Mehr aus 31 Jahren hinter Gittern - Norbert Henke - E-Book

Mehr aus 31 Jahren hinter Gittern E-Book

Norbert Henke

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Beschreibung

„Resozialisierung? Alles Gefühlsduselei. Der Knast ist viel zu lasch. Hotelvollzug statt Abschreckung!“ Solche abfälligen Kommentare hörte der Autor während seines langen Berufslebens in vier Gefängnissen immer wieder. Auch in seinem zweiten Buch bleibt er überzeugt, es besser zu wissen. Der erfahrene Sozialpädagoge und Jurist Norbert Henke gibt uns erneut Einblick in die unbekannte Welt hinter hohen Mauern. Nach über drei Jahrzehnten im Justizvollzug und als „Gefängnisdirektor“ möchte Henke im Ruhestand sein Wissen und seine Erfahrungen nicht einfach „abschließen“. Das Buch bietet fesselnde Erzählungen, berührende Anekdoten und historische Hintergründe über Justiz und Strafvollzug. Sachinformationen werden nahezu beiläufig vermittelt. Henke öffnet uns die versteckte Welt der Justiz, zeigt die Chancen auf, Menschen zu verändern, und beleuchtet zugleich die Unzulänglichkeiten und Herausforderungen des Systems „Gefängnis“. Mit überzeugender Stimme appelliert Henke an uns, den Strafvollzug nicht länger als reine Abstellkammer für Gescheiterte zu betrachten. Er fordert dazu auf, Gefangene als Menschen ernst zu nehmen und die Resozialisierung in den Mittelpunkt zu stellen. Denn eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist nicht nur im Interesse der Gefangenen, sondern auch der beste Schutz für potenzielle Opfer. Norbert Henke ist damit ein eindringliches Buch gelungen, das nicht nur den Gefängnisalltag eines ehemaligen Anstaltsleiters beleuchtet, sondern auch Wege aufzeigt, wie die Verhältnisse hinter den Anstaltsmauern besser und menschenwürdiger gestaltet werden können.

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Seitenzahl: 348

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Mehr aus 31 Jahren hinter Gittern

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 9783958942684 (ePub)

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2024

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1: Ausbrüche und artistische Glanzleistungen

Kapitel 2: Als Rechtsreferendar im E-Flügel der JVA Diez

Kapitel 3: Wie man im Gefängnis landet. Die erste Station in der JVA Frankenthal und frühe Erfahrungen in der Personalführung

Kapitel 4: Der schwierige Umgang der Mitarbeiter mit Schuldgefühlen

Kapitel 5: Das neue Gerät im Verwaltungsflur und die Frage der Zeiterfassung

Kapitel 6: Von den Aufgaben des Anstaltsleiters bis hin zu einer Hämorrhoidensalbe

Kapitel 7: Der Lebenslange, der an der Gefängnispforte abgewiesen wurde

Kapitel 8: Wenn die Zelle zum Lebensmittelpunkt wird

Kapitel 9: Botschaften der Architektur und die Sauberkeit

Kapitel 10: Vom höflichen Anklopfen und von Vorhängen in der Zelle

Kapitel 11: „Wir sind nicht im Zoo“ – oder die Menschenwürde von Kriminellen

Kapitel 12: Der unschuldige Einbrecher und ein Hobbytäter

Kapitel 13: Bomben vor und in der Anstalt und der Job auf dem Hahn

Kapitel 14: Der fragliche einheitliche Sicherheitsmaßstab im geschlossenen Vollzug der Anstalt

Kapitel 15: Verzweifelte Versuche, Arbeitsplätze für Gefangene zu schaffen

Kapitel 16: Vertrauensposten als Erprobungsfelder im geschlossenen Vollzug

Kapitel 17: Gehörnte Wesen und andere Tiere

Kapitel 18: Menschlichkeit hinter Gittern; Erinnerungen an Ehrenamtliche und den ehemaligen Gefängnisdirektor Dr. Dieter Bandell

Kapitel 19: Die lebenslange Freiheitsstrafe

Kapitel 20: Die Praline mit der Piemont-Kirsche und die Abschaffung der Pakete

Kapitel 21: Der alte Lebenslange und der Brief der Staatsanwaltschaft

Kapitel 22: Was das Mainzer Gutenbergdenkmal mit dem Diezer Zuchthaus im früheren Grafenschloss zu tun hat und die Haftbedingungen im 19. Jahrhundert

Kapitel 23: Wenn Mitarbeiter des Justizministeriums in die Gefängnisse kommen

Kapitel 24: Der Mann aus Vietnam und andere isoliert lebende Gefangene

Kapitel 25: Warum Welttrainer Thomas Tuchel und der Weltmeister von 1954 Fritz Walter im Gefängnis waren und ein verschossener Elfmeter

Kapitel 26: Die Bedeutung der Telefone

Kapitel 27: Feedbacks der Interessenvertretung der Gefangenen und anderer Inhaftierter

Kapitel 28: Die Betrüger und Grenzen der Resozialisierung

Kapitel 29: Von der Wirtschaftsverwaltung, der täglichen Kostprobe, der gerechten Verteilung des Gulaschs und der Rumfordschen Suppe

Kapitel 30: Der Bundesbahnattentäter Monsieur X und Unschuldsbeteuerungen

Kapitel 31: Uniformen, Krawattennadeln, Vollzugslockerungen mit Pressevertretern und ein gefesselter Anstaltsleiter

Kapitel 32: Wenn der Amtsschimmel wiehert

Kapitel 33: Hygiene, Sauberkeit und optische Probleme

Kapitel 34: Die alten Gefängnisse in Mainz und Kaiserslautern, die Suche nach einem anderen Platz und Reste einer Biogasanlage

Kapitel 35: Misslungene Ausführungen und Beamte, die Verantwortung übernehmen

Kapitel 36: Der schwierige Lebenslange und das gefährliche Restrisiko bei Vollzugslockerungen

Kapitel 37: Schauspieler und das Vertrauen in Mitarbeiter

Kapitel 38: Pfarrer Friedrich Kneip und der Tod der sieben Luxemburger

Kapitel 39: Tröstende Kerzen

Kapitel 40: Sie schossen auf alles, was sich bewegte

Kapitel 41: Das Frühjahr und die Virenplage

Kapitel 42: Gefangene mit individueller Uhrzeit und kreative Erfinder

Kapitel 43: Die schwierige Entlassungsphase und Ängste vor der Freiheit

Kapitel 44: Der Weg zum Parkplatz, Papiertüten und T-Shirts im Winter

Kapitel 45: Delikte und Behandlungsbedarf, Unterschiede zwischen den männlichen und weiblichen Strafgefangenen

Kapitel 46: Die Berufsgruppen in den Justizvollzugsanstalten

Kapitel 47: Schlussgedanken

Kapitel 48: Knastsprache

Anmerkungen

Einleitung

Als ehemaliger Sozialpädagoge mit Erfahrungen in der Heimerziehung landete ich nach den beiden juristischen Staatsexamen auf Dauer hinter Gefängnismauern. Begonnen habe ich 1989 in der Anstaltsleitung der JVA Frankenthal. Weitere Stationen hinter Anstaltsmauern wurden das Koblenzer Gefängnis und für fast 8 Jahre die JVA Diez. Anschließend war ich insgesamt 21 Jahre als Anstaltsleiter in der JVA Koblenz (1999 bis 2001), der JVA Diez (2001 bis 2009) und der JVA Rohrbach (2009 bis 2020) tätig.

Mit diesem zweiten Buch über meine Erlebnisse und Erfahrungen in diesen Einrichtungen möchte ich den Leser erneut möglichst unterhaltsam in die fremde Welt der Gefängnisse führen. Bei weitem konnte ich nicht alles, was mir aus den vielen Jahren im Strafvollzug in Erinnerung geblieben ist, in meinem ersten Buch „31 Jahre hinter Gittern – ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt“ aufschreiben. In den hier nun vorliegenden 48 Kapiteln habe ich nicht nur die Restposten meiner Erinnerungen zum Besten gegeben, sondern weitere Erlebnisse hinter hohen Mauern geschildert. Anekdotische Texte gepaart mit Sachinformationen und einiges zur Gefängnishistorie fügen sich zu einem Lesebuch zusammen, das einen Blick in dieses versteckte Justizbiotop ermöglichen soll, in ein Arbeitsfeld, das von der täglichen Gratwanderung zwischen dem zentralen Resozialisierungsziel und den Sicherheitsaufgaben gekennzeichnet ist. Eben „Mehr aus 31 Jahre hinter Gittern“.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwierig ist, der Öffentlichkeit ein realistisches Bild vom Justizvollzug zu vermitteln. Mit meinen Texten möchte ich erneut einen Anlauf unternehmen, den Nebel ein wenig zu lichten. Allzu sehr wird die Wahrnehmung der Öffentlichkeit von Medien unterschiedlicher Qualität geprägt. Zumeist wird das Spektakuläre in den Vordergrund gestellt. Negativereignisse wie zum Beispiel der Rückfall eines Gefangenen bei Vollzugslockerungen prägen einseitig die Wahrnehmung vieler Bürger. Der Auffassung, dass Gefängnisse vor allem abschrecken müssen, wird von der Boulevardpresse Vorschub geleistet. Es gehe in den Justizvollzugsanstalten zu lasch zu; Kuschelvollzug statt Abschreckung wird bisweilen vollmundig verkündet.

Dass es den Gefängnissen gelingt, gescheiterte Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, wird dagegen überwiegend ausgeblendet. Die verbreitete Skepsis gegenüber dem Resozialisierungsziel besteht zu Unrecht, wie wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen haben.1 Nur etwa ein Drittel der ehemaligen erwachsenen männlichen Strafgefangenen landet innerhalb der auf das Entlassungsjahr folgenden 12 Jahre erneut in einer Justizvollzugsanstalt. Dass zwei Drittel der Inhaftierten entweder straffrei bleiben oder allenfalls mit kleineren Delikten, die mit einer Geld- oder Bewährungsstrafe geahndet wurden, rückfällig werden, ist bereits ein beachtlicher Erfolg.

Gäbe es in den Anstalten ausschließlich einen Hardlinerstrafvollzug bis zum letzten Hafttag, bliebe ein perspektivloser sinnentleerter Verwahrvollzug übrig. Ein Strafvollzug ohne Behandlungsangebote und intensive Entlassungsvorbereitung, ohne Erprobung in vollzugsöffnenden Maßnahmen wie Urlaub, Ausgang, Freigang und offener Vollzug, ohne realisierbare Chance einer bedingten Entlassung mit einer Begleitung durch einen Bewährungshelfer wäre die traurige Alternative. Der Schutz potentieller Opfer ist nicht gewährleistet, wenn man die Risiken auf die Zeit nach der Entlassung verschiebt, sondern wird geradezu vergrößert, wenn man die Wiedereingliederungs- und Erprobungsphase ausfallen lässt.

Der Schwerpunkt der Texte und Beispiele bezieht sich auf den geschlossenen Vollzug mit dem Strafvollzug an männlichen Erwachsenen, die etwa 94 % der Strafgefangenen stellen und mit denen ich überwiegend zu tun hatte. Vieles bezieht sich auf meine Erfahrungen in der JVA Diez, wo ich einschließlich eines Teils der Referendarzeit mehr als die Hälfte meines Berufslebens verbracht habe.

Aufgrund des Persönlichkeitsschutzes der Gefangenen, die in meinen Texten erwähnt werden, habe ich einiges verfremdet und darauf verzichtet, Namen zu nennen.

Zu den in den Justizvollzugsanstalten vertretenen Berufsgruppen findet man Ausführungen in Kapitel 46. In Kapitel 48 sind die gängigsten „Gefängnis“-Ausdrücke aufgeführt – gewissermaßen ein kleines „Knast-Glossar“.

Kapitel 1: Ausbrüche und artistische Glanzleistungen

„Mit artistischer Glanzleistung in die Freiheit abgeseilt“, lautete 1984 die Schlagzeile einer Tageszeitung, die den Ausbruch von zwei Gefangenen aus der JVA Diez beeindruckt würdigte. Einer der sehr seltenen Ausbrüche aus dem geschlossenen Vollzug dieses Gefängnisses, das für lebenslange und langjährige Freiheitsstrafen sowie die Maßregel der Sicherungsverwahrung zuständig ist. „Geschlossener“ Vollzug bedeutet dort im Gegensatz zum offenen – dem Freigängerhaus – Mauern, Stacheldraht, aufwendige Sicherheitstechnik und überwiegend verschlossene Zellen. Ausschließlich wenn es einem Inhaftierten gelingt, aus diesem Bereich zu flüchten, spricht man von einem Ausbruch.

Dienstältere Mitarbeiter berichteten mir von dieser wohl spektakulärsten Flucht. Einerseits mit einer klammheimlichen Bewunderung, andererseits einem gewissen Schamgefühl, weil ihnen ein Häftling von der Fahne gegangen war. Anfang 1989 begegnete ich im Diezer Gefängnis in meiner letzten Ausbildungsstation als Rechtsreferendar vor dem 2. Staatsexamen dieser gerne bemühten Knast-Story. Vorschnell dachte ich: „Da gibt es Schlimmeres.“

Den einzigen Ausbruch während meiner 31-jährigen Dienstzeit hinter Gittern habe ich 1993 im Diezer Gefängnis erlebt.2 Als Mitglied der Anstaltsleitung bewertete ich diesen Vorfall deutlich anders als in meiner Zeit als Gefängnis-ABC-Schütze. Keineswegs geht man nach einem kurzen Zucken zur Tagesordnung über. Die Erwartungen der Gesellschaft und damit überwiegend auch der Politik sind andere. Eine Flucht wird keineswegs als Ausrutscher bewertet. Vielmehr soll im Justizvollzug nichts, aber auch gar nichts passieren. Keine flüchtigen Gefangenen, keine Geiselnahmen, keine Drogen und vor allem keine Drogentoten hinter den Mauern, keine Meutereien, keine Straftaten von beurlaubten Gefangenen in Vollzugslockerungen, keine Gewalttaten im Gefängnis, keine Suizide. Wie bei allen Nachrichten stoßen die „Aufreger“ auf ein größeres Interesse. Viele Medien greifen einen Vorfall im Gefängnis auf und berichten eingehend darüber. Es entsteht schnell der Eindruck, dass der Strafvollzug insgesamt nicht funktionieren würde. Gerne leistet die Boulevardpresse dem Vorschub, wie die Schlagzeile eines reich bebilderten Blattes „Was ist los in den deutschen Gefängnissen?“ einmal nach einem einzigen Vorfall formuliert hat. Gerät eine JVA nicht in die Schlagzeilen, können ein Anstaltsleiter und auch der Justizminister dies offenbar auf der Habenseite verbuchen, schloss ich. Setzen sich die schwarzen Zahlen daher aus den Dingen zusammen, die nicht geschehen? Geht es daher hinter den Gefängnismauern in erster Linie darum, nicht unangenehm aufzufallen? Realität ist, dass der Stuhl eines Justizministers noch nie gewackelt hat, weil die Resozialisierungsbemühungen in seinem Bundesland zu dürftig waren. Ist Resozialisierung als gesetzliches Ziel des Strafvollzuges daher weniger das Aushängeschild, mit dem man punkten kann? Leider trifft dies überwiegend zu. Doch darf ein Anstaltsleiter sich hiervon nicht beirren lassen, wenn er seinen Job ernst- und mutig Verantwortung übernimmt. Dies tut er ausschließlich dann, wenn er sich um die Wiedereingliederung der Strafgefangenen bemüht und in seiner Einrichtung genügend Behandlungsangebote gemacht werden. Vor allem muss ein Gefangener, bei dem keine Fluchtgefahr besteht und weiteren Straftaten zu befürchten sind, rechtzeitig in Vollzugslockerungen und dem offenen Vollzug erprobt und auf die Freiheit vorbereitet werden. Ansonsten vergrößert man das Risiko des Rückfalls und verlagert es auf die Zeit nach der Entlassung. Opferschutz ist von einer erfolgreichen Wiedereingliederung abhängig.

Doch nun zum Ausbruch von 1984. Zwei Gefangene hatten sich von einem Beamten während der abendlichen Freizeit in einer Zelle im vierten Stock eines Hafthausflügels einschließen lassen. Umschluss, wie es im Knastdeutsch heißt. Die drei Häftlinge wählten an diesem Tag eine besondere Art der Freizeitgestaltung. Sie sägten einen Gitterstab mit einer kleinen Drahtsäge durch, die sie mit Hilfe von außen eingeschmuggelt hatten. Dann befestigten sie eine Trittschlaufe am Gitter, stützten sich mit einem Fuß darin ab und ergriffen die Regenrinne, um sich dann auf das Dach des Hafthauses zu schwingen. Damals war dies noch möglich. Später rundete man die Dachtraufe mit erheblichem Kostenaufwand ab, sodass man sich weder an ihr hochziehen noch einen Wurfanker an ihr einhaken konnte.

Die Gefangenen liefen zum Ende des Zellendaches, das nur wenige Meter von der Anstaltsaußenmauer entfernt war und sie deutlich überragte. Dort befestigten sie ein dünnes selbstgefertigtes Seil, das eher an eine Schnur erinnerte. An das Ende hatten sie einen etwas schwereren Gegenstand gebunden. Einer der Flüchtigen warf das Seil über die Anstaltsmauer. Nun kam ein nie bekannt gewordener Fluchthelfer als entscheidender Protagonist ins Spiel. Der Unbekannte hatte bereits ein stärkeres Bergsteigerseil am Stützpfosten des Vordaches eines Dienstwohnungsgebäudes befestigt. Das Haus lag nur wenige Meter von der Gefängnismauer entfernt. Der Unbekannte band das dünne Seil der Ausbrecher an das stabile Bergsteigerseil. Die Flüchtigen zogen es dann zu sich hoch und befestigten es auf dem Gefängnisdach, so dass es gut gespannt war. Nun zu der von der Presse als artistische Glanzleistung bezeichneten Aktion. Der erste Gefangene hangelte sich hoch in der Luft an dem Seil über die Mauer in die Freiheit. Eine Strecke von etwa 40 Metern war zu bewältigen. Hierbei zogen die beiden auf dem Dach verbliebenen Gefangenen an dem Seil, um es zu spannen. Ansonsten hätte es sich infolge des Gewichtes des in schwindelerregender Höhe am Seil hängenden Mitgefangenen zu sehr gesenkt. Der zweite, etwas schwerere Flüchtige verhedderte sich ein wenig im Sicherheitsdraht auf der Mauerkrone, konnte sich aber schließlich befreien und gelangte in die Freiheit. Der dritte bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und verblieb auf dem Gefängnisdach.

Die beiden erfolgreichen Ausbrecher stiegen in das Auto des Fluchthelfers und suchten das Weite. Die Männer hatten sich eine für ihr Entkommen besonders geeignete Stelle des Gefängnisgeländes ausgesucht. Dort war damals noch keine Kamera installiert. Von den Wachttürmen aus konnte man den Fluchtbereich nicht einsehen.

Der Ausbruch blieb dennoch nicht unbemerkt. Auf den Gefangenen, der kurzzeitig im Sicherheitsdraht der Anstaltsmauer festhing, wurde ein Bediensteter aufmerksam, der in einem der benachbarten Dienstwohnungshäuschen wohnte. Er informierte unverzüglich die Kollegen im Hafthaus, die einen Spurt Richtung Fluchtort einlegten. Doch als sie dort angelangt waren, grüßte hämisch von fern nur noch das Motorengeräusch des Fluchtfahrzeugs, das sich zügig entfernte.

Einem der Flüchtigen, der wegen mehrerer Banküberfälle eine lange Freiheitsstrafe verbüßen musste, war nicht zum ersten Mal ein Ausbruch gelungen. Bereits 1981 war er aus der Diezer Anstalt geflohen. Damals hatte sich der Häftling in einen Container einschließen lassen, der mit Arbeitsmaterialien gefüllt war. Samt Behälter wurde er aus dem Gefängniswerkhof abtransportiert. Erst viele Jahre später wurde er in Frankreich festgenommen und nach Deutschland ausgeliefert. Er musste in der JVA Diez, deren Leiter ich damals war, zunächst seine lange Freiheitsstrafe weiter verbüßen. Nachdem er sich im offenen Vollzug bewähren konnte, wurde er vorzeitig – diesmal von der Justiz – entlassen. Ein schmächtig wirkender Mann mit bedächtiger Sprechweise. Mit seinem höflichen zurückhaltenden Wesen hob er sich angenehm von manch anderem Häftling ab. Er wirkte wesentlich jünger, als er ausschaute. Ein wenig wie ein älterer Student, der sein Examen ewig hinausgezögert hatte. Bei meinen gelegentlichen Kontakten mit ihm waren der weitere Verlauf der Haftzeit und die Entlassungsvorbereitung die zentralen Gesprächsthemen. Die zwei gelungenen Ausbrüche wurden wohlweislich beiderseits mit keinem Wort erwähnt. Ein Ausbruch ist übrigens für sich genommen nicht strafbar. Geahndet werden dagegen Straftaten, die bei der Flucht begangen werden. Auch rücken die Chancen, Vollzugslockerungen zu erhalten oder frühzeitig auf Bewährung entlassen zu werden, nach einem Ausbruch in weite Ferne.

Wenn ein Inhaftierter flüchtig ist, sollte er, solange er sich in Freiheit befindet, tunlichst nicht die Gerichte beschäftigen. Ansonsten macht er unnötig auf sich aufmerksam. Ein Gericht musste über einen ungewöhnlichen Fall entscheiden, den ein entlaufener Freigänger in seinem Versteck an es herangetragen hatte. Dem Häftling missfiel es unter anderem, dass man in der Presse Fotos von ihm veröffentlichte. Er wollte, dass die Medien dies künftig gefälligst unterlassen. Dass ein Bürger ihn auf der Straße hätte wiedererkennen können, war wohl die größte Sorge des Mannes. Da dieses Argument mutmaßlich wenig Begeisterung bei den Richtern ausgelöst hätte, schob der flüchtige Gefangene für seinen Antrag im einstweiligen Verfügungsverfahren vor, es gehe ihm um den Persönlichkeitsschutz. Für seinen Eilantrag ließ er sogar einen Rechtsanwalt aktiv werden, der sich offenbar für nichts zu schade war oder einen sonnigen Humor besaß. Vielleicht wollte er Material für seine spätere Biografie sammeln. Das Versteck seines Klienten verriet er tunlichst nicht. Mandantengeheimnis. Man möchte ja keinen Ärger mit der Rechtsanwaltskammer haben. Als ladungsfähige Anschrift des untergetauchten Gefangenen gab der Verfahrensbevollmächtigte die Adresse der Justizvollzugsanstalt an. Mit dem juristischen Begriff der „ladungsfähigen Anschrift“ ist die Adresse gemeint, unter der eine Person offiziell und auch tatsächlich erreichbar ist. Doch war Letzteres kaum anzunehmen. Der flüchtige Inhaftierte hätte den Gerichtsbeschluss kaum im Freigängerhaus abgeholt. Eher hätte sich der Rechtsanwalt als Laufbursche missbrauchen lassen müssen und seinem Mandanten dafür eine etwas höhere Gebühr in Rechnung gestellt. Doch nachdem der Häftling bereits das Gericht der ersten Instanz nicht überzeugen konnte, machte auch das Oberlandesgericht Frankfurt dem Flüchtigen einen Strich durch die Rechnung. In einer kurzen Presseerklärung zu seinem Beschluss vom 07.03.2024, Az. 16 W 5/24, wurden die Argumente für die Zurückweisung des Eilantrages aufgeführt:3

„Die ladungsfähige Anschrift sei zwingende Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Klageerhebung, bestätigte der für Presserecht zuständige 16. Zivilsenat die angefochtene Entscheidung. Sie dokumentiere u. a. die Ernsthaftigkeit des Begehrens sowie die Bereitschaft, sich etwaiger mit dem Betreiben des Prozesses verbundener nachteiliger Folgen zu stellen. Ein Prozess könne nicht ‚aus dem Verborgenen‘ heraus geführt werden. Die in der Antragsschrift genannte Adresse der JVA sei nicht seine ladungsfähige Anschrift, da der im offenen Vollzug befindliche Antragsteller trotz offener Reststrafe Ende letzten Jahres nicht wieder in die JVA zurückgekehrt sei. Mit seiner Flucht habe er nach außen bekundet, seinen Aufenthalt in der JVA dauerhaft aufzugeben.“

Einmal mehr wurde mir deutlich, wie wichtig zwei juristische Examen sind, um rechtlich schwierige Sachverhalte korrekt beurteilen zu können.

Kapitel 2: Als Rechtsreferendar im E-Flügel der JVA Diez

Außer spannenden Erzählungen über Ausbrüche erfuhr ich als Rechtsreferendar in der JVA Diez vor allem, um was es im Strafvollzug wirklich gehen sollte, wenn man das gesetzliche Ziel ernst nimmt: die Wiedereingliederung und Resozialisierung der Strafgefangenen. Mein Interesse für dieses Arbeitsfeld wurde in der von den Preußen 1912 erbauten Einrichtung geweckt. Ich konnte mir gut vorstellen, im Justizvollzug tätig zu sein. Die Gelegenheit, während der Ausbildungszeit als blutiger Anfänger überall einmal hineinzuschnuppern, nutzte ich reichlich. So nahm ich an einer Gruppenwanderung mit Gefangenen durch die an die Lahn grenzenden Waldgebiete teil. Ein heißer Sommertag. Die Blätterdächer der Laubbäume warfen kühlende Schatten auf uns. Ausgesuchte Inhaftierte, zumeist mit langen Freiheitsstrafen bis lebenslang. Die Wanderungen gehörten zu den ersten vorsichtigen Lockerungsschritten. Sie sollten auf den offenen Vollzug vorbereiten.

Alle Teilnehmer befanden sich noch im sogenannten E-Flügel, eine von 4 Abteilungen des geschlossenen Vollzuges. Er war das Ziel der meisten Gefangenen des geschlossenen Bereiches, denn dort gab es mehr Freiheiten als in den anderen drei Hafthaustrakten. Der in den 70er Jahren errichtete E-Flügel ist der mittlere von drei Stufen der JVA Diez, in denen es unterschiedliche Freiheitsgrade für die Gefangenen gibt. Eine Vollzugsform mit etwa 70 Haftplätzen, die zwischen dem offenen Vollzug des Freigängerhauses und dem „klassischen“ Vollzug liegt, der in den drei älteren Hafthaustrakten betrieben wird und durch überwiegend verschlossene Zellentüren gekennzeichnet ist. In diesen betagten Flügeln ist mit etwa 300 bis 350 Gefangenen die Mehrzahl der Inhaftierten untergebracht.

Während meiner Ausbildungszeit fühlte ich mich als lernwilliger Referendar insbesondere im E-Flügel mit den liberaleren Bedingungen wohl. Anders als in alten Zellentrakten gab es im E-Flügel nur so viel „Knast“ wie nötig. Dort waren am ehesten die Voraussetzungen für einen behandlungsorientierten und damit mehr an den menschlichen Grundbedürfnissen orientierten Strafvollzug gegeben. Einem Strafvollzug, bei dem vor allem auch das Sicherheitsniveau mit allen Einschränkungen an den unterschiedlichen Persönlichkeiten der Gefangenen ausgerichtet ist und an dem Bedürfnis nach mehr Kommunikation und menschlicher Nähe, nach mehr Freiheit in der Unfreiheit. Weniger Isolation.

Der E-Flügel verfügt anders als die alten Flügel der JVA Diez über abgetrennte Stockwerke. Sie eignen sich für einen wohngruppenähnlichen Strafvollzug. Die Haftraumtüren stehen tagsüber offen. Kleine Nischen, in denen ein wenig mehr Eigenständigkeit und Selbstversorgung möglich sind. Mit Teeküchen, Gemeinschaftsräumen und Wirtschaftsräumen mit Waschmaschinen und Bügelbrettern. Nicht zuletzt der Möglichkeit, unkompliziert Zugang zu den Bediensteten zu haben, den Mitarbeitern des allgemeinen Vollzugsdienstes, dem Vollzugsabteilungsleiter, dem Psychologen und dem Sozialarbeiter.4 Viele der Gefangenen, die in der Vollzugsabteilung E untergebracht waren, befanden sich auf dem Weg zum Freigängerhaus. Andere, die aus unterschiedlichen Gründen diese Chance in absehbarer Zeit nicht besaßen, waren jedenfalls für diese Vollzugsabteilung mit den größeren Freiheitsgraden geeignet. Bei ihnen lagen nur geringe Sicherheitsrisiken vor. Es wurde davon ausgegangen, dass sie mit der größeren Freizügigkeit dieser Abteilung umgehen konnten und sie nicht missbrauchten.

Ein Highlight für mich und natürlich noch viel mehr die Gefangenen dieser Vollzugsabteilung waren die Gruppenwanderungen. Ein Durchatmen, Kontakt zur Natur, kurze Begegnungen mit in Freiheit lebenden Menschen. Eine Zäsur, die die Zeiten der Entfremdung von der Wirklichkeit unterbrach.

Die Teilnehmer der Wandergruppe hatten jeweils eine unterschiedliche Vorgeschichte. Einige Tage zuvor hatte ich mich in die Akten der Gefangenen vertieft. Vier Männer waren wegen Mordes verurteilt worden, andere wegen Raubes, einige wenige wegen Betruges. Wie immer viel Text zu den Tätern. Wenig zu den Opfern.

Es war nicht immer einfach, die Gefangenen, zu denen ich auf dem Weg durch die beschauliche Landschaft Kontakt hatte, von ihren Straftaten zu trennen. Doch wurde mir bald bewusst, dass eine Persönlichkeit viele verschiedene Facetten hat und nicht nur aus dem Anteil besteht, der ihn zum Täter gemacht hat.

Neun Gefangene waren es, die von einem Psychologen und einem Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes bei der Wanderung begleitet wurden. Hinzu kam neben mir noch ein weiterer Mitreferendar. Die Gefangenen machten einen gepflegten Eindruck und legten Wert auf ein gutes äußeres Erscheinungsbild. Ein Inhaftierter war regelrecht wie aus dem Ei gepellt und trug ein nach damaligen Maßstäben topmodisches farbenfrohes Hemd. Große rechteckige Flächen, Gelb, Rot und vor allem Blaugrün stachen hervor. Wäre er weggelaufen, hätte man ihn noch aus einer Entfernung von mehreren hundert Metern sehen können.

Einer der Wanderer, deren Akte ich gelesen hatte, wirkte sehr in sich gekehrt. Ein wortkarger Mann, schlaksig, mit vollem grauen Haar, der bereits mehr als 20 Jahre wegen Mordes in der Diezer Anstalt verbracht hatte. Anders ein mehrfach wegen Betruges vorbestrafter Inhaftierter, der bereits das 70. Lebensjahr überschritten hatte. Er sprach sehr viel und nutzte aus, dass ihm jemand geduldig zuhörte. Der Inhaftierte fremdelte dennoch mit den Mitgefangenen und murmelte mit einem kritischen Blick auf den Grauhaarigen „Jetzt geh’ ich mit der Mörderbande spazieren.“ Während der Haftzeit hatte er eine Brieffreundschaft mit einer verwitweten Ärztin geschlossen. Sie beabsichtige, ihn zu heiraten, erzählte mir der Gefangene stolz. Ein sehr großer, korpulenter Mann, der es bisher vermieden hatte, sein lückenhaftes Gebiss sanieren zu lassen. Der Gefangene hatte als Wehrmachtssoldat am Zweiten Weltkrieg teilnehmen müssen. Stolz berichtete er mir, der Hauptmann habe ihn immer dafür gelobt, wie gut er Dinge organisieren könne. Mit „Organisieren“ meinte er wohl, dass er Bewohnern der besetzten Gebiete Lebensmittel und Vieh gestohlen hatte. Ein Unrechtsbewusstsein besaß er offenbar nicht. Nach dem Krieg verdiente er seinen Lebensunterhalt überwiegend mit Betrügereien. Immer wieder landete er im Gefängnis, bis er zusätzlich zu einer längeren Freiheitsstrafe die Sicherungsverwahrung erhielt.

Die Wandergruppe war insgesamt recht gut gelaunt. Es gelang nicht immer, die Gefangenen eng zusammenzuhalten. Doch hatte ich das Gefühl, dass keiner sich selbstständig machen wollte. Ein etwas älterer Gefangener war körperlich wenig belastbar. Schweißgebadet und bei Steigungen schwer atmend ging er stets am Ende der Gruppe, sodass die Abstände zwischen den Gefangenen immer größer wurden. Wir vier Begleitpersonen verteilten uns. Leicht wäre es einem Inhaftierten möglich gewesen, einen günstigen Moment zu nutzen, um auf den kurvigen Waldwegen das Weite zu suchen. Für den einen oder anderen Häftling war es das erste Mal nach langer Zeit, dass er wieder Begegnungen mit der freien Welt hatte. Ich sehe noch den Gefangenen vor mir, der in einer Dorfbäckerei, in der wir kurz anhielten, zwei Stück Käsekuchen kaufte. Noch in dem kleinen Verkaufsraum mit dem einfachen 50er-Jahre-Ambiente schob er das erste Stück gierig in den Mund und verspeiste es. Ich überlegte, ob sein Verhalten seiner Herkunft geschuldet war oder den vielen Jahren hinter Gittern. Eine lange Zeit, während der die Häftlinge zumeist allein in der Zelle essen. Nach Benimmregeln fragt kein Mensch. Einen kurzen Halt machten wir in einer Kirche. Wieder fiel mir der hungrige Gefangene auf. Er war der Einzige, der mit einer gewissen Ernsthaftigkeit eine Kerze anzündete und auf den Opferstock steckte. Vielleicht wurden Erinnerungen an seine Kindheit wach. Vielleicht war er dankbar für diesen schönen Tag. Vielleicht verband er das Kerzenlicht mit der Hoffnung, in naher Zukunft entlassen zu werden. Der Gefangene, etwa Mitte fünfzig, dunkelbraune glatte Haare und von recht kräftiger, nahezu athletischer Statur, hatte von Geburt an eine leichte Gehbehinderung und hinkte ein wenig. Da er aus der Gegend von Mainz stammte, war mir sein Dialekt sehr vertraut. Auch ich bin damit aufgewachsen und habe ihn nie ganz verloren. Wollte ihn wohl auch nicht verlieren. Im Gefängnis war der Inhaftierte, der die Kerze zum Leuchten gebracht hatte, nicht zum ersten Mal. Er hatte einen Mann niedergeschlagen und beraubt. Das Opfer war ihm in einer Kneipe aufgefallen, weil es eine wertvolle Uhr getragen hatte.

Die Wanderungen organisierte der in die Vollzugsabteilung E tätige Psychologe, der in Diez beheimatet war und sich in der Umgebung sehr gut auskannte. Ein freundlicher, stets positiv gestimmter Mensch, der aus Baden-Württemberg stammte. Er betreute viele Gefangene als Klienten in einzel- und gruppentherapeutischen Maßnahmen. Auch besonders schwierige Fälle schreckten ihn nicht ab. Der Therapeut war bekannt dafür, dass er auch Klartext sprechen konnte und die Gefangenen nicht in einem softigen Therapiebrei ziellos umherwaten ließ.

Der Psychologe wählte die für die Wanderungen geeigneten Gefangenen mit Zustimmung der Anstaltsleitung aus. Überwiegend hatten sie seine Therapieangebote genutzt. Er kannte daher alle sehr gut und wusste, wem er einen Vertrauensvorschuss geben konnte. So fühlten sich die Wanderer ihm gegenüber verpflichtet. Eine psychologische Barriere, die die Gefangenen daran hinderte, das ihnen geschenkte Vertrauen zu missbrauchen. Wahrscheinlich war es deshalb kein Zufall, dass nur in einem einzigen Fall ein Häftling die Wanderungen ausnutzte, um zu fliehen. Ebenso wenig wie es kein Zufall war, dass ausschließlich an diesem Tag der Psychologe nicht als Betreuer und Begleiter mitgehen konnte. Nach wenigen Wochen wurde der Gefangene wieder gefasst. Leider hatte die Flucht Auswirkungen auf die bereits seit so vielen Jahren erfolgreichen Gruppenwanderungen, an die sich bei Bewährung erste Ausgänge anschlossen. Das Justizministerium verfügte einen Stopp. Das war’s. Kein Risiko mehr. Das Ende der ersten vollzugsöffnenden Maßnahmen zur Erprobung der Häftlinge bedeutete zugleich auch das Ende der meisten Ausgänge aus dem geschlossenen Vollzug. Es blieb bei Ausnahmen kurz vor der Entlassung.

Das Vollzugskonzept des E-Flügels konnte viele Jahre erfolgreich umgesetzt werden. Später erfuhr es außer dem Ende der Wanderungen leider einige gravierende Einschnitte. Zu dem Konzept gehörten grundsätzlich noch weitere vollzugsöffnende Maßnahmen. Bereits während der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden sie nach und nach abgeschafft. Bedauerlicherweise. So verließen täglich zwei Gefangenengruppen dieses Zellentraktes die JVA, um als Freigänger in Limburger Unternehmen zu arbeiten. Bei Gefangenen, die sich bewährten, schloss sich der offene Vollzug an. Freigänger aus dem geschlossenen Vollzug? Heute undenkbar. Viele zu groß wäre die Angst davor, dass die Inhaftierten ihre Freiheiten ausnutzen, um Drogen einzuschmuggeln. Nicht ganz unberechtigt ist diese Sorge seit den 1990er-Jahren, als illegale Suchtmittel vermehrt Einzug in die Gefängnisse hielten. Das Justizministerium verlangte damals als Voraussetzung für das Weiterleben der Freigängergruppen hundertprozentig sichere Kontrollen. Die gibt es natürlich nicht. Als verzweifelter Versuch, den Anforderungen Rechnung zu tragen, wurde für eine fünfstellige Summe ein Teil eines vor der Pforte liegenden Dienstwohnungsgebäudes zu einer Schleuse umgestaltet. Ein „dreckiger“ Raum, in dem sich die Gefangenen nach der Rückkehr von der Arbeit bis auf die Unterhose entkleideten, und ein „sauberer“ Raum, in dem sich die Inhaftierten nach einer Kontrolle wieder die Gefängniskleidung anzogen, um unmittelbar in den geschlossenen Vollzug zurückzukehren. Die Schleuse hatte nur eine Überlebensdauer von wenigen Wochen. Dem damaligen Gefängnisdirektor Dr. Dieter Bandell war bald bewusst, dass das Ganze eine Farce war. Das Einschleusen von illegalen Drogen oder anderer problematischer Dinge wäre trotz Kontrollen nicht zu verhindern gewesen. So hätte die alleinige Verantwortung wie so oft ausschließlich auf den Mitarbeitern der JVA gelastet. Von ihnen wäre Unmögliches verlangt worden. Dieter Bandell bedauerte es sehr, den Freigang im geschlossenen Vollzug beerdigen zu müssen, nachdem er bereits die Wandergruppe aufgeben musste. Das Geld für den Umbau hatte man daher zwar in den Sand gesetzt. Doch dem Gefängnisleiter blieb letztlich keine andere Wahl. Potemkin’sche Dörfer wollte er nicht bauen.

Kapitel 3: Wie man im Gefängnis landet. Die erste Station in der JVA Frankenthal und frühe Erfahrungen in der Personalführung

Nachdem ich in der JVA Diez das Rechtsreferendariat beendet hatte, wusste ich, dass dieses Arbeitsfeld etwas für mich sein könnte. Alles andere als eine langweilige Tätigkeit. Es reizte mich die Zusammenarbeit mit vielen verschiedenen Berufsgruppen, den Mitarbeitern des allgemeinen Vollzugsdienstes, die vor ihrem Eintritt in die Justiz in ganz verschiedenen Arbeitsfeldern tätig waren, den Sozialarbeitern, Psychologen, Anstaltsseelsorgern, den Vollzugs- und Verwaltungsabteilungsleitern als Vorgesetzte der mittleren Führungsebene und den Kolleginnen und Kollegen in der Anstaltsleitung. Den Umgang mit den Gefangenen betrachtete ich als große und zugleich interessante Herausforderung. Spannend fand ich die tägliche Gratwanderung zwischen den Anforderungen der Sicherheit und dem Vollzugsziel der Resozialisierung. Ganz anders als in den Heimen, in denen ich während des Sozialpädagogikstudiums und anschließend einige Zeit gearbeitet hatte, konnte es ja nicht sein. „Das kennst du ja ein bisschen“, sagte ich mir. Also schrieb ich eine Bewerbung, die ich an das Mainzer Justizministerium schickte.

Nach ein paar Wochen rief mich ein Mitarbeiter der Abteilung Strafvollzug an und fragte, ob ich noch Interesse hätte. Bald kam es zu einem Bewerbungsgespräch. Genau genommen handelte es sich weniger um ein Gespräch, da ich mich überwiegend in der Rolle des Zuhörenden befand. So hatte ich wenig Gelegenheit, eine ungeschickte Äußerung von mir zu geben. Eine eher rhetorische Frage richtete man allerdings an mich: „Sie bringen doch keine grünen Vorstellungen in den Strafvollzug?“ Dem Tonfall entnahm ich, dass man hiervon nicht ausging. Schließlich saß ich mit Krawatte, die mich während meines Berufslebens selten zierte, und dunklen Lederschuhen vor dem Gremium und hatte auf die bequemeren Sportschuhe verzichtet. Ich kam mir ein wenig verkleidet vor. Allerdings war mir nicht klar, was „grüne Vorstellungen“ im Zusammenhang mit der Justiz bedeuteten. So entschloss ich mich, meinen stoischen Gesichtsausdruck beizubehalten und es dem Auswahlgremium zu überlassen, meine unbewegte Mimik zu bewerten. Man hatte seitens des Ministeriums, das damals von dem sehr engagierten FDP-Minister Peter Caesar geführt wurde, die Befürchtung, ein politisch ambitioniertes Mitglied der Anstaltsleitung wandle die Gefängnisse in Hotels mit stets offenen Türen um. Kurzum, ich wurde eingestellt. Die Rolle des überwiegend höflich zuhörenden Bewerbers war anscheinend gut angekommen. Das Schweigen auf die brisante Frage wurde offenbar als Zustimmung gewertet.

Zunächst sollte es nach Frankenthal gehen. Da keine passende Beamtenstelle für mich frei war, besetzte ich zunächst eine Oberlehrerstelle. So hieß diese Stelle wirklich. Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich sollte als Mitglied der Anstaltsleitung erste berufliche Erfahrungen im Strafvollzug sammeln, daher keinen Unterricht halten. In wenigen Monaten sei eine Stelle für einen Regierungsrat frei, hieß es vom Justizministerium.

Obwohl die Würfel daher bereits zu meinen Gunsten gefallen waren, war für die Einstellung noch pro forma die Zustimmung des Frankenthaler Personalrates erforderlich, da die Oberlehrerstelle eine Angestellten- und keine Beamtenstelle war.5 So musste ich mich auch in der JVA Frankenthal einem Fake-Bewerbungsgespräch stellen, das ich zugegebenermaßen nicht sonderlich ernst nahm. Allenfalls wenn ich betrunken erschienen wäre oder einen völlig verwirrten Eindruck gemacht hätte, wäre meine Einstellung noch mit einem Veto aus der Pfalz zu verhindern gewesen. An dem Gespräch nahmen unter anderem der damalige Leiter der JVA, dessen Stellvertreter sowie Vertreter des Personalrates teil. Es entwickelte sich ein überwiegend freundliches Gespräch ohne die ansonsten übliche Anspannung. Eine kleine Ausnahme gab es jedoch. Der Anstaltsleiter stellte mir eine allgemeine Frage zum Strafvollzug. Er wollte wissen, was ich für besonders wichtig hielte und welche Aufgaben ich im Vordergrund sähe. Ich antwortete mit einigen wohl halbwegs verwertbaren Sätzen. Um meinen Ausführungen einen kleinen intellektuellen Höhepunkt zu geben, sonderte ich die Äußerung ab: „Der Strafvollzug spielt sich nicht im demokratiefreien Raum ab.“ Dieser Satz war nicht meine Erfindung, sondern stammte von einem Referenten des Justizministeriums, der ihn bei einem Besuch der JVA Diez während meiner Referendarzeit ausgesprochen hatte. Da er mir gefiel, glaubte ich damit bei dem Vorstellungsgespräch punkten zu können. Weit gefehlt. Meine Äußerung führte vielmehr dazu, dass sich ein Mitglied der Gesprächsrunde sehr irritiert zeigte. Ein wenig forsch fragte es nach, ob ich es denn kritisch sähe, dass der Strafvollzug sich innerhalb des demokratischen Staates bewege. Möglicherweise – so fragte ich mich spontan – ging der Fragesteller davon aus, aufgrund meines sozialpädagogischen Hintergrundes besäße ich umstürzlerische Fantasien. So wollte er offenbar in den Tiefen meiner Persönlichkeit graben, um etwaige gefährliche Hohlräume ausfindig zu machen. Ich war schon fast im Begriff, flapsig zu antworten, dass ich zu Hause keine Anleitung zum Bau von Bomben besäße, da kam mir glücklicherweise der Anstaltsleiter zuvor, der meine Äußerung richtig interpretiert hatte. Er sagte: „Herr Henke meint damit, dass die politische Landschaft und auch die Erwartungen der Wähler einen gewissen Einfluss auf die Tätigkeit im Strafvollzug haben können.“ Ich atmete auf. Damit war die Sache erledigt und ich durfte am 19. Oktober 1989 den Dienst in der pfälzischen Einrichtung antreten.

In der JVA Frankenthal begegnete ich erstmals einer jungen Kollegin, die viele Jahre später die Leiterin dieser Einrichtung werden sollte. Sie hatte sich den Strafvollzug als letzte Station der Referendarausbildung ausgesucht. Da es damals in dem Pfälzer Gefängnis noch ein Raumproblem gab und zu wenig Büros vorhanden waren, musste ich mir ein Zimmer mit einem weiteren Mitglied der Anstaltsleitung teilen. Dies lag mir überhaupt nicht, da ich leicht ablenkbar war. Die Situation erfuhr jedoch noch eine Steigerung, die meine Belastungsfähigkeit überschritt, denn in unser Gemeinschaftsbüro kam die motivierte Referendarin. Im Rahmen der Ausbildung musste sie einige schriftliche Aufträge erledigen und nutzte hierfür eine betagte Schreibmaschine. Dieses Gerät hatte die Angewohnheit, beim Anschlagen sehr laute Töne zu erzeugen. Ein Klappern, das mir die letzten Konzentrationsreste raubte. Nach wenigen Minuten bat ich die Referendarin entnervt, die an einem mickrigen Katzentisch an der Wand saß, sich für diese lautstarke Tätigkeit doch ein anderes Zimmer zu suchen. Ich glaube, wenn sie bei der Arbeit laut gesungen hätte, hätte mich dies auch nicht weniger gestört.

In der JVA Frankenthal wurde ich erstmals mit den hohen Anforderungen konfrontiert, denen man als Mitglied der Anstaltsleitung begegnet, wenn man Mitarbeiter führen soll. Darauf wird man während des Jurastudiums und der Referendarzeit nicht vorbereitet. Learning by doing war daher gefragt.

Bereits nach wenigen Wochen Tätigkeit in dem Pfälzer Gefängnis begegnete ich einem Mitarbeiter aus dem allgemeinen Vollzugsdienst, der in einer Gefangenenvollzugsabteilung tätig war. Mehr als 70 % des Personalkörpers gehören dazu. Die regelmäßig uniformierten Bediensteten sind überwiegend in den Zellentrakten im unmittelbaren Kontakt mit den Gefangenen tätig. Aufgrund der drei achtstündigen Dienstschichten täglich benötigt man für diese Aufgabe die meisten Mitarbeiter. Aus dieser Personalgruppe werden neben weiteren Aufgabenfeldern auch die Pforte, der Besuchsbereich, der Sanitätsdienst, die Sicherheitsabteilung, die Arbeitsbetriebe, der Fahrdienst und Verwaltungsbereiche bestückt.6

Der Frankenthaler Kollege klagte mir sein Leid und berichtete, er sei trotz der vielen Berufsjahre noch nie befördert worden. Jahr für Jahr zögen gleichaltrige oder sogar deutlich jüngere Bedienstete an ihm vorbei. Der Mitarbeiter erschien mir zutiefst verletzt und unzufrieden. Er hoffte offenbar, als neues Mitglied der Anstaltsleitung könne ich meinen Einfluss geltend machen und seine Beförderung erwirken. Ich erkundigte mich daraufhin bei seinem Vorgesetzten. Dieser erläuterte mir, der Mitarbeiter sei im Hintertreffen, weil er im Vergleich zu seinen Kollegen schlechtere Leistungen erbringe. Vor allem offenbare er manchmal wenig Geschick im Umgang mit den Inhaftierten.

Mir wurde bewusst, dass man als Vorgesetzter auch mit Mitarbeitern umgehen muss, die unzufrieden mit ihrer Tätigkeit sind und sich vielleicht sogar mit ihrer Berufswahl vertan haben. Dies betrifft zwar nur wenige Bedienstete, ist aber eine Aufgabe, die Führungskräfte vor besondere Herausforderungen stellt. Patentlösungen gibt es nicht. Es ist schwierig, Mitarbeitern, die innerlich gekündigt haben, aus ihrem Loch herauszuholen und erneut Motivation aufzubauen. Der Beamtenstatus mit allen Vorteilen wie dem sicheren Arbeitsplatz als Beamter auf Lebenszeit hindert unzufriedene Bedienstete zudem daran, sich ein anderes Arbeitsfeld zu suchen. Die Anzahl der Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes, die während meines Berufslebens das Beamtenverhältnis in der Justiz beendet haben, um in ein anderes Arbeitsfeld zu wechseln, war überschaubar. Selten war dies eine Rückkehr in den alten Beruf. Am ehesten erfolgte ein Wechsel in ein anderes Beamtenverhältnis zum Beispiel zu einer Stadt- oder Kreisverwaltung oder zum Bundesgrenzschutz. Manche Mitarbeiter des allgemeinen Vollzugsdienstes erhofften sich hierdurch auch bessere Beförderungschancen. Einige wollten den Belastungen des Arbeitsfeldes Strafvollzug, dem in den letzten Jahren immer schwierigeren Gefangenenklientel oder dem Schichtdienst entfliehen. Anderen ging es darum, ihr bisheriges Arbeitsfeld zu verlassen, weil sie sich aus verschiedenen Gründen damit nicht mehr identifizieren können. Einigen dieser Mitarbeiter erschien der Strafvollzug zu lasch. Sie waren eher Hardliner, die mit dem Vollzugsziel der Resozialisierung fremdelten. Bleiben unzufriedene Mitarbeiter mangels anderer Alternativen in der Anstalt, hat man es mit Menschen zu tun, die sich mehr oder weniger bis zum Ruhestand durchquälen, unmotiviert und unzufrieden sind oder nicht selten fragwürdige Fehlzeiten aufweisen. Zudem tragen diese Mitarbeiter ihren Frust nach Hause zur Familie mit der Folge privater Konflikte. Ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen und letztlich für alle Beteiligten unbefriedigend ist. Glücklicherweise betrifft dies nur wenige Mitarbeiter. Sie sind jedoch eine dauerhafte Belastung für ihre Kollegen. Mit der Flucht in die Krankheit glaubt der eine oder andere, sich bei Vorgesetzten revanchieren zu können, die sie aus ihrer Sicht ungerecht behandeln. Im Ergebnis trifft ein solches Verhalten fast ausschließlich die Kollegen des allgemeinen Vollzugsdienstes. Denn diese müssen die personellen Vakanzen mittragen und Mehrbelastungen aushalten.

Da ich nur kurze Zeit in der JVA Frankenthal tätig war, habe ich nicht mehr erfahren, was aus dem Mitarbeiter, der mich angesprochen hatte, geworden ist. Das Gespräch blieb mir während meines gesamten Berufslebens in Erinnerung und war für mich eine Mahnung, stets zu versuchen, frühzeitig Fehlentwicklungen vorzubeugen. Manchmal hilft es, einen Bediensteten auf einen anderen Dienstposten zu setzen, bei dem er eher seine Fähigkeiten einbringen kann.

Meine erste Gefängnisstation als Mitglied der Anstaltsleitung in Frankenthal fand nach nur 7 Monaten ein abruptes Ende, nachdem der für die Anstalt zuständige Referent des Ministeriums im Rahmen der regelmäßigen Revisionen zu Besuch war. Der Mitarbeiter, der aus im Ruhrpott stammte und über eine recht laute Stimme verfügte, die in seiner Heimat wohl nicht ungewöhnlich ist, fragte mich bei einem Rundgang durch die Büros, wie es mir gehe und ob ich zurechtkomme. Letzteres bejahte ich. Dann beging ich allerdings den Fehler, spontan darauf hinzuweisen, dass ich nach meiner Einarbeitungszeit Freiräume für die Übernahme weiterer Aufgaben in der Anstalt hätte. Dies entsprach zwar der Wahrheit, veranlasste jedoch den Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde, intensiv über eine weitere Kennlernstation in Rheinland-Pfalz nachzudenken. So dauerte es nach meiner Erinnerung gerade mal einen Tag, bis ich die Nachricht erhielt, ich dürfe für zumindest ein halbes Jahr in der JVA Koblenz arbeiten. Der damalige Anstaltsleiter der JVA Frankenthal, der meine Äußerung bei dem Rundgang des Referenten mitbekommen hatte, war wegen meiner Offenheit ein wenig angesäuert. Nachdem er die die Entscheidung über meine geplante Weiterreise erfahren hatte, sagte er zu mir: „Herr Henke, die Versetzung ist die Retourkutsche für Ihre Äußerung.“ Womit er natürlich recht hatte.

Der Frankenthaler Anstaltsleiter zeichnete sich durch seinen menschlichen Umgang mit den Gefangenen aus. Dies beeindruckte mich. Wenn er ein Schreiben eines Gefangenen mit der Bitte um ein Gespräch erhielt, suchte er ihn noch an dem Tag, an dem ihm das Schreiben zugegangen war, oder spätestens einen Tag danach auf. Die Gefangenen hätten ein Recht darauf, ernst genommen zu werden, dass man ihnen zuhört und sich mit ihren Anliegen beschäftigt, erklärte er mir. Ich nahm mir vor, dies zu beherzigen.

Trotz der angenehmen Arbeitsatmosphäre in dieser Einrichtung begrüßte ich es, noch ein weiteres Gefängnis kennen zu lernen. Da ich auch von meinem Wohnort Mainz regelmäßig nach Frankenthal gependelt war, machte es mir nichts aus, eine etwas weitere Strecke bis nach Koblenz zurückzulegen. Zugegebenermaßen besaß ich während meines gesamten Berufslebens die Mobilität eines Kirchturms. Ich bin im Laufe meines Lebens zweimal umgezogen und entfernte mich hierbei maximal einen Kilometer von meinem Elternhaus. Immerhin.

Kapitel 4: Der schwierige Umgang der Mitarbeiter mit Schuldgefühlen

In meinem beruflichen Lebenslauf gehe ich ein Stück zurück. Lange bevor ich in der Justiz landete, erfuhr ich, welche Verantwortung ein Mitarbeiter trägt, wenn er mit Gefangenen arbeitet.

Von 1976 bis 1979 schloss ich in der katholischen Fachhochschule Mainz – heute Hochschule – ein Sozialpädagogikstudium ab. Nachdem ich Erfahrungen in der Heimerziehung gesammelt hatte, wollte ich im Alter von 24 Jahren noch ein Zusatzstudium absolvieren. Eigentlich hatte ich mit Psychologie geliebäugelt, meinem absoluten Lieblingsfach während des Pädagogik-Studiums. Der Professor, der sich mit meiner Diplomarbeit abgeben musste, versuchte mich dazu zu ermuntern. Zunächst arbeitete ich im Landesjugendheim Ingelheim als Erzieher und Sozialpädagoge, einer Einrichtung für männliche Jugendliche. Dann folgte ich allerdings nicht der Empfehlung des Dozenten. Ich traf eine eher pragmatische Entscheidung, mit der ich mir mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausrechnete. Die „Juristerei“ sollte es werden. Einer der klassischen Studiengänge, mit denen ich beruflich auf zwei Beinen stehen könnte. So dachte ich jedenfalls. Glücklicherweise fand ich nach den beiden Staatsexamen mit dem Strafvollzug ein passendes Arbeitsfeld, bei dem ich das trockene Jura-Studium und den Sozialpädagogik-Abschluss verbinden konnte.

Die Juristerei betrachtete ich als zusätzliches und notwendiges Handwerkzeug, um die vielfältigen rechtlichen Angelegenheiten bewältigen zu können. Dies war auch bitternötig. Im Arbeitsalltag drängten sich immer häufiger juristische Fragen in den Vordergrund. Sie betrafen neben den Gefangenen im Lauf der Jahre immer mehr auch den Personalbereich.

Doch zurück zu den beruflichen Anfängen in der Katholischen Hochschule. In der überschaubaren Bildungseinrichtung mit etwa 60 Studenten pro Semester fühlte ich mich sehr gut aufgehoben. Nach und nach lernte ich alle Kommilitonen persönlich kennen. Es herrschte eine sehr familiäre Atmosphäre, viele Gleichgesinnte, die später in den verschiedenen Nischen der Sozialarbeit einen für sie passenden Platz fanden. Zu Beginn des Studiums war ich erst 19 Jahre alt. Ein Kommilitone war im Vergleich zu mir mit etwa 26 Jahren deutlich älter. Er gehörte zu den Studenten, mit denen ich am häufigsten Kontakt hatte. Irgendwann erklärte er mir seinen späten Einstieg in die Sozialarbeit: „Ich war als Beamter im gehobenen Dienst in Nordrhein-Westfalen im Strafvollzug tätig und bin irgendwann ausgestiegen, weil ich nicht mehr alles mitmachen wollte, was meine Vorgesetzten von mir verlangten“, begann er. „Als Leiter einer Vollzugsabteilung für Gefangene musste ich gelegentlich Leute mit Disziplinarmaßnahmen bestrafen, wenn sie sich irgendein Fehlverhalten geleistet hatten. Das gehörte dazu. Damit konnte ich leben, auch wenn ich es ungern tat. Ein Problem hatte ich allerdings damit, Gefangene wegen Kinkerlitzchen zu sanktionieren. Einmal fiel ein Topf mit einer Pflanze von der Fensterbank einer Zelle auf den Gefängnishof. Vielleicht war es an diesem Tag windig. Möglicherweise war der Bewohner des Haftraumes auch versehentlich daran gestoßen. Pflanzen waren damals noch in diesem Gefängnis erlaubt. Niemandem war etwas geschehen. Niemand wurde verletzt oder war gefährdet. Dennoch verlangte mein Vorgesetzter, gegen den Gefangenen eine empfindliche Disziplinarmaßnahme zu verhängen. Meinen Einwand, es habe sich höchstwahrscheinlich nicht um Absicht gehandelt, ließ er nicht gelten. So bestrafte ich den Gefangenen. Ich fühlte mich schäbig und merkte, dass der Strafvollzug unter diesen Voraussetzungen nicht mehr mein Ding war. Ich hängte meinen sicheren Beamtenjob an den Nagel, um Sozialarbeit zu studieren. Dieser Beruf liegt mir eher. Ich bin jemand, der helfen möchte. Das kam in dem Gefängnis, in dem ich arbeitete, zu kurz.“