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Jan ist spät dran. Er muss rennen, um noch rechtzeitig zur Schule zu kommen. Da stolpert er plötzlich über die Beine eines Obdachlosen. Er rappelt sich auf und läuft fort. Doch der Mann mit den hellen Augen geht ihm nicht mehr aus dem Kopf. Im Krankenhaus trifft er ihn wieder. Offenbar hatte er einen Unfall. Jan besucht ihn am Krankenbett und erfährt seinen Namen: Jeremias. Als Jeremias mit einem Mal verschwindet, macht sich Jan mit seinen Freunden Lisa und Martin auf die Suche nach ihm und taucht in eine ihm unbekannte Welt. „Einfühlsam wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der durch den Tod seiner Frau zu trinken begonnen hatte und schließlich alles verlor. (…) Solche Geschichten von Obdachlosen gibt es im realen Leben zuhauf. Und so können sich Kinder ohne Vorurteile einem Thema nähern, dem sie jeden Tag auf der Straße begegnen.“ Stern „Ein spannendes und mitreißendes Kinderbuch zu einem sozialen Thema unserer Gesellschaft, das oft totgeschwiegen wird. Sehr empfehlenswert.“ Jugendschriftenausschuss des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes Mittelfranken
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Seitenzahl: 79
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Pete Smith
wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers in Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie und Publizistik. Er schreibt Kinder- und Jugendbücher, Essays sowie Romane für Erwachsene. Für seinen Roman „Endspiel“ erhielt er 2012 den Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Er lebt in Frankfurt am Main.
Hans-Jürgen Feldhaus
wurde 1966 in Ahaus an der holländischen Grenze geboren. Nach einer Ausbildung zum Druckvorlagenhersteller absolvierte er ein Studium zum Diplom-Designer in Münster, wo er heute als Autor und Illustrator lebt.
Martinstag
Jan träumt und wird unsanft geweckt
Wiedersehen im Krankenhaus
Ein seltsames Paar
Fünf Minuten
Ein leeres Bett und eine leere Flasche Sekt
Jan wartet
Drei Brücken und ein Fluss
Prinz Heinrich und der Doc
Spiegelbilder
Abdrücke im Schnee
Zurück kann viel bedeuten
Nachwort des Autors
Es ist Montag. Ein Tag wie jeder andere.
Jan liegt im Bett und döst.
Mama steckt den Kopf zur Tür herein. „Kommst du?“
Jan dreht sich noch einmal rum. Er hört, wie Mama unter die Dusche steigt. Er überlegt, welcher Tag heute ist. Darüber schläft er wieder ein.
„Kommst du endlich?“ Mama hat zu Ende geduscht.
Jan nuschelt irgendetwas ins Kopfkissen, das er selber nicht versteht. Es könnte Will nicht heißen. Oder Kann nicht. Oder Lass mich in Ruhe. Trotzdem rappelt er sich auf. Schlurft ins Bad. Als er sein verschlafenes Gesicht im Spiegel sieht, weiß er, dass heute Montag ist.
Wie gesagt, ein Tag wie jeder andere: das Gesicht waschen, die Zähne putzen. Jan holt sich eine saubere Unterhose aus dem Schrank. Im Bad merkt er, dass er die Socken vergessen hat. Also muss er wieder durch den kalten Flur zum Zimmer und durch den kalten Flur zurück. An der Heizung wärmt er sich. Endlich zieht er sich an. Kämmt sich. Fürs Essen bleibt kaum noch Zeit. Es ist schon zehn vor acht. Jan schlingt seinen Toast herunter. Er hasst es, schon morgens so hetzen zu müssen.
„Wenn du bloß nicht immer so trödeln würdest“, sagt Mama und Jan ist nur noch genervter.
Er hastet los. Rennt. Gegen die Zeit. Aber auch, damit ihm schneller warm wird. Denn es ist bitterkalt an die - sem Morgen im November. Der Himmel ist grauschwarz und ein feuchter Nebel kriecht ihm unter Jacke und Pullover.
Die Kirchturmuhr hat längst acht geschlagen. Punkt Viertel nach beginnt der Unterricht. Und Jan ist erst am Mittelweg. Nur wenn er volle Pulle durchläuft, kann er es noch schaffen. Herr Frieling verteilt gern Tadel, wenn man zu spät kommt. Da ist er gnadenlos!
In der Kaiserstraße passiert es: Jan ist gerade um die Ecke gestürmt, als sein Fuß gegen etwas Weiches stößt, hängen bleibt und Jan der Länge nach hinknallt! Aus den Augenwinkeln heraus hat er noch einen dunklen Sack im Hauseingang liegen sehen. Aber dass der Sack Beine hat, die er ausstreckt, damit andere darüber stolpern, damit konnte Jan nicht rechnen.
Jetzt liegt er auf dem Bauch und schreit vor Schmerz. Seine Hände sind aufgeschrammt und brennen wie Feuer. Aus seiner Nase tropft Blut. Mit seinem Schulranzen auf dem Rücken fühlt er sich wie ein großer, dicker Käfer, den gerade jemand in den Staub gedrückt hat.
„Tut mir leid“, hört er eine Stimme.
Jan rappelt sich auf. Wischt sich übers Gesicht. Dreht sich um und sieht hoch. Vor ihm steht ein alter Mann mit strubbeligen, braunen Haaren und einem fransigen Bart. Die vielen Haare verdecken das Gesicht. Nur die Augen stechen hervor. Es sind sehr helle Augen.
„Das wollte ich nicht“, sagt der Alte.
Jan antwortet nicht. Stumm starrt er den Alten an. Mit seinen klobigen dunklen Schuhen, der weiten, abgewetzten schmutzig-braunen Cordhose, seinem groben, grünen Wollpullover und der speckigen, knopflosen Lederjacke sieht er aus wie eine Vogelscheuche.
„Soll ich dir helfen?“, fragt der Alte und macht einen Schritt auf Jan zu.
Doch der zuckt zurück und spurtet einfach los. Rennt, ohne sich umzudrehen. Nur weg hier! Jan rennt und rennt. Und mit einem Mal spürt er nichts mehr: keinen Schmerz, keine Kälte, keine Scham. Der Schulranzen schlägt gegen seinen Rücken, aber das ist ihm egal. Leute bleiben stehen und blicken dem blutverschmierten Jungen hinterher. Jan bekommt nichts davon mit. Atemlos erreicht er die Schule. Doch der Hof ist bereits leer. Er flitzt die Treppe herauf und hält vor seinem Klassenzimmer inne. Er versucht wieder zu Atem zu kommen. Klopft und tritt ein.
Das Gemurmel erstirbt. Alle starren Jan an. Auch Herr Frieling.
Jan murmelt „Entschuldigung“ und schleicht zu seinem Platz.
Aber natürlich kommt er damit nicht durch.
„Wie siehst du denn aus?“, fragt sein Lehrer. „Hast du dich etwa geprügelt?“
„Nein“, flüstert Jan, „bin hingefallen.“
„Auf die Nase?“
Alle lachen.
Jan schweigt.
„Da bist du wohl schon genug gestraft“, sagt sein Lehrer, der heute offenbar seinen guten Tag hat.
In der Pause stehen die Jungen zusammen, Jan, Raffi, Eberhard und Tobias. Stockend erzählt Jan, was wirklich passiert ist. Oft fehlen ihm die Worte. Irgendetwas war merkwürdig an dem Alten. Wie er ihn angesehen hat? Er hatte so helle Augen. Wie zwei Glasperlen in einem Knäuel schwarzer Wolle. Aber da war noch etwas, das nicht gepasst hat. Jan kommt aber nicht drauf.
„War bestimmt 'n Penner“, sagt Tobias und lacht. „Von wegen Haste ma'n Euro? Tun so, als hätten sie Hunger, aber dann nehmen sie dein Geld und versaufen's an der nächsten Ecke.“
Jan antwortet nicht. Sein Penner wollte kein Geld.
„Aber wenn der doch Hunger hat?“, fragt Eberhard.
„Quatsch!“, erwidert Tobias. „Wenn der Hunger hat, kann er sich doch was kaufen.“
„Wie denn? Wenn er kein Geld hat?“ Eberhard ist selbst ständig pleite.
„Dann soll er halt nicht so viel Bier trinken.“
„Spinner“, murmelt Jan.
Heute ist Martinstag. In Religion reden sie über den heiligen Martin. Wie der seinen Mantel zerschnitten und die eine Hälfte einem Bettler gegeben hat.
„Aber einen halben Mantel kann man doch gar nicht anziehen“, sagt Lisa.
Einige in der Klasse lachen.
„Das ist doch nur ein Gleichnis“, antwortet Herr Wagner. „Das will uns sagen, dass einer, der viel besitzt, seinen Reichtum mit jemand, der wenig hat, teilen sollte.“
„Aber müssen dann nicht beide frieren?“, fragt Lisa.
Jan findet, dass Lisa irgendwie Recht hat.
Auf dem Heimweg trödelt Jan. Er muss nachdenken. Bevor er die Kaiserstraße erreicht.
Einerseits will er den alten Mann wiedersehen. Andererseits auch nicht. Wenn er bloß wüsste, was mit dem Alten nicht stimmt...
Als er in die Nähe des Hauses kommt, an dem er über die Beine gestolpert ist, duckt er sich zwischen zwei Autos und späht um die Ecke. Erschrocken zuckt er zurück: Vor der Einfahrt parkt ein Polizeiauto! Gerade kommen zwei Polizisten aus dem Haus. Sie sind allein. Sie steigen in ihr Auto, lassen den Motor an und fahren los. Die Einfahrt ist leer. Der Mann mit den hellen Augen ist offenbar rechtzeitig entkommen.
Nach dem Abendessen sitzen Jan und Mama vor dem Fernseher, eingemummelt in eine dicke Wolldecke. Sie sehen die Nachrichten. Jan hört nur mit halbem Ohr hin. Erst bei der Wettervorhersage horcht er auf:
„...neblig-trüb, allmähliche Bewölkungszunahme und gelegentlich Schneefall. Temperaturen zwischen minus vier und plus drei Grad. Dabei schwacher, in Alpennähe frischer bis starker Wind aus nördlichen Richtungen. Die weiteren Aussichten...“
Mama zieht die Decke bis unters Kinn. „So früh hat der Winter schon lang nicht mehr eingesetzt“, sagt sie.
„Kann man bei minus vier Grad erfrieren?“ Jan sieht sie nicht an.
„Wieso?“
Jan erzählt von dem alten Mann. Dass er über ihn gestolpert ist, verschweigt er.
„War bestimmt ‘n Penner“, erklärt er.
„Nenn ihn bitte nicht so“, erwidert Mama. „Das ist ein schlimmes Wort.“
Ob man bei minus vier Grad erfrieren kann, weiß sie im Übrigen auch nicht. „Doch zum Glück gibt es ja Notunterkünfte“, sagt sie. „Bei uns muss niemand im Winter unter Brücken erfrieren.“
Dienstag. Kein Tag wie jeder andere.
Als Mama ihren Kopf zur Tür hereinsteckt, kniet Jan gerade neben seinem Schreibtisch und stopft eine letzte Mappe in seinen Rucksack.
„Was ist denn mit dir los?“, wundert sie sich.
„Konnte nicht schlafen“, antwortet Jan.
„Aber...“
Doch Jan lässt sie einfach stehen.
Es ist kurz vor halb acht. Jan hat Zeit. Trotzdem rennt er. Es ist nasskalt an diesem Morgen. Die Luft riecht nach Schnee. Und die Wolken hängen so tief, dass sie fast die Spitzen der Dächer berühren.
Er rennt und rennt. Gegen die Kälte. Aber auch, weil er wissen will, ob der alte Mann wieder da ist. Er hat lange nachgedacht. Und sich entschlossen, dem Alten etwas zu sagen: Dass mit ihm, Jan, alles wieder in Ordnung ist und dass es für Obdachlose Notunterkünfte gibt, in denen sie nachts nicht frieren müssen.
Kurz vor der Kaiserstraße bremst er ab. Bleibt stehen. Holt tief Luft. Sein Herz rast wie verrückt. Langsam biegt er um die Ecke. Doch der Hauseingang ist leer. Kein Mensch weit und breit. Jan ist enttäuscht. Aber auch wütend. Wozu hat er sich so viele Gedanken gemacht? Hätte er auch bleiben lassen können.
In Sachkunde sprechen sie über Dinosaurier. Eigentlich Jans Lieblingsthema. Aber heute ist er mit seinen Gedanken ganz woanders.