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Die Luft ist morgens um acht schon warm und es riecht nach etwas Süßem. Matti darf endlich ohne Socken gehen und damit ist klar: Es ist Sommer! Nichts wie los ins Freibad! Doch als Matti und Otto vor dem Eingang stehen, ist das Blaue Wunder geschlossen. Weil das Geld fehlt, um es zu renovieren. Wo sollen sie denn jetzt hin? Das Schwimmbad ist die Antwort auf jede, aber wirklich jede Sommerfrage! Otto und Matti beschließen: Sie müssen etwas tun! Schließlich gehört das Schwimmbad allen. Und ganz besonders den Kindern. Eine Sommer-Großstadt-Kindergeschichte über Erwachsene, die zu schnell aufgeben, und Kinder, die die Dinge in die Hand nehmen. Es geht um endlose Sommertage im schönsten Freibad der Stadt und darum, dass zusammen vieles leichter geht – und man manchmal auch was Verbotenes tun muss
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Seitenzahl: 187
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Silke Lambeck
Mit Bildern von Barbara Jung
Erstes Kapitel, in dem der Sommer anfängt
Zweites Kapitel, in dem ich wütend bin
Drittes Kapitel, in dem nachgedacht wird
Viertes Kapitel, in dem wir was aufräumen
Fünftes Kapitel, in dem wir uns ziemlich was trauen
Sechstes Kapitel, in dem es etwas Ärger gibt
Siebtes Kapitel, in dem es etwas mehr Ärger geben könnte
Achtes Kapitel, in dem einiges durcheinandergerät
Neuntes Kapitel, in dem mir was auffällt
Zehntes Kapitel, in dem wir Ideen sammeln
Elftes Kapitel, in dem es ziemlich voll wird
Zwölftes Kapitel, in dem überlegt wird, wie man trotz Hausarrest eine halbe Million Demonstranten zusammenkriegt
Dreizehntes Kapitel, in dem wir schon mal Leute einladen
Vierzehntes Kapitel, in dem es nicht so läuft bei uns
Fünfzehntes Kapitel, in dem hin und wieder die Wahrheit gesagt wird
Sechzehntes Kapitel, in dem Dinge organisiert werden
Siebzehntes Kapitel, in dem es anders läuft als gedacht
Achtzehntes Kapitel, in dem so ziemlich gar nichts mehr geht
Neunzehntes Kapitel, in dem wir nachdenken
Zwanzigstes Kapitel, in dem wir zu tun haben
Einundzwanzigstes Kapitel, in dem uns mulmig ist
Zweiundzwanzigstes Kapitel, in dem Geburtstag gefeiert wird
Dreiundzwanzigstes Kapitel, in dem es rund geht
Vierundzwanzigstes Kapitel, in dem immer noch Geburtstag gefeiert wird
Fünfundzwanzigstes Kapitel, in dem wir versuchen, eine halbe Million Euro einzusammeln
Sechsundzwanzigstes Kapitel, in dem es ein Jahr später und Sommer ist
Heute durfte ich ohne Socken gehen und darum ist Sommer. Mama und ich streiten jedes Jahr, ob für das Barfußgehen die von- oder die bis-Temperatur gilt. Ich finde, es reicht, wenn es bis achtzehn Grad werden. Mama findet, es muss ab achtzehn Grad sein. Otto geht schon ein paar Wochen ohne Socken, weil seine Eltern froh sind, dass er sie dann nicht verliert.
Jedenfalls: Otto und ich trugen kurze Hosen und T-Shirts und die Luft war morgens um acht schon warm und roch nach irgendwas Süßem.
»Ich hab überhaupt keine Lust auf Schule«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, sagte Otto. »Den ganzen Tag drinnen sein und stillsitzen.«
Wozu man sagen muss, dass das mit dem Stillsitzen nicht die schlechteste Idee für Otto ist. Sobald er nicht stillsitzt, stolpert er.
»Ich würde gern schwimmen gehen«, sagte ich. »Und vom Dreier springen.«
»Und ich würde gerne auf der Decke liegen und in den Himmel gucken«, sagte Otto und stolperte über eine Baumwurzel. Wir sprachen noch ein bisschen übers Eis- und Pommes-Essen, Sonnenbrand und den Geruch von Chlor auf der Haut. Dann beschlossen wir, nachmittags ins Schwimmbad zu fahren.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite schrie Hotte: »Seid ihr nich’ ’n bisschen spät dran?«
»Wir haben keine Lust auf Schule!«, schrie ich zurück.
»Das kenne ich«, rief Hotte. »Dann geht eben nicht zur Schule. Könnt ihr später meinen Kiosk übernehmen!« Aber dann kam Kundschaft und er musste rein.
»Ich fänd’s gar nicht so schlecht, seinen Kiosk zu übernehmen«, sagte Otto. »Jede Menge Süßigkeiten umsonst und immer Besuch im Haus.« Ich stellte mir Otto und mich als Kioskbesitzer vor: Wir waren alt, bestimmt dreißig. Otto hatte einen Schnurrbart, ich trug ein Hertha-Trikot und wir hatten beide eine Bierflasche in der Hand. Dann musste ich so lachen, dass Sir Bielenstein uns am Schuleingang fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei.
»Alles gut«, sagte Otto. »Matti eben.«
In der dritten Stunde hatten wir Sportunterricht und waren zum Glück draußen. Ich weiß gar nicht, wie ich die Schule ohne Sport überleben würde. Wenn ich eine Stunde im Unterricht gesessen habe, fühlt sich mein ganzer Körper an, als ob er laut schreien möchte. Weil er sich nicht bewegen darf. Nach dem Sport schaffe ich es wieder, zuzuhören. Es wäre überhaupt gut, wir hätten erst mal eine Stunde Sport. Jeden Tag. Meine Meinung.
Wie immer war es etwas komisch, dass Torben Sport unterrichtet. Seit er meine Mutter liebt und sie ihn, will er extragerecht sein, und wenn ich früher eine Eins bekommen habe, gibt er mir jetzt öfter eine Zwei. Ich finde das fies, denn es ist das Fach, in dem ich wirklich gut bin, und außerdem ärgert sich Jan-Niklas jedes Mal, wenn ich gute Noten bekomme. Darum will ich sie erst recht.
Diesmal sollten wir achthundert Meter laufen und ich wollte meinen eigenen Rekord brechen, der bei viereinhalb Minuten lag. Die Luft war warm und angenehm und nach der ersten Runde bekam ich immer noch so gut Luft, dass ich das Tempo etwas anzog. Otto hatte ich längst hinter mir gelassen und überholte Jan-Niklas, der zu schnell angefangen hatte und jetzt keuchend und schwitzend langsamer wurde. Kaum war ich an ihm vorbei, spürte ich plötzlich einen Stoß im Rücken und lag auf dem Boden. Mina warf mir einen mitleidigen Blick zu. Jan-Niklas überholte mich mit einem fiesen Grinsen. Ich rappelte mich auf und versuchte, ihn einzuholen. Mein Knie blutete – und die Rekordzeit würde ich jetzt eh nicht mehr schaffen. Als ich bei ihm angekommen war, ließ er sich fallen und heulte laut auf. »Herr Niendorf, Matti hat mich gestoßen!«, schrie er. »Das stimmt nicht!«, schrie ich zurück und versuchte verzweifelt, noch einige Sekunden zu gewinnen. Im Ziel wurden vier Minuten fünfzig gestoppt. Wäre ich nicht gefallen, hätte ich den Rekord geschafft und eine Eins bekommen. So war es nur eine Zwei plus. Vielmehr: wäre es gewesen.
»Matti! Jan-Niklas!« Die Stimme von Torben klang nicht wirklich freundlich. Wir liefen zu ihm. »Ihr habt beide eine Sechs. Unsportliches Verhalten.«
»Aber …« Mir blieb vor Empörung die Luft weg.
»Ich hab gar nichts gemacht!«, schrie Jan-Niklas.
»Du hast mich gestoßen«, schrie ich. »Und dann hast du dich fallen lassen.«
»Gar nicht wahr«, schrie er zurück. »Du hast mich angerempelt, weil du unbedingt Erster werden wolltest.«
»Du blöder Lügner«, schrie ich und wollte mich auf ihn stürzen, aber Torben stellte sich zwischen uns und hielt mich fest.
»Da ich nicht feststellen kann, wer hier recht hat, bleibt es dabei. Ihr habt die Möglichkeit, die Runde in der nächsten Sportstunde nachzuholen.«
»Aber Jan-Niklas hat Matti geschubst«, hörte ich eine Stimme hinter mir. Sie kam von Mina, die unbemerkt näher gekommen war und sich neben uns stellte.
»Du lügst doch sowieso«, sagte Jan-Niklas zu ihr und ich wollte mich schon wieder auf ihn stürzen, als Torben sagte: »Okay. Ich hab’s nicht gesehen und weiß nicht, wem ich glauben soll. Ich nehme die Sechs zurück. Trotzdem müsst ihr in der nächsten Stunde die Runde wiederholen.« Jan-Niklas drehte sich mit einem Knurren um und trottete davon.
»Du weißt nicht, wem du hier glauben sollst?«, schrie ich Torben an. »Echt jetzt?«
»Matti, bitte«, sagte er. »Lass uns das nicht hier …«
»Ich wäre Rekord gelaufen«, schrie ich. Ich war so wütend, dass ich kaum mehr klar denken konnte. »Das ist so ungerecht.«
»Vielleicht«, sagte Torben. »Aber ich hab es selber nicht gesehen.«
Ich sah ihn nur an. Es ging gerade ein klitzekleines bisschen von dem weg, was ich toll an ihm fand. Dann drehte ich mich um und lief mit schmerzendem Knie zurück zu Otto, der das Ganze vom anderen Ende des Sportplatzes beobachtet hatte.
»Was ist?«, fragte er.
»Jan-Niklas hat mich gestoßen und sich dann fallen lassen. Und dann wollte Torben uns beiden eine Sechs geben.«
»Boah, wie fies ist das denn?«, sagte Otto. »Und er glaubt Jan-Niklas?«
»Er glaubt ihm genauso viel wie Mina und mir«, sagte ich. Es zog mir die Kehle zu.
»Er will wahrscheinlich nur besonders gerecht sein«, sagte Otto.
»Na, toll«, antwortete ich. »Und dafür ist er dann besonders ungerecht.«
Nachmittags hatte ich mich wieder ein bisschen beruhigt. Immerhin hatte ich noch eine Chance, den Rekord zu laufen. Aber der Ärger über Torben blieb und ich hoffte, dass er an diesem Tag nicht zu Besuch kam. Er kam jetzt fast jeden Tag und wir waren auch schon bei ihm gewesen. Er hatte eine ziemlich kleine und extrem ordentliche Wohnung in einem der moderneren Häuser in unserem Viertel. Wir hatten gekocht und Filme gesehen und es war echt nett, aber irgendwie zu klein für uns drei. Also kam er öfter zu uns. Aber heute wollte ich ihn nicht sehen.
Um halb vier traf ich mich mit Otto an der Straßenbahn, um die paar Stationen bis zum Schwimmbad zu fahren. Es lag in einem kleinen Park und war schon etwas abgeranzt. Aber der Eintritt kostete nur drei fünfzig und es gab ein riesiges, himmelblaues Schwimmbecken, eine Rutsche und einen Sprungturm. Außerdem natürlich Pommes. Mehr braucht man nicht, finde ich. Wir hatten uns mit Mina und Jasper verabredet und wahrscheinlich würden wir sowieso die halbe Schule treffen.
In der Straßenbahn war es ziemlich warm und ich freute mich von Minute zu Minute mehr auf das kühle Wasser, auf das Gefühl, nur eine Badehose zu tragen, und natürlich auf das Eis nach dem Schwimmen. Im Park war es schön schattig und nach fünf Minuten standen wir vor dem Tor. Genau wie Mina, Jasper und ungefähr zehn andere. Alle zusammen lasen wir den Zettel, der an der verschlossenen Eingangstür hing: »Das Schwimmbad im Amselpark ist leider geschlossen. Wir danken für Ihre Treue.«
Wir standen da und lasen die Nachricht wieder und wieder.
»Das kann nicht sein«, sagte ich. »Das gibt es doch schon immer.«
Einige Leute schüttelten den Kopf und drehten ab. Andere standen vor dem Schild wie wir und konnten es nicht fassen.
»Für alles ist Geld da«, sagte ein älterer Mann. »Aber die Schwimmbäder machen sie zu.«
Eine Frau mit zwei kleinen Kindern fing fast an zu weinen. »Ich gehe schon hierher, seit ich sieben bin«, sagte sie. »Ich war in allen Sommerferien hier, jeden Tag.«
Otto und ich liefen zu den geschlossenen Gittern und lugten hindurch. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen, keine Bademeisterin, kein Kassierer. In der Ferne sah man die großen Rasenflächen, die allerdings etwas verwahrlost wirkten. Ganz hinten glitzerte es blau.
»Da ist sogar Wasser drin!«, sagte Otto. »Warum machen sie dann nicht auf?«
»Vielleicht sind nicht genug Leute gekommen?«, mutmaßte ich. Aber ich wusste selber, dass das Quatsch war. Der letzte Sommer war so heiß gewesen, dass man zwischen den hohen Häusern in der Stadt keine Luft mehr bekam. Also gingen wir schwimmen. Alle anderen gingen auch schwimmen. Manchmal war die Schlange so lang, dass man eine halbe Stunde warten musste, bis man reinkam. Auf der Wiese war jeder Platz mit Decken, Gummibällen, Campingstühlen, Picknicktaschen und Menschen belegt. Und obwohl das Schwimmbecken riesig war, konnte man das Wasser vor lauter Leuten kaum noch sehen. »Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte ich.
»Nach Hause fahren«, sagte Otto. Ich glaube, er war auch enttäuscht, aber nicht halb so enttäuscht wie ich. Schließlich hatte er nicht vorgehabt, eine Arschbombe vom Fünfer zu machen, um damit Mina zu beeindrucken. Wobei ich fairerweise sagen muss: Ganz sicher war ich mir nicht, was das Beeindrucken von Mädchen durch Arschbomben anging. Aber einen Versuch wäre es wert gewesen.
Mina und Jasper standen noch vor der geschlossenen Kasse.
»Gibt es denn hier in der Nähe noch ein Schwimmbad?«, fragte Mina. Sie war erst vor Kurzem hierher gezogen und kannte sich noch nicht so aus.
Otto winkte ab. »Das nächste ist ein Spaßbad in Pankow. Aber das ist mindestens eine halbe Stunde weg. Und dann kostet es auch sieben Euro Eintritt.« Ins Spaßbad konnte man mal mit seinen Eltern gehen, ausnahmsweise. Es hatte ein schickes Edelstahlbecken und neue Duschen, drei verschiedene Rutschen und eine Pommesbude, wo sie Flammkuchen anboten. Pommes gab es auch, aber sie kosteten fünf Euro, nicht zwei fünfzig wie hier.
Wir trotteten langsam durch den Park zurück Richtung Straßenbahn.
»Was sollen wir denn jetzt den ganzen Sommer lang machen?«, fragte ich. »Wenn es wieder so heiß wird wie letztes Jahr, haben wir gar nichts mehr, wo wir hinkönnen.«
Die anderen schwiegen.
Dann sagte Otto: »Wir können auf den Spielplatz.«
»Auf den Spielplatz. Haha. Wo uns die Eltern sowieso immer schon angucken, als ob wir eine gefährliche Gang wären. Wir sind fast elf. Auf den Spielplatz? Echt jetzt?« Ich war ziemlich laut geworden und die anderen sahen mich erstaunt an.
»Uns fällt schon was ein«, sagte Jasper.
»Nee!« Ich blieb stehen. »Eben gerade nicht. Uns fällt nichts ein. Erinnert ihr euch nicht?«
Jedes Mal, wenn wir letztes Jahr darüber nachgedacht hatten, wo wir im Sommer hin sollten, fiel uns das Schwimmbad ein. Wenn uns zu heiß war, fiel uns das Schwimmbad ein. Wenn wir uns fragten, wo wir uns mit der halben Klasse treffen könnten, fiel uns das Schwimmbad ein. Wenn wir uns in den Ferien langweilten, fiel uns das Schwimmbad ein. Das Schwimmbad war die Antwort auf Jede. Einzelne. Verfluchte. Sommerfrage.
»Das lassen wir nicht zu«, sagte ich schließlich.
Jasper und Mina lachten. Nur Otto lachte nicht. »Was meinst du?«, fragte er und sah mich aufmerksam an.
»Was ich sage«, antwortete ich. »Wir machen das nicht mit.«
»Na, da wird aber jemand schwer beeindruckt sein, dass wir das nicht mitmachen«, sagte Jasper. Mina lachte. Nun wurde ich erst recht sauer. Ich wollte Mina eine Arschbombe vorführen und jetzt lachte sie über Jaspers Witze?
»Ihr könnt mich mal«, sagte ich und stieg ganz vorne in die Straßenbahn. Ich wusste, dass ich ungerecht war. Ich wusste, dass Jasper und Mina nicht schuld waren. Aber es nützte nichts. Ich war so sauer – ich hätte platzen können. Eine Haltestelle später spürte ich eine Hand auf der Schulter.
»Matti!«, sagte Otto. Ich drehte mich nicht um.
»Jetzt sei nicht so«, sagte er. »Wir können doch nichts dafür.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber ihr … nehmt das einfach so hin.«
»Was sollen wir denn sonst machen?«, fragte Otto. »Die Polizei rufen oder so was? Und dann sind wir ja auch Kinder.«
»Und?«, fragte ich. »Haben wir deswegen gar keine Rechte? Weil wir Kinder sind?«
»Das meine ich nicht«, sagte er. »Aber wir können nicht so viel tun.«
»Ach ja? Hotte haben wir vor den Immobilienhaien gerettet. Mina vor ihrem Vater. Und uns vor Frau Streiter.«
»Ja, schon«, sagte Otto, »aber das … ich meine, so ein Schwimmbad ist echt was Großes.«
Ich schwieg. Er hatte recht. So ein Schwimmbad gehört ja auch nicht nur einem Menschen. Glaube ich zumindest.
»Wem gehört eigentlich so ein Schwimmbad?«, fragte ich.
»Na, dem Staat«, sagte Otto. »Den Bürgern. Quasi.«
»Also uns«, antwortete ich. »Quasi.«
»Anscheinend aber dann doch nicht«, sagte Otto. »Denn wir hätten es bestimmt nicht geschlossen.«
»Sind wir eigentlich schon richtige Bürger?«, fragte ich. Otto zuckte die Achseln.
Die Bremsen der Bahn quietschten auf den Schienen – wir waren an unserer Station angekommen.
»Wollt ihr noch mit auf den Spielplatz?«, fragte Mina.
Ich winkte ab. »Keine Lust. Ich geh nach Hause.«
»Ich geh gerne mit« – Jasper fiel fast vornüber vor lauter Eifer.
»Ich komm noch mit zu dir«, sagte Otto.
»Wie du willst«, sagte ich. Und sah Mina und Jasper hinterher, die sehr einträchtig Richtung Spielplatz liefen. Ich hätte nicht gedacht, dass meine Laune noch schlechter werden könnte.
Auf dem Weg zu mir gingen wir bei Hotte vorbei. Uns stand aus verschiedenen Gründen Eis umsonst zu. Für immer. Hotte saß vor seinem Laden auf einer Bank in der Sonne. Er hatte diese Bank erst vor Kurzem aufgestellt und daneben zwei große Blumenkübel platziert. Ich glaubte keine Sekunde, dass das seine Idee war. Ich wette, Fatima hatte irgendwann zu ihm gesagt: »Willst du nicht eine Bank und ein paar Blumenkübel aufstellen?« und Hotte hatte ganz richtig verstanden, dass es im Grunde keine Frage war. Jedenfalls saßen jetzt öfter Menschen vor seinem Späti, aßen Eis, tranken Bier und hielten ihre Gesichter in die Sonne.
»Kommt ihr schon, um meinen Laden zu übernehmen?« Hotte zwinkerte uns zu.
»Wir waren doch noch in der Schule«, sagte Otto. »Aber ein Eis wäre gut. Ein großes.«
Wir fläzten uns auf die Bank und Hotte holte zwei große Eis.
»Dafür, dass die Sonne scheint und ihr jetzt doch nicht Kioskbesitzer werden müsst, seid ihr ziemlich schlecht gelaunt«, stellte er fest. »Besonders Matti.«
Wir erzählten ihm von unserem Nachmittag und von dem geschlossenen Schwimmbad.
»Das Blaue Wunder ist zu?!«, rief er. »Aber das ist ja schrecklich.«
Ich sah ihn erstaunt an. Welches blaue Wunder? Und überhaupt: Hotte gehörte nicht zu den Leuten, die im Sommer einen Picknick-Korb packten und ins Schwimmbad fuhren.
»Welches blaue Wunder?«, fragte Otto.
»Das Schwimmbad!«, rief Hotte. »Ich bin schon als Kind dahin gegangen. Es wurde das Blaue Wunder genannt, weil nicht nur das Becken himmelblau war, sondern auch die Rutsche, der Sprungturm, die Pommesbude und natürlich die Duschen. Eine einzige Pracht!«
Ich dachte an den alten Sprungturm, von dem die Farbe abplatzte, die abgesprungenen Fliesen in den Duschkabinen, die Rutsche mit der rissigen, blassblauen Leiter.
»Das Blaue Elend trifft es wohl besser«, sagte ich.
Hotte schien völlig in Kindheitserinnerungen aufzugehen. »Im Sommer sind wir jeden Tag nach der Schule hingelaufen, eine Stunde lang. Und abends eine Stunde zurück.«
»Warum seid ihr nicht Straßenbahn gefahren?«, fragte Otto vernünftigerweise.
»Von welchem Geld?«, fragte Hotte zurück. »Glaubst du vielleicht, meine Eltern hätten uns was von ihrem sauer verdienten Lohn gegeben, damit wir schneller ins Schwimmbad kommen?« Uns fiel keine Antwort ein. Das hatten wir wohl geglaubt.
»Nee, nee, Jungs. Da mussten wir uns schon selber drum kümmern. Auch um den Eintritt. Fünfzig Pfennige, für Schüler dreißig.«
Manchmal vergaß ich ganz, WIE alt Hotte schon war.
»Woher hattest du denn dann das Geld?«
»Ich hab meinem Onkel samstags im Laden geholfen. Er hatte ein kleines Geschäft, hier direkt um die Ecke. Ich bekam eine Mark, jede Woche. Das war zweimal Schwimmbad und einmal Eis.«
»Und Taschengeld?«, fragte Otto.
Hotte fing an zu lachen. »Taschengeld?«, fragte er. »Ach, Jungs … Meine Eltern waren froh, wenn wir was zu fressen hatten und die Miete bezahlen konnten.« Dann wurde er wieder ernst. »Aber das muss man natürlich verhindern.«
»Was?«, fragte Otto. Doch eigentlich war die Sache vollkommen klar. Es kam überhaupt nicht infrage, dass das Blaue Wunder geschlossen blieb. Aber so was von. Nicht.
Meine Mutter war schon da und wunderte sich, warum ich so früh nach Hause kam.
»Sonst seid ihr doch mindestens bis um sieben im Schwimmbad!«, sagte sie.
Ich erzählte ihr, was passiert war, und sie sah mich entsetzt an. »Aber da war ich schon mit dir, als du ein Baby warst! Mit Sandra. Und Otto. Und Martha.«
»Ich weiß«, sagte ich. Ich erinnerte mich an die riesige Decke, die wir ins Schwimmbad schleppten, an den Geruch von Sonnencreme und Chlor und an Martha und Otto, die sich eigentlich die ganze Zeit hauten. Oder zumindest stritten. Seit Fritz und Franz da waren, hatte das aufgehört: Sie konnten es sich nicht mehr leisten zu streiten. Weil sie ihre ganze Kraft für die Zwillinge brauchten.
»Warum ist es denn geschlossen?«, fragte meine Mutter.
»Stand da nicht«, sagte ich. »Aber wir können mal nachgucken.«
Wir warfen unseren Computer an und hörten ihm ein paar Minuten beim Hochfahren zu, bis er einen schwerfälligen Seufzer von sich gab und sich die Startseite öffnete.
»Wir brauchen wirklich einen neuen Computer«, sagte ich. »Das geht so nicht mehr. Der ist bestimmt zehn Jahre alt.«
»Ist er nicht«, antwortete meine Mutter. »Neun.«
»Ich wette, er ist bald kaputt«, sagte ich.
»Ach was«, sagte meine Mutter.
Sie gab Schwimmbad, Amselpark und Schließung ein und sofort erschien eine Reihe von Artikeln. Eigentlich stand in allen dasselbe: Das Schwimmbad musste saniert werden, was sehr teuer sein würde. Die Einnahmen waren trotz der Besucherzahlen nicht hoch genug. Und weil nicht genug Geld da war, musste das Bad geschlossen werden. Was es jetzt war.
»Tja«, sagte meine Mutter, »da kann man nichts machen.«
Schon wieder wurde ich wütend. Irgendwo in mir drin schien eine Wutblase zu sein, die sich immer neu auffüllte.
»Warum sagst du das?«, fragte ich. »Man kann immer was machen. Du hast nur keine Lust, was zu tun.«
»Wie stellst du dir das vor?«, sagte sie. »Wenn kein Geld da ist, ist kein Geld da.«
»Es ist für alles Mögliche Geld da«, sagte ich.
Sie sah mich an. »Otto und du – ihr könntet eine Mail schreiben. An den Stadtrat.«
»Oh ja«, sagte ich. »Ich wette, der fängt an zu zittern, wenn er eine Mail von uns bekommt, und macht das Schwimmbad wieder auf.«
»Na ja«, sagte sie, »wenn viele Leute schreiben …«
»In meiner Klasse fallen mir höchstens fünf oder sechs ein, die da mitmachen würden«, sagte ich.
»Oder ihr ruft bei der Zeitung an«, schlug sie vor.
»Äh – was du da gerade im Internet gelesen hast, das stand in der Zeitung«, sagte ich. »Und es hat ja scheinbar nichts genutzt.«
Sie sah noch einmal nach. »Stimmt«, sagte sie dann. »Im ›Berliner Tag‹.«
Ich war um den Tisch gelaufen und las den Text jetzt selber. Die Überschrift war: »Keine Rettung in Sicht.«
»Na, toll«, sagte ich. »Das hört sich nicht so an, als ob demnächst jemand mit einem Haufen Geld um die Ecke biegt.«
»Apropos Geld«, sagte meine Mutter. »Was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag?«
»Einen neuen Computer«, antwortete ich. »Wie schon im letzten und vorletzten Jahr und zu Weihnachten.«
»Aber ich habe dir doch erklärt, dass es das aus …«
»… grundsätzlichen Erwägungen nicht gibt«, ergänzte ich. »Aber ich brauche den auch manchmal für die Schule. Und bei unserer alten Krücke stocken die Videos jedes Mal.«
»Du sollst ja auch keine …«, fing meine Mutter an, als es klingelte.
Es war Torben. Normalerweise hätte ich mich gefreut, doch jetzt gerade sah ich ihn nur mit einem finsteren Blick an. Man muss dazu sagen, dass ich im Finstergucken nicht so richtig gut bin. Wenn ich es versuche, muss ich meistens lachen. Weil es eigentlich sehr komisch ist, extra böse zu gucken. Einmal habe ich ein Foto von mir gesehen, auf dem ich schlechter Laune war. Ich sah aus wie ein zorniger Gartenzwerg.
Jedenfalls nickte ich Torben nur kurz zu und wandte mich dann ab.
»He, Matti«, sagte er. »Noch sauer?« Ich sah ihn nicht an.
»Ach, komm«, sagte er.
»Wir sprechen gerade über Mattis Geburtstag«, unterbrach ihn meine Mutter, die nichts von der Jan-Niklas-Situation wusste. »Er wünscht sich einen Computer. Das kommt natürlich nicht infrage.«
»Zu teuer?«, fragte Torben. »Könnte man gebraucht kaufen.«
»Jetzt fall mir noch in den Rücken!«, rief meine Mutter.
Er sah sie erstaunt an. »Oh. Ich wusste nicht, dass das so ein heikles Thema ist.«
»Mama möchte aus grundsätzlichen Erwägungen nicht, dass ich einen funktionierenden Computer habe«, sagte ich.
»Aber wir haben ja einen funktionierenden Computer«, antwortete meine Mutter.
Torben zog die Augenbrauen hoch. »Man kann noch nicht mal Youtube-Videos abspielen«, sagte er. »Und Matti wird ihn auch für die Schule brauchen.«