Das Geheimnis von Schloss Gramsee - Pete Smith - E-Book

Das Geheimnis von Schloss Gramsee E-Book

Pete Smith

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Beschreibung

Agnes Seibold kann ihr Glück nicht fassen: In der 10-Millionen-Euro-Show hat sie den Hauptgewinn abgeräumt! Zusammen mit ihrem Mann Achim und ihren fünf Töchtern erfüllt sie sich ihren Kindheitstraum: ein eigenes Schloss! Das Anwesen ist rasch gefunden. Doch kaum hat sich die Familie auf Schloss Gramsee eingerichtet, geschehen dort seltsame Dinge. Lichter zucken durchs Zimmer, Nebel wabert aus dem Schrank, Blut tropft von der Decke. Eines Nachts sitzt plötzlich ein Junge auf dem Bett der jüngsten Tochter Aurora, offenbar der Geist eines Kindes, das im Pestjahr 1349 auf Schloss Gramsee verhungert ist. Aurora spürt seiner Geschichte nach und kommt bald einem noch viel größeren Geheimnis auf die Spur... Ein spannendes, nicht allzu unheimliches Buch mit witzigen Dialogen. Westfälische Nachrichten Pete Smith erzählt die Geschichte der ostdeutschen Großfamilie, die auf ein reales Gespenst trifft, gruselig, spannend und mit einer überraschenden Wendung. Anzeiger Sankt Gallen

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Pete Smith

wurde 1960 als Sohn einer Spanierin und eines Engländers in Soest geboren. An der Universität Münster studierte er Germanistik, Philosophie und Publizistik. Er schreibt Kinder- und Jugendbücher, Essays und Romane, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Robert-Gernhardt-Preis des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Er lebt in Frankfurt am Main.

Für Joshua

Inhalt

Die Zehn-Millionen-Euro-Frage

Ein echtes Schloss – was sonst?

Die große Klage

Schloss Gramsee

Ein Traum wie echt

Nebel im Schrank

Chronik einer dunklen Zeit

Der Edle von Estoríl

Tante Gundula und andere Katastrophen

Träume und Schäume

Stadtarchivar Seipold

Ein Gespenst auf Abwegen?

Das Kellerzimmer

Laurenz Graf Wittenbecher

Heiligabend

Fünf Weihnachtsmänner, zwei Engel und ein toter Rabe

Die Zehn-Millionen-Euro-Frage

Wie oft hatte sie davon geträumt?

Jetzt galt es. Die letzte Frage.

Alles oder nichts.

Agnes Seibold hockte auf ihrem riesigen Thron und blinzelte in die Kamera. Die Scheinwerfer im Studio blendeten sie so sehr, dass sie das Publikum nur verschwommen wahrnahm. Aber das grelle Licht störte sie gar nicht so sehr. Weitaus schlimmer empfand sie diese sengende Hitze! Agnes Seibold schwitzte, wie sie noch nie in ihrem Leben geschwitzt hatte. Ihre weiße Bluse, die sie sich extra für ihren großen Fernsehauftritt zugelegt hatte, klebte an ihr wie eine zweite Haut. Schweißtropfen rannen an ihrem Gesicht herab und ihre feuchten Hände rutschten die metallenen Armlehnen rauf und runter, als wollten sie sie polieren.

Einen Augenblick lang dachte Agnes an die freundliche Maskenbildnerin, die vorhin so viel Puder und Schminke verschwendet hatte, um sie aufzuhübschen, und die bei ihrem Anblick jetzt vermutlich der Verzweiflung nah war. Sie dachte an ihren Mann und ihre fünf Mädchen, die unsichtbar für sie im Publikum saßen und ihr in diesem Moment sicher ganz fest die Daumen drückten. Sie dachte an die Freunde in ihrer Heimatstadt Zerbst und an die Millionen Fernsehzuschauer, die ihr seit bald einer Stunde ins schweißnasse Gesicht starrten. Sie hielt die Luft an, atmete langsam aus und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche:

Die letzte Frage. Alles oder nichts.

„Sind Sie bereit, Agnes?“, fragte der Moderator und sah über den Rand seiner Brille zu ihr hoch. Agnes nickte stumm. „Also dann, hier ist sie – die Zehn-Millionen-Euro-Frage!“

Aus den Lautsprechern dröhnte dramatische Musik, die in einen Tusch überging, der unerwartet abbrach. Mit einem Mal war es so still im Saal, dass Agnes Seibold glaubte, ihren eigenen Herzschlag hören zu können. Wie von weit her drang schließlich die Stimme des Moderators an ihr Ohr:

„Was trug der 14. Earl of Carlisle in Händen, als er seiner Königin, Queen Mary, das letzte Mal unter die Augen trat?“

Nach einem endlosen Augenblick der Stille ging ein Raunen durchs Publikum, in dem Fassungslosigkeit, aber auch Unmut mitklang: Wie um alles in der Welt sollte ein normaler Mensch auf solch eine Frage die Antwort erraten?

Der 14. Earl of Carlisle! Die meisten Zuschauer hatten weder eine Ahnung, was ein Earl war noch wo Carlisle lag, geschweige denn, was der 14. Vertreter dieser seltsamen Gattung in Händen hielt, als er einer Königin namens Mary zum letzten Mal begegnet war! Nein, ein solches Ende hatte die Kandidatin nicht verdient! Bis zu jenem Moment hatte sie alle neun Fragen ohne zu zögern beantwortet, selbst dass Ouagadougou die Hauptstadt von Burkina Faso ist, hatte sie gewusst – und nun das! Winzig sah sie aus auf ihrem riesigen Thron! Und einsam, unendlich einsam. Jetzt hatte sie alles verloren – denn das war ja das Motto der Show: Alles oder nichts. Nach einer solchen Leistung mit nichts nach Hause geschickt zu werden – das war nicht fair!

Und Agnes?

Die sah auf den Moderator herab und fühlte sich plötzlich federleicht. Keineswegs dachte sie in diesem Augenblick an die neun voraufgegangenen, teils kniffeligen Fragen, die sie allesamt korrekt beantwortet hatte. Und einsam fühlte sie sich schon gar nicht. Agnes Seibold hatte ganz andere Probleme. Nur mühsam unterdrückte sie den Drang, laut loszujubeln. Oder sich vor Lachen zu schütteln. Oder aus lauter Übermut von ihrem Thron zu hüpfen und anderthalb Meter tiefer mit gebrochenen Beinen oder verrenkten Gliedern auf der metallenen Bühne zu landen.

Alles verloren?

Von wegen – alles gewonnen! Agnes kannte die Antwort. Oh ja, sie war sich ganz sicher. Sie wusste, dass Queen Mary nach jener schicksalhaften Begegnung mit dem 14. Earl of Carlisle – einem stolzen Edelmann aus dem Südwesten Englands, der der Königin einst sehr nahe gestanden hatte – einen Herzinfarkt erlitten hatte. Zumindest ließ sich das aus den Chroniken so deuten. Queen Mary war vor Entsetzen gestorben, wie ein Diener offenbar glaubhaft bezeugte, der sie sterbend fand und aus ihrem Mund das schreckliche Geheimnis erfuhr. Der Earl nämlich lebte gar nicht mehr, als er seine Königin in jener Nacht heimsuchte, ja, er konnte schlichtweg nicht mehr leben: Auf Marys eigenen Befehl hin war er geköpft worden, weil er einer anderen den Hof gemacht hatte!

„Als der 14. Earl of Carlisle“, begann Agnes Seibold mit feierlicher Stimme und blickte dabei in jene Richtung, in der sie ihre Lieben vermutete, „am 21. August des Jahres 1558 nachts um halb zwei die Schlafgemächer seiner Königin und Geliebten, Queen Mary, betrat, trug er seinen eigenen Kopf in Händen, den der königliche Henker ihm am Morgen des vergangenen Tages abgeschlagen hatte.“

Der Moderator blickte seiner Kandidatin ungläubig ins rosige, schweißnasse Gesicht. Die Zuschauer im Studio hielten den Atem an. Ebenso jene Millionen, die daheim gebannt auf ihre Bildschirme starrten. Es knisterte, die Spannung war mit Händen zu greifen. Dann verzog der Moderator sein Gesicht zu einem gekünstelten Lächeln, die Musik setzte wieder ein und im selben Moment brach ein unbeschreiblicher Jubelsturm los.

„Die Antwort ist absolut richtig!“, verkündete der Moderator, während vom Studiohimmel goldenes Lametta auf Agnes herab regnete. „In diesem Augenblick, liebe Agnes, sind Sie um sage und schreibe zehn Millionen Euro reicher!“

Ein echtes Schloss – was sonst?

„Zehn Millionen Euro”, murmelte Achim Seibold und sah seine Frau kopfschüttelnd an. „Was nun?“

Agnes antwortete nicht. Nach den vergangenen zwei höchst turbulenten Tagen war sie erst einmal froh, mit ihren Lieben wieder allein zu sein und sich weder verstellen noch pausenlos Hände schütteln zu müssen. Die Stille in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung tat ihr gut.

Direkt nach der Quiz-Show hatte es im Berliner Luxushotel Adlon unweit des Brandenburger Tors eine große Party zu Ehren der frisch gebackenen Millionärin gegeben. Die Leute vom Fernsehen hatten sich nicht lumpen lassen und ein Wahnsinns-Buffet ausgerichtet mit Leckereien, die Agnes und ihre Familie nur aus Hochglanz-Magazinen kannten. Der Champagner floss in Strömen und die komplette Bigband des Senders wurde aufgeboten, um der Zehn-Millionen-Euro-Frau kräftig den Marsch zu blasen.

Bis in die frühen Morgenstunden hatten sie gefeiert und dabei etliche Stars und Sternchen kennen gelernt, mit denen sie sich gleich alle geduzt hatten, denn das war in der Show-Welt so üblich. Achim hatte sogar einmal mit seinem „Goldstück“, wie er Agnes neuerdings nannte, getanzt, was er üblicherweise nur dann tat, wenn er sehr, sehr glücklich oder sehr, sehr beschwipst war.

Am frühen Morgen wurden ihnen bereits die ersten Anrufe in ihre verschwenderisch große Suite im Adlon durchgestellt. Alle Welt wollte der zehnfachen Millionärin gratulieren: Freunde, Verwandte, Bekannte, Arbeitskollegen, Nachbarn, selbst einige Schulfreundinnen der Mädchen. So verbrachten sie die letzten Stunden in ihrem Luxusappartement fast nur noch am Telefon.

Auch daheim in Zerbst, jener kleinen Stadt zwischen Magdeburg und Wittenberg, in der die Seibolds seit fast 20 Jahren lebten, ebbte der Strom der Gratulanten nicht ab. Die meisten Besucher schneiten unangemeldet herein. Einen ganzen Tag lang wimmelte es nur so von Menschen in der gemütlichen Fünf-Raum-Mietwohnung zwei Steinwürfe vom Bahnhof entfernt. Darunter waren sogar Leute, die Agnes noch nie gesehen hatte, die jedoch steif und fest behaupteten, ihre besten Freunde zu sein: „Mensch, Agnes, wenn du wüsstest, wie oft ich an dich gedacht habe...“

Am späten Nachmittag schützte Agnes Kopfschmerzen vor und verkroch sich auf ihr Zimmer. Erst als der letzte Gast gegangen war, kehrte sie zu ihren Lieben zurück, stopfte das Telefon unters Sofakissen und suchte Ablenkung in einem Roman.

Jetzt saßen sie am Esstisch im Wohnzimmer und ließen sich statt Garnelen an Honigsalbei Graubrot mit Frischkäse schmecken.

„Wir könnten uns ein Heimkino einrichten“, schlug Ambra vor.

„Jep, in jedem Zimmer eins“, warf ihre Zwillingsschwester Apollonia ein.

„Und natürlich ein eigenes Tablet für meine süßen Schwestern“, erklärte Annabella, die Älteste, „damit ich meinem nicht mehr ewig hinterher rennen muss.“

„Ich bräuchte dringendst ein neues Smartphone“, meldete sich Alicia zu Wort. „Aber das wisst ihr ja.“

Ihre Mutter verdrehte die Augen. Sie hatte kein Verständnis für die Technikversessenheit ihrer Töchter, von denen ihr ständig eine in den Ohren lag, dass das Display ihres Smartphones zu klein, der Familiencomputer zu langsam oder der Fernseher zu alt sei, und dabei stets auf eine ihrer Freundinnen verwies, deren Eltern ihr hart erarbeitetes Geld offenbar allesamt nur dafür ausgaben, die immer neuen Wünsche ihrer Töchter zu befriedigen.

„Müssen wir denn jetzt gar nicht mehr sparen?“, fragte Aurora.

Agnes Seibold lächelte. Ihre jüngste Tochter war ganz anders als ihre vier Schwestern. Wenn man Aurora einen spannenden Schmöker in die Hand drückte, konnte es passieren, dass man sie Tage lang nicht zu Gesicht bekam. Mit ihren zehn Jahren hatte sie wahrscheinlich schon mehr Bücher verschlungen als Annabella und Alicia zusammen. Da kam sie ganz nach ihrer Mutter, mit der sie oft stundenlang im Bett oder auf dem Sofa lag – beide das Gesicht hinter ihren Büchern verborgen.

„Ich könnte wetten, Aurora wünscht sich etwas ganz Ausgefallenes“, stichelte Ambra. „Vielleicht ein Buch? Oder doch eher ein Buch? Lass mal überlegen, wie wär’s mit einem Buch?“

„Ich finde“, hob Vater Seibold an und warf Ambra einen warnenden Blick zu, „eure Mutter sollte entscheiden, was mit dem Geld geschieht. Schließlich war sie es auch, die uns die Suppe eingebrockt hat.“

Agnes Seibold kaute schweigend an ihrem Käsebrot, ohne die erwartungsvollen Blicke zu erwidern. Als sie den letzten Bissen runtergeschluckt hatte, lehnte sie sich zurück und sah ihre Lieben mit ihren kleinen, blitzenden Augen der Reihe nach an.

„Was würdet ihr dazu sagen, wenn wir uns von dem Gewinn ein echtes Schloss kaufen?“

Annabella legte ihrer Mutter behutsam den Arm um die Schulter und lächelte dabei so nachsichtig wie eine Krankenschwester im Umgang mit ihrem verwirrten Patienten.

„Ein echtes Schloss“, schnurrte sie, „natürlich, was sonst?“

„Liebling, du spinnst“, flüsterte Achim Seibold, als er mit seiner Gattin im Bett lag und endlich das Licht ausknipste. Agnes schwieg, kuschelte sich aber noch etwas enger an ihn.

Zuerst hatte Achim Seibold geglaubt, seine Frau erlaube sich einen Scherz. Er hatte gegrinst wie die anderen auch und sie erst einmal rumspinnen lassen. Doch dann hatte er diesen Ausdruck in ihren Augen bemerkt. Es war wie in dem Moment, in dem der Moderator die Zehn-Millionen-Euro-Frage gestellt hatte: Niemand hätte in diesem Augenblick darauf gewettet, dass Agnes die Antwort kannte, niemand außer Achim, der es in ihren Augen gelesen hatte, schließlich kannte er sie seit mehr als 20 Jahren.

Agnes wollte dieses Schloss, das war ihm nun klar. Und sie würde alles darum geben, es auch zu bekommen! Wie oft hatte sie davon geträumt: in einem eigenen Schloss zu leben, an einer großen Tafel zu speisen, vom obersten Turm die überwältigende Aussicht zu genießen, von dicken Mauern geschützt zu werden und all die Abenteuer zu erleben, die man nur in Schlössern erlebt: in gewundenen Geheimgängen und feuchten Verliesen, in finsteren Katakomben und undurchdringlichen Irrgärten.

„Ein Schloss, Schatz, weißt du überhaupt, was du da jedes Jahr an Reparaturen reinstecken musst?“ Achim Seibold seufzte. „Und wer soll das alles sauber halten? Oder willst du jetzt womöglich auch noch einen Butler einstellen?“

„Keine Sorge“, flüsterte Agnes. „Schließlich gibt es auch kleine Burgen und Schlösser. Ich hatte nicht vor, gleich unser ganzes Geld auf den Kopf zu hauen. Ein paar Milliönchen legen wir natürlich an. Von den Zinsen können wir dann auch die anfallenden Reparaturen bezahlen.“

Ihr Mann brummte etwas Unverständliches in seinen Bart. Ihm war das Ganze nicht geheuer. Eine schicke Eigentumswohnung, ja, das hätte er sich gefallen lassen. Oder auch ein eigenes Haus. Aber nein, es musste ja gleich ein Schloss sein! Warum nicht gleich Schloss Bellevue in Berlin? Den Bundespräsidenten konnte man bestimmt überreden, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen!

„Ein Schloss, Agnes, das passt nicht zu uns“, versuchte er es ein letztes Mal.

Agnes jedoch schnurrte wie eine Katze. Ein eigenes Schloss, das hatte sie sich so oft ausgemalt. Es bräuchte gar nicht groß zu sein; aber Erker sollte es haben und Zinnen, möglicherweise einen Graben rundherum und mindestens eine Geheimtür. Auch ein Kellerverlies mit rostigen Eisenringen an den modrigen Wänden, wo früher die Gefangenen ihr trauriges Leben ausgehaucht hatten.

Und wenn sie mit Aurora so herum gesponnen hatte, war immer auch ein Geist durchs Schloss geschwebt, mit schweren Ketten an den Beinen und einem schaurigen Klagen, das seinen blutleeren Lippen entfuhr.

„Aber wenn ich es mir doch so sehr wünsche“, flüsterte Agnes und kuschelte sich noch etwas enger an ihren Achim. Der hatte längst kapituliert.

„Ist ja schon gut“, erwiderte er, „wenn du es dir so sehr wünschst, sollst du dein Schloss halt bekommen.“

Die große Klage

Eine große Idee ist wie ein Virus: Sie setzt sich in den Köpfen fest und lässt die Menschen fiebern.

Gegen das Schloss-Virus blieb in den folgenden Wochen nur Achim Seibold immun. Die fünf Mädchen steckten sich gegenseitig an und liefen wie ihre Mutter schon bald mit roten Köpfen durch die Gegend. Am schlimmsten hatte es Aurora erwischt. Sie fühlte sich einfach berauscht von der Vorstellung, bald in ein Spukschloss zu ziehen, und malte sich das Leben dort in den schillerndsten Farben aus.

Wie viele Schlösser es allein in Deutschland gab! Nach einigen Wochen hatten Agnes und Aurora Hunderte ausfindig gemacht: Fürstenhöfe und Kastelle, Jagd- und Lustschlösser, Wasserburgen und Prunkpaläste. Die meisten beherbergten Museen, in anderen wohnte der Adel, aber manche standen auch zum Verkauf. Drei Monate dauerte es, bis Agnes fünf Objekte ausgewählt hatte, die sie ihren Lieben präsentierte.

Der Spätsommer war ins Land gegangen und mit den ersten Oktobertagen brach der Herbst über Zerbst herein. Von einem Tag auf den anderen hatten die Bäume ihre Blätter abgeworfen, die Morgen waren neblig-trüb und die Nachmittage nass und kalt.

An jenem Abend, an dem sich die Familie im Wohnzimmer versammelte, um die ersten Bilder ihres künftigen Wohnsitzes in Augenschein zu nehmen, gewitterte es. Der Donner krachte mit solcher Wucht gegen das Haus, dass die Fensterscheiben in ihrer Wohnung leise klirrten. Die zuckenden Blitze tauchten das mit schweren, dunklen Eichenmöbeln gemütlich eingerichtete Wohnzimmer in ein gespenstisches Licht.

„Infrage kommen also diese fünf hier“, begann Agnes Seibold und breitete einige Bilder auf dem Esstisch aus. „Schloss Löwenstein, Schloss Friedrichslust, Schloss Herrenhausen, Schloss Wolkenfels und Schloss Gramsee.“

„Und in welchem dieser schaurigen Gemäuer haust der unruhige Geist, der uns das Leben fortan zur Hölle machen wird?“, fragte Alicia mit Unheil verkündender Stimme.

„Blöde Gans“, antwortete ihre Mutter, die sich in den vergangenen Wochen einigen Spott hatte gefallen lassen müssen. „Auch du wirst irgendwann die Erfahrung machen, dass dein Schulwissen nicht alle Phänomene dieser Welt erklärt.“

„Huhu! Huhu!“, riefen Ambra und Apollonia und begannen um den Tisch herumzutanzen. Als Alicia einer von ihnen ein Bein stellte, purzelten die Zwillinge übereinander.

„Das kriegst du wieder!“, heulte Ambra und ging auf ihre Schwester los, die vom Stuhl aufsprang und vor ihr davonlief.

„Schluss jetzt!“, grollte Vater Seibold, bis alle wieder auf ihre Plätze zurückkehrten.

„In den Herbstferien geht’s los“, verkündete Agnes. „Die Route habe ich schon ausgearbeitet. Wir besichtigen nicht allein die Schlösser, sondern erkunden auch deren Umgebung. Was glaubt ihr, wie gut ihr euch danach in Deutschland auskennt!“

Es wurden zwei anstrengende, zugleich aber auch äußerst an- und aufregende Wochen, in denen die Großfamilie aus der ostdeutschen Provinz so viele Landstriche ihrer Heimat kennenlernte wie niemals zuvor in ihrem Leben. In ihrem alten Ford Transit, der ihnen seit nunmehr elf Jahren treue Dienste leistete, fuhren die Seibolds kreuz und quer durchs Land: zunächst nach Ostwestfalen, dann durchs Ruhrgebiet Richtung Rhein, weiter südlich ins Badische, von da nach Bayern bis ganz nah an die österreichische Grenze heran und schließlich über Thüringen zurück nach Sachsen-Anhalt.

Dabei stiegen die Neu-Millionäre auf Agnes‘ ausdrücklichen Wunsch hin nur in billigen Dorfschänken ab, denn es sollte nicht gleich jeder von ihrem plötzlichen Reichtum erfahren.

Mittlerweile nämlich waren in mehreren Klatschblättern einige ziemlich reißerische Artikel über die „Glücksfamilie“ aus Zerbst erschienen, Berichte und Reportagen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nahmen. Vor allem die falschen Zitate, die man ihr in den Mund legte, regten Agnes auf. In einem Revolverblatt hatte allen Ernstes gestanden, sie habe unmittelbar nach dem Gewinn ihrer zehn Millionen Euro unter Tränen gestammelt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Eine andere Illustrierte, die wegen ihrer schmuddeligen Aufnahmen von Prominenten berühmt-berüchtigt war, hatte noch eins drauf gesetzt. Unter einem uralten Foto der Seibolds, das irgendein raffgieriger Verwandter der Familie für viel Geld an das Magazin verkauft haben musste, stand geschrieben: „Eine Großfamilie, die bislang unter ärmlichsten Verhältnissen leben musste, schickt sich an, die weite Welt zu entdecken.“

Das war nicht nur geschmacklos, sondern geradezu schamlos! Als ob sie jemals gehungert oder gefroren hätten! Warum galten Familien mit vier oder fünf Kindern als asozial?

Eines Samstagabends saßen Agnes und Achim Seibold in einer Dorfschänke unweit des Rheins bei einem Schoppen Wein. Die Kinder waren im Bett oder sollten es zumindest sein. Nur Annabella, mit 17 Jahren die Älteste, war noch mit Erlaubnis ihrer Eltern unterwegs. Der Sohn des Gastwirts hatte sich angeboten, ihr das nahegelegene Bonn zu zeigen, wo nachts weit mehr los war als auf dem platten Land.

In der Gaststätte ging es noch hoch her und die Seibolds waren im Laufe des Abends mit der Vorsitzenden des örtlichen Gesangsvereins ins Gespräch gekommen, die ihnen allerhand Kostproben ihrer Kunst dargeboten hatte. Agnes hatte mehrfach versucht, das Gespräch auf das nahe gelegene Schloss Gramsee zu lenken, das die Familie am nächsten Tag besichtigen wollte. Aber aus irgendeinem Grund war die alte Dame immer wieder ausgewichen; es schien fast so, als wollte sie den Namen des kleinen Schlosses unter gar keinen Umständen aussprechen.

Schließlich, es war schon nach elf und die zweite Flasche Wein so gut wie leer, beugte sich die Sängerin plötzlich zu ihnen herüber.

„Hören Sie“, flüsterte sie mit heiserer Stimme, „das sollte ich Ihnen vielleicht gar nicht erzählen, weil man ja nie weiß, wie so etwas ankommt, aber da oben…“, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, in der sie unter ihren flatternden Lidern von einem zur anderen blickte, „…glauben Sie mir, da spukt's.“