Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten - Bernardo Zannoni - E-Book

Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten E-Book

Bernardo Zannoni

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Beschreibung

Der Bestseller aus Italien und Gewinner des renommierten «Premio Campiello». Ein Roman über Steinmarder, Füchse, Hunde und Hühner - und eine Allegorie auf unsere Existenz. Denn im Spiegel des Tieres wird das menschliche Leben manchmal viel anschaulicher.  In einer kühlen Winternacht, inmitten von Bäumen und Hügeln, wird ein Steinmarder zusammen mit seinen Geschwistern geboren. Der Vater kam ums Leben, die Mutter muss die Jungen allein durchbringen. Archy ist schwach, daher wird er von seiner Mutter für eineinhalb Hühner an einen alten Fuchs verkauft. Sein neuer Herr, Fëdor, lebt auf einer Anhöhe und ist voller Geheimnisse. Und er ist im Besitz einer Bibel, die er wie einen Schatz hütet. Die Tiere in diesem Buch können sprechen, sie benutzen Teller zum Essen, sie entzünden Feuer, und doch bleibt ihre Existenz ein harter und schonungsloser Kampf. Verlorene Lieben, die Grausamkeit der Welt, der Anreiz immer neuer Abenteuer bestimmen Archys Leben. Aber die eigentlichen Fragen stellen sich ihm erst, als der alte Fuchs beginnt, ihm von der Macht der Buchstaben zu erzählen, und ihn das Lesen und Schreiben lehrt. «Man denkt bei diesem Buch an Orwell, Camus, Unten am Fluss von Richard Adams oder an Mark Haddon. Hier ist ein wahrer Schriftsteller geboren!» Vanity Fair

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Seitenzahl: 279

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Bernardo Zannoni

Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten

Roman

 

 

Aus dem Italienischen von Julika Brandestini

 

Über dieses Buch

In einer kühlen Winternacht, inmitten von Bäumen und Hügeln, wird ein Steinmarder zusammen mit seinen Geschwistern geboren. Der Vater kam ums Leben, die Mutter muss die Jungen allein durchbringen. Archy ist schwach, daher wird er von seiner Mutter für eineinhalb Hühner an einen alten Fuchs verkauft. Sein neuer Herr, Fëdor, lebt auf einer Anhöhe und ist voller Geheimnisse. Und er ist im Besitz einer Bibel, die er wie einen Schatz hütet.

Die Tiere in diesem Buch können sprechen, sie benutzen Teller zum Essen, sie entzünden Feuer, und doch bleibt ihre Existenz ein harter und schonungsloser Kampf. Verlorene Lieben, die Grausamkeit der Welt, der Anreiz immer neuer Abenteuer bestimmen Archys Leben. Aber die eigentlichen Fragen stellen sich ihm erst, als der alte Fuchs beginnt, ihm von der Macht der Buchstaben zu erzählen, und ihn das Lesen und Schreiben lehrt.

Archys Geschichte ist eine Allegorie auf unsere Existenz. Denn im Spiegel des Tieres wird das menschliche Leben manchmal viel anschaulicher.

Vita

Bernardo Zannoni wurde 1995 in Sarzana, Italien, geboren, wo er bis heute lebt. Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten ist sein erster Roman. Er wurde in Italien ein Bestseller und mit dem Literaturpreis Bagutta für das beste Debüt ausgezeichnet. Außerdem gewann Zannoni 2022 mit Mein erstaunlicher Hang zu Fehltritten den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Campiello.

Julika Brandestini, geboren 1980 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin und Redakteurin. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises. Sie übersetzte unter anderem Michela Murgia, Elena Ferrante und Michele Serra.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «I miei stupidi intenti» bei Sellerio Editore, Palermo.

Die Übersetzung dieses Buches wurde durch einen Übersetzungszuschuss des italienischen

Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit ermöglicht.

Questo libro è stato tradotto grazie a un contributo del Ministero degli Affari Esteri e della

Cooperazione Internazionale italiano.

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

 

«I miei stupidi intenti » Copyright © 2021 by Sellerio Editore via Enzo ed Elvira Sellerio 50 Palermo

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung «we need more weasels», Marjolein Kramer

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01542-5

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

für L.

 

Wir sehen uns bald wieder;

wir haben uns bereits kennengelernt.

IDer Winter, unsere Mutter

Mein Vater starb, weil er ein Räuber war. Er raubte drei Mal auf den Feldern von Zò, und beim vierten Mal holte ihn der Mensch. Der schoss ihm in den Bauch, riss ihm das Huhn aus dem Mund und knüpfte ihn als Warnung an einem Zaunpfosten auf. Mein Vater hinterließ seine Gefährtin mit sechs Welpen, mitten im Winter, im Schnee.

In der stürmischen Nacht, alle zusammen im selben Bett, sahen wir, wie unsere Mutter in der Küche weinte, im Halbschatten einer Lampe unter der niedrigen Decke unseres Baus.

«Verflucht, Davis, verflucht!», jammerte sie. «Was soll ich jetzt tun? Dummer Marder!»

Wir sahen sie an, ohne einen Mucks, ganz nah beieinander wegen der Kälte. Rechts von mir lag mein Bruder Leroy, auf der anderen Seite Giosuè, den ich nie richtig kennengelernt habe. Er musste kurz nach der Geburt gestorben sein, vielleicht erdrückt vom Gewicht unserer Mutter, als sie sich ausruhen wollte.

«Du Lump, du Gauner», weinte sie. «Wer zieht sie jetzt groß, diese Niemandskinder?»

In diesen ersten Tagen fühlte sich das Leben gut an. Ganz sachte unter der Decke atmend glitt ich hinüber in die lebendigsten Träume. Man war zerbrechlich und stark zugleich, versteckt vor der Welt, in der Erwartung, sie zu erobern.

«Wer zieht sie groß? Wer zieht sie jetzt groß?», klagte unsere Mutter. Dann kam sie zum Bett und legte sich hin, überließ uns ihren Bauch. Sobald ich sie spürte, saugte ich mich mit aller Macht fest. Meine anderen Geschwister begannen sofort ein kleines Gerangel. Leroy war der Größte und stürzte ungestüm voran, die Weibchen, Cara und Louise, taten es ihm nach. Otis, der Kleinste, hatte oft das Nachsehen.

«Wer zieht sie groß? Wer zieht sie jetzt groß?», klagte unsere Mutter. Ab und an spürte ich, wie sie vor Schmerz zuckte, wenn einer von uns zu fest zubiss. Giosuè schaute unter ihrem Fell hervor, reglos.

 

Nachts verließ sie uns, um Futter zu suchen, tagsüber schlief sie ein paar Stunden. Manchmal, wenn sie etwas Wertvolles fand, ging sie auch hinaus, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, um es bei Fëdor, dem Pfandleiher, gegen Essen einzutauschen. Sie war mager, und der Bauch hing ihr bis zum Boden. Ihn über den Schnee zu schleifen, musste empfindlich kalt sein.

«Still, Kinder», sagte sie, wenn wir sie weckten. Das sagte sie auch, wenn sie wach war.

«Still, still.»

Wir lernten sprechen. Und uns zu bewegen. Eines Morgens fiel Leroy vom Bett und begann, im Kreis zu laufen, er kam nicht wieder hinauf. Er wäre vor Kälte gestorben, wäre unsere Mutter nicht heimgekehrt. Bevor sie ihn wieder hinaufsetzte, erinnere ich mich, dass sie einen Augenblick zögerte, eine für mich unerklärliche Tatsache. Wäre ein anderer von uns an seiner Stelle gewesen, hätte sie ihn vielleicht dort gelassen, wo er war. Leroy war der Größte und der Stärkste.

 

Es schneite oft, auch tagelang. Einmal war der Eingang zur Höhle blockiert, und Mama versuchte, einen Ausgang freizuschaufeln.

«Still, still!», schrie sie jeden an, der über Hunger klagte.

Manchmal ertappte ich sie dabei, wie sie in der Küche saß und ins Leere starrte. Sie strich sich über die Schnurrhaare und seufzte, ohne etwas zu sagen, doch als würde sie sich mit jemandem unterhalten. Wenn sie das tat, lag ich still, um sie zu betrachten. Ich spürte, dass sie unglücklich war, etwas ging in die Brüche, und das war beängstigend. Meine Augen fielen zu, ohne dass ich es merkte, und als ich sie wieder öffnete, war sie nicht mehr da.

 

«Werdet bloß nicht krank, ich kann keinen Arzt bezahlen», sagte sie uns einmal, als wir begannen, durch die Höhle zu streifen. Die Warnung entging niemandem, und tatsächlich wagten wir uns nie hinaus, näherten uns nicht einmal dem Fenster. Otis hatte als Einziger das Bett noch nie verlassen, und die Weibchen zogen ihn damit auf.

«Du bist zu klein, Otis. Du würdest dir den Hals brechen», sagten sie zu ihm.

Leroy berührte alles, was er fand, und ich tat es ihm nach. Wir redeten nicht viel; er griff nach etwas, betrachtete es, stellte es wieder an seinen Platz, und dann war ich an der Reihe. Ich besah mir in aller Eile, was in meiner Pfote lag, denn mein Bruder wurde sofort von etwas anderem angezogen, und ich wollte nicht zurückbleiben.

Unsere Mutter wich uns aus, wenn sie irgendwohin ging. Sie tat, als wären wir nicht im Zimmer. Wenn sie uns säugte, sprangen wir alle aufs Bett, wo Otis zu seinem Glück bereits kurz die Gelegenheit gehabt hatte, etwas abzubekommen.

«Du tust mir weh», murmelte sie ärgerlich, wenn jemand zu stürmisch war. Normalerweise genügte das, um uns zur Ordnung zu rufen, andere Male versetzte sie uns einen Prankenhieb, ohne Krallen, und fluchte dann.

Wir hatten beinahe immer Hunger und froren beinahe ebenso oft. An manchen Tagen verließen wir gar nicht das Bett und kämpften unter der Decke mit Magenkrämpfen, dicht aneinandergekuschelt. Eines Nachts weckte mich Leroy:

«Ist dir kalt?»

«Ich habe Hunger», antwortete ich.

«Ich auch. Wir könnten Otis essen. Er ist klein und schwach.»

Ich glaubte nie, dass das ein Scherz war. Ich betastete mit der Zunge die Zähnchen, die in meinem Maul zu wachsen begannen. Ich sagte nichts.

«Also?»

«Vielleicht ist die Kälte schlimmer als der Hunger.»

Unsere Mutter betrat die Höhle, bevor er etwas antworten konnte. Ich glaubte, ihn mit meiner Feigheit irgendwie beleidigt zu haben, und nach dem Essen konnte ich eine Weile nicht einschlafen. Von da an begann ich zu verstehen, dass es zwischen mir und Leroy einen kleinen, schrecklichen Unterschied gab: Er war mehr Tier als ich. Der Gedanke, dass auch er es bemerkt haben könnte, machte mir Angst. Doch keiner von uns beiden aß Otis. Und Leroy aß auch nicht mich.

 

Eines Nachts kam unsere Mutter mit einem seltsamen Gegenstand zurück. Sie legte ihn auf den Tisch und ermahnte uns:

«Fasst das nicht an. Das wird uns eine Weile ernähren.»

Wir warteten darauf, dass sie schlafen ging, um zu schauen, worum es sich handelte.

«Der Schmuck einer echten Signora», hatte Cara gesagt, «ein kleiner Menschenschatz.»

Es war ein rundes Ding, das im Licht leuchtete, hübsch, von grüner Farbe. Wie es da auf dem Tisch lag, schien es im Verborgenen zu uns zu sprechen. Leroy beugte sich vor und berührte es mit der Pfote.

«Es ist kalt», sagte er. «Wie die Luft draußen.»

Auch ich wollte es betasten. Aber unsere Mutter war deutlich gewesen, und ich hatte Angst, dass sie aufwachte. Auf diese Weise ungehorsam zu sein, rief schreckliche Fantasien in mir hervor, vor allem, weil ich die Konsequenzen bisher nie erlebt hatte. Louise war auf den Tisch gesprungen und hatte es genommen, betrachtete es unschuldig und ließ es dann auf ihren Arm gleiten wie ein Armband.

«Das tut man nicht, Louise! Nein, sie will das nicht», hatte Cara geflüstert.

«Ich bin die Schönste», antwortete die Schwester, ohne auf sie einzugehen.

«Das ist nicht wahr!»

Auch Cara sprang auf den Tisch, sie stürzte sich auf Louise.

«Mama will das nicht!»

Sie versuchte, ihr das Ding aus der Pfote zu winden, doch Louise zappelte und biss.

«Hör auf! Lass mich!»

Ich und Leroy ahnten es ziemlich schnell. In wenigen Augenblicken schlüpften wir fort vom Tisch und in die entgegengesetzte Ecke.

«Das ist nicht deins!»

«Lass mich!»

Sie ließen es fallen. Mit einem harten Knall zersprang es in vier Teile. Aus der Tiefe des Bettes beobachtete unsere Mutter das Geschehen. Die beiden Schwestern blieben, wo sie waren, während sie sich erhob und nachsehen ging, was davon übrig geblieben war. Sie hob die Scherben auf und betrachtete sie.

«Mama», murmelte Cara.

Sie war schnell und präzise. Mit einem Pfotenhieb traf sie die Schnauze unserer Schwester, sodass sie vom Tisch fiel. Louise fuhr zusammen und begann zu zittern, ohne ein Wort zu sagen. Mein Herz schlug schnell. Leroy spürte auf seinem Fell etwas Weiches, und er nahm es in die Pfote, um zu sehen, was es war.

Während Cara zu weinen begann, betrachteten wir diesen seltsamen weiß-roten Klumpen, und uns wurde klar, dass es sich um ein Stück Auge handelte. Unsere Schwester hielt sich den Kopf mit einer Pfote, um den Schmerz zu unterdrücken, Blut lief ihr über das Gesicht. Leroy ließ das Stück Auge zu Boden fallen. Einen Augenblick lang hatte ich geglaubt, er würde es essen.

Unsere Mutter warf die Scherben auf den Tisch, neben Louise, die sich jetzt so klein wie möglich zusammengekauert hatte, um sich zu schützen.

«Ihr Miserablen!», sagte sie, ohne einen von uns anzusehen, dann ging sie hinaus in die eiskalte Nacht.

Am Morgen darauf hörte ich sie zurückkommen. Sie setzte sich in die Küche und starrte ins Leere. Im Licht wirkte sie noch magerer. Leise schlüpfte ich aus dem Bett, die anderen schliefen.

«Mama?»

Sie drehte sich um. Langsam, vielleicht hatte sie mich schon gehört. Es sah aus, als würde sie durch mich hindurchsehen.

«Bist du traurig wegen Papa?», fragte ich.

Sie antwortete nicht. Sie antwortete nie.

IIDer Rabe, das Nest

Zum Ende des Frühlings verließen wir den Bau. Der Wind war kühl und noch schneidend, zerzauste uns das Fell. Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich die Nase nach draußen steckte, an die Explosion von Düften und Essenzen, die meine Sinne berauschten. Wir wohnten unter einem Felsen im Schutz zweier Bäume. Morgens war es schattig, abends wurde die Höhle vom Licht der untergehenden Sonne gestreift. Unsere Mutter gab uns nur vier Hinweise.

«Rechts und hinter euch liegt der Wald. Links die Drei Ströme. Vor euch die Felder von Zò. Macht keine Dummheiten.»

Sie ließ uns nicht mit sich gehen. Sie bemerkte sofort, wenn jemand ihr folgte, und scheuchte ihn fort. Leroy war deswegen sehr sauer. Er begann für sich zu bleiben, alleine umherzustreifen.

Da Otis nicht sehr lange draußen bleiben konnte, und Cara, nachdem sie auf einem Auge blind geworden war, all ihre Lustigkeit eingebüßt hatte, verbrachte ich viel Zeit mit Louise. Wir spielten Fangen.

«Du kriegst mich nicht, Archy.»

Sie entkam immer. Sie schlängelte sich in die Büsche und versteckte sich dort. Wenn ich sie fing, kämpften wir, bissen uns, bis es zwickte. Wir streiften zusammen um die Höhle herum, ohne allzu weit fortzugehen. Außer einer Igelfamilie viel weiter östlich hatten wir keine Nachbarn. Wir sahen sie nur einmal aus der Ferne, wie sie in ihren Bau zurückkehrten. Sie wohnten im Stamm eines toten Baumes.

«Bin ich schön, Archy?»

Louise fragte mich das immer. Vor allem, wenn wir gerade nichts taten und schwiegen.

Ich sagte Ja.

«Wie schön?»

«Sehr schön.»

«Schöner als Cara?»

«Ja.»

«Auch schöner als Mama?»

«Ja.»

Sie glättete sich das Fell, dann sah sie immer in die andere Richtung, in die Ferne. Irgendwann begann ich auch daran zu glauben. Vielleicht weil meine Instinkte erwachten oder weil ich mich dadurch, dass ich immer mit Ja antwortete, schließlich selbst überzeugte, dass sie schön war. Tatsache ist, dass sich Louise allmählich von meiner Schwester zum unwiderstehlichen Mysterium wandelte.

«Bin ich schön, Archy?»

«Wunderschön.»

«Danke.»

Wie sehr wünschte ich, dass dieser Blick in die Ferne, nachdem sie sich das Fell geglättet hatte, auf mich fiele. Bei unseren Verfolgungsspielen spürte ich sie an ihrem Geruch auf, und bei unseren Kämpfen kauerte ich mich auf sie, erwiderte ihre Bisse.

Im Bett, gegen den rauen Rücken Leroys gelehnt, fragte ich mich, was diese Veränderung bedeutete. Ich dachte darüber nach, warum ich so ungestüm bei ihr war und so schwach, abwesend kurz vor dem Einschlafen.

 

Der Frühling tat allen gut. Unsere Mutter brachte häufig etwas Essbares mit, und so quälte uns der Hunger nicht mehr. Manchmal kam sie mit kleinen Mäusen, andere Male mit Beeren oder Früchten. Sie wirkte nicht mehr so mager, ihr Fell hatte wieder Glanz.

«Still», sagte sie noch immer, wenn wir sie störten.

Mit dem Verstreichen der Tage waren wir ziemlich gewachsen; unsere Gesichtszüge um die Schnauze waren definierter, einige begannen, die ersten Milchzähne zu verlieren, unser Fell bekam Farbe. Während diese Entwicklung den Großteil von uns überraschte, sah es für einen von uns ganz anders aus. Unser Bruder Otis war mickrig geblieben, seine Pfoten trugen ihn nicht. Es gelang ihm kaum, hoch aufs Bett zu springen, er konnte nicht alleine fortgehen. Niemand kümmerte sich um ihn, er lebte, um unsichtbar zu sein, im Schatten unserer Existenz. Zur Essenszeit sahen wir alle auf seinen Teller.

«Ich werde sterben, weil ich nicht wachse», sagte er eines Abends beim Essen.

Wir hielten einen Augenblick inne, auch unsere Mutter.

«Wer hat dir das gesagt?», fragte sie.

«Niemand. Ich weiß es. Du hast mich nicht großgezogen, Mama.»

Zwei Tränen liefen ihm über die hagere Schnauze.

«Das ist wahr», sagte sie. Dann aß sie weiter und wir auch. Doch niemand nahm ihm den Teller weg.

 

Eines Tages kam Leroy mit einem Raben zurück. Er hatte ihn in der Nähe der Ströme gejagt, wie er es seit Wochen versuchte. Der Rabe war schön und hatte einen Flügel verloren, die Federn waren von Bisswunden zerfetzt, der Schnabel stand offen. Unser Bruder ging wortlos an uns vorbei und betrat die Höhle. Er setzte sich an den Tisch und legte die Beute darauf. Mit noch stockendem Atem, gespannten Muskeln, der Schnauze voll Blut und dem wachen Blick des Jägers. Er wartete, ohne unsere Fragen zu beantworten, ohne dass wir uns dem Vogel nähern durften.

Vielleicht weil wir nichts zu tun hatten, vielleicht wegen der Außergewöhnlichkeit der Situation, begannen auch wir zu warten, in gebührender Entfernung.

Ich erinnere mich an die Szene wie an ein schönes Erlebnis. Wir alle verteilt in der Höhle, die wir Leroy und den Raben beobachten, reglos wie er, der geradeaus starrt.

Unsere Mutter kam nach Sonnenuntergang zurück, mit einigen Beeren zum Essen. Als sie ihn sah, gleich nachdem sie die Höhle betreten hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie sahen sich an, ohne ein Wort.

«Was ist das?», fragte sie.

«Das Abendessen.»

Unsere Mutter legte die Beeren auf den Tisch.

«Dein Abendessen, meinst du wohl.»

Dann nahm sie den Raben, biss ihm den Kopf ab und begann zu kochen.

Zuzusehen, wie Leroy dieses Fleisch aß, rührte etwas in meinem Inneren auf. Mein Gefühl war anders als der Neid der anderen. Ich versuchte zu verstehen, was es war, das meinen Bruder stark machte, stärker als mich. Ich fühlte mich dumm. Im Bett kam mir sein Rücken wie ein Berg vor, und ich träumte die ganze Nacht davon, verfolgt zu werden.

 

Unsere Mutter begann, Leroy mit sich zu nehmen. Sie standen früh auf, und ich sah, wie sie schweigend loszogen, nach einem kleinen Frühstück. Sie sprachen kein Wort; aßen einen Bissen und tranken Wasser, ohne etwas zu sagen. Sie kamen mit mehr Futter zurück, es gab häufiger etwas zu essen. Es kam vor, dass sie etwas bei Fëdor, dem Pfandleiher, eintauschten, wenn sie auf der Jagd etwas Wertvolles fanden. Fëdor markierte alles, was er herausgab, mit einem kleinen farbigen Fleck, so war es mir wenigstens erzählt worden.

Zu sehen, wie Leroy erwachsen wurde, machte mir Angst. Bald begann auch ich, die Einsamkeit zu suchen, um mich zu beweisen. Louise verstand das nicht.

«Wohin gehst du, Archy?»

«Zu den Drei Strömen.»

«Warum?»

Ich entfernte mich ohne weitere Erklärungen. Sie versuchte nicht, mir zu folgen, wenn ich keine Antwort gab. Sie zu ignorieren, tat mir weh, doch meine Angst überstieg meinen Wunsch, bei ihr zu sein.

Die ersten Male versteckte ich mich bei den Drei Strömen in einem Busch und wartete. Hoch oben in den Bäumen kamen einige Vögel vorbei, am Wasser ein Nutria, einmal ein Dachs.

Jeden Tag harrte ich ein wenig länger aus, bis in die tiefe Nacht hinein. Meine Mutter sagte nie etwas, wenn ich spät nach Hause kam. Wie sehr wünschte ich, ich könnte etwas mitbringen.

Cara, mit ihrem einen Auge, war immer am Fenster. Beim Nachhausekommen sah ich ihre klar umrissene Silhouette in der Nacht, verloren in trübsinnigen Gedanken.

Ich fand ein Rotkehlchennest in einer sterbenden Eiche, wo die Sonne wenig hinschien. Als ich es entdeckte, wirkte es verlassen. Tags darauf sah ich, wie eine Vogelmama dicht daran vorbeiflog, und als sie sicher glaubte, dass niemand in der Nähe war, flog sie hinein. Nach ihr kam der Vater, dann flogen beide wieder fort, jeder für sich. Sie kamen weitere Male zurück und flogen wiederum davon.

Ich träumte lebhaft, dass ich mich in einem Netz verfing. Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Gefühl, gar nicht geschlafen zu haben, und verließ die Höhle ohne einen Laut, kurz nach unserer Mutter und Leroy. Der Himmel benetzte den Wald mit einem Sprühregen, den der Wind mit sich trug. Er machte kein Geräusch auf den Blättern, doch er durchnässte in kürzester Zeit mein Fell. Ich lief schnell durch die Bäume, ohne um mich zu blicken, das Herz trieb mich zur Eiche, ungeduldig und kopflos suchte ich die Wipfel ihrer Zweige ab.

Da war das Nest, im Halbdunkel. Die beiden Vögel standen zusammengekauert beisammen, als Schutz vor dem Wasser, und schienen zu schlafen. Ich versteckte mich unter ihnen und begann zu warten. Nach einiger Zeit hörte ich sie reden. Der Regen war so leicht, dass er ihr Flüstern nicht übertönte, und so verstand ich, dass sie diskutierten. Das Weibchen war besser zu hören als der andere, sie wirkte besorgt, rückte näher an ihn heran. Ich glaubte, sie hätte mich bemerkt, und ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich wurde stocksteif und hörte auf zu atmen, versuchte zu verstehen, ob das wahr sein konnte, ob ich bereits entdeckt worden war. Schließlich schlug er mit den Flügeln und rückte ein wenig zur Seite, noch dichter an sie heran, ohne etwas zu sagen. Jetzt schienen sie wieder zu schlafen.

Ich wartete noch eine Weile. Ich zerquetschte eine Spinne, die auf meinen Kopf klettern wollte, so leise wie möglich, um dann sofort wieder den Blick zu heben. Ich dachte an nichts; mein ganzes Sein war auf das Bild konzentriert, das ich vor Augen hatte, das dunkle Knäuel auf den trockenen Zweigen, die zwei vereinten Vögel. Ich war regloser Teil der Welt, die mich umgab, ähnlicher einem Baum als einem Tier, perfekt eingepasst in seinen Platz, wartend.

Es hörte auf zu regnen. Die Vögel zwitscherten aufgeregt und schüttelten die kleinen Köpfe. Sie sagte wieder etwas zu ihm, er schlug mit den Flügeln, um das Wasser abzuschütteln. Sie berührten sich zärtlich, pickten sich mit den Schnäbeln, dann flog er davon.

Sie schüttelte die Federn, hüpfte auf den Rand des Nests und umkreiste den Baum ein, zwei, drei Mal. Ich hielt erneut den Atem an, als sie schnell über meinen Kopf hinwegglitt. Nach der dritten Runde entfernte auch sie sich.

Ich schnellte sofort los an den Fuß der Eiche, mit einem Satz vergrub ich mich in das Holz und kletterte nach oben, die Krallen im Stamm. Der Boden entfernte sich mit jedem vertikalen Sprung, die Rinde blieb mir an den Pfoten hängen, ich kam schnell voran, mein Fell vollständig gesträubt. Als ich die Spitze des Baumstamms erreicht hatte, lief ich über einen gebogenen Ast, dann weiter nach oben, über einen nackten, verdrehten Zweig. Ich spürte keine Anstrengung, auch nicht meinen flachen, regelmäßigen Atem oder den Schmerz der am Holz aufgeschürften Pfoten; ich war nur das, was ich sah, und das, was ich tat, das Tier in seinem tiefsten Geist, seinem ureigensten Instinkt.

Kracks.

Ich blieb stehen. Die Hälfte des Zweigs, auf dem ich stand, begann zu schaukeln, und ich mit ihm. Sanft schwingend, mit einem schrecklichen Gefühl im Körper, suchte ich das Nest mit dem Blick.

Es war nah, aus geflochtenen Strohhalmen gemacht, vom Boden aus hatte ich es nicht deutlich sehen können. Meine Pfoten waren jetzt unsicher, und ein kleines Frösteln nistete sich in meiner Rückseite ein. Jeder wackelige Schritt ließ mich das Gleichgewicht verlieren; ich ging weiter, streckte mich dann nach einem weiteren Zweig. Ich umklammerte ihn mit den Vorderpfoten und sprang mit den Hinterbeinen ab. Am Ende dieser letzten hängenden Brücke lag das Nest. Ich bemerkte nicht den fantastischen Ausblick, der sich mir bot, dieses Stück Welt, das nur sieht, wer fliegen kann; noch jetzt bereue ich das. Stattdessen schaute ich in die Höhle der beiden Vögel, und das Wunder, das sich mir darbot, waren drei bläuliche Eier.

Ich betrachtete sie einen langen Augenblick, noch immer keuchend. Meine Augen leuchteten vor Freude, und zum ersten Mal dachte ich an etwas: die Rückkehr zu meiner Mutter.

Ich nahm eines und betrachtete es. Es war warm.

Leroy hatte einen Raben gejagt, ich drei Rotkehlcheneier. Ich war erwachsen.

Kracks.

Ich wankte nicht, ich fiel sofort. Als mir klar wurde, wo ich mich befand, hatte ich noch immer das Ei vor mir. Ich ließ es los, um mich zu drehen, die Augen zur einen und zur anderen Seite wendend, doch es half nichts.

Ich schlug mit dem Rücken gegen einen Ast, dann gegen einen weiteren, wobei er glatt durchbrach; ich setzte meinen schnellen Abstieg bis zum Boden fort, es gelang mir, mich auf die Füße zu drehen, und schließlich endete ich am Boden zerquetscht, buchstäblich.

Mir entfuhr ein Schmerzensschrei, auf der Zunge spürte ich den herben Geschmack von Blut. Mein Magen zog sich zusammen und wallte auf, ließ mich husten, während ich gleichzeitig nach Luft schnappte, die Augen voller Tränen. Das Erste, was der Schreck mir eingab, war aufzustehen und fortzulaufen, doch ich versuchte nur zwei Schritte, bis ich erneut zu Boden sackte. Ein Stechen im rechten Bein verbot mir, weiterzugehen, der Schmerz vernebelte meine Sinne; ich blieb, wo ich war, ohne einen Laut.

Neben mir, in einer gelben Pfütze, lag das blaue Ei, das zuvor meine Trophäe gewesen war. Gleich darauf stürzte mit einem leisen Knall das ganze Nest auf mich herab. Angesichts dieser Verwüstung fühlte ich mich wie ein Dummkopf; es war dasselbe Gefühl, das ich gehabt hatte, als ich Leroy den Raben essen sah.

Ich erinnerte mich jedoch auch an die beiden Vögel, und plötzlich hatte ich es sehr eilig. Ich stand auf, doch ich konnte kein Gewicht auf die rechte Pfote setzen. Ich versuchte einige Schritte, und ich fand heraus, wie ich mich ohne allzu große Schmerzen bewegen konnte.

Der Regen kam stärker und schwerer zurück, als ich bereits weit entfernt war. Ein lauter Donner ließ mich innehalten. Plötzlich versetzte mein Geist mich zurück auf die Eiche, zu dem verlorenen Nest, zu den zwei wehklagenden Vögeln. Als das Geräusch verklungen war, hinkte ich weiter durch den Wald.

 

«Was ist?»

«Nichts.»

«Was hast du gemacht?»

«Ich bin gefallen. Von einem Baum.»

Meine Geschwister sahen zu, wie meine Mutter meine Pfote drückte. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, denn sie drückte fest.

«Idiot. Dreckskerl.»

«Ich habe Eier entdeckt.»

Sie ließ mich los und drehte sich von mir weg, Richtung Küche. Die anderen setzten sich an den Tisch.

«Wenn du dir etwas gebrochen hast, wird es dir schlecht ergehen. Einen Arzt rufe ich nicht.»

Sie aßen, ich saß in einer Ecke, an die Mauer gedrückt. An meinem Platz stand kein Teller. Der Einzige, der ein paar Mal in meine Richtung sah, war Otis. Draußen regnete es weiter, auch im Dunklen, es war ein großes Getöse.

Alles tat mir weh, und ich weinte alleine.

 

Nach zwei Wochen war ich wieder gesund. Die Rückenschmerzen waren verschwunden, das Pochen in der Pfote dagegen blieb wie ein Fluch; wenn ich rannte, kehrte der stechende Schmerz zurück, und sobald ich zu viel Gewicht darauf stützte, beschwerte sie sich. Es fiel mir nicht leicht, anzuerkennen, dass ich nun hinkte, und mich überkam eine Scham, nutzlos zu sein. In der Zeit meiner Genesung verbrachte ich die Tage im Bett, zusammen mit Otis und Cara, die nichts anderes taten als sich gehen zu lassen. Ich dachte an meine Unvorsichtigkeit, an die Rotkehlcheneier, an die Revanchepläne, die ich nun weit von mir schieben musste. Ich weinte viel.

«Archy, tut es weh?», fragte mich Otis.

«Nein. Ich muss sterben», antwortete ich ihm.

«Wenn du sterben musst, was ist dann mit mir?»

Er kletterte schwerfällig aufs Bett, dann begann er, mich zu beobachten oder Cara. Ich ignorierte ihn, vielleicht sogar mit einem leichten Hass. Jetzt hatte ich mehr mit ihm gemeinsam als mit Leroy. Mein Bruder, der rachitische, der schlecht genährte, dem ein kurzes Leben beschieden war, hatte begonnen, mit mir zu sprechen.

Sobald es mir möglich war, verließ ich die Höhle. Nicht weit entfernt traf ich auf Louise.

«Archy, hast du Lust zu spielen?»

Es gelang mir nicht, mit ihr Schritt zu halten, ich verlor sie aus dem Blick. Louise lief eine Runde durch die Bäume und blieb stehen, dann sauste sie von Neuem los. Als die Schmerzen zu stark wurden, legte ich mich an einen Bach. Ein Frosch war eilig ins Wasser gesprungen und zum anderen Ufer geschwommen, von dort betrachtete er mich faul.

«Weinst du, Archy?»

Da war Louise. Sie hatte sich neben mich gesetzt, noch immer keuchend.

«Ja, ich kann nicht mehr rennen.» Das Plätschern des Baches war eine lange Weile das einzige Geräusch, ich weinte weiter, und meine Schwester hatte den Frosch bemerkt. Plötzlich sprang sie mich an und biss mir ins Ohr. Ich drehte mich auf den Rücken und biss zurück, eine unserer üblichen Raufereien. Wir verwickelten uns ungestüm ineinander, dann verlangsamten wir, hörten auf, uns zu schlagen; das Spiel hatte sich in eine zärtliche Bewegung unserer Körper verwandelt, in der ich sie mit geschlossenen Augen streichelte, einen Kloß im Hals. Louise schien es ähnlich zu gehen. Sie atmete laut, und ihr Blick war vernebelt.

Sie drehte mir den Rücken zu, ließ mich näher kommen. Ich stieg auf sie, atemlos, und sie drückte sich gegen mich.

Ich spürte, wie der Kloß sich auflöste; die Welt wurde augenblicklich klein, zog sich um mich zusammen in einem heißen Rausch. Meine Schwester stieß einen Schmerzensschrei aus, doch sie bewegte sich nicht. Erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich in sie eingedrungen war.

«Archy, Archy …», rief sie mir zu. «Bin ich schön, Archy?»

Ich sagte Ja, aber vielleicht hörte sie mich nicht einmal.

 

Louise und ich taten diese Sache jeden Tag, am selben Ort. Sie wartete auf mich am Bach, und ich kam hinkend herbei. Nachts tat ich nichts anderes, als an sie zu denken, zwei Leiber weiter links im Bett, tief schlafend. Mein Unglück hatte ich im Nu vergessen, nicht einmal der verächtliche Blick unserer Mutter machte mir noch etwas aus.

«Vielleicht sollten wir lieber abhauen», sagte ich zu Louise, wenn sie neben mir lag.

«Warum?»

«Ich weiß nicht. Dann sind wir alleine, für immer.»

Sie hörte nie auf mich.

«Bei unserer Mutter gibt es zu essen. Und ich fühle mich wohl.»

Wir sprachen wenig. Um wieder Energie zu tanken, lagen wir ausgestreckt auf den Steinen am Bach, mit geschlossenen Augen, oder wir betrachteten den dunkel werdenden Himmel. Wenn wir so weit waren, fingen wir von Neuem an, dann gingen wir nach Hause.

Ich träumte davon, mit ihr fortzugehen, deshalb bat ich sie ab und zu darum. In meinen Träumen durchquerten wir den Wald und gingen wer weiß wohin, glücklich. Wenn Louise etwas über das Essen sagte, fiel ich aus allen Wolken, denn in meiner Fantasie sah ich uns nie essen, nur rennen und alles hinter uns lassen. Tatsächlich wäre es mehr als notwendig, für Nahrung zu sorgen, würden wir fortgehen, und in meinem Zustand konnte ich ihr nichts bieten.

«Es ist die Jahreszeit der Liebe», sagte sie und spiegelte sich im Wasser. «Ich liebe dich, Archy.»

IIIAnderthalb Hühnchen

Eines Tages weckte mich meine Mutter früh am Morgen. Leroy, der bereits am Küchentisch saß, aß Beeren, und sie gab einige davon auch mir.

«Mama …»

«Iss und sei still.»

Leroy musterte mich gebieterisch. Er hatte mit keinem von uns gesprochen, seit er bewiesen hatte, dass er erwachsen war. Schweigend verließen wir die Höhle. Mich überfiel die Furcht, sie hätten beschlossen, mich umzubringen, weil ein Hinkender nichts weiter war als eine Last; gleich würden sich die beiden auf mich stürzen und morgen zum Essen servieren.

«Mama …»

«Komm mit. Und hör auf zu reden.»

Wir gingen tiefer in den Wald, vorbei an den Drei Strömen. Es gelang mir nicht, mit ihnen Schritt zu halten, und so musste mein Bruder auf mich warten.

«Wohin gehen wir, Leroy?»

Er setzte seinen Weg fort.

Als mir klar wurde, dass wir uns zu weit entfernten, dachte ich nicht mehr, sie würden mich umbringen. Um meine Angst zu vertreiben, stellte ich mir vor, sie brächten mich zum Arzt; sie ließen mich behandeln, und danach wäre ich wieder wie neu. Unsere Mutter wartete am Anfang einer Wiese zwischen den Bäumen, kurz bevor das Gras höher wurde, und wir betraten sie alle zusammen. In der Mitte der Wiese war ein Hügel, darauf ein großer Felsen, zu dessen Füßen zwei kleine, in den Boden gegrabene Fenster. Unsere Mutter klopfte an, jemand sah sie und kam, um uns die Tür zu öffnen. Wir betraten einen großen, dunklen Raum voller Säcke mit Lebensmitteln. Es roch süßlich. In einer Ecke, nahe dem Fenster, wo unsere Mutter geklopft hatte, saß ein alter Fuchs, im Schein einer kleinen Lampe. Wir blieben wenige Schritte vor ihm stehen.

«Ist er das, Annette?», fragte der Fuchs, auf mich deutend.

Mich überlief ein Schauer. Zum ersten Mal hörte ich jemanden den Namen meiner Mutter sagen.

«Ja», antwortete sie.

«Er wirkt gesund.»

«Er hinkt. Kann nicht rennen. Ich kann ihn nicht mehr gebrauchen.»

Der alte Fuchs lachte.

«Aber ich schon?»

«Er kann arbeiten. Du bist alt, und jemand Besseren wirst du nicht finden.»

Ich sah meine Mutter an, sah ihr direkt in die dunklen Augen.

«Ist das der Doktor?»

Sie gab mir eine Ohrfeige. Ich hielt die Luft an und zog den Kopf ein, ohne ein weiteres Wort. Leroy beobachtete uns ohne eine Regung.

«Ein Huhn, Annette, mehr gebe ich dir nicht.»

«Anderthalb Hühner, wie ausgemacht.»

Der alte Fuchs erhob sich.

«Einverstanden. Aber das halbe erst in einem Monat. Und nur, wenn er so arbeitet, wie du behauptest.»

Unsere Mutter antwortete nicht. Der alte Fuchs betrat einen weiteren Raum und kam mit einem enthaupteten Huhn zurück. An einem der Schenkel hatte es einen farbigen Fleck, den ich kannte, er war von Fëdor, dem Pfandleiher. Sie verkaufte mich an ihn für anderthalb Hühner. Sie wandte sich ab, um zur Tür zu gehen, doch ich klammerte mich an sie.

«Mama!»

Sie schubste mich weg, das Huhn fiel zu Boden.

«Heul nicht, Dreckskerl!», sagte sie; doch ich weinte bereits, und mein Atem ging stockend. Sie hob das Huhn auf und ging zur Tür.

«Leroy!»

Mein Bruder beachtete mich nicht.

«Mama! Mama! Entschuldige, Mama!»

Ich dachte an das Nest, an den Baum, diesen Donnerschlag.

«Genug, Schwachkopf!»

Der alte Fuchs packte mich am Genick und hob mich in die Luft. Ich strampelte, schrie wie ein Verrückter, er schlug mich. Wir durchquerten einen weiteren Raum, und er öffnete eine kleine Tür, die ins Schwarze führte.

«Beruhige dich, dann reden wir weiter», sagte er, und ich schrie.

Er scheuchte mich hinein ins Dunkel und schloss die Tür. Der Raum war winzig, beim Versuch zu fliehen stieß ich sofort gegen Wände. Ich schrie, solange ich Kraft hatte, dann weinte ich nur noch, in mich zusammengekauert. So verloren, schwach und unsichtbar wie in diesem Moment habe ich mich nie wieder gefühlt.