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Eine Mutter kämpft: Was tun, wenn das eigene Kind computerspielsüchtig wird? Lennart ist zehn, als sich seine Leidenschaft für Onlinespiele wie »Fortnite« und »Brawl Stars« zur Sucht entwickelt – mit den psychischen und körperlichen Symptomen eines Junkies. Eindringlich schildert seine Mutter Ulrike Wolpers, wie ihre Familie in diese Situation hineinschlittert und bald einem übermächtigen Gegner gegenübersteht. Sie erzählt von Selbstzweifeln und Gefühlen der Machtlosigkeit, den Auswirkungen von Onlinegames und wie sie diesen erfolgreich den Kampf ansagt. Ihre Erkenntnisse hat die Wissenschaftsjournalistin in diesem Buch festgehalten. - Ehrlich und ungeschönt: Erfahrungsbericht einer Mutter im Kampf gegen die Computerspielsucht ihres Kindes - Ballerspiele, Ego-Shooter, Zocker-Games: Worin liegt die Verführungskraft von Computerspielen? - Internetfähige Smartphones und ihr hohes Suchtpotential bei Kindern - Computerspielsucht bei Kindern und Jugendlichen: Mit welchen Symptomen äußert sie sich? - Internetkonsum und Medienerziehung: Strategien für einen wirksamen Jugendmedienschutz - Mit einem Beitrag des Sohnes Medienkompetenz erwerben: Denkanstöße und Überlebenstipps für Eltern im digitalen Zeitalter Nach kaltem Entzug und monatelanger Therapie bekommt Ulrike Wolpers' Sohn seine Spielsucht in den Griff. Dabei helfen ihm das Verständnis, Mitgefühl und Vertrauen seiner Eltern und Geschwister, aber auch neue, im Familienrat aufgestellte Regeln für Onlinezeiten und Smartphone-Nutzung. Was können Eltern tun, um gar nicht erst in so eine Situation zu geraten? Ulrike Wolpers weiß: mit Handyentzug allein ist es nicht getan. In ihrem Buch entlarvt sie weitverbreitete Mythen zum Medienkonsum unserer Kinder und zeigt, was Eltern gewinnen, wenn sie sich Zeit für den Erwerb eigener Medienkompetenz nehmen. Ein alltagserprobter Elternratgeber für einen sicheren Umgang mit Onlinemedien.
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ULRIKE WOLPERS
Wie wir die Computerspielsucht unseres Sohnes überwanden
Über Vertrauen und Wege aus der Abhängigkeit
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage 2021
Copyright © 2021 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
Agentur Ulrike Wolpers: Käfferlein & Köhne GmbH & Co. KG
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Minion Pro, VistaSansAlt
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagmotiv: © imageBROKER.com/Helmut Meyer zur Capellen
ISBN: 978-3-7109-0125-6
eISBN: 978-3-7109-5127-5
Vorwort
TEIL 1
Ein schlimmer Verdacht
TEIL 2
Diagnose Computerspielsucht
TEIL 3
Kalter Entzug
TEIL 4
Die Therapie
TEIL 5
Vertrauen – Erfolge, Rückschläge und neue Erkenntnisse
TEIL 6
Auf dem Fahrersitz – mein Weg zur Digital Mum
Dank
Nachwort
von Dipl. Psych. Marc Körner-Nitsche
Literatur
Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, einmal ein Buch über die Computerspielsucht meines eigenen Kindes zu schreiben – freiwillig und aus eigener Erfahrung heraus!
»Nicht mein Thema!«, hätte ich als Wissenschaftsjournalistin und dreifache Mutter noch vor zwei Jahren dankend abgelehnt. Bis dahin hatte unsere Familie alles gut im Griff, und unsere Kinder – vor allem unsere beiden Teenie-Töchter Sophie und Franzi – waren ohne große Einschränkungen »unfallfrei« im Internet unterwegs.
Doch bei dieser Geschichte führte das Leben Regie.
Wir ahnten nichts Böses, als wir unserem Jüngsten, Lennart, zum zehnten Geburtstag ein internetfähiges Smartphone schenkten. Und doch schaltete dieses Geschenk unser Leben auf »Schleudergang«.
Innerhalb weniger Wochen hatte sich der Fünftklässler manipulieren lassen von einem bunten, harmlos wirkenden Computerspiel und war abhängig geworden.
Unser Familienleben wurde zum Albtraum. Fassungslos fragten wir uns: Warum hatte es uns – als nicht gänzlich unerfahrene Eltern – so kalt erwischt?
Die darauf folgende Suchttherapie verlangte uns als Familie alles ab. Tagsüber und abends bis tief in die Nacht, wenn ich mich auf Spurensuche begab.
Die Therapie unseres Sohnes und meine Recherchen gaben neue Denkanstöße, entlarvten Eltern- und Internet-Mythen und führten zu überraschenden Erkenntnissen und Überlebenstipps für Eltern im digitalen Zeitalter.
Das Thema »Computerspielsucht bei Kindern und Jugendlichen« geht alle etwas an und berührt sämtliche Lebensbereiche – von Erziehung, Bildung, Gesundheit und Forschung bis hin zu Wirtschaft, Politik und Medien. Das Thema ist so vielschichtig und teils widersprüchlich, dass ich begann, die Ergebnisse und Erkenntnisse meiner Recherche aufzuschreiben, um meine Gedanken zu sortieren und Klarheit zu gewinnen.
Eine der ergiebigsten Quellen für die Wahrheitsfindung war unser Sohn Lennart selbst. Ihm war klar: Es lag an den Eltern, wenn es Stress beim Zocken gab. Und damit hatte er nicht unrecht. Er war derjenige, der seine Stimme und seine selbstbewusste Haltung zu seiner Computerspielsucht als Erster fand: »Kinder sollen zocken dürfen – ohne Stress und ohne Sucht.« Wie das funktionierte, sollten ruhig alle wissen und lesen können.
Lennart, der in Wirklichkeit anders heißt, hatte nicht nur die Stärke, die Geschichte seiner Sucht öffentlich zu machen, er schrieb auch selbst mit an diesem Buch. Auf eigenen Wunsch, was unser Therapeut ausdrücklich begrüßte.
So persönlich und individuell unsere Geschichte ist, sie ist kein Einzelfall. Eine dreiviertel Million Kinder und Jugendlicher in Deutschland ist aktuell betroffen, Tendenz: steigend.
In diesem Buch erzähle ich davon, wie wir es geschafft haben, die Computerspielsucht unseres Sohnes zu überwinden und Frieden zu schließen mit einem der unbeliebtesten Elternthemen überhaupt: der »digitalen Medienerziehung«. Ich erzähle, wie Verständnis, Mitgefühl und Vertrauen aus der Abhängigkeit herausführen können, zu mehr Stärke und Zufriedenheit bei allen Familienmitgliedern: Eltern wie Kindern. Vor allem aber gebe ich denjenigen eine Stimme, die am stärksten leiden, wenn im Umfeld gute Jugendmedienschutz-Strategien fehlen: unseren Kindern.
Ulrike Wolpers,
im Februar 2021
Es waren nur wenige Wochen im Frühling 2019, in denen wir nicht so genau verfolgt hatten, welches neue Computerspiel gerade »in« war in der fünften Klasse unseres Sohnes Lennart.
Als er freitagabends lieber mit seinen Klassenkameraden online das neue angesagte Game Brawl Stars zocken wollte, anstatt mit uns Eltern und seinen großen Schwestern Sophie und Franzi Siedler von Catan zu spielen, dachten wir uns nichts Schlimmes. Doch waren dies die Vorboten. Unsere Talfahrt hatte bereits begonnen. Und sie wurde Woche für Woche, von einem Zocken zum nächsten schlimmer, bis wir alle ins Bodenlose stürzten.
Wenige Wochen später fanden wir uns in einem absoluten Elternalbtraum wieder: Unser zehnjähriger Sohn hatte freiwillig und mit leuchtenden Augen die Kontrolle an ein manipulatives Computerspiel abgegeben, das harmloser nicht wirken könnte.
Mein Mann, Sophie und Franzi, ich selbst, der Hund – alle rückten in den Hintergrund. Alles schien sich nur noch um Lennarts Onlinezugang zu Brawl Stars und seine Zockzeiten zu drehen, von Montag bis Sonntag, von morgens bis abends.
Im Rückblick reiben wir uns noch immer verwundert die Augen, wie rasant unser drittes Kind die Kontrolle verlor und abhängig wurde. Anderthalb Jahre und eine herausfordernde Therapie später sind wir mit einem gehörigen Schrecken davongekommen. Aber wir sind gewarnt und wachsam, denn eine Sucht vergisst nicht.
Wir wissen jetzt, wie wir virtuelle Abenteuer unserer Kinder begleiten und digitale Teufelskreise vermeiden oder unterbrechen können. Indem wir uns jeden Tag Zeit nehmen und in Ruhe hinschauen, wo und wie Lennart im Internet unterwegs ist.
So wie uns im Sommer 2019 ergeht es vielen Eltern Tag für Tag. Wer weiß schon, was unsere Kinder im Schulbus, bei ihren Freunden oder in ihren Zimmern auf YouTube anschauen? Ahnen wir, wie es ihnen geht, wenn sie nachmittags oder abends völlig vertieft im Internet surfen, chatten, streamen oder gamen?
Nein. Wir Eltern sind zwar in ihrer Nähe, aber wir haben keine Ahnung. Wir sitzen auf dem Sofa oder im Auto neben ihnen, wenn sie auf ihr Handy starren. Wir respektieren ihr Recht auf Privatsphäre und verlassen uns auf unser Gefühl und unsere Erfahrung, dass schon alles in Ordnung ist, ohne genau zu wissen, wie es um die Medienkompetenz unserer Kinder bestellt ist.
Wir Eltern lassen uns von unserer Lebenserfahrung leiten, um Risiken in einer uns nicht vertrauten Welt abzuschätzen. Ein Denkfehler macht dabei vielen im digitalen Zeitalter einen Strich durch die Rechnung. Denn auf welche Lebenserfahrungen berufen wir uns hier eigentlich? Erfahrungen aus unserer Jugend, in der es noch kein Internet gab?
Woher wollen wir wissen, wie TikTok, YouTube und YouPorn auf ein heranwachsendes Hirn wirken? Unsere Hirne waren längst erwachsen, als das Internet »kam« und wir es zum ersten Mal erforschten. Was wir entdeckten, war ziemlich langweilig und nicht zu vergleichen mit dem, was unsere Kinder heute zu Gesicht bekommen, wenn sie online sind.
Ich weiß bis heute nicht, ob Sophie, Franzi und Lennart zu den zwei Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland gehören, die in den sogenannten sozialen Medien bereits Opfer von Cybermobbing geworden sind. Sie streiten dies ab. Aber wer weiß, ob dies nicht nur Schutzbehauptungen den Eltern gegenüber sind?
Mehr und mehr Jugendliche und Kinder kommen im Internet in Kontakt mit Hassbotschaften oder werden fertiggemacht. Immer jünger sind die Opfer, wie eine Studie der Techniker Krankenkasse 2020 ergeben hat. 41 Prozent der Jugendlichen berichten von Beleidigungen, Beschimpfungen und anderen Bosheiten: Oft werden Lügen und Gerüchte verbreitet, Freundschaftsanfragen abgelehnt, unangenehme Fotos geteilt oder Fakeprofile erstellt.
Seit der Therapie passen wir besser auf und schauen genauer hin. Trotzdem haben mein Mann und ich auch dieses Jahr wieder erst Wochen verspätet mitbekommen, dass erneut Angst einflößende und gefährliche Kettenbriefe über WhatsApp, Instagram und TikTok ihren Weg in die Zimmer unserer Kinder fanden. Diesmal vom Account eines »Jonathan Galindo«, besser bekannt als Grusel-Goofy. Sein Profilbild zeigt eine gruselig geschminkte Mischung aus dem Disney-Klassiker Goofy und einem Gruselclown. Vor zwei Jahren hatte bereits Horror-Momo zu »Challenges« aufgefordert. Erst sollte in der Nacht ein Gruselfilm angeschaut werden. Später rief der virtuelle Kinderschreck zur Selbstverletzung auf. Und am Ende sogar zum Suizid. Begleitend zum Horror-Foto gab es eine Botschaft wie:
»Hallo ich bin Momo und bin vor 3 Jahren verstorben ich wurde von einem Auto angefahren und wenn du nicht möchtest das ich heute Abend um 00:00 Uhr in deinem Zimmer stehe und dir beim Schlafen zuschaue dann sende diese Nachricht an 15 Kontakte weiter.«
Rechtschreibfehler hin oder her: Momos Bild mit ihren langen schwarzen Strähnen, den aus dunkelsten Höhlen hervorquellenden Augen und dem verzerrten Mund war so gruselig, dass selbst mir ein Schauer über den Rücken lief. Wie erging es da erst Grundschülern, denen Momo in manipulierten Peppa-Wutz-Videos im Internet entgegenglotzte?
Trotz Grusel-Momo und Cybermobbing: Das Internet ist und bleibt der absolute Lieblingsort von Jugendlichen. Sie verzichteten in der Schule eher aufs Pausenbrot als auf ihr Smartphone, wie mir Lennart berichtete.
»Echt?«, fragte ich ihn erstaunt.
»Klar«, antwortete er, »Pausenbrot ist nicht so wichtig wie das Handy.« Schließlich kann man damit notfalls einen Pizza-Lieferdienst anrufen.
Kein Wunder also, dass 93 Prozent der Zwölf- bis Siebzehnjährigen ein eigenes Smartphone besitzen. Um Pizza in der Pause zu bestellen und vieles andere mehr. Für die meisten Zehnjährigen ist das Smartphone heute ein Muss. Die Quengelei nach einem Handy geht oft schon in der zweiten Klasse los.
Doch für die Handyanschaffung lautet die pädagogische Empfehlung der Initiative SCHAU HIN! Was Dein Kind mit Medien macht: Nicht vor dem neunten Geburtstag. Gemeint ist ein Handy OHNE Internetzugang.
Ein internetfähiges Smartphone empfiehlt sich erst, wenn das Kind die Gefahren des Internets kennt und weiß, wie es sich schützen kann. Diese Reife erreichen Kinder in der Regel frühestens mit zwölf Jahren.
Leider lasen wir diese Empfehlung erst, als wir bereits in die Spezialambulanz für computerspielsüchtige Kinder und Jugendliche eingecheckt hatten. Ein verhängnisvolles Versäumnis. Heute frage ich mich, wie es dazu kommen konnte.
Die Wahrheit ist: Wir fühlten uns damals keineswegs als Anfängereltern. Wir fühlten uns als Eltern wohl in unserer Haut – und sicher. Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass wir Hilfe bei der Medienerziehung benötigten. Unsere beiden Töchter Sophie und Franzi waren auch ohne die Lektüre von medienpädagogischen Ratgebern zu medienkompetenten jungen Frauen herangewachsen. Wie unsere Kinder unsere eigene Medienkompetenz einschätzten, ahnten wir nicht. Lennart verriet uns später:
Früher dachte ich immer, meine Eltern wissen alles oder können mir wenigstens jede Frage beantworten. Aber selbst mit Google finden sie nicht immer eine Lösung, wenn ich zum Beispiel die Einstellungen bei meinem Headset oder der Kamera ändern möchte, damit ich im Gruppenchat zu hören bin. Damit muss ich selbst klarkommen, das ist aber okay. So richtig ernst nehmen kann ich meine Eltern dann auch nicht, wenn sie mich warnen vor irgendwas im Internet, weil ich dann nicht weiß, ob sie es tatsächlich selber wirklich ganz genau wissen.
Alle drei Kinder haben im Sommer Geburtstag. Immer zum zehnten Geburtstag, beim Wechsel auf die rund acht Kilometer entfernte weiterführende Schule, überreichten wir unseren Kindern ihr erstes eigenes Handy – meist ein gebrauchtes Gerät von mir oder meinem Mann. Eine Art Notfallhandy für den Heimweg, den die drei Kinder zu unterschiedlichen Zeiten auf dem Fahrrad oder mit zwei verschiedenen Linienbussen antraten, erschien uns sinnvoll. Dies empfiehlt übrigens auch die Initiative SCHAU HIN.
Warum war 2013 und 2015 bei unseren ersten beiden Kindern alles glattgelaufen, aber nicht 2018 bei unserem dritten Kind?
Nach dem Super-GAU, den unsere Familie erlebt hat, haben wir uns auf Spurensuche begeben und nachgeforscht, wann und warum bei unserem Sohn der erste entscheidende Fehler passierte.
Wir blätterten in unseren Fotoalben und freuten uns an den Bildern von den zehnten Geburtstagen unserer ältesten Tochter Sophie und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Franzi. Wir erinnerten uns noch genau an die kleinen Geburtstagsfeiern frühmorgens vor der Schule, hatten den Duft des frischen Kuchens und der ausgepusteten roten Kerzen noch in der Nase.
An die technische Ausstattung der Handys, die die Mädchen glücklich in den Händen hielten, erinnerten wir uns hingegen nicht mehr und mussten nachfragen. Nein, ins Internet konnten unsere Töchter mit ihren ersten Handys nicht.
Als Lennart im Frühsommer 2018 die letzten Wochen seiner vierten Klasse absolvierte, gab es in unserem Alltag längst keine Handys ohne Internetzugang mehr.
Wieder stand ein zehnter Geburtstag bevor, und zum dritten Mal wickelte ich ein ausrangiertes, aber voll funktionstüchtiges Handy in buntes Geschenkpapier. Mein Mann und ich waren so in die Geburtstagsvorbereitungen vertieft, dass wir nicht eine Sekunde darüber nachdachten, dass diesmal etwas Entscheidendes anders war als bei den zehnten Geburtstagen unserer Töchter: 2018 hatte das Handy eine andere technische Ausstattung. Es war internetfähig.
Es sollte das schlechteste Geschenk sein, das wir jemals zu einem zehnten Geburtstag unserer Kinder überreicht hatten.
Das Foto vom Geburtstagsfrühstück im Sommer 2018 zeigt strahlende Gesichter, die ich mir heute nur mit Reue anschauen kann. Lenni, noch im Schlafanzug im Licht der Morgensonne und der Geburtstagskerzen, wie er stolz sein erstes Smartphone in die Kamera streckt, Sophie und Franzi recken die Daumen in die Höhe, mein Mann und ich lächeln. Ich erinnere mich noch gut: Wir dachten, Lennart sei nun mit dem Wechsel aufs Gymnasium aus dem Gröbsten raus. Dabei ging es gerade erst richtig los.
Völlig unnötig gaben wir Eltern in diesem Moment die Kontrolle ab. Ahnungslos lieferten wir unseren zehnjährigen Sohn ungeschützt dem Internet aus – samt seinen manipulativen Angeboten, gegen die Lennis kindliches Gehirn machtlos war.
Es dauerte keine drei Wochen, bis wir die Nutzungsregeln von Lennarts neuem Handy das erste Mal verschärften. Bis dahin hatte er sein Handy mit zur Schule nehmen dürfen, um notfalls erreichbar zu sein. Doch nur so lange, bis ich aus verlässlichen Quellen erfuhr, dass er heimlich und verbotenermaßen in der Pause am Handy hing. Übrigens nicht, um Pizza für seine Klasse zu bestellen.
Das Handy musste fortan zu Hause bleiben, doch Lenni schmuggelte es mit abenteuerlichen Tricks in den Schulranzen, um im Schulbus nicht einer der wenigen Loser zu sein, die kein Handy zum Rumdaddeln hatten.
Als Strafe entzogen wir ihm sein Handy. Für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat. Doch was immer wir taten, um die Mediennutzung einzuschränken: Es nützte nichts. Unser Alltag wurde immer angespannter.
Ein Jahr nachdem wir Lennart ein Smartphone geschenkt hatten, war er uns fremd geworden. Wir hatten den gerade mal Elfjährigen ans Internet verloren.
Natürlich hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass Lenni in eine andere, für ihn schönere Welt abdriftete und er immer stärker von den Glückshormonen abhängig wurde, die beim Zocken sein kindliches Gehirn durchfluteten. Es waren unauffällige Vorboten, die ich mit der Erfahrung von heute gänzlich anders einordnen würde.
Immer wieder überschritt er seine erlaubte Mediennutzungszeit, nahm heimlich ein Handy seiner Schwestern, wenn das eigene konfisziert war, versuchte Passwörter auszuspähen.
Im Sommer 2019 hatten wir alle Passwörter mehrmals geändert, Handys und Konsole in Tresoren weggeschlossen, In-App-Käufe auf dem Handy deaktiviert und die Betreiber des Computerspiels Brawl Stars angeschrieben, um die vom Sohn heimlich erworbenen Gold-Spielmünzen und virtuellen Juwelen wieder in richtiges Geld auf meinem Konto zu verwandeln.
Dabei fing alles harmlos an. 2010 amüsierten wir uns noch, wenn auch mit leichtem Unwohlsein, als unser zweijähriger Sohn vergebens versuchte, ein Bilderbuch umzublättern. Er hatte versucht, die Buchseiten des Grüffelo mit einer Wischbewegung nach links zu swipen. Eine Bewegung, die er sich offenbar bei uns oder seinen Schwestern am iPad abgeschaut hatte.
Als Fünfjähriger hielt er selbst das iPad auf dem Schoß, wischte eifrig mit dem linken Zeigefinger über den Bildschirm und bat um eine Verlängerung der Medienzeit. »Das ist gut für die Gelenke!«, beteuerte er. »Aber nicht gut für meine Nerven«, erwiderte ich.
Wenige Jahre später war es Lennart, der sich amüsierte. Ich hatte den Neunjährigen um 19:57 Uhr aus seinem Zimmer gerufen und ihm die Fernbedienung in die Hand gedrückt. Mühelos drückte der Drittklässler die richtigen Tasten und lotste mich in Sekunden vom Netflix-Account seiner zweitältesten Schwester Franzi ins lineare Fernsehprogramm der ARD zur Tagesschau.
Seit Kurzem hatten wir nur noch eine Fernbedienung, über die wir – oder sagen wir: »meine Kinder« – den linearen Fernseher und den mit ihm über HDMI gekoppelten Blu-Ray-Player steuern konnten. Da ich viel zu selten auf dem Fernseher Filme über Netflix schaute, kannte ich die Tastenkombination noch nicht »blind« und brauchte Hilfe.
Aus mehreren Gründen strategisch nicht schlau für eine Mutter, die von ihren Kindern als kompetent und vertrauenswürdig wahrgenommen werden möchte. War ich etwa das, was man einen hoffnungslosen Fall nennt?
Ein Jahr später, Ende 2018, konnte ich immerhin den Blu-Ray-Player bedienen, doch das sollte mir nichts mehr nützen.
Zur gleichen Zeit hatte der finnische Game-Entwickler Supercell für mobile Geräte das Action-Strategie-Spiel Brawl Stars auf den Markt gebracht, das rasch seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat.
Das Spiel war ein Meisterwerk der psychologischen Manipulation. Seine raffinierten Spielmechanismen übten gezielt und beabsichtigt einen starken Sog aus. Nicht ohne Grund schrieben die Hersteller ein Mindestalter von 14 Jahren vor – und auch das nur mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten. Ich nehme an, dass Lennart die Nutzungsbedingungen nicht gelesen hatte, als er das Häkchen bei »Nutzungsbedingungen akzeptieren« setzte. Wer tat das schon?
Die Altersangabe hätte mich stutzig machen müssen. Doch ich kannte sie nicht und kam nicht auf die Idee, dass das bunte Comic-Spielchen riskant sein könnte, als Lenni mich ganz nebenher fragte, ob er es mit seinen Klassenkameraden spielen dürfte.
Es war Dienstagnachmittag, ich war wenige Minuten zuvor aus meinem Kölner Büro nach Hause gekommen. Wir brachen in leicht erhöhtem Tempo zum Handballtraining auf. Ich schaute im Rausgehen auf die roten Ziffern der Herduhr und prüfte, wie viel Zeit wir noch bis Trainingsbeginn hatten: 16 Minuten. Das war zu schaffen, wenn nichts dazwischenkam.
Lenni streckte mir halb im Gehen zwischen Haustür und Auto sein Handy mit einer bunten App namens Brawl Stars vor die Nase.
»Darf ich das spielen, Mami? Spielen alle meine Kumpels in der Klasse.«
Der Moment, um ein Onlinegame zu prüfen, war nicht gerade optimal. Aber wann war schon ein guter Moment für heikle Fragen in einer lebhaften fünfköpfigen Familie mit zwei berufstätigen Eltern, drei unternehmungslustigen Kindern sowie einem knappen Dutzend kleiner und großer Haustiere, die täglich versorgt werden wollten?
Ich beugte mich über das Handy und sah auf die bunte Grafik von Brawl Stars mit seinen lustigen Cartoonfiguren, die mit fantasiereichen Superkräften wie fliegenden Koffern, Schneebällen, Bären, Fledermäusen oder Schrott in Teams in dreiminütigen Spielrunden gegeneinander antraten.
Niedlich und harmlos, dachte ich. Der Name »Brawl« – englisch für Schlägerei, Krawall – hätte mich stutzig machen können. Hatte es aber nicht. Ich kannte die Vokabel nicht einmal.
Das gelbe Logo hätte ebenfalls ein Indiz sein können: ein trotzig guckender gelber Totenkopf mit zwei Zornesfalten über den schwarzen Augenhöhlen. Doch ohne Lesebrille glaubte ich, eine Art gelbe Billardkugel zu erkennen.
Meine Gedanken waren plötzlich ganz woanders, in meiner eigenen Kindheit: Auf einmal fühlte ich es wieder, das warme und aufregende Gefühl, wenn mein älterer Bruder mich in den 1980ern FROGGER mitspielen ließ im abgedunkelten Fernsehzimmer unserer Eltern. Auch da starben unschuldige Lebewesen. Nicht wenige Frösche wurden auf grausame Weise überfahren, wenn man schlecht spielte. Es war trotzdem toll.
Meine Entscheidung »Ja, klar darfst du mitspielen!« traf ich »aus dem Bauch« heraus. So wie 7,8 Milliarden Menschen jeden Tag die meisten ihrer bis zu 100 000 Entscheidungen treffen. Blitzschnell innerhalb von Millisekunden, wie Forscher der Universität Harvard herausfanden. Als Grundlage diente unserem Unterbewussten eine Fülle von Erfahrungen und Erlebnissen in wichtigen Lebensphasen oder Situationen, in denen wir gelernt haben, was uns glücklich macht und worauf wir genau deshalb Wert legen.
»Mit Freunden spielen und glücklich sein«, erschien mir in diesem Moment nicht die schlechteste Wahl. Rationale Gründe für diese Entscheidung gab es natürlich keine. Und so verpasste ich an diesem unspektakulären Dienstagnachmittag gegen kurz nach vier einen dramaturgisch äußerst wichtigen Moment in meinem Leben.
Wenn ich ehrlich bin, hätte ich mir wahrscheinlich auch zu einem späteren Zeitpunkt am Abend nicht wesentlich mehr Zeit genommen, um die App sorgfältig zu prüfen. Wahrscheinlich hätte ich mich zu müde gefühlt oder einfach keine Lust gehabt, mich im Detail mit einem Game zu beschäftigen, das ich gar nicht selbst spielen wollte.
Wenn ich noch ehrlicher bin, wollte ich mir nicht eingestehen, dass ich gar keine Ahnung hatte, wie ich das Spiel hätte prüfen und beurteilen sollen.
Und auf solche beunruhigenden »bad news« hat eine müde Mutter abends nach knapp 14 Stunden auf dem Tacho echt keinen Bock.
Dabei hatte ich kurz zuvor an einer schlecht besuchten Elternfortbildung »Medienerziehung« an der Schule teilgenommen. Es war ein bunter Abend voller pornografischer Bilder und erschreckender Statistiken zu Cyber-Grooming und Selbstmordraten nach Cyber-Bullying, die an die Wand des Klassenzimmers projiziert wurden. Auch das Thema »In-App-Käufe« war unter vielen anderen Punkten besprochen worden. Aber »irgendwas ist immer«, und ich hatte aus tausend- und-keinem-guten Grund versäumt, die entsprechenden Einstellungen auf dem Handy unseres Sohnes tatsächlich vorzunehmen.
Dabei hätte mir bereits nach zwei- bis dreiminütigem Probespiel auffallen können, dass die Werbung »Brawl Stars ist kostenlos und harmlos!« eine Falle war. In Wahrheit ging es – lustige Cartoonfigürchen hin oder her – um nichts anderes als Geld, und zwar das der Gamer – und ihrer Eltern! Die Masche, mit der auch unser Sohn geködert wurde, nannte sich »Free-to-Play«, aber »Pay-to-Win«.
Auch wenn das Spiel gratis zum Download angeboten wurde: Alles drehte sich – eingebettet in kindlich verspielter Cartoon-Optik – um funkelnde Juwelen und glänzende Münzen, die ein Spieler brauchte, damit das Spiel spannend blieb und einen die Teamkollegen so richtig »abfeierten«. Ohne Juwelen wurde das Spiel zäh. Ohne Juwelen hatte man kaum Chancen, anerkannt zu werden von besseren Gamern, die schon länger spielten und mehr Geld für Superkräfte und Ausstattungen ausgegeben hatten.
Das nervte aufstrebende Gamer wie unseren Sohn natürlich, der nach Anerkennung im Spiel lechzte.
Wie nett war es da von den Game-Entwicklern aus Helsinki, dass sie eine Abkürzung ins Glück anboten und man Juwelen und Überraschungskisten schnell mit barer Münze kaufen konnte!
Wie gut muss es sich für Lennart angefühlt haben, als ihm klar wurde, dass auch er als Anfänger mit ein paar Euros das Spiel leicht kontrollieren konnte! Mit ein paar Klicks war es ihm möglich, seine Spielfigur zu verbessern und seinem Team zum Sieg zu verhelfen.
Das war doppelt gut, denn im virtuellen Team waren ein paar besonders coole Klassenkameraden, die in der Pause meist ohne ihn abhingen. Sie spielten schon länger Brawl Stars, hatten bessere Spielfiguren (Brawler) am Start und lästerten im Spiel-Chat offen über Lennis mickrige Anfänger-Spielfigur.
So erleichtert Lennart gewesen sein mag, seinen schlechten Spielerstatus schnell und problemlos mit gekauften Juwelen zu verbessern und seinen Status im Brawl-Stars-Team zu erhöhen, so überrascht und schockiert war er, als sein Vater ihm verärgert die Rechnungen unter die Nase hielt, die mit mehrtägiger Verzögerung ins Haus geflattert kamen: 43 Euro für virtuelles Spielgeld am Dienstag, 56 Euro am Donnerstag, 27 Euro am Freitag.
In seiner kindlichen Naivität hatte er nicht damit gerechnet, dass seine virtuellen Juwelenkäufe echte Käufe waren und auffliegen würden. Als er die Rechnungen sah, war er sprachlos, dass sein Vater über jede einzelne In-Game-Minitransaktion informiert wurde.
Die raffinierten Game-Entwickler von Supercell, denen wir unsere Misere zu verdanken hatten, residieren im finnischen Helsinki. Die Stadt kenne ich von einem mehrjährigen beruflichen Aufenthalt recht gut. Ich hatte sie aus familiären Gründen kurz vor der Geburt unserer ersten Tochter verlassen.
Nun führten mich die illegalen Internetgeschäfte unseres dritten Kindes zumindest gedanklich wieder zurück in die schöne Stadt am Meer, und auch diesmal mit schwerem Herzen.
Die CEOs von Supercell waren fein raus: Sie wiesen erboste Eltern darauf hin, dass Kinder im Alter von Lennart nur mit Einverständnis der Erziehungsberechtigten einen Vertrag mit ihnen abschließen durften.
Sie argumentierten sauber und ungeniert: Was war denn bitte schön in der Familie los, dass das Kind die Eltern nicht gefragt hatte? Und die Eltern es einfach so spielen ließen?
Ich las mir die Rechnungsadresse durch. Supercell war in der Itämerenkatu 11–13 im futuristischen Hafenviertel Ruoholahti ansässig. Das passte.
Die glänzende Fassade des verglasten Bürokomplexes im sauberen Stadtbild täuscht Eingeweihte nicht über die berühmtberüchtigte Vergangenheit des Viertels hinweg. Hier lagen Sucht und neue Technologien schon immer eng beieinander.
Das Hafen- und Industriegelände wurde erst vor rund hundert Jahren aus dem Boden gestampft. Sand wurde dazu zwischen mehreren kleinen Schäreninseln aufgeschüttet. Hier produzierte NOKIA seit dem Zweiten Weltkrieg Kabel in einer werkseigenen Fabrik. Schon vorher schlug die staatliche Alkoholmonopol-Aktiengesellschaft Alko hier ihr Hauptquartier auf, später folgte das legendäre Lepakko, ein altes Warenhaus, das in den 1970ern als Notunterkunft für obdachlose Alkoholiker diente.
Von hier aus also hatten die einfallsreichen und online-affinen Finnen nach Hay Day, Clash of Clans und Clash Royale einen neuen Coup gelandet und Brawl Stars entwickelt. Ein buntes Onlinestrategiegame, das Ende Dezember 2018 seinen Siegeszug um die Welt antrat.
Wie so oft nutzten die game-erfahrenen Finnen einen Kniff aus dem kleinen Einmaleins der Spieleentwickler. Jeder wusste: Geld verdienen ging mit Bezahlsystemen à la »Pay-to-win« besonders gut. Und das war ja ihr Ziel.
Zum einen spülten Onlinespiele, in denen die Gamer bestimmte Fähigkeiten, Waffen und Accessoires käuflich erwerben konnten, auf direktem Wege Geld in die Kasse. Gleichzeitig trugen diese Bezahlsysteme zur emotionalen Höherbewertung des Spiels bei, indem sie das Belohnungssystem der Gamer ansprachen und damit auch das Suchtpotenzial verstärkten, was den Spieleentwicklern aber offensichtlich keine schlaflosen Nächte bereitete.
Seine Spielschulden aus dem illegalen Juwelengeschäft musste Lennart in Haus und Garten abarbeiten. Er sortierte Schrauben und Nägel im Werkzeugschrank im Keller, schichtete Holzscheite im Garten zu ordentlichen Stapeln und rupfte Unkraut aus den Ritzen des Natursteinpflasters in der Einfahrt. Man kann nicht sagen, dass er aus unserem Anpfiff und der wochenlangen Strafarbeit nichts gelernt hatte. Nur leider etwas anderes als erhofft. Er genoss zwar die gemeinsame Zeit und die Möglichkeit, sich zu entlasten und die Stimmung zu verbessern. Genau wie wir wollte er Ärger vermeiden.
Doch Lenni stand bereits – ohne dass wir es ahnten – unter dem Bann von Brawl Stars. An Aufhören konnte er zu dem Zeitpunkt nicht mehr denken. Zu groß war die Anziehungskraft des Spiels, das unseren Sohn förmlich einsog. Er schaffte es nicht mehr, das Spiel zu kontrollieren. Ganz im Gegenteil: Das Spiel begann mehr und mehr, ihn zu kontrollieren. Und so war er gezwungen, das Ziel »Ärger vermeiden« auf eine ungewöhnliche Art zu erreichen.
Lennart ging in den »Untergrund«. Neben sein Ziel, »erfolgreich im Brawl-Stars-Team mitspielen«, trat ein weiteres: »auf gar keinen Fall von den Eltern erwischt werden«. Er verließ unter einem Vorwand das Haus, radelte zu Rossmann und kaufte von seinem Taschengeld einen iTunes-Gutschein, um seine weiteren virtuellen Einkäufe zu verschleiern.
Es nutzte nichts. Mein Mann wurde nach drei Tagen auch über diese Transaktion informiert, nicht zuletzt, weil alle fünf Handys der Familie damals noch über eine ID liefen. Er hatte also wieder zugeschlagen: dreimal 10,99 Euro für insgesamt 710 Juwelen.
Es begann eng zu werden für Lenni, auch wenn er immer wieder technische Schlupflöcher fand, durch die er schlüpfte.
Dennoch: Ein Teil seines Selbst war immer noch der liebesbedürftige kleine Junge, der sich danach sehnte, in den Arm genommen und durchgekitzelt zu werden. Der in hellen Momenten erkannte, was nicht stimmte, und es uns deutlich sagte. Es dauerte nur, bis wir es endlich verstanden.
Als nachmittags beide Töchter unterwegs und Lennart und ich alleine waren, fragte ich beiläufig: »Warum kaufst du bei Brawl Stars eigentlich immer wieder Juwelen, wenn wir es doch verboten haben und es so viel Streit gibt?«
Er antwortete ruhig und ebenso beiläufig: »Weil ich’s konnte.«
Was für eine Provokation. Ich musste mich innerlich runterzählen, um ruhig zu bleiben.
»Was meinst du damit?«
Er sagte: »Ich wollte euch keinen Ärger machen. Aber ich brauchte die Juwelen so dringend, und da war in dem Moment nichts, was mich gehindert hat. Ich konnte es einfach tun.«
Oje, er hatte ein echtes Problem.
Und wir ebenfalls. Wie es aussah, gleich mehrere.
Ich spürte, wie er unter all dem Streit und dem Misstrauen litt – genau wie ich. Trotzdem hatte er in den letzten Wochen für mehrere Jahreseinkommen an Taschengeld unerlaubt Juwelen im Internet gekauft und konnte sich offensichtlich nicht mehr davor bewahren, es wieder und wieder zu tun.
Gleichzeitig gab er mir sachdienliche Hinweise zu bestehenden Lücken in unserem technischen Jugendschutz.
Wir würden uns warm anziehen müssen.
Mein Mann und ich waren fassungslos, als wir beim dritten Kind plötzlich echt alt aussahen und technisch vor ihm hergetrieben wurden. Immer etwas zu langsam, versuchten wir die Sicherheitslücken zu stopfen, änderten Passwörter, stuften die Sicherheitseinstellungen am Fernseher und auf den mobilen Endgeräten hoch. Doch Lenni blieb uns mühelos auf den Fersen.
Als nichts mehr ging, knöpften wir ihm das Handy erneut ab bis zu den Sommerferien und verboten ihm grundsätzlich, wo und wie auch immer Brawl Stars zu spielen.
Früher, zu Kindergartenzeiten, nannten wir ihn spaßeshalber den Baby-TÜV, weil Lennart – noch in gestreiften Baumwoll-Bodys Größe 74 – zielsicher alle Quellen der Unterhaltung und Gefahren ortete. Zu Hause, bei Oma und Opa oder bei Freunden.
Kaum tapste Lenni durch Gärten und Zimmer, kippten krachend nicht richtig fest gedübelte Badezimmerschränke um, die ein Jahrzehnt trotz zweier kleiner Kinder im Haus sicher gestanden hatten. Als er größer wurde, brannten Deckenfluter samt Elektroleitung, auf denen er sein Kirschkernkissen hatte aufwärmen wollen. Die Kindersicherung am Gartenteich musste generalüberholt werden.
Mit damals knapp vierzig Jahren lernten wir als dreifache Eltern noch einmal richtig viel dazu, nicht nur, dass Kirschkerne unheimlich gut brennen. Nur: Lenni lernte schneller.
Man sagt, die »Arbeit« eines Kinder sei das Spiel. Es diene dazu, seine Umwelt zu begreifen und die Grenzen zu erforschen. Man könnte sagen: Lennart machte seine »Arbeit« nicht nur gut, sondern sogar sehr gut.
Der Sohn vertiefte sich an den mobilen Endgeräten in die Menüpunkte »Einstellungen« und »Verwalten«, experimentierte mit Passwörtern, vagabundierte wissbegierig durchs Internet. Nur seine zielgerichteten medientechnischen Fragen verrieten, welche Themenbereiche er gerade durchforstete. Antworten hatten wir meist keine mehr. Lennart hatte sich konsequent und konzentriert in Kürze zum Junior-Medien-TÜV emporgearbeitet und uns ohne große Anstrengung abgehängt.
In den Sommerferien hatte Lenni wegen »guter Führung« sein Handy wiederbekommen. Ich kontrollierte immer wieder, ob er die Brawl-Stars-App nicht heimlich runtergeladen und gespielt hatte. Es sah gut aus, dachte ich. Für den Moment war der Brawl-Stars-Sog etwas abgeebbt. Dafür drehte sich nun alles um eines der beliebtesten Spiele überhaupt: Fortnite, das er bei einem Kindergartenfreund kennenlernte.
Der Survival-Shooter ist eines der populärsten Videospiele von Jugendlichen weltweit. 350 Millionen Nutzer hatten sich im Mai 2020 registriert, um es auf dem PC, auf Konsolen oder auch Smartphones zu spielen, wie Epic Games bekannt gab.
Befürworter heben hervor, dass Fortnite kein Ego-Shooter sei. Der Spieler erlebt die Spielwelt nicht aus der Ich-Perspektive, sondern schaut sich selbst über die Schulter, während er andere Spielfiguren abknallt.
Erst später verstand ich, warum Lennart sich damals unter der Woche so oft zum Übernachten mit seinem Sandkastenfreund verabredete. Bei ihm war das Zocken auch unter der Woche erlaubt, bei uns nur freitags und am Wochenende für je eine Stunde.
Nach zwei, drei Wochen war Lennart voll im Fortnite-Fieber. Bereits montags erzählte er von den bevorstehenden Spielsessions am Freitag und bereitete den Spielgenuss sorgfältig vor.
So auch an diesem Donnerstagnachmittag im August: Wir saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa und chillten. Lenni bat mich, ihm seine heutige Medienzeit um 10 Minuten zu verlängern, um noch etwas Musik bei Spotify hören zu können.
Ich hatte an dem Tag bereits so oft »Nein!« gesagt und wollte meine Ruhe.
»Klar!«, erwiderte ich und freute mich auf weitere entspannte Minuten auf dem Sofa. Ich nahm das Handy meines Sohns, um die App Spotify zuzulassen. Dazu navigierte ich zum passwortgeschützten Menüpunkt »Bildschirmzeit«, um das nur mir bekannte Passwort einzugeben.
Lenni beobachtete mich dabei seltsam interessiert. Es dauerte etwa drei Sekunden, bis mein Unterbewusstsein Alarm schlug.
Warum dieser forschende Blick?
Ich fühlte, wie sich meine Haare aufstellten, das Blut im Hals pulsierte, mein Gesicht heiß wurde. Irgendetwas stimmte hier nicht. Und da sah ich es: Oben im Display blinkte ein schmaler roter Balken, den ich noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Ich tippte drauf.
Sprachlos hob ich den Blick und schaute ungläubig in das Gesicht meines zehnjährigen Sohns. Er ließ parallel eine Videoaufzeichnung des Bildschirms mitlaufen und zeichnete gerade in Echtzeit auf, wie ich das geheime Passwort eintippte, das nötig war, um Einstellungen wie »App Store« und »In-App-Käufe erlauben« zu aktivieren.
Technisch war und wäre nicht viel passiert. Die Videoaufzeichnung hätte nur vier Sternchen gezeigt, mit denen die Ziffern des Passwortes verschlüsselt angezeigt wurden.
Trotzdem war Lennart zu weit gegangen, seine spielerische Erforschung der Grenzen hatte seine kindliche Unschuld verloren. Mein Vertrauen war dahin. Mein eigenes Kind begann, mir fremd zu werden.
Ich fühlte mich wie in einem stockdunklen Kinosaal, dessen Türen gerade abgeschlossen worden waren und auf dessen Leinwand in voller Lautstärke ein schlechter Film anlief, den ich weder gucken wollte noch anhalten konnte. Ich bekam das üble Gefühl, dass mir in Kürze der Boden unter den Füßen wegklappen würde. Ich sollte recht behalten.
Mein Mann kaufte zwei dicke Vorhängeschlösser aus Messing und zwei stabile Aluminiumboxen, die er in seinem Kleiderschrank im Fach unter den Hemden platzierte. Noch am selben Tag kamen unsere Gummibärchen und anderer Naschkram, der sich in letzter Zeit auf mysteriöse Weise wie von selbst in Luft aufzulösen schien, hinter Gitter, genau wie das Tablet und das konfiszierte Handy von Lennart. Unser Schlafzimmer duftete nach Schokolade und Lakritz.
Jeder von uns bekam ein Set der kleinen Schlüssel und reihte es neben Auto-, Haus- und Büroschlüssel an den Schlüsselanhänger.
Aber was nützten all die Sicherheitsvorkehrungen, wenn sie sabotiert wurden?
Meist kam ich nach einem arbeitsreichen Bürotag gegen 16 Uhr nach Hause, wurde stürmisch von Hund und Kindern begrüßt und pfefferte halb in der Umarmung meinen Schlüsselbund auf die Ablage oberhalb der Heizung im Eingangsbereich. Oft ging es direkt weiter ins Wohnzimmer, wo wir bei einer Kanne Tee vom Tag erzählten. Es fiel mir mehrere Male gar nicht auf, dass Lenni erst ein paar Minuten später dazukam und sich mit undurchdringlicher Miene zu uns setzte. Ich bemerkte nur, wie er höflich frage: »Und wie war dein Tag, Mami?«
Meine Fantasie und mein Misstrauen waren nicht groß genug, um mir vorzustellen, dass Lenni mich freudig begrüßte, aber dann abwartete, bis seine Schwestern – potenzielle Petzen – und ich außer Sicht- und Hörweite waren.
Er wusste, dass er jetzt ungestört einige Minuten Zeit hatte. Mit angehaltenem Atem nahm er den großen klimpernden Schlüsselbund von der Ablage neben der Garderobe, schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang zum Elternschlafzimmer, zog möglichst geräuschlos die große Schiebetür des Kleiderschranks auf, öffnete das Vorhängeschloss, nahm sein Handy an den knisternden Gummibärchentüten vorbei aus dem Tresor, verschloss alles wieder und versteckte das Handy bis zum Anbruch der Dunkelheit.
So richtig nachgedacht habe ich bei der Aktion nicht. Ich hab mir eher Gedanken gemacht, wie ich den passenden Schlüssel zum Schloss finde – das war gar nicht so leicht. Bis ich die Ziffern 2, 1 und 5 auf dem Schloss entdeckte. Ich hob leise den Schlüsselbund vor meine Augen und guckte mir alle Schlüssel an. Wie ein Detektiv. Auf einem kleinen Schlüssel war auch eine 215 eingraviert. Und wie es der Zufall wollte: Der Schlüssel passte!
Völlig überraschend bekamen wir schließlich erneut Post von unseren Freunden in Helsinki, die höflich um die Begleichung der beiliegenden Rechnungen baten, obwohl wir Lennarts Handy sicher im Tresor verschlossen wähnten.
Mein Mann und ich begannen miteinander zu streiten, wer Lennart wann und warum das Handy wiedergegeben hatte, und wurden nur noch verwirrter, als wir feststellten, dass wir beide es nicht erlaubt hatten.
Wir knieten uns gemeinsam im Schlafzimmer vor den Kleiderschrank und öffneten den Tresor, aus dem es wunderbar duftete. Darin lag unschuldig das Handy unseres Sohnes. Wir ahnten nicht, dass Lenni es nicht nur raus-, sondern auch wieder zurückgeschmuggelt hatte. Wir fühlten, wie das Misstrauen begann, unsere Beziehung und unsere Teamarbeit zu vergiften.
Aus den Vorahnungen wurden Gewissheiten: Bei unserem dritten Kind lief etwas anders. Wir hatten es mit einem Michel aus Lönneberga 4.0 zu tun, nur der Holzschuppen fehlte.
Ich begann jeden Tag mehr zu zweifeln, ob sich alles von allein auswachsen würde und wir die eskalierende Situation auch ohne fremde Hilfe in den Griff bekommen würden.
Wir holten Lennarts Handy aus dem Tresor im Kleiderschrank und riefen ihn für eine Handyvisite dazu. Wie im Knast, stellte ich traurig fest.
Wir schauten auf dem Handy nach, konnten das auffällige gelbe Icon von Brawl Stars jedoch nirgends auf dem Homescreen erkennen. Lenni beobachtete uns mit versteinertem Gesicht. Seine Pupillen weiteten sich erst, als eine Push-Nachricht von Brawl Stars aufleuchtete: »New RARE Brawler 50 Juwelen!«
Mein Mann griff das Handy zielstrebig und schien zu wissen, wonach er suchte. Er öffnete die einzelnen grau hinterlegten Ordner und wischte in jedem einzelnen zur Seite. Ich beobachtete ihn überrascht. Mir war nicht bekannt, dass sich in den Ordnern mehrere Seiten verbargen.
Mein Mann hielt unserem Sohn traurig sein Handy hin. Versteckt auf der zweiten Seite des Ordners »Mathe« prangte fett und gelb die grimmige Totenkopffratze von Brawl Stars.
Wir löschten kurz und schmerzlos, ohne Mitgefühl, schlimmer noch mit einem unangemessenen Gefühl der Genugtuung, das Game mitsamt aller Spiel-Avatare von allen Geräten.
Wir wollten nicht wahrhaben, wie schlecht es bereits um unseren Sohn stand. Wir begriffen nicht, dass unsere Aktion – vor allem die Art und Weise – keine Lösung für das eigentliche Problem war, im Gegenteil.
Therapeuten wissen, wie viel die virtuellen Spielfiguren den Süchtigen bedeuten. Nicht selten verkörpern die Avatare all das, was die Kinder und Jugendlichen im realen Leben im Moment eben nicht sein können: mutig, mächtig, beliebt, erfolgreich, glücklich – stärkere Versionen des eigenen Ichs, die im bläulichen Licht der Zockerhöhlen zum Leben erwachen, aber im nüchternen Tageslicht der öden Wirklichkeit in sich zusammenfallen.
Kein Wunder, dass sich Abhängige nicht ohne Weiteres von ihrem »besseren Ich« lösen können. 2010 wurde in Frankfurt deshalb der erste Friedhof für Avatare eröffnet. Auch in anderen deutschen Großstädten wie Hamburg verabschieden Computerspielsüchtige ihre virtuellen Spielfiguren in feierlichen Trauerzeremonien, um dann zu versuchen, Gefühle der Stärke, der Überlegenheit, der Macht und des Glücks in der »echten Welt« aufzubauen.
Unsere gefühlskalte Löschaktion und die wütenden Androhungen: »Nie wieder!«, belasteten unser Verhältnis. Lenni fühlte sich vernichtet, aber dies nahmen wir in unserer eigenen Ohnmacht nicht mehr wahr.
Wir waren in unserem eigenen Film gefangen und nur noch froh, dass uns das hässliche gelbe Totenkopf-Icon nicht mehr von Handy und Tablet entgegenstarren würde. Eine Fratze, die uns alles andere als Glück gebracht hatte.
Später erst offenbarte uns Lenni, wie er sich damals gefühlt hatte:
Seit den Sommerferien wurde alles schlimmer, und meine Eltern fingen an, mir überhaupt nicht mehr zu glauben und zu vertrauen. Das war schrecklich. Sie waren nur noch streng und aggro. Dabei war ich ja selbst gestresst und wusste nicht weiter! Ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass meine Kumpels gerade Brawl Stars oder Fortnite spielten und ich nicht. Ich konnte es kaum aushalten. Ich griff nach jedem internetfähigen Gerät, das mir in die Finger kam, und versuchte ins Internet zu kommen. Ich nahm mir unerlaubt Handys von meiner Mutter oder meinen Schwestern, obwohl mir danach fast schlecht war vor Angst. Ich besorgte mir Schlüssel für den Tresor. Ich musste ständig lügen, weil sonst alles noch viel schlimmer geworden wäre. In der Familie waren alle gegen mich, meine Schwestern und meine Eltern, nur unser Hund nicht. Meine Mutter hat gesagt, dass es so mit mir und meinen Onlinespielen nicht weitergehen könne, wenn die ganze Familie seit Monaten deswegen nur noch gestresst ist und darunter leidet. Das wollte ich ja gar nicht, ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es so viel Streit gab und Mama weinte vor Erschöpfung.
Wir Eltern fragten uns in dieser Zeit wieder und wieder, warum so viele Kinder im Bekanntenkreis scheinbar ohne nennenswerte Komplikationen Brawl Stars spielten. Antworten bekamen wir erst in den folgenden Monaten.
Mein Mann und ich haben uns immer eine große Familie gewünscht. Das Leben hat sie uns geschenkt, wofür wir aus tiefstem Herzen dankbar sind.
Doch im Oktober 2019 spürte ich in dunklen Momenten weder Dank noch Freude, Liebe oder Zuversicht. Das Lachen war mir vergangen.
Wilde Träume quälten mich in meinem kurzen Schlaf und lieferten mich dem nächsten Morgen dünnhäutiger aus als zuvor. Im Kopf ratterte ich alle möglichen Optionen rauf und runter, was mir, was unserer Familie, helfen könnte.