Mehr Mut (E-Book) - Renato C. Müller Vasquez Callo - E-Book

Mehr Mut (E-Book) E-Book

Renato C. Müller Vasquez Callo

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Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Zwei Drittel unserer Kinder werden 2035 in Berufen arbeiten, die es in jener Form heute noch nicht gibt. Wie bereiten wir sie darauf vor? Wie gelingt es, uns im Bildungswesen auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren und nicht nur getrieben zu werden? Was müssen wir tun, damit unsere Bildung wirkungsvoller wird? Erfahren Sie, wohin die Reise geht, was Sie selbst tun können, und lassen Sie sich von mutigen Beispielen inspirieren.

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Renato C. Müller Vasquez Callo

Mehr Mut!Engagiert und weitsichtig Bildung gestalten

ISBN Print: 978-3-0355-2172-6

ISBN E-Book: 978-3-0355-2173-3

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.ch

Für Michelle Pauline

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Kapitel 1Der Realität ins Auge blicken

1.1. Emma und Liam

1.2. Getrieben oder am Steuer?

1.3. Wo geht die Reise hin?

1.4. Veränderung als einzige Konstante

1.5. Was wollen wir bewirken?

Kapitel 2Ist das Bildungswesen bereit für diese Realität?

2.1. Aktuelle Zahlen, Daten, Fakten

2.2. Bildungswesen als Arbeitgeber

2.3. Gestaltungsmöglichkeiten auf allen Stufen

2.4. Blick hinter die Kulissen

2.5. Aktuelle Trends und Entwicklungen

Interview mit Daniel Auf der MaurKinder sollen selbstbestimmt lernen dürfen!

2.6. Einfluss der Digitalisierung

Interview mit Jacobus de LeeuwEin digitales Gerät ist ein Kompass, mit dem wir durch die Welt navigieren!

Kapitel 3Was es mehr brauchen würde

3.1. Verständnis für die Hebel der Veränderung

Interview mit Prof. Dr. Reto SteinerBedürfnisse der Studierenden und der Gesellschaft miteinander verknüpfen!

3.2. Wertschätzung und Weiterentwicklung der Kultur

3.3. Führung und Zusammenarbeit, die das Beste aus den Menschen hervorbringen

3.4. Fokussierung auf das in der Zukunft Relevante

Interview mit Dennis LückKreativität schafft alles!

3.5. Reichhaltige und herausfordernde Lerngelegenheiten

Interview mit Ron BergerKinder können viel mehr, als wir für möglich halten!

Interview mit Rebecca MeyerIm MakerSpace lernt man die Kinder komplett neu kennen!

Interview mit Dr. Stefan SeegererImmer neugierig bleiben!

Kapitel 4Zusammenführung zu einem stimmigen Zukunftsbild

4.1. Vier Fragen werden in vier Schritten beantwortet

4.2. Vier essenzielle Fragen

Interview mit Prof. em. Dr. Ernst HafenWir haben gar nicht gewusst, zu was wir alles fähig sind!

4.3. Vier Entwicklungsschritte

Interview mit Prof. Dr. Pero MićićHave a bright future!

Interview mit der Hochschulleitung der Pädagogischen Hochschule SchaffhausenVerschiedene, individuelle Wege führen zum Ziel!

Kapitel 5Mehr Mut!

VORWORT

«Every good teacher wants to change the world for the better.» Stephen D. Brookfield

Bildung soll Menschen dazu befähigen, dass sie heute und in Zukunft gute und glückliche Menschen sein können. Wie genau die Zukunft sein wird, wissen wir alle nicht. Was wir tun können, ist, die Bildung engagiert und weitsichtig so zu gestalten, dass die Menschen mit einem gut gefüllten Rucksack in Richtung Zukunft wandern können. Wie gehen wir dafür am besten vor?

Mit dieser Frage habe ich mich seit 2015 auseinandergesetzt und für die Beantwortung dieses vorliegende Büchlein geschrieben. In einem ersten Teil präsentiere ich eine Auslegeordnung der heutigen und zukünftigen Realität. Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, ob das Bildungswesen bereit für diese Realität ist. Im dritten Teil frage ich mich, was es mehr brauchen würde, sodass noch mehr Wirkung erzielt werden könnte. Im vierten Teil führe ich meine Überlegungen zu einem stimmigen Zukunftsbild zusammen und zeige Ihnen, wie Sie selbst aktiv werden können. Im fünften Teil präsentiere ich ein Modell, wie mutig, engagiert und weitsichtig Zukunft gestaltet werden kann.

Im Rahmen dieses Buchprojekts war es für mich ein grosses Privileg, dass ich elf inspirierende Gespräche mit interessanten Personen führen durfte. Diese konkreten Einblicke bereichern in Interviewform meinen Text. Dafür danke ich folgenden Gesprächspartnern ganz herzlich: Daniel Auf der Maur, Ron Berger, Jacobus de Leeuw, Prof. Dr. Gerda Buhl, Prof. em. Dr. Ernst Hafen, Dennis Lück, Judith Meuwly Correll, Rebecca Meyer, Prof. Dr. Pero Mićić, Dr. Stefan Seegerer, Prof. Dr. Reto Steiner und Prof. Dr. Thomas Hermann.

Ergänzend zum Buch finden Sie auf der Webseite des hep Verlags → hep-verlag.ch/mehr-mut hilfreiche weiterführende Ressourcen, wie z. B. Videos, Ausfüllvorlagen, Literaturhinweise und Links. Die im vierten Teil vorgestellten Instrumente sind als Werkzeugkasten zu verstehen, damit Sie optimal in Ihrem Veränderungsprojekt unterstützt werden, falls Sie selbst aktiv, engagiert und weitsichtig Bildung gestalten wollen, sei es mit einer neuen Lerneinheit, in einem Schulentwicklungsprojekt oder einem noch grösseren Vorhaben.

Ohne meine verständnisvolle, unterstützende und motivierende Ehefrau Dr. Maria del Carmen Vasquez Callo Müller würde dieses Buch nicht vorliegen. Mit ihr konnte ich auf unseren langen Waldspaziergängen jeweils erste Ideen besprechen und weiterentwickeln. Weitere sehr geschätzte Gesprächspartner haben mitgeholfen, die beschriebene Thematik noch besser zu verstehen: Prof. Robb Correll, Claudia Ammann Rentsch und Markus Rentsch Ammann, Prof. Peter Heiniger, Dr. Marco Lo Bue, Dr. med. Matthias Neuenschwander, Dr. med. Kerstin Schweyer, Dr. Pascal Sieber, mein Doktorvater Prof. em. Prof. h.c. Dr. Dr. h.c. mult. Norbert Thom und seine Frau Françoise Bruderer-Thom, Rodrigo Vasquez Callo, meine Eltern Barbara und Eduard Müller Dumermuth, meine Schwiegermutter Prof. Dr. Yolanda Callo Choquevilca und mein Bruder Adrian S. Müller – vielen lieben Dank dafür!

Die grosszügige Unterstützung dieses Buchprojekts durch den Förderverein des Instituts für Organisation und Personal der Universität Bern weiss ich ausserordentlich zu schätzen, herzlichen Dank!

Schliesslich danke ich dem hep Verlag – insbesondere dem Verleger Peter Egger, dem ehemaligen Verlagsleiter und heutigen Verwaltungsratspräsidenten Manuel Schär, Anna Gerber, Joël Gauss und allen voran Bettina Jossen, meiner Projektleiterin und Lektorin – ganz herzlich für die interessanten Gespräche, die Geduld und die wertvollen Hinweise, die zu diesem schönen Ergebnis geführt haben.

Seien Sie mutig und verändern Sie die Welt! Ich wünsche Ihnen eine interessante und kurzweilige Lektüre und freue mich von Ihnen zu erfahren, welche weiteren Hinweise und Erfahrungen Sie zur Thematik beisteuern möchten. Schreiben Sie mir!

Ihr Renato C. Müller Vasquez Callo im Frühling 2023

[email protected]

Kapitel 1

DER REALITÄT INS AUGE BLICKEN

 

1.1. EMMA UND LIAM

Stellen Sie sich vor, dass heute Morgen Zwillinge geboren wurden. Sie heissen Emma und Liam. In vier Jahren werden die beiden die Vorschule besuchen und mit sechs Jahren dann in die Primarschule wechseln, bevor sie mit 12 Jahren in die Sekundarschule eintreten werden und schliesslich in fünfzehn Jahren ihre obligatorische Schule abschliessen. In knapp zwanzig Jahren werden Emma und Liam die Sekundarstufe II beendet haben und ein Hochschulstudium aufnehmen oder einen Beruf erlernen.

Wie können wir Emma und Liam auf ihrer Bildungsreise optimal unterstützen, sodass die beiden ein erfülltes und erfolgreiches Leben führen können? Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir zuerst Fakten sammeln, strukturieren und interpretieren. Dabei müssen wir der Wirklichkeit nüchtern ins Auge blicken, ohne uns von Wünschen, Illusionen oder Überzeugungen blenden zu lassen.

Bereits 2035 werden zwei Drittel unserer Kinder in Berufen arbeiten, die es so heute noch gar nicht gibt. Emma und Liam werden wahrscheinlich in ihrer beruflichen Laufbahn bis zur Pensionierung kurz vor der Jahrhundertwende 2100 fünf bis acht total unterschiedliche Berufe bei bis zu 20 verschiedenen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern ausgeübt haben. Vielleicht machen sie sich auch selbstständig oder arbeiten als Teil der Gig Economy[1].

Emma und Liam müssen sich in der Zukunft permanent wandeln und neu erfinden. Dazu benötigen sie Ideen, Wissen und die Kompetenz, dieses Wissen anzuwenden. Sie müssen mit anderen Menschen kooperieren und kommunizieren können. Und nicht zuletzt müssen sie komplexe und unübersichtliche Herausforderungen meistern und daraus lernen. Individuelle Qualitäten wie Mut, Zuversicht und Resilienz können sich positiv auswirken.

1.2. GETRIEBEN ODER AM STEUER?

Gelingt es Ihnen, genügend Zeit dafür zu verwenden, um in Ihrem Wirkungsbereich so Einfluss zu nehmen, dass Emma und Liam dem Ziel eines erfüllten und erfolgreichen Lebens näherkommen? Haben Sie das Gefühl, dass Sie in Ihrem Alltag wirklich steuern oder eher, dass Sie nur noch reagieren können und getrieben werden? Fokussieren Sie auf das, was wirklich zählt?

Gemäss Studien verlieren wir den Fokus immer häufiger und lassen uns dauernd ablenken. Im Jahr 2000 konnten wir uns noch zwölf Sekunden konzentrieren, heute sind es nur noch acht Sekunden. Ein Goldfisch kann sich übrigens neun Sekunden lang konzentrieren … Wir leben heute – Dank unserer digitalen Vernetzung – in einer Aufmerksamkeitsökonomie. Deren Ziel besteht darin, unsere selektive und begrenzte Aufmerksamkeit auf jene Inhalte / Kanäle / Anbieter zu lenken, welche am aufdringlichsten und attraktivsten erscheinen.

Mittels Push-Nachrichten werden beispielsweise die Zugriffszahlen von Online-Newsportalen erhöht, was sich positiv auf den Werbeverkauf auswirkt. Der Schriftsteller und Unternehmer Rolf Dobelli stellt berechtigterweise die Frage, welche Relevanz die rund 20 000 Kurznachrichten haben, die wir jedes Jahr lesen. Im Schnitt lesen wir pro Tag 60 bis 90 Minuten lang Kurzmitteilungen und verwenden also zusammengerechnet einen Arbeitstag pro Woche für unseren Newskonsum. Ist das angemessen oder reine Zeitverschwendung? Verstehen wir dadurch die Welt wirklich besser? Aufgrund der Verschiebung der Werbebudgets weg vom Printgeschäft hin zu Online-Medien und der Tatsache, dass immer weniger Menschen bereit sind, für Nachrichten zu bezahlen, haben sich die Nachrichten zu Unterhaltungsangeboten mit geringem Relevanzgrad gewandelt und Dobelli empfiehlt daher eine radikale News-Diät.

Mit ausgeklügelten Algorithmen wird alles dafür gemacht, dass man auf den nächsten Beitrag oder das nächste Video klickt und ja dabeibleibt. In der digitalen Welt ist die Gefahr gross, dass die Menschen systematisch beeinflusst und manipuliert werden. Die Wirtschaftswissenschaftsprofessorin Shoshana Zuboff spricht von Überwachungskapitalismus. Bereits kleinste Kinder werden – z. B. mit dem Spiel «Pokémon Go» – wie eine Herde zusammen- und herumgetrieben, um Spielwarenläden, Eisdielen, Restaurants usw. zu besuchen.

Die Auswirkungen sind folgenschwer: Es dauert mehr als 23 Minuten, um uns wieder auf eine Aufgabe zu fokussieren, nachdem wir unterbrochen worden sind. Wichtiges bleibt liegen, Zeit für engagiertes Gestalten bleibt nicht, nur die nötigsten Anpassungen werden noch vorgenommen. Eine unerwartete Frage, die dabei aufkommt: Können wir uns überhaupt noch langweilen? Langeweile hat interessanterweise durchaus seinen Wert: Gelangweilte Probandinnen und Probanden haben in Studien Probleme kreativer gelöst als nichtgelangweilte Personen. Welche psychologischen Effekte hat die stets perfekte Online-Welt auf den Social-Media-Kanälen unserer Freundinnen und Berufskollegen auf uns? Wir und auch unsere Kinder sind heute derart eng auf einer digitalen Ebene verflochten, dass wir Gefahr laufen, uns vom realen analogen Leben zu entkoppeln und in einer virtuellen Parallelwelt zu leben. Jugendliche nutzen ihr Smartphone an einem Wochentag täglich über drei Stunden und am Wochenende sogar täglich rund fünf Stunden lang. Ich möchte hier die Digitalisierung und die damit einhergehenden Möglichkeiten überhaupt nicht verteufeln. Mir geht es darum, dass wir uns der Effekte bewusst werden und so unseren Umgang damit reflektieren können.

Auch in unserem Arbeitsalltag lauert der Fokussierungsverlust: Eine Studie hat ausgerechnet, dass wir nur 39% unserer Arbeitszeit produktiv und zielgerichtet arbeiten und die anderen 61% unserer Zeit dafür aufwenden, um zu kommunizieren und zu kollaborieren, also unsere Arbeit zu organisieren. Sind wir ineffizient? Sind die vielen Besprechungen wirklich nötig und hilfreich? Wie steht es mit der ständigen Erreichbarkeit? Ablenkung lauert auch bei den E-Mails, die Produktivität wird gemäss der Studie beispielsweise signifikant erhöht, wenn nur noch wenige Male pro Tag das Postfach fokussiert bearbeitet wird. Das hat übrigens auch positive Auswirkungen auf Ihren Stresslevel.

An dieser Stelle passt das Sprichwort «den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen»: Wir müssen uns wieder auf den Wald konzentrieren und nicht nur auf die vielen interessanten einzelnen Bäume!

1.3. WO GEHT DIE REISE HIN?

An einem modernen Arbeitsplatz sind die obigen Herausforderungen schon heute weit verbreitet. Wie bereiten wir uns und insbesondere die Menschen, welche zukünftig in einer solchen Umgebung arbeiten werden, auf diese Herausforderungen vor? Wie schon Abraham Lincoln gesagt hat, ist der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, sie selbst zu gestalten. Dafür ist es hilfreich, wenn wir beobachtbare Entwicklungstendenzen bei unseren weiteren Überlegungen berücksichtigen.

Als Tiefenströmung des Wandels werden sogenannte Megatrends bezeichnet. Vier zentrale Merkmale zeichnen diese aus:

Dauer: Halbwertszeit von mindestens 50 Jahren

Ubiquität: Betreffen alle Lebensbereiche

Globalität: Sind ein weltweites Phänomen

Komplexität: Sind mehrschichtig und mehrdimensional

Das von Matthias Horx gegründete Zukunftsinstitut hat folgende zwölf Treiber des Wandels herausgefunden, welche die Megatrend-Kriterien erfüllen:

Gender Shift: Veränderung der Rollenmuster und aufbrechende Geschlechterstereotypen

Gesundheit: Wurde zum Synonym hoher Lebensqualität und prägt sämtliche Lebensbereiche

Globalisierung: Vielleicht wichtigster Treiber des menschlichen Fortschritts

Konnektivität: Digitale Vernetzung verändert Leben, Arbeit und Wirtschaft grundlegend

Individualisierung: Selbstverwirklichung innerhalb einer einzigartig gestalteten Individualität

Mobilität: Mobilität von Morgen definiert sich durch das Ineinandergreifen von Arbeit, Wohnen und Freizeit

New Work: Verschwimmen der Grenze zwischen Leben und Arbeit

Neo-Ökologie: Etablierung eines neuen Werte-Sets auf der Basis des Nachhaltigkeitsparadigmas

Sicherheit: Empfinden für Risiken und Gefahren nimmt zu

Urbanisierung: Städte werden zum wichtigsten Lebensraum der Zukunft

Silver Society: Demografischer Wandel mit mehr älteren und fitten Menschen

Wissenskultur: Bildungsstand wächst, Bildung wird digitaler und das Wissen über das Wissen (Entstehung, Verbreitung) nimmt zu

Der Bildungsbereich wird stark von der Globalisierung, der Konnektivität, der Individualisierung, der Neo-Ökologie und der Wissenskultur beeinflusst. Aber auch aktuelle Geschehnisse können grossen Einfluss nehmen, so gesehen an der Corona-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine.

Im «2021 EDUCAUSE Horizon Report» werden 15 Trends und sechs Schlüsseltechnologien und Praktiken vorgestellt, die die Zukunft des Lernens und Lehrens prägen werden.

Gesellschaft

Fernarbeit / -studium

Vergrösserung der digitalen Kluft

Fragen der psychischen Gesundheit

Umwelt

Klimawandel

Verringerung des Arbeitsweges

Nachhaltige Entwicklung

Technologie

Weitverbreitete Einführung von hybriden Lernmodellen

Verstärkte Nutzung von Lerntechnologien

Entwicklung zu digitalen Fakultäten

Politik

Zunahme der digitalen Vernetzung / Online-Globalisierung

Aufkommen des Nationalismus

Öffentliche Finanzierung der Hochschulbildung

Wirtschaft

Sinkende Finanzierung der Hochschulbildung

Nachfrage nach neuen / anderen Qualifikationen der Arbeitskräfte

Ungewissheit der Wirtschaftsmodelle

Schlüsseltechnologien und Praktiken

Künstliche Intelligenz (KI)

Gemischte und hybride Kursmodelle

Lernanalytik (Learning Analytics)

Microcredentials

[2]

Offene Bildungsressourcen (OER)

Qualitatives E-Learning

Wie kann eine gute Mischung zwischen analogen und digitalen Lerngelegenheiten angeboten werden? Wie kann die Kontaktzeit Face-to-Face auf einem möglichst hohen Niveau stattfinden? Dazu finden Sie in den folgenden Kapiteln dieses Buches Antworten.

Welche neuen Technologien uns in Zukunft beeinflussen werden und wie diese einzuschätzen sind, können wir dem Gartner Hype Cycle entnehmen. Darin werden Technologien hinsichtlich ihrer Aufmerksamkeit (also der Erwartung in diese) und der Zeit seit der Bekanntgabe der Technologie in einem Diagramm abgebildet. Der Hype Cycle unterteilt sich in fünf Abschnitte:

Technologischer Auslöser (Innovation Trigger)

Gipfel der überzogenen Erwartungen (Peak of Expectations)

Tal der Enttäuschungen (Trough of Disillusionment)

Pfad der Erleuchtung (Slope of Enlightenment)

Plateau der Produktivität (Plateau of Productivity)

Ein bekanntes Beispiel für diesen Hype-Cycle ist das Internet. Zu Beginn unterschätzt, dann völlig überschätzt (Dotcom-Blase) und jetzt auf einem stetig produktiveren Niveau.

2022 präsentiert Gartner 25 Innovationen, die sich in drei Hauptthemen unterteilen lassen:

Weiterentwicklung / Erweiterung immersiver Erfahrungen

Technologien ermöglichen mehr Kontrolle der eigenen Identität, der eigenen Daten, Erfahrungen an virtuellen Orten und Ökosystemen (z. B. Metaverse) und die Integration digitaler Währungen. So können neue Kundinnen und Kunden erreicht und damit neue Einnahmequellen erschlossen werden.

Beschleunigte Automatisierung durch KI (Künstliche Intelligenz):

Technologien, wie autonome, lern- und handlungsfähige Systeme, ermöglichen eine Weiterentwicklung von Produkten und Dienstleistungen, sodass genauere Vorhersagen und Entscheidungen getroffen werden können.

Optimierte Bereitstellung durch Technologieexperten

Technologien, wie Cloud-Datenökosysteme, fokussieren auf den Aufbau eines digitalen Geschäfts. Mit einer kohärenten Datenmanagementumgebung verfügt man so über umfassende Funktionen, die einfach implementiert, optimiert und gewartet werden können.

Gartner Hype Cycle (Gartner 2022)

Der Investor und Autor Matthew Ball freut sich besonders auf die Anwendungsmöglichkeiten für die Bildung im Metaversum, das seiner Meinung nach nicht mehr abwendbar ist. Damit kann die Reichweite von guten Lehrpersonen und guten Unterrichtseinheiten vergrössert werden, sodass auch Lernende davon profitieren können, die beispielsweise in einem finanzarmen Teil des Landes oder der Welt wohnen und zur Schule gehen.

Damit wir in der Zukunft auch auf Gefahren vorbereitet sind, ist es hilfreich diese Risiken zu kennen. Der «Global Risks Report 2021» nennt folgende zehn globale Risiken aufgrund ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit und ihrer Auswirkung:

Globale Top-Risiken nachEintrittswahrscheinlichkeit

Globale Top-Risiken nach Auswirkung

1.

Extremes Wetter

Infektionskrankheiten

2.

Scheitern im Kampf gegen Klimawandel

Scheitern im Kampf gegen Klimawandel

3.

Menschgemachte Umweltkatastrophen

Massenvernichtungswaffen

4.

Infektionskrankheiten

Verlust der biologischen Vielfalt

5.

Verlust der biologischen Vielfalt

Rohstoffkrisen

6.

Machtkonzentration der Digitalkonzerne

Menschgemachte Umweltkatastrophen

7.

Digitale Ungleichheit

Existenzkrisen

8.

Zwischenstaatliche Beziehungen brechen ab

Extremes Wetter

9.

Cybersecurity-Ausfall

Verschuldungskrisen

10.

Existenzkrisen

Ausfall der IT-Infrastruktur

ökologisch gesellschaftlich technologischgeopolitischwirtschaftlich

Interessant ist weiter, dass die Erosion des sozialen Zusammenhalts als besorgniserregendes Risiko genannt wird. Es braucht Verständnis für die Unterschiede, Werte und Verhaltensweisen untereinander, sodass das Zusammenleben besser gelingt.

Damit Emma und Liam mit den Megatrends, den neuen Technologien und den globalen Risiken umgehen können, werden sie, gemäss dem «Future of Jobs Report 2020», folgende Kompetenzen benötigen:

Analytisches Denken und Innovationsfähigkeit

Aktiv zu lernen und Lernstrategien zu entwickeln

Komplexe Probleme zu lösen

Kritisches Denken und Analysefähigkeit

Kreativität, Originalität und Initiative

Führungsqualitäten und sozialer Einfluss

Technologieeinsatz, -überwachung und -kontrolle

Technologieentwicklung und -programmierung

Belastbarkeit, Stresstoleranz und Flexibilität

Denkvermögen, Problemlösungsfähigkeit und Ideenreichtum

Emotionale Intelligenz

Störungsbehebung und Benutzererfahrung

Serviceorientierung

Systemanalyse und -bewertung

Überzeugungskraft und Verhandlungsgeschick

Diese sich verändernden Anforderungen an die Mitarbeitenden führen bereits heute dazu, dass die Hälfte aller Arbeitnehmenden zusätzliche oder andere Fähigkeiten benötigen. Bei 40% wird sich sogar die Haupttätigkeit verändern.

1.4. VERÄNDERUNG ALS EINZIGE KONSTANTE

Wohin sich die Gesellschaft entwickelt, wissen wir nicht mit Sicherheit. Was wir jedoch mit Sicherheit wissen, ist, dass – wie es bereits der griechische Philosoph Heraklit treffend formuliert hat – die einzige Konstante im Universum die Veränderung ist. Insbesondere disruptive Kräfte führen zu instabilen, komplexen und chaotischen Umweltbedingungen, die die Markt- und Wettbewerbsbedingungen wandeln. Die Ursachen sind gemäss Andreas P. Wenger und Norbert Thom die gewaltige weltweite Urbanisierung, der Umfang, das Ausmass und die Wirkung des technologischen Wandels, der demografische Wandel sowie die Globalisierung. Dies führt zu einer hochgradig arbeitsteiligen und vernetzten Wirtschaft mit einer hohen Änderungsdynamik. Grosse Heterogenität, Komplexität und Unsicherheit gehen damit einher.

So spricht man heute davon, dass wir in einer VUCA-Welt leben. VUCA steht für Volatilität (V, Unbeständigkeit), Unsicherheit (U), Komplexität (C, Complexity) sowie Ambiguität (A, Nichteindeutigkeit). Emma und Liam müssen also in der Lage sein, sich erfolgreich in der VUCA-Welt zu bewegen. Dies gelingt den beiden, wenn sie offen, flexibel, kommunikativ, proaktiv, mutig, vielseitig, kreativ, achtsam und authentisch sind. Das lebenslange Lernen wird dabei eine Schlüsselfunktion übernehmen, um kontinuierlich voranzukommen.

Allerdings entspricht eine ständige Weiterentwicklung nicht der eher trägen menschlichen Natur (Entropie[3]). Evolutionsbedingt haben wir ein grosses Bedürfnis nach geordneten, entspannten Abläufen und Mustern. Diese Muster mit neuen Ideen und Abläufen aufzubrechen, kann herausfordernd sein. Deshalb fällt es Menschen manchmal schwer, neue Projekte mit Begeisterung mitzutragen. Aufgrund des Widerstands der Menschen scheitern sehr viele Projekte. In Veränderungsprojekten ist es daher essenziell, dass die Menschen nach Möglichkeit miteinbezogen werden. Eine aufgedrückte Veränderung von aussen kommt in der Regel nicht gut an. Vertrauen bildet einen weiteren Schlüsselfaktor. Es hilft Komplexität in sozialen Systemen zu reduzieren.

1.5. WAS WOLLEN WIR BEWIRKEN?

Was ist das übergeordnete Ziel, auf welches Emma und Liam fokussieren sollten? Hauptziel ist sicher, die beiden zu befähigen, ein eigenständiges, selbstverantwortliches Leben zu führen und verantwortungsbewusst und selbstständig am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und mitzuwirken. Dafür stellt Bildung den entscheidenden Hebel dar. Deshalb formulieren auch die Vereinten Nationen in ihrer globalen Nachhaltigkeitsagenda, dass für alle Menschen bis 2030 eine chancengerechte und hochwertige Bildung sicherzustellen ist. Alle Menschen sollen mit Fähigkeiten und Werten ausgestattet werden, sodass sie verantwortliche Weltbürger sein können, die die Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Geschlechter achten und sich ökologisch nachhaltig verhalten. Der persönliche Bildungsprozess sollte offen sein und aktiv selbst gestaltet werden können und somit auch die Möglichkeit zum lebenslangen Lernen bieten. Die benötigten finanziellen, zeitlichen und personellen Ressourcen sollten dabei möglichst wirkungsvoll eingesetzt werden.

LESEN SIE NUN IM ZWEITEN KAPITEL, OB DAS BILDUNGSWESEN FÜR DIE HEUTIGE UND ZUKÜNFTIGE REALITÄT BEREIT IST.

Kapitel 2

IST DAS BILDUNGSWESEN BEREIT FÜR DIESE REALITÄT?

 

2.1. AKTUELLE ZAHLEN, DATEN, FAKTEN

Unser Bildungssystem gehört zweifelsohne zu den besten der Welt. Das verdanken wir den engagierten Lehrpersonen auf allen Stufen. Die Schweiz ist auch eines der wettbewerbsfähigsten Länder der Welt (International Institute for Management Development 2021: Platz 1), die Arbeitslosen- und die Jugendarbeitslosenquote ist tief (2022 unter 3%) und die Erwerbsquote hoch (knapp 70%). Die Menschen sind sehr zufrieden mit ihrem Leben (7.5 auf einer Skala von 0 bis 10, der OECD-Durchschnitt liegt bei 6.5). Nur in Finnland, Norwegen und Dänemark sind die Menschen noch etwas zufriedener. Was in der obligatorischen Schule gelernt wird, hat im Berufsleben später eine hohe Relevanz (78%), in der tertiären Ausbildung ist diese noch leicht höher (82%). Diese Werte sind ebenfalls weltweit spitze. Die öffentliche Hand investierte 2019 knapp 40 Milliarden Franken (5.5% des Bruttoinlandprodukts oder 17.4% der Gesamtausgaben) in die Bildung.

Mit 21 Milliarden Franken gehörte die Schweiz 2017 zu den Ländern, die am meisten für Forschung und Entwicklung aufwenden. Dies zahlt sich beispielsweise auch in den Anzahl Patenten aus. Pro Million Einwohnerinnen und Einwohner sind wir mit 150 Patentfamilien (alle weltweit angemeldeten Patente zum Schutze einer und derselben Erfindung) das aktivste OECD-Land vor Japan. Diese Investitionen lohnen sich also.

Seit dem Jahr 2000 untersucht die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit dem PISA-Test die Lesefähigkeit sowie die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern. Die letzten Daten wurden 2018 erhoben. Bei den mathematischen Kompetenzen (Platz 11) schneiden die Schweizer Jugendlichen über dem Durchschnitt aller 79 Länder gut ab. Bei der naturwissenschaftlichen Grundbildung belegen sie Platz 24, ebenfalls über dem Durchschnitt. Das Leseniveau liegt hingegen unter dem Durchschnitt (Platz 29) und hat in den letzten Jahren eher noch abgenommen. Zum Vergnügen liest heute weniger als die Hälfte der Jugendlichen ein Buch. Das Smartphone hat sicher einen wesentlichen Einfluss auf diesen Befund. Einen weiteren Einfluss hat der Stellenwert Schweizer Bibliotheken. Als grosser Finnlandfan bin ich begeistert zu sehen, welche Unterschiede es in finnischen Bibliotheken gibt. Bibliotheken werden dort als erweitertes Wohnzimmer der Menschen verstanden, die zum Verweilen, Lesen, Arbeiten, Spielen oder Basteln einladen. Es ist nicht nur ein Ort, an dem man Bücher ausleiht. Kinder verbringen viel Zeit in Bibliotheken und werden von Geburt weg und in der Schule an die Bücher herangeführt, sodass sie das Lesen als etwas lustvolles erfahren. Das gute Abschneiden der finnischen Kinder in der Lesekompetenz hat vermutlich einen massgeblichen Zusammenhang mit der wertvollen Ergänzung der Schulen durch die ansprechenden Bibliotheken.

Die Freude am Lesen soll mit Frühförderungsprogrammen wieder erhöht werden. Es wirkt sich positiv auf die Lesefähigkeit aus, wenn Eltern ihren Kindern im Vorschulalter vorlesen. Die PISA-Studie wird kritisiert, da sie sich nur auf drei Bereiche konzentriert. Die in der Zukunft wichtigen 4K-Kompetenzen werden z. B. noch nicht berücksichtigt. Zudem wird argumentiert, dass die in der Schweiz für den PISA-Test aufgewendeten mehr als drei Millionen Franken anderswo im Bildungswesen besser investiert wären.

Persönlich vermute ich aufgrund meiner langjährigen unterschiedlichsten Einblicke ins Bildungswesen, dass – trotz der teilweise sehr beeindruckenden Zahlen – das gesamthaft in die Bildung investierte Geld sogar noch effektiver eingesetzt werden könnte. Diese Hypothese zu prüfen ist jedoch komplex und beinahe unmöglich. Bevor wir die Effizienz der Input-Variablen genauer untersuchen können, muss die Antwort auf die Frage, ob die Inputs für den Output überhaupt relevant sind, geklärt werden. Es könnte nämlich im schlimmsten Fall sein, dass etwas, das für die Zukunft von Emma und Liam keine Relevanz hat, sehr effizient angeboten wird …

Bildungsökonominnen und Bildungsökonomen weisen darauf hin, dass nach wie vor aktuell zu wenig aussagekräftige Daten vorliegen. Z. B. müsste man Kompetenzmessungen der Lernenden zu unterschiedlichen Zeitpunkten – also nicht nur am Schluss eines Bildungsangebots, sondern auch zu Beginn, vornehmen. Es kann nicht daraus geschlossen werden, dass sich die Effizienz (Input-Output-Verhältnis) in den letzten Jahren verschlechtert hat, da die Ausgaben für den Bildungsbereich gestiegen sind. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Zahl der Lernenden im System zugenommen hat. Einzig die realen Pro-Kopf-Ausgaben der Volksschule sind wesentlich gestiegen. Es könnte jedoch sein, dass die Effizienz auch hier – trotz dieser Erhöhung der Pro-Kopf-Ausgaben – gestiegen ist.

Damit Sie die Vielschichtigkeit der Input- und Output-Grössen erfassen können, finden Sie in der nachfolgenden Tabelle eine Übersicht dazu.

Inputs

Indikatoren

Beispiele

Monetär[4]

Bildungsinstitutionen

Kosten für Lehrpersonen, Forschung, Administration

Real[5]

Bildungsempfängerinnen und -empfänger

Kompetenzen (frühere Leistungen), Demografisch (Alter, Geschlecht, Nationalität)

Familie

Sozioökonomischer Status, Bildungsstand der Eltern, familiäre Struktur

Bildungsinstitutionen

Anzahl Angestellte, Studierende, Betreuungsverhältnis, Erfahrung der Lehrpersonen, Finanzierung

Umfeld

Wettbewerb zwischen Schulen, Steuersituation, Arbeitsmarkt

Outputs

Indikatoren

Beispiele

Outputs[6]

Leistungen der Lernenden

Kompetenzniveau, Anzahl Lernende, Anzahl / Anteil Abschlüsse

Forschung

Anzahl Publikationen, Zitierungen, Forschungseinnahmen, Preise, Patente, Qualität der Lehrtätigkeit

Outcomes[7]

Ausbildungsresultate

Immatrikulationsquote, Anwesenheitsquote, Abbruchquote, Studiengebühren

Arbeitsmarkt

Arbeitsmarktfähigkeit, Einstiegssalär, Zufriedenheit der Studierenden

Auswahl an Inputs und Outputs gemäss de Witte / López-Torres (2017)

Datenbasierte Vergleiche mit obigen Kennzahlen zu ziehen, finde ich sehr spannend. Wie viel eines investierten Frankens kommt beispielsweise direkt bei einer Studentin einer pädagogischen Hochschule (PH) an? Im Schnitt sind es gemäss des Bundesamts für Statistik (BFS) über alle PHs 64 Rappen. An der Pädagogischen Hochschule Freiburg (PHFR) sind es 86 Rappen, an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) 48 Rappen. Wie sieht das Betreuungsverhältnis des Lehrkörpers aus? Im Schnitt über alle PHs betreut eine Dozentin 11 Studierende, an der DFA-SUPSI sind es 6 Studierende, an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) über 16 Studierende.

Dass wir uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen können, zeigt die Tatsache, dass 2020 Firmen angeben, dass sie nur zu 63% Arbeitnehmende mit den erforderlichen Fähigkeiten finden, um ihre offenen Stellen zu besetzen. Dass es Anpassungen braucht und diese erkannt wurden, zeigen die aktuell initiierten oder bereits abgeschlossenen Lehrplanüberarbeitungsprojekte. Digitale Fähigkeiten, kritisches Denken und das Bewusstsein, lebenslang weiter lernen zu dürfen und zu können, müssen einen noch höheren Stellenwert einnehmen. Der «Future of Jobs Report 2020» sieht hier die Schweiz immerhin nach Finnland, Holland und Dänemark besser vorbereitet als beispielsweise Griechenland, Brasilien, die Türkei oder Italien.

In der gleichen Studie geben Unternehmen in der Schweiz an, dass folgende Berufsrollen in Zukunft zunehmend überflüssig werden:

Sachbearbeiter in den Bereichen Buchhaltung, Buchführung und Lohnbuchhaltung

Sachbearbeiterinnen für Dateneingabe

Sekretäre für Verwaltung und Geschäftsführung

Buchhalterinnen und Wirtschaftsprüfer

Managerinnen für Unternehmensdienstleistungen und Verwaltung

Spezialisten für Humanressourcen

Finanzanalystinnen

Schadensregulierer, Prüferinnen und Ermittler

Kassiererinnen und Ticketverkäufer

Montage- und Fabrikarbeiterinnen

Wir müssen unserem Bildungswesen Sorge tragen, sodass wir das sehr gute Niveau auch in Zukunft halten oder gar ausbauen können. Das Motto «kein Abschluss ohne Anschluss» und die duale Berufsbildung sind wichtige Pfeiler in unserem Erfolgsmodell. Die Aufteilung der Ausbildung in Betrieb und Berufsschule und der damit institutionalisierte enge Austausch führt automatisch dazu, dass wir eine sehr hohe Effektivität erreichen und nicht etwas ausbilden, was eine geringe Relevanz hat. Hoffentlich werden die Chancen genutzt, sodass Emma und Liam optimal für ihre Zukunft ausgebildet werden.

2.2. BILDUNGSWESEN ALS ARBEITGEBER

2021 waren in der Schweiz etwa 5% aller Erwerbstätigen (rund 230 000 Personen) als Lehrkräfte auf allen Stufen tätig. Die Arbeit im Bildungswesen ist attraktiv: Der Beruf ist anspruchsvoll, abwechslungsreich, bietet hohe Freiheitsgrade und wird als sinnstiftend erlebt. Die Zukunftsaussichten für das Berufsfeld sind ebenfalls gut: Eine eigentliche Pensionierungswelle steht bevor, die Schülerzahlen steigen und somit ist die Berufssicherheit hoch. Die Kernaufgaben können nur ganz wenig oder überhaupt nicht automatisiert werden. Teilzeitarbeit wird geschätzt und der Lohn ist ansprechend. Daher ist es nachvollziehbar, dass seit mehreren Jahren die Studierendenzahlen an den pädagogischen Hochschulen ansteigen.

Der Arbeitsauftrag von Lehrpersonen der Volksschule umfasst in der Regel vier Aufgabenfelder[8]:

Unterrichten (75 – 85%): Unterrichten, erziehen, planen, organisieren und auswerten des Unterrichts.

Beraten und begleiten (4 – 12%): Beraten, begleiten, zusammenarbeiten.

Gestaltung der Schule (4 – 12%): Absprechen von Unterrichtsinhalten, Vorbereitung und Durchführung von Schulanlässen, teilnehmen an Konferenzen, erledigen von administrativen Aufgaben usw.

Weiterbildung (2 – 6%): Evaluieren, weiterentwickeln der eigenen Tätigkeit, sich individuell weiterbilden.

Erstaunlich finde ich jedoch, dass das Ansehen der Lehrpersonen – verglichen mit 35 anderen Ländern – in der Schweiz eher mittelmässig ist. Es ist jedoch in den letzten Jahren markant angestiegen. Bei den europäischen Ländern belegt die Schweiz hinter Griechenland und Grossbritannien den dritten Platz, international Platz 14. Im Vergleich zum Ansehen, ist das Vertrauen in die Lehrpersonen weltweit sehr hoch. Das Ansehen des Lehrberufs in China oder Malaysia ist doppelt so hoch wie in der Schweiz. Dies kann möglicherweise mit den Rahmenbedingungen erklärt werden (Ausbildung, Arbeitslast, Aufstiegschancen, Entlöhnung usw.).

2.3. GESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN AUF ALLEN STUFEN

Wer kann wo ansetzen, um für Emma und Liam eine möglichst gute Bildung zu ermöglichen? Das Bildungswesen wird auf drei Ebenen unterschiedlich gestaltet:

Bund, Kantone und Gemeinden (Makroebene):

Hier wird der bildungspolitische Rahmen definiert: Es werden Gesetze, Verordnungen, Ziel- und Rahmenvorgaben gemacht sowie Ressourcen zugeteilt. Die Verwaltung erstellt Umsetzungskonzepte, Organisationsmodelle, plant die Ressourcen und beaufsichtigt die Schulen.

Schule (Mesoebene):

Die Schulleitung und das Kollegium sind zuständig für die operative Schulführung, das Qualitäts- und Personalmanagement, die Zusammenarbeit, die Schulkultur, die Schulentwicklung sowie die Elternmitwirkung.

Unterricht (Mikroebene):

Die Lehrperson ist zuständig für den Unterricht, die Klassenführung, die Beurteilung und Laufbahnempfehlung sowie Elternkontakte. Die Schülerinnen und Schüler lernen und bauen ihre Kompetenzen auf, entwickeln ihr Sozialverhalten und ihre Persönlichkeit und fällen Laufbahnentscheide. Gemeinsam prägen sie die Unterrichtskultur.

Der Handlungsspielraum ist unmittelbar auf der Ebene des Unterrichts am grössten. Auch auf der Ebene der Schule bestehen noch relativ viele Aktionsmöglichkeiten. Die Makroebene lässt sich hingegen eher mittelbar beeinflussen. Die Vorgaben dieser Ebene haben allerdings einen sehr langen Wirkungshorizont (man denke z. B. an die Lehrpläne). Das braucht in der Regel länger Zeit. Diese Ausgangslage zeigt die Wichtigkeit der Lehrpersonen. Sie stehen schliesslich direkt in Kontakt mit den Lernenden und nehmen am intensivsten Einfluss. Darum ist es von absoluter Wichtigkeit, die Lehrpersonen angemessen bei allen Gestaltungsvorhaben im Bildungswesen einzubeziehen. Lehrpersonen gestalten Unterricht mit Lehrmitteln. Deshalb haben diese einen ebenso grossen Einfluss auf die Lernenden. Verlage und Autorinnen und Autoren müssen daher ebenfalls frühzeitig in Veränderungsprojekte eingebunden werden. Ein gutes Zusammenspiel aller Ebenen ist von grosser Wichtigkeit für den Bildungserfolg von Emma und Liam. Wie man das einfach angeht, lesen Sie im Kapitel 4→ Hier.

2.4. BLICK HINTER DIE KULISSEN

Öffentliche Volksschulen gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. In den letzten knapp 200 Jahren hat sich ein System etabliert, das man nun hinterfragen sollte, mit dem Ziel, es noch besser zu machen. Mit der Harmonisierung des Lehrplans der Volksschule wurde ein wichtiger Schritt gemacht. Dennoch gibt es viele neue und alte Herausforderungen, die es zu bewältigen gibt. Althergebrachtes gilt es zu überdenken und die systemimmanente Trägheit zu überwinden. Ich frage mich beispielsweise:

Warum werden die Schülerinnen und Schüler gemäss ihrem Alter und nicht gemäss ihren Fähigkeiten eingeschult?

Wieso wird die Ausbildung in separaten Fächern organisiert?

Wieso endet die Lektion nach 45 Minuten?

Wieso haben «künstlerische» Fächer einen eher geringen Stellenwert?

Wieso machen vielfach alle Kinder gleichzeitig das Gleiche?

Wann und wie können die 4K-Kompetenzen eingeübt werden?

Wie könnte man Lerninhalte und Lernziele anders als in einem starren Lehrplan zusammenfassen?

Warum wurden im Lehrplan 21 363 Kompetenzen in 2304 Kompetenzstufen unterteilt?

Sind Lehrpläne in der VUCA-Welt noch zeitgemäss?

Wieso wird nicht konsequent aus der Sicht der Lernenden gedacht und gehandelt?

Da es sich um ein eher träges, «veraltetes» System handelt, das aus der Zeit der Industrialisierung kommt, ist es nachvollziehbar, dass häufig aus der Logik dieses Systems herausgedacht wird. Das Bildungswesen ist nichts anderes als eine Ansammlung von Menschen. Wie wir bereits wissen, neigen Menschen mehr zum Bewahren als zum Innovieren. Wir machen es also so, wie wir es schon immer gemacht haben. Reicht dieser Ansatz, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein? Meiner Meinung nach bedürfte es einer Umkehrung des Handelns: Von dem, was wir bei den Lernenden erreichen wollen, müssen wir zurückdenken und nicht umgekehrt. Wir müssen uns bei all unseren Handlungen konsequent auf die Lernenden mit ihren Bedürfnissen ausrichten und nicht in erster Linie unreflektierte Systemerhaltung betreiben.

Der Pädagogikprofessor Rolf Arnold spricht vom Vollständigkeitswahn, an dem wir im Bildungssystem leiden. Das führt automatisch zu einer geringen Beweglichkeit (Agilität). Diese hat bereits Auswirkungen: Grosse Unternehmen wie IBM oder Google vertrauen immer weniger auf klassische Zertifikate und führen eigene Schulungen durch. Die Autorin Anja C. Wagner ist der Meinung, dass die traditionellen Abschlüsse und Zertifikate für die neuen Arbeitsanforderungen nicht mehr befähigen und somit die Schule in ihren Grundfesten erschüttert wird. Die Universität Zürich will den Zugang zum Studium ohne Matura ermöglichen. Auch ich sehe die Gefahr, dass ohne Anpassungen, langfristig private Anbieter immer mehr Aufgaben der öffentlichen Schule wahrnehmen werden. Meiner Meinung nach wird zu wenig aus dem bestehenden System herausgeholt. Während der Corona-Pandemie hat sich das vielerorts eindrücklich gezeigt: Für die Lernenden hat die Optimierung eines einzelnen Fachs niemals die gleiche Wirkung, wie wenn fächerübergreifend – beispielsweise in einem projektbasierten Unterricht – «out of the box» zusammengearbeitet wird. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Digitalisierungsschub langfristig auswirken wird. Wenn man ein nicht wirkungsvolles Lernsetting digital anbietet, heisst das noch lange nicht, dass es dann etwas Gutes wird: Es ist einfach ein digitalunterstütztes, nicht wirkungsvolles Lernsetting …

In der heutigen VUCA-Welt stelle ich mir anstatt starrer Lehrpläne adaptive Sammlungen mit Lernzielen und Lerninhalten für alle Stufen vor. Dabei sollten wir uns auf wenige und wirkungsvolle Kernkompetenzen konzentrieren und den Lehrpersonen Freiheiten bei der individuellen Umsetzung gewähren. Eine zentrale Rolle kommt durchdachten Lehrmitteln / Lernplattformen zu. Sie unterstützen die Lehrpersonen in ihrer täglichen Arbeit und bilden eine gute Basis, um darauf aufzubauen und den Unterricht individuell anzureichern. Innovation, als Grundlage für die Veränderung, braucht Mut und Freiraum. Dies steht im Widerspruch zur Auslastungsmaximierung, die ich vermehrt auch im Bildungswesen beobachte. Spannend finde ich die Erkenntnis des Mathematikers Gunter Dueck, dass eine Auslastung von über 85% zu einer ständigen Überlastung des Systems führt. Ein System wie das Bildungswesen kann man nicht von heute auf morgen radikal ändern. Es braucht daher die Möglichkeit, neue Konzepte auszuprobieren und bei Erfolg die anderen Bildungsakteurinnen und -akteure von neuen Ansätzen zu überzeugen.

Studien schätzen, dass sich im Bildungswesen bereits in den nächsten vier Jahren etwas mehr als 40% der Kernkompetenzen der Berufstätigen verändern werden. Schauen wir uns im nächsten Abschnitt an, welches aktuelle Trends und Entwicklungen im Bildungswesen sind, die dazu führen.

2.5. AKTUELLE TRENDS UND ENTWICKLUNGEN

Es ist erfreulich festzustellen, dass der Wandlungs- und Handlungsbedarf im Bildungswesen vielerorts erkannt worden ist. Momentan sind es folgende Themen, die die Diskussion prägen:

Kerngeschäft Unterricht

Im Kerngeschäft Unterricht ermöglicht heute die digitale Unterstützung zunehmend individualisierte oder gar personalisierte Lernsettings anzubieten. So können den Lernenden für sie passendere Lerngelegenheiten zur Verfügung gestellt werden, die z. B. auf einem Kompetenzmodell aufbauen und auf die unterschiedlichen Lerntypen abstützen. Die Heterogenität einer Lerngruppe soll besser berücksichtigt werden. Gleichzeitig ist es elementar, dass trotz aller Individualisierung der Blick für das grosse Ganze nicht verloren geht: Wie soll geprüft und bewertet werden? Die Klassenführung und der Umgang mit Schwierigkeiten bleiben ein Dauerbrenner. Wie gelingt es, eine gute Beziehung zwischen allen Anspruchsgruppen herzustellen? Wie können die individuellen und kollektiven Ansprüche gepflegt werden? Schliesslich haben die Überarbeitung von Lehrplänen (Volksschule, Gymnasium) und die damit einhergehenden Anpassungen bei den Lehrmitteln grossen Einfluss auf den Unterricht. Auch hier gilt es, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Digitalisierung

Mit der Einführung des Lehrplans 21 ist das Thema Digitalisierung auch in der Volksschule angekommen. Schon im Kindergarten befasst man sich nun spielerisch mit Medien und Informatik. Dafür