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Erotik und Thriller in einem: Dieser Camilleri wird für Furore sorgen. Als Giulio die junge Arianna zum ersten Mal sieht, ist er hin und weg. Sie ist wild wie ein Kind und wunderschön. Ihre Natürlichkeit verzaubert ihn, und vom Tag ihrer Hochzeit an möchte er ihr zurückgeben, was sie ihm alles Gutes tut. Auch das, was er ihr, infolge eines gravierenden Unfalls, nicht mehr geben kann. So treten in den Alltag des Paares die «Donnerstags-Treffen», die Giulio persönlich organisiert: An abseitigen Orten wie Umkleidekabinen am Strand dürfen ausgesuchte Männer Arianna zum Sex treffen. Aber nur, wenn sie ein paar unumstößliche Regeln einhalten … «In diesem Roman ist Camilleri nicht aufzuhalten.» L'Unità
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Seitenzahl: 161
Andrea Camilleri
Mein Ein und Alles
Roman
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Ihr Verlagsname
Erotik und Thriller in einem: Dieser Camilleri wird für Furore sorgen.
Als Giulio die junge Arianna zum ersten Mal sieht, ist er hin und weg. Sie ist wild wie ein Kind und wunderschön. Ihre Natürlichkeit verzaubert ihn, und vom Tag ihrer Hochzeit an möchte er ihr zurückgeben, was sie ihm alles Gutes tut. Auch das, was er ihr, infolge eines gravierenden Unfalls, nicht mehr geben kann.
So treten in den Alltag des Paares die «Donnerstags-Treffen», die Giulio persönlich organisiert: An abseitigen Orten wie Umkleidekabinen am Strand dürfen ausgesuchte Männer Arianna zum Sex treffen. Aber nur, wenn sie ein paar unumstößliche Regeln einhalten …<br/><br/>
«In diesem Roman ist Camilleri nicht aufzuhalten.» L'Unità
Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom.
Giulio weckt sie, indem er mit den Lippen sanft über ihr Ohr streicht und flüstert:
«Ari, ciao, ich muss gehen.»
Sie hat ihn gehört, sie hat verstanden, aber antworten geht über ihre Kräfte.
Giulio denkt, sie sei nicht aufgewacht, er wiederholt:
«Ari, ciao, ich muss …»
«Wie spät ist es denn?», fragt sie mit belegter Stimme und hält die Augen hartnäckig geschlossen.
«Halb acht.»
«Meine Güte!»
Hinter dem Schutzschild einer tiefen Dunkelheit verschanzt, wehrt sie sich noch einen Augenblick lang, zu Bewusstsein zu kommen.
Dann schlägt sie die Augen auf, hebt ein wenig den Kopf.
Die halb geöffneten Fensterblenden lassen einen Schwall unbarmherzigen Lichts eindringen.
Sie muss mehrmals blinzeln, damit das Bild des Zimmers scharf wird.
Giulio steht neben dem Bett, riecht nach Aftershave. Er ist vollständig angezogen, bereit, aus dem Haus zu gehen.
«Wie wollen wir es machen?», fragt er. «Fährst du schon vor, oder möchtest du, dass ich dich später abhole und wir zusammen mit meinem Auto fahren?»
«Wann, denkst du denn, bist du im Büro fertig?»
«Nicht vor zehn, halb elf.»
«Na, du hast Nerven! Dann bist du ja frühestens um elf hier. Nein, das schaffen wir nicht. Es ist besser, du kommst später nach.»
«Was hast du ihm denn gesagt, um wie viel Uhr er da sein soll?»
«Um elf. Hast du Franco Bescheid gesagt?»
«Ich rufe ihn später an, gegen neun.»
«Vergisst du es auch bestimmt nicht? Sonst tauche ich da plötzlich auf, und er …»
«Mach dir keine Sorgen, er bekommt Bescheid. Ciao.»
«Ciao. Ach ja, bitte sag Elena …»
«Mach ich.»
Arianna lässt den Kopf wieder auf das Kissen sinken, zieht sich das zerknitterte Bettlaken über den Kopf und schließt die Augen.
Sie hält eine Weile den Atem an, um sich noch einmal vorzustellen, sie läge tot im Sarg des Schlafs. Doch vergebens, man hat sie unwiderruflich ins Leben zurückgerufen.
Also muss sie das tun, was die Lebenden tun.
Sie atmet tief ein, füllt die Lungen mit ihrem eigenen nächtlichen Geruch, der noch unter dem Laken steckt.
Die Nacht war heiß, sie scheint stark geschwitzt zu haben, und sie liebt ihren Schweiß.
Sie hat entdeckt, dass sie zwei Arten Schweiß besitzt, die unterschiedlich riechen.
Der Schweiß, den die Hitze hervorruft, riecht nach Eau de Cologne mit Kräutern und ist smaragdgrün, der Schweiß der Liebe riecht stark nach Moschus und ist dunkelgrün.
Sie hebt einen Arm, bis ihr die Achselhöhle an die Nase reicht, verharrt eine Weile so und atmet sich ein.
Jetzt ist sie wieder ganz und gar lebendig.
Sie hört ihr Herz stark und gleichmäßig schlagen – PUM PUM PUM –, und es hallt in ihren Ohren nach wie der Kessel einer Lokomotive.
Mehrmals krümmt und streckt sie die Zehen ihres linken Fußes.
«Hallo, Fuß, wie geht’s dir?»
Mit dem rechten macht sie das Gleiche.
«Und dir?»
Jetzt fährt eine Hand am Bein hinab, um die linke Wade zu streicheln.
«Hallo, Wade.»
Als junges Mädchen hatte sie die fixe Idee, ihre Waden seien zu dick, wie bei fast allen Bäuerinnen aus ihrer Gegend, und jeden Morgen verbrachte sie gleich nach dem Aufwachen mindestens eine halbe Stunde damit, sie sich zu reiben, in der Hoffnung, dass sie dadurch schlanker würden.
Und davor hatte sie in der Furcht gelebt, ihr würden zu große Brüste wachsen. Von Großmutter unbeobachtet, umwickelte sie ihre Brust mit einem großen Küchentuch und zog es so fest, dass ihr manchmal die Luft wegblieb. Auf der Straße ging sie mit krummem Rücken, damit die Brüste weniger hervorragten.
Der Mann, der sie davon überzeugte, dass ihre Beine phantastisch und ihre Brüste von geradezu klassischer Schönheit sind, war ihr Philosophielehrer in der zwölften Gymnasialklasse, der mit dem komischen Namen, Adelchi. Er unterbrach häufig die Nachhilfestunden und forderte sie auf, sich nackt vor den Spiegel zu stellen.
Als Elena vorsichtig an die Tür klopft, hat sie ihrem Körper bis zum Hals guten Morgen sagen können.
«Komm rein.»
«Gut geschlafen, Signora?»
Sie antwortet nicht. Bevor sie Kaffee getrunken hat, ist ihr das Sprechen praktisch unmöglich. Schon Giulio zu antworten war eine ungeheure Anstrengung.
Elena stellt das Tablett mit dem Espressotässchen auf den Nachttisch.
«Soll ich Ihnen das Fenster öffnen?»
«Nein.»
«Soll ich Ihnen ein Bad einlassen?»
«Ja.»
Kaum ist Elena draußen, fährt sie mit der Begrüßungszeremonie fort.
«Hallo, Kinn.»
Nachdem sie zuletzt auch ihre Haare begrüßt hat, richtet sie sich halb auf, rückt die zwei Kissen hinter ihrem Rücken zurecht, nimmt die Tasse mit Kaffee ohne Zucker und führt sie zum Mund.
Nach dem Kaffee zündet sie sich die erste Zigarette des Tages an.
Sie atmet langsam ein, lässt Zeit zwischen den Zügen verstreichen und behält den Rauch so lange wie möglich bei sich.
«Das Bad ist fertig, Signora.»
Sie drückt die Zigarette aus, steigt aus dem Bett, geht durch den Umkleideraum und betritt das Bad, wo alle Lampen brennen.
Sie zieht das kurze durchsichtige Nachthemd aus, betrachtet sich im Spiegel, der die halbe Wand einnimmt.
Nicht übel, wirklich nicht übel für eine, die vor vier Tagen dreiunddreißig geworden ist.
Sie spannt ihre Beinmuskeln an, indem sie ein wenig in die Knie geht, macht halbe Drehungen, beugt den Rumpf vor und zurück, aber das ist keine Gymnastik – die hat sie nie gemacht; es ist eine besondere Weise, ihren Körper einer allgemeinen Prüfung zu unterziehen.
Sie ist zufrieden, er fühlt sich geschmeidig und locker an; ein präziser Mechanismus, gut konstruiert und gut gewartet, der augenblicklich reagieren wird, wenn sie es von ihm verlangt.
Sie setzt sich auf die Toilette. All ihre Körperfunktionen nehmen den Betrieb auf und funktionieren tadellos.
Sie trällert vor sich hin.
Noch nie hat sie eine Melodie im Gedächtnis behalten können.
Dabei hat sie ganze Nächte durchgetanzt, immer wieder zu derselben Musik.
Sie kennt nur ein einziges musikalisches Motiv, hat es einmal im Radio gehört, da war sie zwölf oder etwas jünger, und hat es nie mehr vergessen. Immer wenn sie allein ist, singt sie es leise vor sich hin, es ist ihr Geheimnis, sie vermischt es zu immer neuen musikalischen Soßen, tatsächlich eignet es sich sehr gut dafür, die Worte gehen ungefähr so:
Dies irae, dies illa,
solvet saeclum in favilla …
Dann steigt sie in die Jacuzzi-Badewanne, wo sie sich mit einem seligen Seufzer ausstreckt.
Warum kann man nicht stundenlang so liegen bleiben? Mit geschlossenen Augen, während das Wasser einen von Kopf bis Fuß liebkost? Einfach nur fühlen, dass man lebt?
Wie damals mit Marcello, als er mit ihr zusammen baden wollte.
Um neun Uhr morgens waren sie in die Wanne gestiegen und erst nach zwölf Uhr mittags wieder herausgekommen.
Ihre Haut war weiß geworden und an manchen Stellen ein bisschen runzelig.
Trotzdem wären sie noch länger dringeblieben, wenn Marcello sich nicht so furchtbar erschrocken hätte.
Was für ein Trottel!
Manchmal mussten sie den Heißwasserhahn öffnen, sonst wäre ihnen kalt geworden.
Es war keine Jacuzzi-, sondern eine gewöhnliche Badewanne, aber die Zimmer in diesem Hotel in Fiesole waren mit antiken Möbeln eingerichtet, und auch die Wanne war altmodisch, also ein bisschen größer und länger als die von heute.
Dieser bescheuerte Marcello!
Beim zweiten Mal hatte sie gesagt, dass sie sich auf ihn setzen wolle, also hatte er sich lang ausgestreckt, sodass ihm das Wasser bis zur Brust reichte.
Dann, im schönsten Moment, hatte sie ihn plötzlich an den Schultern gepackt und nach unten gedrückt, bis unter die Wasseroberfläche.
Er hatte sofort versucht, wieder hochzukommen, aber das hatte sie ihm nicht erlaubt, sondern mit beiden Händen fest seine Stirn runtergedrückt.
Marcello hatte wild um sich getreten und versucht, sie abzuschütteln. Er war nicht mehr in ihr, vor Angst impotent geworden. Doch sie hatte sich noch eine Weile auf ihm hin und her bewegt.
Bis sie sich besänftigt fühlte.
Dann hatte Marcello sich endlich aus der Wanne hieven können und war rücklings auf den Boden gefallen, keuchend, heiser wie ein Blasebalg.
«Sag mal, spinnst du? Bist du jetzt völlig durchgedreht? Wolltest du mich ertränken?»
Sie geht in die Garage.
Im Umkleideraum hat sie etwas Zeit verloren. Erst hatte sie sich eine Bluse, Jeans und Sandalen angezogen, aber gleich darauf war ihr klar geworden, dass sie sich in den Jeans unwohl fühlen würde, es war viel zu heiß. Schließlich hat sie sich für eine Art Tunika entschieden, hellblau, ganz leicht.
Giulio hat den Volvo genommen und ihr den Mercedes und den kleinen Toyota gelassen.
Arianna steigt in den Toyota, wirft die Strandtasche und den Plastikbeutel mit Mineralwasser und den von Elena zubereiteten Brötchen auf den Rücksitz, schiebt sich die Sonnenbrille auf die Nase, lässt den Motor an und fährt los.
Einmal haben sie die Dummheit begangen, für die Fahrt nach Canneto den Mercedes Cabrio zu nehmen, einen superschicken Wagen in Silber metallic.
Als sie bei Sonnenuntergang zurückfahren wollten, mussten sie entdecken, dass irgendwelche Idioten durch ein Fenster gepinkelt hatten, das einen Spaltbreit offen stand, damit Luft hereinkam.
Canneto ist ein abgelegener Streifen Strand, hauptsächlich von Halbstarken und jungen Strichern bevölkert, die sich selbst zu parodieren scheinen.
Als sie das erste Mal hier waren, im letzten Jahr, konnte sich Giulio sofort mit Franco auf einen Preis einigen. Den Besitzer des kleinen Strandbads erkennt man schon an der Art, wie er sich bewegt, auf den ersten Blick als Knastbruder. Und er musste gleich darauf Order gegeben haben, dass niemand sich dem Paar nähern durfte, sonst würde es Ärger geben.
Tatsächlich legten die vier jungen Zuchtbullen, die am Strand rumlungerten, sich dann nur noch in sicherem Abstand in die Sonne und wagten nicht einmal mehr, zu ihnen hinüberzusehen.
Arianna fing an, einen Krimi zu lesen. Neben ihr schlug Giulio die Zeitung auf.
Doch von Zeit zu Zeit hob sie den Blick und beobachtete die vier unauffällig.
Irgendwann stand einer auf und forderte seinen Freund zum Kampf heraus. Erst war es ein Spiel, weil sie hofften, ihre Aufmerksamkeit zu erregen und sich vor ihr zur Schau stellen zu können.
Nach etwa zehn Minuten glänzten die ineinander verschlungenen Körper vor Schweiß, entglitten dem Griff des anderen wie keuchende Aale, lebende Gladiatoren-Skulpturen, und der anfänglich spielerische Kampf verwandelte sich rasch in etwas Ernstes. Jetzt lachten sie nicht mehr, Winseln, Stöhnen, Jammern kam von ihren Lippen, wütende Hände drückten das sonnengebräunte Fleisch des Gegners so fest, dass ein weißer Abdruck wie ein Riss, eine Abschürfung, zurückblieb.
Und immer wenn zwischen den beiden Körpern genügend Abstand war, verpassten sie einander heftige Kopfstöße wie Stiere.
Sie fielen in den Sand und standen wieder auf, oder sie rollten zusammen über den Strand, verschmolzen in einer Umarmung, die zeitweilig wie ein brutaler Sexualakt aussah.
Die anderen beiden gaben das Publikum, das sie anfeuerte und pausenlos mit heiseren Schreien gegeneinander aufhetzte.
Plötzlich war einem die Badehose heruntergerutscht und hatte sein geschwollenes, erigiertes Glied entblößt, doch er hatte es nicht mal gemerkt und weitergekämpft.
Seinem Gegner war es jedoch nicht entgangen, er hatte die Hoden des anderen mit einer Hand umfasst und zusammengepresst.
Da hatte Arianna den Blick abgewandt und die Augen geschlossen, um ihren Atem zu kontrollieren; sie hechelte.
Giulio, der neben ihr lag, war eingeschlafen.
Schon beim zweiten Besuch in Canneto hatte sie bemerkt, dass unter den Jungen am Strand, sobald sie erschien, Raufereien, Wettkämpfe, Gefechte aufflammten.
Sie spielten eine Art Volleyball, bis sie erschöpft auf den Sand fielen, oder lieferten sich wilde Kämpfe mit Wasserbomben.
Um sich in Szene zu setzen, um aufzufallen.
Natürlich wussten die Jungen, warum Giulio und sie dort waren.
Vielleicht ging es früher auf dem Sklavenmarkt so zu.
Man ließ sie kämpfen, laufen, springen, und dann kaufte man die Kräftigsten, die Muskulösesten.
Nun, es ist nicht gesagt, dass die Muskulösesten …
Sie lächelt.
Als sie Angelo zum ersten Mal sah, kam sie gerade aus dem Wasser und war vor Überraschung buchstäblich gelähmt, ihr stockte der Atem. Es war wie ein Faustschlag mitten auf die Brust. Am Ufer stand ein fünfundzwanzigjähriger Mann von unwirklicher Schönheit, groß, blond, er hatte sogar eine griechische Nase.
Und diese Muskeln, die sich unter seiner Haut bewegten wie Schlangen. Eine anatomische Lehrtafel, wunderbarerweise zum Leben erwacht.
Sie setzte sich auf ihre Liege. Auch Giulio betrachtete ihn wie hypnotisiert.
Auf Bitten seiner Freunde begann der junge Mann, sich in klassischen Bodybuilder-Posen darzubieten.
Arianna, die die Bewegungen hingerissen verfolgte, fühlte sich innerlich aufgewühlt.
«Bravo!», hatte Giulio zum Schluss gerufen.
Sie hatte applaudiert.
Der Junge hatte sich mit einer Verbeugung bedankt und war langsam auf sie zugegangen.
«Setzen Sie sich hierhin», hatte Giulio gesagt, auf seine Liege zeigend.
Doch der Junge hatte es vorgezogen, sich auf dem Sand niederzulassen.
«Ich heiße Angelo.»
Als er sich dann in der Umkleidekabine den Slip auszog – schöne Bescherung!
Er hatte ein Dingelchen, das eher wie eine Erbse aussah, ein niedlicher Knopf, kaum zu erkennen zwischen den Muskelmassen drum herum.
Arianna wurde von einem so unbezwinglichen Lachanfall gepackt, dass sie sich nicht mehr zusammenreißen konnte.
Sie ist in Gedanken versunken, hat gar nicht bemerkt, dass sie zu schnell fährt und dass die Abzweigung nach Canneto nur noch wenige Meter entfernt ist.
Sie reißt das Steuer herum, ohne abzubremsen.
Aus dem Auto hinter ihr ertönt ein wütendes Hupen. Die Reifen quietschen laut, bleiben aber am Boden haften, biegen in die Abzweigung ein.
Plötzlich schlägt etwas mit großer Wucht gegen die Windschutzscheibe.
Ein Stein, denkt sie.
Und tritt abrupt auf die Bremse. Zum Glück ist kein Wagen hinter ihr.
Ihre Brust schmerzt vom Ruck des Sicherheitsgurts, sie löst ihn, schiebt eine Hand in ihren Ausschnitt und massiert sich sanft den Busen.
Nein, es war kein Stein, sonst wäre die Windschutzscheibe zersplittert.
Auf dem Glas sind rote Flecken.
Sie öffnet die Fahrertür, steigt aus.
Es war ein großer schwarzer Vogel, ein Rabe, eine Krähe – was weiß sie schon? –, der nun am Straßenrand verendet.
Warum ist er so tief geflogen? Vielleicht hat er ein Beutetier verfolgt und Pech gehabt, weil er ihr Auto zu spät bemerkt hat.
Arianna hockt sich vor ihn hin, betrachtet ihn.
Der Vogel liegt auf der Seite, mehrmals öffnet und schließt er den blutverschmierten Schnabel, als wollte er etwas sagen. Sicher sind Flügel und Beine gebrochen, er atmet mühsam, die Federn auf der Brust bewegen sich unablässig.
Leiden Tiere wie Menschen?
Und sterben sie auch so?
Sie würde ihn gerne sterben sehen, doch vielleicht wird der Todeskampf des Vogels noch eine ganze Weile dauern, und dann würde sie zu viel Zeit verlieren.
Ihr kommt eine Idee.
Sie steht auf, verschiebt den Körper des Vogels vorsichtig mit einem Fuß, bis er vor dem Auto liegt.
Dann steigt sie ein, fährt gut zehn Meter im Rückwärtsgang, hält und fährt langsam wieder los.
Kurze Zeit später schaut sie in den Rückspiegel.
Jetzt ist da nur noch ein großer rotschwarzer Fleck auf dem Asphalt.
Arianna parkt ein, es ist noch früh, erst 9 Uhr 40 am Morgen des 14. Juni, aber die Hitze ist schon mörderisch. Auf dem als Parkplatz dienenden kahlen Feld gibt es freie Plätze nach Belieben, gerade mal zwei Autos und drei Mofas stehen hier und heizen sich langsam in der Sonne auf.
Außerdem ist Donnerstag, die Invasion der Barbaren beginnt gewöhnlich freitags und erreicht ihren Höhepunkt am Sonntagmorgen.
Sie nimmt die Strandtasche und die Plastiktüte vom Rücksitz, steigt aus, schließt das Auto ab, geht unter dem Metallschild in Hufeisenform hindurch, das die unpassende Aufschrift «Lido dei Pini» trägt – einen Baum, egal welcher Art, findet man hier kilometerweit nicht. Sie betritt das Strandbad.
Franco sitzt an der Kasse, lächelt sie an.
«Willkommen, Signora. Ihr Mann hat schon angerufen. Warum heute so allein?»
Es ist das erste Mal, bisher ist sie immer mit Giulio gekommen.
«Er kommt später nach.»
«Die 6, wie immer», sagt Franco und reicht ihr den Schlüssel.
Es ist die letzte Kabine der einzigen Reihe.
«Danke.»
«Möchten Sie sofort eine Liege?»
«Ja.»
«Drinnen oder draußen?»
«Drinnen.»
«Ich bringe sie Ihnen sofort.»
Am Strand hat man das Gefühl, vor der offenen Klappe eines glühenden Ofens zu stehen.
Im Dunst, den die Hitze erzeugt, verschwimmen Meer und Himmel am Horizont.
Direkt vor der Wasserlinie sind die einzigen vier Sonnenschirme, über die das Strandbad verfügt, schon geöffnet, die Liegen ausgeklappt, aber es dürften nicht mehr als fünf Badegäste da sein. Die ihre Ankunft nicht einmal bemerken.
Besser so.
Ein Junge mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken, ein hübscher Bursche mit Lockenkopf, siebzehn, braungebrannt, schließt gerade die Tür von Kabine 5 auf, direkt neben ihrer.
Genau in dem Moment, als der Junge die Kabine betritt und die Tür schließt, geht sie an ihm vorbei.
Arianna lässt ihre Tür offen stehen. Im Inneren der Kabine, die eher tief ist als breit, herrscht Dämmerlicht, und die Luft ist schon jetzt glühend heiß. Kein einziger Stuhl, nicht mal ein Hocker. Nur vier Kleiderhaken aus Holz, an die Wand genagelt.
Neben der Tür hängt ein kleiner Spiegel mit rosa Plastikrahmen an einem Nagel. Den hat jemand vergessen, der die Kabine nach dem Donnerstag letzter Woche benutzt hat, als sie mit Giulio hier war.
Sie möchte sich ausziehen, aber das geht nicht, sie muss auf Franco warten.
In den Türrahmen gelehnt, betrachtet sie das Meer.
Es ist so glatt, dass fast keine Wellen zu sehen sind.
Das Wasser macht bestimmt ganz schwach.
Meine Güte, wie lange braucht der Junge in der Kabine nebenan eigentlich, um sich auszuziehen und in Badehose zu erscheinen?
Endlich kommt Franco, klappt die Liege auf, wünscht einen schönen Badetag und geht wieder.
Arianna schließt die Tür, ohne den Schlüssel umzudrehen, zieht sich eilig aus. Sie ist nackt.
Sie legt das Ohr an die Wand aus Rigips, die ihre Kabine von der daneben trennt, und lauscht. Kein Geräusch.
Was macht er bloß? Sie muss lächeln.
Sie bückt sich ein wenig, späht durch das unvermeidliche Loch.
Der Junge ist noch völlig bekleidet, er hat nur den Rucksack abgelegt, über der Brust mit spärlichen blonden Härchen ist sein Hemd geöffnet, er steht mit dem Rücken an die Kabinenwand gelehnt, hat den Lockenkopf gesenkt und betrachtet seine blauen Leinenschuhe.
Arianna verschiebt die Liege, die Franco mit dem Fußende zur Tür gestellt hat, sodass sie im rechten Winkel zu den beiden Seitenwänden steht. Sie passt knapp dazwischen.