Mein Begräbnis. Und andere Grotesken - Hanns Heinz Ewers - E-Book

Mein Begräbnis. Und andere Grotesken E-Book

Hanns Heinz Ewers

0,0

Beschreibung

Der Skandalautor, der auch als eifriger Drogenkonsument von sich reden machte, gilt nicht nur als der Erfinder des Splattergenres, sondern sah sich auch als literarischer Nachfolger von Edgar Allan Poe, Oscar Wilde und E. T. A. Hoffmann. Jetzt dürfen 14 so groteske wie komische Kurzgeschichten des Kult-Schriftstellers und "Literatur-Satans aus Opas Zeit" (Der Spiegel) endlich wiederentdeckt werden. Der Kulturwissenschaftler Lino Wirag und der Autor Andreas Schumacher haben Hanns Heinz Ewers und dessen Kurzgeschichten wiederausgegraben und für heutige Leserinnen und Leser aufgefrischt. Einige Erzählungen sind mit diesem neu zusammengestellen und vollständig überarbeiteten Band zum ersten Mal seit 100 Jahren wieder zugänglich. Abgerundet wird die 136-seitige Sammlung mit zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen sowie einem kundigen Nachwort des Phantastik-Experten Michael Helming. +++++ Auszug aus "Lustmord einer Schildkröte": Ich gestand stotternd, dass ich einem geheimen Klub angehöre: Einem Klub gleichgesinnter, degenerierter Seelen, die sich zur Aufgabe gestellt hätten, das Unmöglichste der Welt zu lieben und das Geliebte dann der Gier zum Opfer zu bringen und lustzumorden. Meist seien es Tiere, auch Greise, Kinder, Säuglinge – aber zuweilen noch viel unausdenkbarere Dinge "Was lieben Sie denn?", fuhr mich der Gewaltige an. "Ich? – Ich?", stammelte ich, nach einer Antwort suchend. "Erlassen Sie mir das, Herr Hauptmann." Aber er schrie mich an: "Entweder Sie gestehen, oder ich lasse Sie auf der Stelle verhaften." Meine linke Hand spielte in der Westentasche – eine Briefmarke kam mir zwischen die Finger. Ich zog sie heraus, legte sie auf den Tisch. "Da, Herr Hauptmann!", stotterte ich. "Das liebe ich. Das ist meine Mätresse!" "Was?", rief er. "Machen Sie mir keine dummen Faxen vor!" "Es ist wahr", begann ich demütig, nahm mein Taschentuch und führte es an die Augen. "So unglaublich es klingt: Ich liebe eine grüne, ungebrauchte Fünfpfennigsbriefmarke.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 151

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hanns Heinz Ewers

Mein Begräbnis. Und andere Grotesken

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Verlagsangaben

Mein Begräbnis

Das Eierlegen der menschlichen Frau

Die vornehme Elly

Der Dichterwettstreit von Nippes

Die Knopfsammlung

Die botanische Eingabe

Warum Arno Falk sich verlobte

Der Mann ihrer Träume

Die Perle

Der Spuk von Rammin

Venus Kallipygos

Der einsame Briefkasten

Von den elftausend Jungfrauen

Lustmord einer Schildkröte

Im Karpfenteich

Ich bin ein Dichter und kein Prophet

Anmerkungen der Herausgeber

Impressum neobooks

Verlagsangaben

Hanns Heinz Ewers: Mein Begräbnis. Und andere Grotesken

1. Auflage in der vorliegenden, digital publizierten Form: 2014.

Herausgeber, Edition: Andreas Schumacher, Lino Wirag.

Umschlaggestaltung unter Verwendung des (bearbeiteten) Gemäldes L'inhumation précipitée

Mein Begräbnis

Drei Tage vor meinem Tod schrieb ich eine Postkarte an die Fahrradkuriere von den Roten Radlern.

Meine Karte lautete:

»Bitte drei Tage nach Empfang dieser Karte, mittags um zwölf Uhr, eine Kiste zum Friedhof befördern. Die Gegenwart aller Roten Radler ist erforderlich. Bezahlung und nähere Instruktionen auf der Kiste.«

Dann Name und Adresse.

Die Roten Radler kamen pünktlich und mit ihnen kam der Herr Oberradler. Es war eine große, lange Eierkiste, die sie holen sollten, und ich hatte mit viel Mühe darauf gemalt: »Glas!« und »Zerbrechlich!« und »Vorsicht!« und »Nicht stürzen!«

In der alten Eierkiste lag natürlich meine Leiche, aber ich hatte den Deckel nicht zuschlagen lassen, weil ich durchaus eine ›schöne Leich‹ sein wollte und daher aufpassen musste, ob auch alles richtig besorgt würde. Der Oberradler nahm zuerst das Geld, das ich auf den Deckel gelegt hatte, und zählte es nach.

»Fünfundvierzig Rote Radler«, sagte er, »für zwei Stunden. Es stimmt!«

Er steckte das Geld in die Tasche und las nun meine Instruktionen.

»Nein«, sagte er dann, »das geht nicht! – Das ist nicht unser Geschäft.«

Ich machte meine Stimme recht dumpf und antwortete aus der Kiste: »Die Roten Radler besorgen alles!«

Der Herr Oberradler wusste nicht recht, wer da gesprochen hatte. Er kratzte sich an der Nase.

»Meinetwegen«, sagte er dann, »meinetwegen!«

Sein Gewissen juckte ihn; in all seinen Ankündigungen hieß es ausdrücklich: Die Roten Radler besorgen alles.

Einer der Jungen wollte den Deckel zunageln, aber der Oberradler wies ihn zurück.

»Fort!«, rief er, auf den Zettel zeigend. »Hier heißt es ausdrücklich: Der Deckel soll offen bleiben.«

Der Mann gefiel mir; da er einmal die Besorgung angenommen hatte, wich er um keinen Buchstaben von meinen Instruktionen ab, die er noch einmal genau durchlas.

»Wir sprechen jetzt ein kurzes Gebet«, sagte er. »Wer von euch kennt ein kurzes Gebet?«

Aber keiner der Roten Radler kannte ein kurzes Gebet.

»Weiß vielleicht einer ein langes?«

Aber ein langes kannten sie erst recht nicht.

»Die Roten Radler besorgen alles!«, sagte ich hohl aus meiner Kiste.

Der Oberradler sah sich um –

»Aber sicher doch!«, rief er. »Das wäre noch schöner, wenn die Roten Radler nicht einmal beten könnten!« Er wandte sich an den Allerkleinsten: »Fritz, du weißt doch sicher ein Gebet?«

»Ein Gebet wüsste ich schon«, meinte der Knirps, »aber nicht ordentlich –«

»Darauf kommt’s nicht an!«, unterbrach ihn der Oberradler. »Ob man nun ordentlich betet oder unordentlich, die Hauptsache ist, dass man eben betet! – Also sprich dein Gebet – und alle sprechen laut mit!«

Fritz betete, und die anderen schrien mit, so laut sie konnten: »Lieber Herr Jesus, sei unser Gast – und segne, was du uns bescheret hast!«

»A-meen!«, sagte der Herr Oberradler salbungsvoll. »Das ist ein ganz ausgezeichnetes Gebet – merkt es euch für künftige Gelegenheiten.«

Dann traf er, immer meinen Instruktionen gemäß, seine Anordnungen. Die Eierkiste wurde auf ein Transport-Dreirad geladen, das der stärkste Junge fuhr; Fritz musste sich obendrauf setzen, damit der Deckel nicht herunterfiel. All die Roten Radler sprangen auf ihre Räder, und so schnell sie konnten, ging es nun durch die Straßen. Die Leute freuten sich über den flotten Zug, und ich dachte in meiner Kiste, dass es doch ein ganz anderes Ding sei, so vergnügt zum Kirchhof zu fliegen, als langsam in der schwarzen Trauerkutsche neben grässlichen Leichenbittermienen daherzutrotten.

In zwanzig Minuten schon waren wir draußen. Alle stellten ihre Räder an die Gittertüre, die vier Stärksten nahmen vorsichtig die Eierkiste auf. Der Herr Oberradler sah in meinen Instruktionen nach und befahl: »Zweiter Querweg, achter Seitengang, links vom Hauptweg! Auf der rechten Seite! Grab Numero 48.678!«

Dahin brachten sie in feierlichem Zuge die alte Eierkiste.

Das Grab war schon aufgeworfen, ein paar große Schaufeln steckten in dem Erdhaufen. Ganz vorsichtig krochen einige der Roten Radler in die Grube und setzten die Kiste hinein. Dann umstellten sie das Grab in weitem Kreis.

»Jeder soll sich eine Zigarette anzünden«, befahl der Herr Oberradler. Die meisten hatten Zigaretten bei sich, den anderen bot er sein Etui an.

»Ich kann noch nicht rauchen«, sagte Fritz. »Davon wird mir –«

Aber ich unterbrach ihn: »Die Roten Radler besorgen alles!«

Beleidigt blickte der Chef auf seine rote Gesellschaft. »Wer spricht da?«, rief er. »Ich verbitte mir jedes unnütze Wort! Selbstverständlich besorgen die Roten Radler alles! Da, rauch, Fritz! Ein Roter Radler muss so gut rauchen können wie beten!«

Fritz brannte seine Zigarette an, und alle anderen auch.

»So«, sagte der Oberradler und sah wieder in seinen Zettel, »jetzt beginnen wir die Trauerfeierlichkeit! Wir singen – nach der Melodie der ›Sänger von Finsterwalde‹ – gemeinsam diese Verse:

Die Roten Radler – – besorgen alles!

Sie leben und sterben – – für den Beruf!«

Alle sangen, dass es schallte, und ich sang in meiner Kiste mit.

»Jetzt kommt die Leichenrede«, fuhr der Chef fort und begann: »Wir haben heute die Ehre und das große Vergnügen, zum ersten Male von Berufs wegen jemanden zur letzten Ruhe geleiten zu dürfen. Wenn uns auch über die sonstigen Tugenden des Verblichenen sonst nichts weiter bekannt ist, so genügt doch die Tatsache seiner letzten Verfügungen, ihm im Herzen aller Roten Radler einen bleibenden Denkstein zu setzen – zu zwei Mark fünfundvierzig die Stunde. Aus diesem Grunde lasst uns alle einstimmen in den Ruf: Unser freundlicher Gönner weiland, der selig Verblichene – hurra, hurra, hurra!«

Und die Roten Radler brüllten: »Hurra, hurra, hurra!«

»Sehr gut«, sagte der Oberradler, während ich in meiner Kiste dankbar klatschte. »Zum Schluss singen wir nun das Lieblingslied des Herrn Entschlafenen:

Toch-ter Zi-ons, freu-heu-heu-heu-heu-e dich –

jau-hau-hau-hau-hauch-ze lau-hut Jeru-hu-hu-hu-hu-salem!«

Da erscholl aus nächster Nähe ein anderer Gesang.

Dritter Querweg, achter Seitengang, links vom Hauptweg fand nämlich auch eine Beerdigung statt. Numero 48.679, auf der linken Seite, also mir schräg gegenüber.

Es war der Geheime Oberregierungsrat von Ehrenhaft, der da bestattet wurde, und es waren schrecklich viele Menschen dabei: Räte und Richter und Offiziere und Assessoren, alles feine Leute.

Aber es war doch nur ein Begräbnis im alten Stile – ohne Rote Radler.

Der Herr Oberradler wartete höflich, bis die Leute fertig waren, und dann rief er von Neuem: »Wir singen nun das Lieblingslied des Entschlafenen: Toch-ter Zi-ons, freu–«

Aber er kam nicht weiter, drüben begann mit dröhnender Stimme ein dicker Pastor die Leichenrede.

Der Oberradler wartete wieder, drei Minuten, fünf Minuten – aber der Pastor hörte nicht auf. Mir wurde ganz schlecht dabei. Solche Reden beschleunigen den Vorgang der organischen Zersetzung gleich noch einmal, sagte ich mir. Der Oberradler schien meine Gedanken zu teilen, er sah auf die Uhr.

Aber der Pastor redete und redete.

Schließlich dauerte es dem Herrn Oberradler zu lange. Er war ja nur für zwei Stunden bezahlt. Er kommandierte von Neuem, und diesmal platzten alle fünfundvierzig Radler auf einmal los: »Toch-ter Zi-ons, freu-heu-heu-heu-heu-e dich!«

Der Pastor kämpfte und wollte nicht nachgeben. Aber was ist der stimmgewaltigste Prediger gegen fünfundvierzig Rote Radler? Ich konstatierte mit Genugtuung, dass die Jugend siegte und die modernen Ideen, und dass die alte bürgerliche Welt beschämt das Schlachtfeld räumen musste: Der Pastor schwieg.

Nun aber gibt die Geistlichkeit nie eine Niederlage zu, niemals.

Der Pastor sprach mit ein paar Herren im Zylinder, und diese sprachen wieder mit einigen Schutzleuten. Die Schutzleute setzten ihren Helm auf den Kopf und kamen zu meinem Grab herüber. Sie redeten auf den Herrn Oberradler ein, aber der hielt stand.

»Wir stehen hier in Ausübung unseres Berufs«, sagte er kalt.

»Haben Sie eine Genehmigung?«, fragte einer der Schutzleute.

»Jawohl!«, antwortete der Herr Oberradler und griff in die Tasche. »Hier ist sie! Eine amtliche Genehmigung für mein ›Institut der Roten Radler‹.«

»Hm«, machte der Schutzmann. »Aber eine Genehmigung für Begräbnisse?«

»Die Roten Radler besorgen alles!«, erklärte der Chef stolz.

»Bravo! Bravo!«, rief ich in meiner Kiste.

»Hier hat niemand Bravo zu rufen!«, knurrte der Schutzmann. Er verlangte, dass die Roten Radler sich entfernten, aber der Oberradler wollte nicht. Er sei noch nicht ganz fertig mit der Feierlichkeit, für die er bereits bezahlt sei.

Die Schutzleute schrien, aber der Oberradler schrie noch viel mehr.

»So ein Schlaumeier!«, dachte ich. »Nun wird die Sache in die Presse kommen und tüchtig Reklame für ihn machen!«

Dann kamen langsam all die Herren des oberregierungsrätlichen Begräbnisses her und mischten sich ein, die Räte und Richter und Offiziere und Assessoren. Ganz zuletzt kam der Pastor.

Er sah die Roten Radler in ihren roten Mützen und Jacken, die Zigaretten im Maul.

»Pfui!«, sagte er. Dann setzte er die Brille auf und las auf meiner Eierkiste: »Glas!« und »Zerbrechlich!« und »Vorsicht!« und »Nicht stürzen!«

»Was geht hier vor?«, fragte er scharf.

Der kleine Fritz gab ihm eine überraschende Antwort.

Er konnte wirklich noch nicht rauchen, und die Zigarette war ihm sehr schlecht bekommen. Er beugte sich vor, zurück und wieder vor – da geschah das Unglück – gerade über den guten schwarzen Rock des Herrn Pastors.

Der war erst sprachlos, dann aber, wie sich alle mit ihren Taschentüchern um ihn bemühten, fasste er sich und erklärte: »Das übersteigt wirklich alle Grenzen. – Ich nehme daran öffentlich Anstoß.«

»Ich nehme auch öffentlich Anstoß!«, stimmte ihm ein Herr mit siebenundzwanzig Orden bei.

»Wir nehmen von Amts wegen öffentlich Anstoß!«, sagten die Schutzleute.

Nun wurde mir die Sache doch zu bunt, und ich sah ein, dass ich den Roten Radlern zu Hilfe kommen musste.

Ich stieß den Deckel von der Kiste, richtete mich auf und rief zornig: »Und ich, meine Herren, ich nehme an Ihrer ungebetenen Teilnahme an meinem Begräbnis öffentlich Anstoß!«

Der Pastor starrte entsetzt in die Grube. »Ist das hier – etwa ein christliches Begräbnis?«, stammelte er.

»Nein«, sagte ich, »das ist ein modernes Begräbnis mit Roten Radlern!«

Ich setzte mich auf meine Kiste, klemmte mein Monokel ins Auge und schaute die Leute an. Ich war im Pyjama, aber da ich befürchtete, mich im Grab zu erkälten, hatte ich mir meinen Pelz mitgenommen.

Das imponierte den Herrschaften – schließlich war es mitten im Sommer!

Ihr alter Geheimer Oberregierungsrat hatte gewiss keinen Pelz an.

»Machen Sie, dass Sie wegkommen!«, fuhr ich fort. »Dieses Grab ist von mir bezahlt worden und gehört mir. Ich bin regelgerecht gestorben und kann mich begraben lassen, wie es mir Spaß macht. Gehen Sie also! Hier in diesem Loch und in dieser Kiste bin ich Hausherr, und ich rate Ihnen, keinen Hausfriedensbruch zu begehen.«

»Ein Skandal!«, sagte der Herr mit den Orden. »Ein beispielloser Skandal!«

Dann kam der Herr Staatsanwalt. »Man muss diesen Possen ein Ende bereiten!«, zischte er mich an. »Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes! Ich ersuche die Schutzleute, ihre Pflicht zu tun!«

Die Schutzleute stiegen in das Loch und legten mir ihre Tatzen auf die Schulter. Aber ich blickte sie scharf an und sagte: »Haben Sie denn alle Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Todes verloren?«

»Er ist gar nicht tot! Schwindler!«, rief ein sehr mutiger Reserveleutnant.

»So?«, lachte ich. »Bitte sehr!« Damit reichte ich den Schutzleuten meinen Totenschein. »Überzeugen Sie sich selbst! – Und außerdem«, fuhr ich fort, »falls Ihnen der Zettel des Bezirksarztes nicht genügt, schnuppern Sie doch mal, Sie alter Esel!«

Der Herr mit den Orden streckte die Nase ein wenig vor. »Pfui Teufel!«, rief er und fuhr zurück.

»Bewahren Sie die Grenzen des Anstands, mein Herr!«, ermahnte ich ihn. »Bedenken Sie, wo Sie sind! Es ist ein glühheißer Julitag und gerade Mittag. Ich bin eine Leiche und habe also ein Recht darauf, zu stinken!«

Aber der Staatsanwalt beruhigte sich nicht.

»Das geht mich gar nichts an«, meinte er, »ich sehe nur, dass hier grober Unfug begangen wurde. Und dieser grobe Unfug bedarf gerichtlicher Sühne! Ich ersuche die Schutzleute, den Herrn in seine Kiste zu stecken und fortzubringen; die anderen aber bitte ich, mir zu folgen!«

Die Schutzleute griffen zu, ich versuchte, mich zu wehren, so gut es ging. Aber sie waren viel stärker, steckten mich rasch in die Kiste und trugen mich aus dem Friedhof hinaus zu einem Wagen. Alle folgten, die Herren stiegen in ihre Kutschen, und die Roten Radler sprangen auf ihre Räder. Sogar die Totengräber kamen mit; ich freute mich nur, dass der Geheime Oberregierungsrat, der mich mit seinem altmodischen Leichenbegängnis so gestört hatte, nun ganz allein und verlassen dalag.

Musste der sich ärgern!

Meine Kiste stand auf dem Kutschbock, und der dicke Schutzmann saß oben drauf. Gott sei Dank konnte ich durch ein Astloch ein wenig hindurchgucken. Wir fuhren in scharfem Trab zurück in die Stadt. Dann hielten wir vor dem Gerichtsgebäude.

»Saal einundvierzig!«, rief der Staatsanwalt. Die Schutzleute trugen mich in meiner Kiste hin, alles drängte eilends nach.

Der Amtsrichter saß oben zwischen seinen Schöffen. Der Herr Staatsanwalt entschuldigte sich, dass er plötzlich die Sitzung unterbreche, aber es handele sich um eine sehr eilige, dringliche, wirklich unaufschiebbare Sache. Dann erzählte er den ganzen Vorgang.

»Der Kerl behauptet, tot zu sein«, schloss er, »und ist auch im Besitze eines amtlich ausgestellten Totenscheins.«

Der Herr Amtsrichter hieß mich aus meiner Kiste herauskommen.

»Befindet sich vielleicht ein Arzt im Publikum?«, fragte er. Es kamen gleich drei heran: ein gewöhnlicher Arzt, ein Stabsarzt und ein Medizinalrat, der Vorsitzende der Landesirrenanstalt.

Sie untersuchten mich, hielten sich dabei aber ihre Taschentücher dicht unter die Nasen.

Sie machten es kurz: »Ganz zweifellos eine Leiche!«

Ich triumphierte.

»Ich werde gegen den Herrn Staatsanwalt wegen Leichenschändung vorgehen!«, rief ich.

»Einstweilen stehen Sie hier als Angeklagter!«, fuhr mich der Vorsitzende an.

»Nicht zu lange mehr, lieber Herr!«, antwortete ich. »Ich bin im Stadium des –«

»Schweigen Sie!«, schrie er.

»Nein!«, sagte ich. »Ich werde nicht schweigen. Ich habe als Preuße das Recht, meine Meinung in Wort, Schrift oder bildlicher Darstellung frei zu äußern!«

Da lachte er. »Wir sind hier nicht in Preußen! – Und außerdem sind Sie auch kein Preuße mehr, sondern eine Leiche!«

»Ich bin kein Preuße mehr?«

»Nein!«

»Dann bin ich ein toter Preuße!«

»Und ein toter Preuße hat gar keine, aber auch nicht die allergeringsten Rechte. Das muss Ihnen doch schon Ihr gesunder Menschenverstand sagen!«

Ich dachte nach: Der Mann hatte leider Recht.

Ich schwieg gekränkt.

»Sie stehen hier«, begann er wieder, »unter der Anklage des groben Unfugs, der Erregung öffentlichen Ärgernisses, der Beamtenbeleidigung und des Widerstandes gegen die Staatsgewalt! Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung anzuführen?«

»Ich bin eine Leiche«, wimmerte ich.

»Das ist keine Entschuldigung«, behauptete der Vorsitzende. »Im Gegenteil ist zu sagen, dass gerade Leichen sich eines äußerst ruhigen und gesitteten Betragens zu befleißigen haben, sie sollen gewissermaßen den Lebenden ein leuchtendes Beispiel für alle Bürgertugenden sein. Als ehemaliger Preuße sollte Ihnen doch der Spruch bekannt sein, dass Ruhe die erste Bürgerpflicht ist! Und das gilt in allererster Linie für sogenannte Leichen. – Gestehen Sie die von Ihnen begangenen Delikte ein? Oder wollen Sie, dass ich die Zeugen vernehme?«

Da platzte ich los: »Das ist mir alles ganz egal, lassen Sie mich in Ruhe! Ich bin eine Leiche, und Sie sind ein Idiot, und alle Ihre Zeugen sind auch Idioten!«

Der Vorsitzende schnappte nach Luft, aber ehe er noch ein Wort sagen konnte, erhob sich der Staatsanwalt: »Ich stelle den Antrag, den Beschuldigten zur Beobachtung seines Geisteszustandes auf sechs Wochen der Landesirrenanstalt zu überweisen!«

Da trat schnell der Medizinalrat, der Direktor dieses Instituts, vor und erklärte: »Die Landesirrenanstalt muss unter diesen Umständen die Internierung des Angeklagten ablehnen, ich kann durchaus keine Garantie dafür übernehmen, dass er sich sechs Wochen lang hält!«

Es trat eine kleine Pause ein; dann fragte einer der Schöffen: »Ja – aber was fangen wir dann mit ihm an?«

»Wir werden ihm eine Geldstrafe aufbrummen!«, sagte der Amtsrichter.

»Das wird Ihnen nichts nützen«, motzte ich, »ich bin tot und habe jetzt ebenso wenig Geld wie im Leben. Meine letzte Barschaft habe ich für ein menschenwürdiges Begräbnis ausgegeben!« Der Chef der Roten Radler machte eine Verbeugung in meine Richtung.

»Dann muss man ihn – im Nichtbeitreibungsfalle – eben einlochen!«, warf der Staatsanwalt ein.

»Aber die Gefängnisverwaltung wird ebenso wenig Leichen annehmen wie die Landesirrenanstalt!«, wandte der Vorsitzende ein.

Schon glaubte ich, triumphiert zu haben, als sich plötzlich der Pastor vorschob.

»Erlauben Sie mir, einen bescheidenen Vorschlag zu machen, meine Herren!«, sagte er. »Ich glaube, es wird das Beste sein, wenn wir die Leiche des Herrn Angeklagten christlich bestatten.«

»Ich will nicht christlich bestattet werden!«, schrie ich wild.

Aber der Pastor achtete gar nicht auf mich.

»Also christlich – und gut bürgerlich bestatten!«, fuhr er fort. »Ich glaube, das wird einerseits die Milde und Würde des Gerichts bei allen anständig denkenden Menschen in das rechte Licht setzen, andererseits aber auch bei dem bedauernswert verwirrten Geiste des Herrn Angeklagten wie eine Strafe wirken. Dazu übernehme ich die Garantie, dass eine auf diese Weise beerdigte Leiche sich in Zukunft durchaus ruhig und still verhalten und somit den hohen Behörden weiterhin zu einem notwendigen Eingreifen keinerlei Veranlassung mehr geben wird.«

»Sehr gut! Sehr gut!«, nickte der Herr Vorsitzende. Und der Staatsanwalt nickte und die beiden Schöffen nickten – alle nickten.

Ich schrie, tobte, ich wandte mich in meiner Verzweiflung an den Herrn Oberradler. Aber der zuckte mit den Schultern.

»Tut mir leid«, sagte er, »wir sind nur für zwei Stunden bezahlt, und die sind abgelaufen. Die Roten Radler besorgen alles – aber nur gegen Bezahlung!«

Ich wehrte mich, so gut es ging, wurde aber schnell überwältigt.

Sie steckten mich in einen schwarzen Sarg und trugen mich hinaus.

Und der Pastor hielt mir – umsonst – eine Leichenrede. Ich weiß nicht, was er sagte, ich hielt mir die Ohren zu.

Die brutale Gewalt hatte gesiegt.

Was nutzt es mir nun, dass ich mich jetzt jedes Mal dreimal im Grab herumdrehe, wenn ein Staatsanwalt oder ein Amtsrichter vorbeikommt?