! wohl wieder in Mode kommen wird. Scheint, als hätte ich meine Antwort.« Ein schadenfrohes Grinsen erschien auf seinen Lippen.

Im Raum brach Gelächter aus, und ich wünschte, ein schwarzes Loch würde mich in diesem Augenblick verschlucken. Meine Wangen brannten heiß vor Scham, doch ich besann mich schnell. Ich war nicht hier, um als Amüsement eines arroganten Astronomen herzuhalten. Zwar war der Plan gewesen, in Weston Jones’ Gunst zu steigen, dennoch konnte ich das nicht auf mir sitzenlassen.

»Nun, ich habe gerade Ihren Vortrag gehört und mir gedacht, dass eine kleine Aufmunterung nicht schaden könnte«, erwiderte ich provozierend. Anscheinend funktionierte es, denn das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Einige Anwesende räusperten sich betreten, aber ganz dezent hörte ich sogar einige hustende Lacher.

»Sie finden meinen Vortrag also uninteressant, Miss …?«

»Staron.«

»Miss Staron«, vervollständigte er, und plötzlich fühlte es sich so an, als wären nur wir beide im Raum. Sein Blick hielt mich so fest gefangen, dass ich für einen Moment den Eindruck hatte, der komplette Sauerstoff entwiche meiner Lunge. Niemals zuvor hatte der bloße Klang meines Nachnamens aus dem Mund eines Fremden so intensiv und durchdringend auf mich gewirkt. »Da Sie offensichtlich eine Expertin auf dem Gebiet der Kosmologie sind und meine Ausführungen Sie langweilen – möchten Sie nicht nach vorne kommen und uns Ihre Sicht zum Besten geben?«

Das Triumphgefühl fiel von mir ab wie ein welkes Blatt im Herbst von einem kahlen Ast. Verdammt. Ich hatte geblufft und verloren. »Ich … ähm … muss das leider ablehnen, es war ein sehr wichtiger Anruf. Vielleicht später«, stotterte ich und wandte den Blick von ihm ab. Als wäre ich nicht mehr als eine lästige Unterbrechung gewesen, widmete er sich erneut seinem Vortrag, und ich atmete erleichtert, aber auch etwas angeschlagen aus. Ich schaute die Leute um mich herum entschuldigend an, klemmte mir meine Tasche unter den Arm und schob mich mit vielen »Sorrys« und »Entschuldigungs« durch die Sitzreihe, bahnte mir den Weg an herangezogenen Beinen vorbei und versuchte, mich so leise wie möglich zu bewegen. Was nicht gerade einfach war, denn der Weg nach draußen ähnelte einem Spießrutenlauf. Ich wartete immer noch jeden Moment auf die Fackeln und Heugabeln, weil ich den großartigen Dr. Weston Jones verunglimpft hatte.

Draußen angekommen schloss ich behutsam die Tür und holte tief Luft. Geschafft. Gipfel der Peinlichkeit heute erfolgreich erklommen! Auch wenn mein Herz immer noch in der Brust raste.

»Thunfischhäppchen?«, fragte ein Kellner in einem modischen blauen Shirt, auf dem das Logo der Veranstaltung stand.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein danke.«

Langsam sickerte in meinen Verstand die Erkenntnis, dass ich zwar die Aufmerksamkeit von Weston Jones auf mich gezogen hatte, er mir aber sicherlich jetzt erst recht kein Interview geben würde. Verdammter Mist.

Doch zuerst kümmerte ich mich um den Anrufer.

Das Klingeln in der Leitung dauerte deutlich zu lange, und ich tippte ein wenig nervös mit der Schuhspitze auf den roten Teppichboden, während ich mir das Handy gegen das Ohr drückte. »Nova!«, stieß meine Grandma aus, als wäre sie überrascht, dass ich zurückrief.

»Alles in Ordnung, Sol?« Solveigh Staron war die exzentrischste Person, die mir je in meinem Leben begegnet war, und sie legte großen Wert darauf, nicht als Grandma angesprochen zu werden, denn sie fühlte sich mit ihren achtzig immer noch wie Mitte zwanzig. Sie ließ sich nicht in irgendwelche Schubladen stecken und verbrannte immer noch regelmäßig ihre BHs auf Demos für die Frauenrechte. Schon immer war sie mein Vorbild gewesen, dennoch konnte ich sie nur in kleinen Dosen ertragen. Als ich nach der Highschool aus meinem Heimatort, einem Dörfchen namens Avebury, in die große Stadt Manchester zog, um eine private Ausbildung bei einer anerkannten Astrologin zu absolvieren und gleichzeitig Journalismus zu studieren, fühlte es sich an wie Durchatmen.

»India Pale oder Porter?«

»Bitte?«, fragte ich, weil ich mir nicht sicher war, ob ich mich verhört hatte.

Im Hintergrund ertönte eine zweite Stimme. »Ja, genau«, sagte meine Grandma zu der anderen Person. »Sharon meinte, du nimmst auf jeden Fall das Porter.«

»Du rufst mich an, weil du wissen willst, welche Biersorte ich lieber mag?« Und dafür hatte ich den Wissenschaftsgott höchstpersönlich verärgert? Ich würde definitiv in seiner Hölle der Verdammnis schmoren.

Ich sah es vor mir. Grandma saß mit ihrer Lebensgefährtin an ihrem abgewetzten Holztisch in ihrer Küche, in der Mitte einen Stapel Geldscheine. So sehr Grandma für die Rechte aller kämpfte, so sehr war sie gleichzeitig dem teuflischen Glücksspiel verfallen.

»Passt es dir gerade nicht?«

Hm, mal sehen … vielleicht könnte ich das Thema bei Weston als Einstiegsfrage für das Interview nehmen. »Porter«, antwortete ich. »Aber am liebsten trinke ich Stout.«

»Thunfischhäppchen?« Verdammt, was hatten die Leute hier nur mit diesem Katzenfutter? Ich schüttelte den Kopf und deutete auf mein Handy, damit der Kellner verstand, dass ich wirklich gerade nichts wollte. Er zuckte mit den Schultern und zog wie Frodo von dannen.

»Wer war das?«

»Nur jemand, der mir etwas zu essen andrehen wollte. Ich bin auf einer Konferenz in London.«

»Wissen die da, wie Thunfische gefischt werden?«, kreischte Sharon im Hintergrund. Anscheinend hatte Grandma mich auf laut gestellt.

»Ich muss Schluss machen, melde mich später! Bye, bye!« Seufzend steckte ich das Smartphone wieder in meine Handtasche. Es war nicht so, dass ich nicht wichtig fand, wofür meine Grandma und ihre Freunde einstanden. Ich fand es sogar sehr wichtig, für seine Prinzipien einzustehen und zu versuchen, das Lenkrad der Erde im letzten Moment vor dieser riesigen Wand, die uns alle zerschmettern würde, herumzureißen. Aber hin und wieder konnte man auch einmal durchatmen und akzeptieren, dass es Menschen gab, die anders dachten.

Wenn ich am Wochenende nach Hause kam, erwartete mich dieses Mal sicherlich eine riesige Diskussion darüber, was ich die Woche gegessen hatte.

Hinter der Tür zum Konferenzraum erklang Gelächter, wahrscheinlich hatte Weston erneut einen nerdigen Physikerwitz gerissen, den nur die Menschen hier kapierten. Ich konnte jetzt nicht wieder da reingehen, er würde mich bestimmt mit seinem Laserblick brutzeln.

Also drückte ich mich vor den Seitentüren herum, ging zu einigen Ständen, die im Vorraum aufgebaut waren, um mir technische Dinge über das beste Heimteleskop von allen erklären zu lassen und einen kostenlosen Sekt zu viel zu trinken. Mist, mir wurde ein wenig schwummerig, vielleicht hätte ich doch eines dieser Häppchen essen sollen.

Irgendwann machten meine Füße in den deutlich zu hohen Hacken schlapp, und ich setzte mich in der Ecke in einen gemütlichen Sessel, der mit grünem Samt bezogen war. Gelangweilt scrollte ich durch mein Handy, schaute sinnlose, aber wirklich süße Katzenvideos und wartete auf meine Chance, Weston Jones zu schnappen und mich bei ihm zu entschuldigen – und ihm im besten Fall ein kurzes Interview abzuringen.

Endlich öffneten sich die Türen, und die Menschen drängten in den Vorraum, um sich zu stärken oder einfach nur auf die Toilette zu gehen.

Doch von Weston keine Spur. Hatten Leute wie er durch ihren Promistatus einen Hintereingang, den sie benutzen konnten? Ich stand auf und inspizierte die Gesichter der Leute, schlängelte mich durch die Masse in Richtung Eingang des Konferenzraumes, doch dieser war bis auf einige Leute, die den Müll zwischen den Stuhlreihen aufhoben, leer. Ich entdeckte den Moderator, der über eine kleine Treppe nach unten stieg, den Blick fest auf ein Tablet gerichtet. Laut seinem Namensschild hieß er Davie Wolfhard.

»Ähm, Entschuldigung, Mr. Wolfhard?« Ich stellte mich ihm in den Weg. »Können Sie mir sagen, wo ich Weston Jones finde?« Sein Blick wanderte über mein pflaumenfarbenes A-Linien-Kleid mit ausgestelltem Rock und halblangen Ärmeln, das ich mir extra für dieses Event besorgt hatte. Anhand seines skeptischen Stirnrunzelns erkannte ich den Moment, in dem er meinen Presseausweis auf Höhe meiner linken Brust entdeckte. Vielleicht konnte ich froh sein, dass Weston diesen aufgrund der Entfernung nicht direkt gesehen hatte. Dann hätte er mich ganz bestimmt vor allen Anwesenden richtig auseinandergenommen.

Mr. Wolfhard setzte ein professionelles, abweisendes Lächeln auf und schaute mir wieder in die Augen. Seine Gegenwehr war unübersehbar. »Tut mir leid, Prof. Dr. Jones ist bereits fort. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag, genießen Sie die Häppchen, besonders die mit Thunfisch sind zu empfehlen.«

Würg. Hatte er sich das Rezept einfallen lassen? Er wollte an mir vorbeigehen, doch so einfach ließ ich mich nicht abwimmeln. Ich schnitt ihm erneut den Weg ab, und er sah überrascht auf. Er trug einen modischen Anzug mit Weste, einem roten Einstecktuch, und seine grau-schwarzen Haare waren perfekt gestylt. Wo waren die Zeiten, in denen Nerds einfach nur schlecht gekleidete, aber süße Jungs waren, die rot wurden, wenn sie einer Frau begegneten? »Tut mir leid, ich muss ihm unbedingt etwas sagen.«

»Ach ja?« Er bedachte mich schon wieder mit diesem Blick, der besagte, dass er genau wusste, was ich im Sinn hatte. »Was denn?«

»Das ist sehr privat, ich würde es ihm gerne selbst mitteilen.«

Seine linke Augenbraue wanderte immer höher. Er glaubte mir nicht. Natürlich nicht, mein Bluff war auch nicht gerade einfallsreich. Verdammt, wieso funktionierte mein Hirn immer in den Momenten nicht, in denen ich es besonders brauchte? »Wenn Sie sich für diese peinliche Aktion während seines Vortrags entschuldigen möchten, schreiben Sie seiner Assistentin eine Mail. Schönen Tag.«

Damit ließ er mich stehen und lief aus dem Raum. Für einen Atemzug sackten meine Schultern nach unten, und ich hatte die Befürchtung, mich geschlagen geben zu müssen. Doch plötzlich eröffnete sich eine neue Möglichkeit. Unbeliebt hatte ich mich heute ohnehin gemacht, wieso nicht noch ein wenig mehr riskieren?

Ich schaute mich kurz um, damit mich niemand sah, stieg die schmale Treppe nach oben und schlüpfte durch den Vorhang hinter die Bühne. Geraldine würde stolz auf mich sein. Ich war eine gute Journalistin, ich würde dieses Interview bekommen, komme, was wolle!

2Jungfrau

Die typische Jungfrau liebt alles, was klar und symmetrisch ist.

Weston

Ich dachte an die letzte Nachricht meines Agenten, dass sich der Drehplan für nächste Woche verschieben würde, und rieb mir über die müden Augen. Seit ich vor einem Jahr den Vertrag für mehrere Staffeln dieser neuen Show unterzeichnet hatte, hatte ich nicht mehr richtig geschlafen. Seit Drehbeginn vor einem halben Jahr war ich dauermüde und zweifelte jeden Tag daran, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, dieser Sache zuzusagen. Ich war Wissenschaftler, Forscher und wollte in anderen die Leidenschaft für die Astronomie wecken, wie es damals mein Mentor Richard bei mir getan hatte.

Mit der ganzen Aufmerksamkeit um meine Person, die das alles mit sich brachte, hatte ich allerdings nicht gerechnet. Doch ich sah auch, wie viele sich plötzlich für das Thema Astronomie interessierten, und war stolz, diesen Menschen etwas vermitteln zu können. Vielleicht musste ich dafür einfach die negativen Seiten in Kauf nehmen. Es war ja nicht so, dass es nur schlecht war, wenn man einen Prominentenstatus hatte, und ich sollte dankbar für diese Chance sein.

Ich legte den Kopf in den Nacken, um mir den Himmel über mir anzuschauen. Es war früher Abend, und wie so oft verdeckten in London graue Wolken den Himmel und erschwerten die Sicht auf die Sterne. Das Universum hatte mich schon immer fasziniert. Schon als Kind wollte ich mehr darüber herausfinden, und nach den Sommern, die ich in dem Feriencamp Sunside in der Nähe von Whitstable verbracht hatte, war der Drang, mehr über die Zusammenhänge herauszufinden, nur umso größer geworden.

Ich atmete tief die frische Herbstluft ein und ging zur Tür, die von dem kleinen efeubewachsenen Hinterhof zurück in das Haupthaus führte. Davie hatte mich überredet, den letzten Vortrag des Abends zu halten, und ich konnte ihm schlecht etwas abschlagen. Wir hatten gemeinsam ein Jahr in Stockholm in einem technischen Institut in der Forschung gearbeitet, ehe wir zurück in unsere Heimatstadt London gezogen waren.

Davie hatte begonnen, Events wie dieses hier auszurichten, während ich meinen Doktor in Astrophysik machte. Jeder bekam das, was er wollte.

Heute hatte er noch etwas zu erledigen, und wir planten, uns in einer Stunde auf ein Feierabendbier in einem Pub in der Nähe zu treffen. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, hatte ich vor, noch etwas Arbeit an meinem Laptop zu erledigen, jedoch eine kurze Pause eingelegt und diesen Hinterhof entdeckt. Es war eine Möglichkeit gewesen, um den Leuten vor dieser Tür aus dem Weg zu gehen, die mir haufenweise Fragen zu haufenweise Themen stellen würden, sobald sie mich sahen. Nicht zu vergessen die aasfressenden Journalisten, die bestimmt nicht nur wegen meiner fachlichen Fähigkeiten hierhergefahren waren, sondern auf den ersten Skandal des neuen Fernsehstars lauerten. Ich war noch nicht lange im Geschäft, aber hatte bereits zur Genüge die üblen Seiten dieses Business erfahren. Falsche Schlagzeilen, reißerische Artikel. Überall lauerten Fehler, die ich machen konnte.

Ich atmete ein weiteres Mal tief durch. Zurück an die Arbeit. Mein Handy, das in einem Raum hinter der Bühne gemeinsam mit meinem Jackett und meinem Laptop lag, war sicherlich schon wieder heißgelaufen. Ich zog an dem Knauf, doch die schwere Metalltür bewegte sich keinen Zentimeter. Mit all meiner Kraft ruckte und zerrte ich, ohne Erfolg.

Ich schaute mich in dem Hof um, der von einer hohen Backsteinmauer umgeben war. Es gab weder einen Müllcontainer noch etwas anderes, worauf man klettern konnte. Fuck. »Hallo?«, rief ich, aber ich hörte nur die Geräusche der Stadt, Autos hupten, Leute grölten an diesem Samstagabend.

Mit aller Kraft hämmerte ich gegen die Tür, rief und versuchte erneut, sie zu öffnen. Keine Chance. Das kleine Stück Pappe, das ich sogar zur Sicherheit in den Türspalt gesteckt hatte, war ein winziges bisschen verrutscht und brachte rein gar nichts. Großartig. Die Unruhe in mir wuchs stetig.

Wie ein Tier in einem Käfig lief ich hin und her, tastete die Mauer ab und fluchte leise vor mich hin, als ich hörte, wie quietschend die Tür hinter mir geöffnet wurde. Schnell drehte ich mich um – ein brünetter Haarschopf erschien. Ich eilte nach vorn, aber das Pappstück segelte auf den Boden, und die Tür fiel mit einem lauten Rumms wieder zu. Ungläubig starrte ich die Frau vor mir an, die mir kaum bis zur Schulter reichte. Sie sah zu mir hoch, und für einen Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Der neugierige Blick aus ihren hellbraunen Augen hielt mich gefangen, und ich erinnerte mich an ihre schlagfertige Antwort, die sie mir vor allen Anwesenden gegeben hatte, nachdem ihr alberner Klingelton meinen Vortrag unterbrochen hatte. Fast hätte es mich beeindruckt. Fast. Wenn es nicht so nervtötend gewesen wäre.

»Ist Ärger eigentlich Ihr ständiger Begleiter, oder machen Sie heute eine Ausnahme?«, fragte ich knurrend. Ich raufte mir die Haare und trat einen Schritt zurück.

Sie schaute mich schuldbewusst an, und für einen flüchtigen Augenblick tat es mir leid, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte, aber wenn es schlechtlief, waren bald fast alle in diesem Gebäude fort, und Davie würde erst in mehr als einer Stunde auffallen, dass ich nicht da war.

»Meine Güte, kriegen Sie sich wieder ein! Es war nur eine zweisekündige Unterbrechung Ihres göttlichen Vortrages, Prof. Dr. Jones. Sie werden es verkraften. Eigentlich wollte ich mich bei Ihnen entschuldigen, aber so …« Sie drehte sich herum und versuchte, wie ich zuvor, am Knauf zu ziehen.

»Die Tür«, erwiderte ich genervt. »Sie geht anscheinend nur von einer Seite auf.«

Panisch zerrte sie weiter daran herum. »Das ist nicht Ihr Ernst!«

Seufzend setzte ich mich auf den Treppenvorsprung davor. »Was denken Sie, wieso ich so aufgebracht war?«

»Weil Sie sich immer noch wegen Ihres Vortrages aufregen?« Sie hockte sich neben mich, bedacht, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu lassen.

»Keine Sorge, ich habe keine Sekunde mehr an Sie und diesen impertinenten Fauxpas gedacht.« Dass dies eine Lüge war, musste sie ja nicht wissen. Noch danach hatte ich mich über mich selbst geärgert, dass es mir schwergefallen war, wieder in meinen Text zu kommen. Selbst ein Witz als Überbrückung hatte mich meine Konzentration nicht sofort wiederfinden lassen. Ich hasste es, zu versagen. Tief durchatmend fand mein Blick den Himmel. Auch jetzt noch hatte ich tausend Dinge vorzubereiten und zu arbeiten, doch was tat ich? Ich saß hier fest. Mit einer dreisten Fremden ohne Anstand.

»Haben Sie Ihr Handy dabei?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Sorry, mein Akku hat beim Schauen von Katzenvideos schlappgemacht«, gab sie schuldbewusst zurück.

»Großer Gott, wie sinnlos verschwenden Sie Ihre Zeit eigentlich?«

»Dürfte ich Ihnen sagen, dass Sie in Wirklichkeit deutlich überheblicher rüberkommen als in Ihrer Show?« Sie holte tief Luft, und ich wappnete mich für weitere Beleidigungen aus ihrem vorlauten Mund. Zugegeben, ihrem vorlauten und ausgesprochen hübschen Mund. Aber daran würde ich in dieser Situation garantiert keinen Gedanken verschwenden. »Ich dachte, Sie wären nur ein wenig abgehoben, weil Sie gerade jeder vergöttert, aber Sie sind schlicht der arroganteste aller Wissenschaftler, die ich je kennengelernt habe!«

Ich richtete meinen Blick fassungslos auf sie. Im Augenwinkel fiel mir ein Presseausweis an ihrem Kleid auf. Nova Staron, The Stunning. Großartig. Natürlich eine Journalistin und dann auch noch eines Klatschmagazins! Es fühlte sich an, als wollte mich irgendjemand testen. Ich glaubte nicht an Gott, aber doch an herausfordernde Prüfungen, die auf jeden Menschen im Leben warteten. Und Miss Staron war definitiv eine ziemlich große.

»Ist das ein Problem? Hätten Sie mich sonst um ein Autogramm gebeten?«, gab ich brummend auf ihre Beleidigungen zurück.

Kopfschüttelnd stand sie auf und suchte genauso wie ich die Wände nach einem Ausweg ab. Dabei murmelte sie etwas, das sich wie »Was für ein Arsch« anhörte.

»Wie bitte?«, fragte ich und stützte die Unterarme auf die Oberschenkel.

Sie wirbelte zu mir herum, in ihren Augen erkannte ich Verachtung und das Lodern von Wut. Seltsamerweise gefiel es mir. Anders als die stumpfe Begeisterung der meisten Leute, nur weil sie hörten, dass ich im Showbusiness arbeitete. Ich war kurz davor, sie noch mehr zu reizen, und hatte keine Ahnung, wieso ich das wollte.

»Ich habe gesagt, dass Sie sich wie ein Arsch benehmen«, platzte sie ehrlich heraus und reckte das Kinn. Es amüsierte mich, trotzdem lächelte ich sie nicht an. Ich hielt meine Maske aufrecht.

»Ich bin froh, dass Sie mir das mitteilen.«

»Wirklich?« Sie klang überrascht, und ihr kampflustiger Ausdruck milderte sich etwas.

»Ja, endlich kann ich mein Leben umkrempeln und ein besserer Mensch werden.«

»Sie verkohlen mich, oder?« Als Antwort zog ich vielsagend eine Augenbraue hoch, und sie schnaubte kopfschüttelnd. »Herzlichen Glückwunsch, jetzt haben Sie das Bild, das ich von Ihnen habe, nur untermauert.«

»Wie schön, ich freue mich, wenn ich Ihnen die Augen öffnen konnte.«

»Ihr kalter Sarkasmus steht Ihnen nicht, bleiben Sie lieber bei dem gespielt charmanten Lächeln, das Sie dem Rest der Welt zeigen.« Sie wandte mir den Rücken zu, und diesmal musste ich tatsächlich ein wenig grinsen.

Ich knetete meine Finger und spürte, wie die Nervosität Besitz von mir ergriff. Hilflosigkeit war das schlimmste Gefühl, das ich mir vorstellen konnte. Nichts tun zu können, mein Schicksal nicht selbst in der Hand zu haben, in einem Stillstand verharren zu müssen. Alles Dinge, die ich in meinem Leben vermied. Ich schlief und aß nur, weil ich es unbedingt musste.

Seufzend drehte sie sich zu mir um und nahm erneut neben mir auf dem Treppenabsatz Platz. Sie zog ihre hohen Pumps aus und massierte sich die Füße. Weshalb Frauen sich diesen Schmerz antaten, nur um einige Zentimeter größer zu sein, hatte ich noch nie verstanden.

»Was denken Sie, wie lange es dauert, bis jemand bemerkt, dass wir hier sind?«, fragte sie leise, diesmal mit eindeutiger Besorgnis in der Stimme.

Ich zuckte mit den Schultern. »Eine Stunde, vielleicht länger.«

»O großer Gott«, stieß sie jammernd aus. »Hätte ich nur den vielen Sekt nicht getrunken.«

»Das erklärt einiges.«

Ich fühlte ihren funkelnden Blick auf mir und erwiderte ihn. »Haben Sie so etwas wie einen angeborenen Tick, der Ihnen vorschreibt, zu allem einen bissigen Kommentar abzugeben, oder ist Ihr Charakter einfach nur wirklich so mies? Sie sollten sich einen Filter für Ihre Anmerkungen zulegen.«

»Sie schmieren mir erstaunlich wenig Honig um den Mund dafür, dass Sie Journalistin sind.«

»Warum sollte ich? Weil Sie denken, das Ziel eines jeden Journalisten sei es, ein Interview mit Mr. Charmebolzen zu führen?«

»Weil die Erfahrung mich gelehrt hat, dass es so ist.«

Sie hatte eine wirklich scharfe Zunge. Ihr braunes Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich weiter ihren lädierten Füßen widmete. Sie strich es sich langsam zurück und legte ihren schlanken Hals frei. Meine Sinne fühlten sich um das Hundertfache geschärft an. Unter ihrer Haut pochte es leicht, der Ausschnitt ihres Kleides zeigte mir aus dieser Perspektive eindeutig mehr, als angebracht wäre. Und ich sollte den Blick abwenden. Unbedingt.

»Ich bin hauptsächlich privat hier«, riss sie mich mit ihrer Erwiderung aus meinen Beobachtungen, und ich versuchte herauszufinden, ob sie log.

»Sie sind ein Astronomie-Fan?«, wollte ich wissen.

»Astrologie. Genau genommen eine Bewunderin von Marcus Thompson.«

Diesmal entwich mir doch ein schnaubendes Lachen. »Ich hätte Sie für vernünftiger gehalten. Sie glauben diesen esoterischen Quatsch?«

Sie schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln. »Es war mir klar, dass ein Mensch wie Sie trotz Ihrer Intelligenz seinen Geist nicht so leicht für andere Dinge öffnen kann.«

»Sie meinen also wirklich, dass vorherbestimmt ist, wie jemand ist, nur weil er ein bestimmtes Sternzeichen hat? Das ist lächerlich«, gab ich zurück. Sie schaute mich immer noch mit diesem überlegenen Grinsen an. Ich richtete mich auf. »Also bitte! Die Astronomie beschäftigt sich mit exakten naturwissenschaftlichen Daten! Exakt! Sie wissen schon, was das bedeutet? Reale Vorgänge, kein Hokuspokus!«

»Was für ein Sternzeichen sind Sie, Prof. Dr. Jones?«

Ich zögerte. »Das tut nichts zur Sache.«

»Sie haben Angst vor der Astrologie, das ist es, oder? Angst davor, Ihr Schicksal in unbekannte Hände zu legen.« Mit der zweiten Aussage traf sie erstaunlich gut ins Schwarze. Was ich ihr jedoch niemals sagen würde.

Ich seufzte. »Völliger Schwachsinn«, murmelte ich. »Jungfrau, und was sagt das jetzt bitte aus?«

»Das erklärt einiges!«, erwiderte sie, als wüsste sie nun genau, wen sie vor sich sitzen hatte, was mich nur noch wütender machte.

»Seien Sie nicht albern.«

»Jungfrauen sind vernünftig, lieben Klarheit und Symmetrie. Sie sind pünktlich, gut organisiert und analysieren sich und die gesamte Umwelt ständig. Sie sind fast schon perfektionistisch veranlagt. Ist das korrekt?«

»Das trifft sicherlich auf viele Menschen, vorzugsweise Wissenschaftler, zu.«

»Sie sind ein Typ, der Dinge eher mit Taten beweist anstatt mit Worten. Außer ihrem Sarkasmus, den haben Sie perfektioniert, das muss ich zugeben. Sie lieben es, sich in etwas zu vertiefen und genau herauszufinden, wie es funktioniert.« Sie bedachte mich mit einem eindringlichen Blick. »Jungfrauen sind unnahbar und kritisch, kompromisslos und kleinlich. Sie neigen dazu, sich aus diesen Gründen gerne zu überarbeiten.«

»Ich bitte Sie, Sie müssen nur meinen Wikipediaeintrag durchlesen und haben exakt diese Informationen.«

»Ach ja? Was ist dann damit: In Wirklichkeit sehnen Sie sich nach einem Partner, der Sie mit seinem Verstand überzeugt und nicht mit seinem Aussehen. Sie suchen die Frau fürs Leben und geben sich mit nichts anderem zufrieden. Bedeutungslose Flirts sind für Sie Zeitverschwendung. Ist das korrekt?«

»Es ist faszinierend, wie Sie diesen Quatsch wirklich glauben können«, murmelte ich und stand auf. Erneut zerrte ich an der Tür und hämmerte einige Male rufend dagegen. Nichts.

Als ich die Treppe wieder nach unten stieg, schaute ich Nova an. Sie hatte sich selbstsicher zurückgelehnt, das Gewicht auf die Ellenbogen gestützt, ihre roten Lippen waren zu einem selbstsicheren Lächeln hochgezogen. Sie war hübsch, das stand fest, und sie hatte trotz ihres sinnlosen Faibles für Astrologie etwas an sich, das mich reizte. »Was sind Sie für ein Sternzeichen?«, fragte ich.

»Krebs.«

»Und was sagt Ihr Horoskop heute über Sie?«

»Das heute nichts so ist, wie es scheint.«

»Aha, und was soll diese hohle Phrase bedeuten?«

»Das habe ich bereits herausgefunden, lassen Sie das ruhig meine Sorge sein. Aber die Jungfrauen erleben heute einen Tag voller Möglichkeiten.«

Ich presste Zeigefinger und Daumen an meine Nasenwurzel. Langsam, aber sicher bekam ich Kopfschmerzen von diesem furchtbaren Geplapper. Oder lag es an etwas anderem? »Hören Sie einfach auf zu sprechen«, erwiderte ich kraftlos. Der Schwindel setzte ein, das Piepen in meinen Ohren, das Gefühl der Übelkeit, das sich meinen Magen nach oben kämpfte. Bitte nicht jetzt!

»Geht es Ihnen gut?«, wollte sie mit plötzlich besorgter Stimme wissen.

Als ich die Augenlider zusammenpresste, spürte ich auf einmal eine schlanke Hand an meinem Oberarm, die mich zurück zur Treppe dirigierte. Ich setzte mich und rieb mir den Nacken.

»Sie sehen blass aus«, stellte sie fest. »Haben Sie genug gegessen?«

Ich blinzelte einige Male und versuchte, ihr Gesicht zu fixieren, doch es verschwamm vor meinen Augen. Lichtpunkte setzten ein, machten es mir unmöglich, etwas zu erkennen. »Nur eine kurze Migräne«, antwortete ich stöhnend, als der Schmerz in meinem Schädel einsetzte und sich pulsierend wie ein Presslufthammer durch mein Gehirn arbeitete.

»Sie arbeiten zu viel«, sagte sie tadelnd. Zu sanft. Wie lange war es her, dass sich jemand um mich gekümmert hatte? Dass ich es überhaupt zugelassen hätte? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

»Sie sind nicht die Erste, die das sagt.« Mir entwich ein kurzes Auflachen, das erneute Schmerzwellen durch meinen Schädel schickte und mich keuchen ließ.

»Rutschen Sie ein Stück vor.«

»Wie bitte?«

»Los.« Sie schob mich nach vorn und nahm auf der Stufe hinter mir Platz. Ich spürte ihre Wärme in meinem Rücken. »Das mache ich nicht, weil ich Sie besonders mag«, stellte sie klar. »Sondern nur, weil ich andere Menschen nicht leiden sehen kann.«

»Ich Glückspilz«, wisperte ich mit halber Kraft. Was blieb mir auch anderes übrig, als mich zu ergeben?

»Selbst in dieser Situation können Sie Ihren Sarkasmus nicht ablegen? Versuchen Sie wenigstens, sich einen Moment zu entspannen.« Sie legte die Hände an meinen Nacken. Die Kühle tat mir gut, doch sie musste frieren, wenn ihre Haut so kalt war. Hätte ich mein Jackett hier, hätte ich es ihr trotz allem gegeben.

Als sie begann, zwei Punkte am Übergang vom Nacken zu meinem Schädel zu massieren, entwich mir ein kleines Brummen. Der Schmerz ließ ein wenig nach, die Übelkeit wurde deutlich besser.

»Was tun Sie da?«, raunte ich und hielt die Augen geschlossen.

»Hexerei, Hokuspokus«, zog sie mich leise auf. Ich hörte das Lächeln aus ihrer Stimme. »Meine Mum hat hin und wieder ebenfalls Migräne, bei ihr kommt es von Verspannungen in ihrem Nacken. Es gibt ein paar Triggerpunkte, die es besser machen können. Anscheinend ist das bei Ihnen ähnlich, Sie sind furchtbar verspannt, haben Sie das öfter?«

Ich wollte es nicht zugeben, denn das hätte Schwäche bedeutet. »Selten.«

»Mein Instinkt sagt mir, dass es öfter als selten ist, aber ich nehme das einmal hin. Entspannen.« Sie schlug mir leicht gegen die Schultern, und ich musste trotz des Schmerzes grinsen. Ihre schlanken Finger waren kräftiger, als ich angenommen hatte, als sie sich über meine verspannten Muskeln bewegten, sie lockerten und ich sofort spürte, dass der Druck in meinem Schädel nachließ. Er war nicht weg, aber erstaunlicherweise deutlich besser.

Als sie die Fingerknöchel einsetzte und sie von oben nach unten über meine angespannte Nackenmuskulatur zog, stöhnte ich vor Erleichterung, und ihre Fürsorge öffnete etwas in mir, das ich unter Verschluss gehalten hatte. »Nach fast jedem öffentlichen Auftritt«, wisperte ich kraftlos.

»Wie bitte?« Ihre Berührungen hielten inne, ehe sie glücklicherweise weitermassierte.

»Die Migräne …«, erklärte ich.

»Eine Ansammlung von schlechter Energie, Stress und Druck, die sich so äußert«, stellte sie fest, und ich nickte leicht. Zeigte mich so verletzlich wie selten in der Vergangenheit.

»Lassen Sie mich raten, Krebse opfern sich gerne für andere auf?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, und hörte ihr leises Lachen. Meine Stimmung änderte sich, ich fühlte mich besser, und ihre Anwesenheit war gar nicht mehr so nervig wie noch vor zehn Minuten. Ihre Nähe war … angenehm, genauso wie das, was sie mit meinem Nacken machte.

»Gut erraten.«

»Sie sind empathisch, hin und wieder zu gefühlsduselig.«

»Wow, Prof. Dr. Jones, Sie könnten sich um eine Stelle bei unserem Magazin bewerben. Aber Moment, nein, dann wäre ich arbeitslos.«

Erneut entlockte sie mir ein Lächeln, und ich musste überrascht feststellen, dass ich mich amüsierte. Wie lange hatte ich das schon nicht mehr? Wie lange hatte ich diesen Gefühlen keinen Raum mehr gegeben?

Ich lehnte mich noch ein wenig mehr in ihre Berührungen, genoss das Gefühl ihrer Finger auf meiner überhitzten Haut. Sie hatte recht, ich suchte keine oberflächlichen Beziehungen, dafür fehlte mir die Zeit. Trotzdem ging ich hin und wieder meinen körperlichen Bedürfnissen in einem One-Night-Stand nach, doch es wurde nie ernster, weil mich schon lange keine Frau mehr herausgefordert und tatsächlich gereizt hatte.

»Weston, bitte. Immerhin sind wir uns schon ein bisschen nähergekommen«, machte ich einen miesen Scherz. Ich hätte gern ihr Gesicht gesehen. Lächelte sie? Fand sie den professionellen Abstand besser?

»Nova«, gab sie zurück und bearbeitete weiter meine Schulterpartie. Es wurde immer besser. Ich atmete erleichtert durch und schaffte es wieder, die Augen zu öffnen. Ihr Name hallte in meinem Schädel mit dem Pochen um die Wette. Sie war tatsächlich wie eine Supernova. Eine explosive Mischung. »Du solltest wirklich etwas für dich tun, hin und wieder durchschnaufen, mal zu einer Massage gehen. Dann wird es besser.« Plötzlich hörte sie auf, und sofort vermisste ich das Gefühl ihrer Haut auf meiner. Gern hätte ich sie gebeten, weiterzumachen, aber ich war ein Typ, der weder bedürftig noch hilflos rüberkommen wollte. Ich ließ den Kopf kreisen, wobei mein Nacken knackte, und drehte mich zu ihr um.

»Ist es besser?«, fragte sie leise, und ihr Blick hatte von einer Sekunde auf die nächste etwas unglaublich Verführerisches. Sie hatte dichtes Haar in der Farbe satter Zartbitterschokolade mit helleren, sonnengeküssten Spitzen, dazu whiskeyfarbene Augen, eine volle, geschwungene Oberlippe. Was behauptete sie? Dass ich Symmetrie liebte? Ihr Gesicht hatte die perfekte Symmetrie. Nur ein kleines Muttermal auf ihrem Kinn unterbrach diese und unterstrich ihre Attraktivität damit seltsamerweise umso mehr. Unperfekt perfekt. Auch sie schien den Stimmungsumschwung zu merken, denn ihr Blick fiel für einen winzigen Augenblick auf meine Lippen. Meine Hand befand sich nur wenige Zentimeter von ihrem Oberschenkel entfernt, der nur halb von dem pflaumenfarbenen Rock verdeckt war.

»Ja, vielen Dank«, antwortete ich und fragte mich, wieso meine Stimme auf einmal so rau war. Mein Herz schlug heftig gegen meinen Brustkorb, und ohne Vorwarnung schoss Lust durch mich hindurch. Verlangen und Hass lagen nah beieinander, wobei ich nicht so weit gehen würde, zu behaupten, dass ich sie hasste. Sie war nervtötend und gleichzeitig faszinierend.

Ihr Blick wanderte zurück zu meinen Augen, und die Frage plagte mich, ob sie das Gleiche dachte wie ich. Wir saßen hier noch für wer weiß wie lange fest, wieso die Zeit mit Streiten verschwenden, wenn man andere Dinge tun konnte? Legte sie das gleiche Feuer in einen Kuss wie in eine Diskussion?

Plötzlich war es mir egal, dass sie Journalistin oder der Astrologie verfallen war. Plötzlich konnte ich nur daran denken, dieser Spannung zwischen uns nachzugehen. Ich drehte mich noch ein Stück weiter, meine Fingerspitzen berührten leicht ihr nacktes Knie, und sie atmete aus. Das Geräusch war so leise, dass ich es kaum gehört hätte, und dennoch veranstaltete es etwas in mir. Es war seltsam, so eine heftige Anziehung hatte ich schon lange nicht mehr gefühlt, und das, obwohl alles gegen unsere Verbindung sprach. Die Anziehung war schlicht unlogisch.

Sie strich sich mit der Zunge über die Lippen, lehnte sich ein winziges bisschen in meine Richtung. Die Sprache ihres Körpers schrie ja, während sich in meinem die Flammen ausbreiteten. Doch ehe ich ihr entgegenkommen konnte, wurde abrupt dieser Moment zwischen uns unterbrochen.

Die Tür glitt mit einem lauten Knarren auf. »Weston?« Davie erschien dahinter. Sofort sprang ich nach oben und wollte die Tür aufhalten. »Bloß nicht zumachen!«

»Ich hab dich überall gesucht, ein Glück hab ich dich gefunden!«, stieß er seufzend hervor.

Ich schaute zurück zu Nova, die immer noch auf den Stufen saß. Ihr Blick hatte sich geklärt, doch es wirkte so, als hinge sie weiterhin in unserem letzten, gemeinsamen Moment. Oder bildete ich mir das nur ein? Weil ich mir wünschte, dass sie genauso auf mich reagierte wie ich auf sie?

»Sie schon wieder!«, sagte auf einmal Davie und zeigte auf sie.

Nova stand auf und richtete ihr Kleid, sammelte ihre Pumps vom Boden auf. »Guten Abend, Mr. Wolfhard«, erwiderte sie freundlich und verbeugte sich provokativ.

Davies Kopf wurde knallrot, interessant, dass die beiden sich kannten. »Sie hat nach dir gesucht und dich offensichtlich gefunden«, sagte er verächtlich.

»Ich habe das nicht geplant, wenn Sie darauf anspielen«, antwortete sie ein wenig trotzig.

»Ist schon gut«, meinte ich zu Davie und legte eine Hand auf seine Schulter. »Das war nur ein unglücklicher Zufall. Und an der Tür solltet ihr unbedingt ein Warnschild anbringen.«

Ich drehte mich erneut zu Nova um und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte oder was die letzten Sekunden zwischen uns überhaupt gewesen war. Also nickte ich ihr nur knapp zu und wandte mich erneut an meinen Freund. »Okay, lass uns gehen.« Davie schob einen Keil in die Tür, der innen gelegen hatte, und als wir weiter über den Flur liefen, drehte ich mich noch einmal um und sah Nova, die ebenfalls hereinkam. Ihr Blick war gesenkt, und sie schaute auf ihr Smartphone. Hatte sie nicht gesagt, der Akku sei leer? Hatte sie mich etwa doch absichtlich in eine Falle gelockt? Das konnte nicht sein, sie hatte die kurze Verbindung zwischen uns genauso gespürt wie ich. Oder?

Davie öffnete mir die Tür zu dem Raum, in dem meine Sachen lagen, und ich hakte dieses Erlebnis gedanklich ab, ehe ich endlich dieses Gebäude verlassen konnte. Auf dem Weg entdeckte ich Nova nicht noch ein weiteres Mal, doch ein Taxi fuhr gerade los, als wir die Treppe auf die Straße nach unten stiegen. Saß sie dort drin und verschwand genauso schnell aus meinem Leben, wie sie darin aufgetaucht war? Und wieso bedauerte ein Teil in mir das?

 

Einige Wochen später schickte mir mein Agent den Auszug eines Onlineartikels, in dem ich nicht gerade gut wegkam.

Weston Jones – der perfekte Halbgott der Wissenschaft, wie alle ihn sehen und wie er in Wirklichkeit ist

Geschrieben von Nova Staron.

Ich wusste ein für alle Mal, wieso ich anderen Menschen nicht vorschnell vertraute. Das würde mir garantiert nicht noch mal passieren.

3Krebs

Für einen Krebs ist das Zuhause mehr als nur ein Ort, es ist ein Gefühl, ein Ankerpunkt.

Nova
Heute

Es hieß, dass Teile des Steinkreises in Avebury irgendwann im siebzehnten Jahrhundert für den Ackerbau entfernt und stattdessen zum Hausbau verwendet worden waren. Meine Grandma hatte ein solches Haus in ihren Dreißigern gekauft und ihren Job als Psychologin hingeschmissen. Weil sie die Nase voll von dem Großstadtleben in London, von Regeln und Richtlinien und all den Dingen gehabt hatte, die sie als ungerecht ansah. Und das waren eine ganze Menge. Solveigh war eine Kämpferin durch und durch und glaubte neben ihren Prinzipien an die Kraft der Steine, aus denen unser Haus gebaut worden war. Verwunschen wirkte der Ort tatsächlich, und meine Grandma betonte heute noch, dass sie zum Neumond nicht nur einmal Besuch von Feen gehabt hatte.

Aber vielleicht war es auch nur ein Märchen, das sie mir als Gutenachtgeschichte erzählt hatte, als ich ein Kind gewesen war. Mittlerweile wusste ich nicht mehr recht, was ich von all diesen Geschichten halten sollte, dennoch ließ sich nicht abstreiten, dass mich jedes Mal eine Gänsehaut erfasste, wenn ich das quietschende Tor zum Grundstück unseres Hauses öffnete, in dem meine Mum, meine Grandma und ihre Lebensgefährtin Sharon wohnten. Saftig grüne Efeuranken schlängelten sich an der Backsteinwand des alten, zweistöckigen Cottages mit dem moosbewachsenen Reetdach entlang. Die Wiese vor dem Haus war wie immer frei und wild, aus dem kleinen Brunnen im Vorgarten schöpften meine Mum und Grandma auch heute noch frisches Wasser. Teilweise, um unabhängig zu bleiben, teilweise, weil sie Geld sparen wollten. Mum hatte einen Job in einer gemütlichen Bäckerei in der Innenstadt ergattert, als ich fünf war und wir nach einem Leben voller Umzüge und ohne wirkliches Zuhause gemeinsam zu meiner Grandma gezogen waren, während diese sich von dem viel zu frühen Tod ihres Mannes, meines Grandpas, erholte. Solveigh gab bereits seit vielen Jahren verschiedene esoterische und astrologische Kurse, bei denen sie auch ihre jetzige Lebensgefährtin Sharon kennengelernt hatte. Meine Grandma liebte Menschen schon immer aufgrund ihres Charakters und nicht ihres Geschlechts, und ich war froh, dass sie eine zweite tiefe Liebe gefunden hatte. Von ihr lernte ich auch den Lauf der Sterne und die Zusammenhänge zwischen astronomischen Ereignissen und unseren Taten.

Der Umzug hierher aus der Stadt war rückblickend eine gute Entscheidung meiner Mum gewesen. Auch wenn ich es nicht immer einfach gehabt hatte als Mädchen, das an die Kraft der Sterne glaubte und nach Meinung der anderen Kinder im Haus einer angeblichen Hexe wohnte, lernte ich hier meine beste Freundin Laurie kennen. Obwohl wir auch zur heutigen Zeit noch grundverschieden waren und Laurie eher analytisch als träumerisch veranlagt war, hatte die Astrologie nicht nur unsere Freundschaft vertieft, sondern uns auch durch eine schwere Zeit geholfen. Als wir etwa sechzehn Jahre alt waren, erlitt Laurie einen schweren Schicksalsschlag, der sie in eine tiefe Krise stürzte. Ihr geliebter Bruder, mit dem sie eine enge Bindung hatte, verunglückte tödlich bei einem Autounfall. Der Verlust war unfassbar schmerzhaft, und Laurie konnte nicht damit umgehen.

Sie begann sich von ihren Eltern und mir zu entfremden und zog sich zurück, verlor ihren Lebensmut. Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit, meiner besten Freundin zu helfen.

Eines Tages stieß ich in den Vorhersagen meiner Grandma auf ein Horoskop, das auf Lauries Geburtstag basierte. Es wirkte wie die Hoffnung in der Dunkelheit, die meine beste Freundin brauchte, und es sagte voraus, dass sie bald eine zutiefst transformative Erfahrung durchleben würde. Es prophezeite, dass sie sich ihren Ängsten und inneren Dämonen stellen müsse, um gestärkt daraus hervorzugehen.

Ich erzählte Laurie von diesem Horoskop, und in diesem Moment, als ihre Welt auseinanderzufallen drohte, schienen die Worte Licht in ihre Dunkelheit zu bringen. Sie sah es als Zeichen, das sie dringend gebraucht hatte, um den Kampf gegen ihren Schmerz aufzunehmen. Über die nächsten Jahre hinweg kämpfte sich Laurie mit Entschlossenheit zurück ins Leben.

Diese Erfahrung prägte uns beide zutiefst. Wir fingen an, uns intensiver mit Astrologie zu beschäftigen, und unsere Freundschaft vertiefte sich durch dieses gemeinsame Interesse. Unsere Leidenschaft für Astrologie wurde zu einem wichtigen Teil unseres Lebens, und unsere enge freundschaftliche Verbindung war einer der Gründe, warum wir gemeinsam zum Studieren nach Manchester zogen.

Ich trug mich der Vernunft wegen und gegen den Rat meiner Grandma für Journalismus ein, absolvierte nebenbei eine umfassende Online-Ausbildung in der Astrologie, und Laurie wurde Juristin. Jeden Mittwoch trafen wir uns im Skinny Pig, unserem Lieblingspub, zu einem Feierabendbier und den besten BBQ-Ribs mit hausgemachter Soße in ganz Manchester.

Ich stieg die zwei schiefen Stufen hoch und drückte die Haustür auf. Solveigh hielt Abschließen für sinnlos, wenn sie jedem Menschen ohnehin bereitwillig die Tür öffnen würde. Denn dieser Ort sollte nicht nur ein Zuhause für uns sein, sondern für alle rastlosen Seelen da draußen, die auf der Suche nach einem Sinn waren. Nicht selten war es früher so voll hier gewesen, dass ich mich fühlte wie in einer Pension.

»Ich bin da!«, rief ich in den Flur und schmiss meine Reisetasche in die Ecke unter der Garderobe. Als ich Getrommel aus dem Wohnzimmer hörte, atmete ich tief durch und wappnete mich für das anstehende Wochenende, das ich hier verbringen würde. In diesem Haus gab es weder Privatsphäre noch Regeln. Was ich als Kind anfänglich gemocht hatte, wurde mir als Teenagerin beim Besuch meines ersten Freundes Will zum Verhängnis. Nicht gerade der Traum einer pubertierenden Fünfzehnjährigen, von Grandmas eigensinnigen Freunden beim Knutschen im Wohnzimmer erwischt zu werden. Trotz der Aussage »Lasst euch nicht stören« fiel es mir irgendwie schwer, wieder in Stimmung zu kommen, und nachdem Solveigh ebenfalls hereingekommen war und uns etwas über die freie Liebe aller Menschen erzählt hatte, flüchtete Will und ging mir danach gekonnt auf den Schulfluren aus dem Weg.

Ich folgte den Klängen und entdeckte meine Grandma auf dem Boden mit einer gigantischen Trommel sitzend. Ihr schlanker Körper steckte in einem türkisfarbenen Seidenkimono, ihre grauen, langen Haare hatte sie in einzelnen, wilden Strähnen hochgesteckt, die Augen geschlossen. Ihre Lebensgefährtin Sharon tanzte im Takt der Schläge, ihre goldenen Armreife klimperten passend zur Melodie. Schon lange überraschte mich so ein Anblick nicht mehr. Ich zuckte mit den Schultern und verließ das Haus durch den Flur wieder in Richtung Garten, weil ich sie nicht stören wollte. Sicherlich war meine Mum dort, denn die schmale Laube, über deren Dach sich dichter Wein rankte, war im Sommer ihr Lieblingsort. Dort traf ich sie wie erhofft mit einem Buch in einem Liegestuhl an.

»Hey, Schatz, da bist du ja!«, sagte sie strahlend und streckte die Arme aus, damit ich sie mit einer Umarmung begrüßen konnte. Danach warf ich mich selbst in den anderen Liegestuhl und atmete kurz durch. »Wie war die Zugfahrt?«, fragte sie.

»Lang. Außerdem musste ich mir in dem überfüllten Zug das Abteil mit einem Typen teilen, der zwei Tüten Sour-Cream-Chips in sich reingestopft hat. Das Schmatzen hat mich für immer traumatisiert.«

Meine Mum lachte und strich mir leicht mit der Rückseite ihres Zeigefingers über die Wange. Ich wäre gern öfter hier und würde meine Energien aufladen, doch die Fahrt von mehr als vier Stunden war nichts, was ich jedes Wochenende auf mich nehmen wollte. Vor allem nicht, wenn ich an die heutige Fahrt dachte, da waren mir Leute, die laut telefonierten, sogar noch lieber.

»Und Sol bereitet sich wieder auf den Neumond vor?«, wollte ich wissen.

»Das tut sie«, antwortete Mum. »Du weißt also, was heute Nacht auf dich zukommt?«

Ja, ein Dutzend Menschen, die sich hier trafen, um mit Solveigh und Sharon zu den Steinkreisen zu wandern, damit sie dort die Energien in sich aufnahmen. »Vielleicht komme ich heute sogar einmal mit. Der Himmel ist wunderbar wolkenlos.« Die Lichtverschmutzung war in den Großstädten und der Umgebung so stark, dass man selbst bei den besten Lichtverhältnissen die Sterne kaum sehen konnte. Doch hier draußen hatte man oft einen uneingeschränkten Blick in den Himmel. Man sah zahlreiche Sternschnuppen, die Milchstraße mit ihren Ausläufern und sämtliche Sternzeichen mit bloßem Auge. Mittlerweile gab es sogar eine Organisation, die offizielle Dark-Sky-Plätze im ganzen Land auserkoren hatte, an denen man die Sterne besonders gut erkennen konnte. Avebury war nah dran, ebenfalls mit aufgenommen zu werden.

»Was gibt es Neues aus der Stadt?«, erkundigte sich meine Mum. »Geht es Laurie gut?«

»Ja, sehr. Sie hat jemand Neuen kennengelernt. Ich mag ihn, mal schauen, was sich so ergibt.«

»Und bei dir? Kein Mann in Sicht?«

»Mum, als ob es dir so wichtig wäre, dass ich einen Mann an meiner Seite habe, heirate und Kinder bekomme. Das wäre doch viel zu langweilig«, erwiderte ich.

Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Hin und wieder ist es gar nicht so schlecht, nicht ständig allein mit sich und seinen Gedanken zu sein.«