Mein Freund Otto, das große Geheimnis und ich - Silke Lambeck - E-Book

Mein Freund Otto, das große Geheimnis und ich E-Book

Silke Lambeck

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Beschreibung

Ziemlich was los, bei Matti und Otto. Matti hat ein ÜBERseltsames Gefühl, wenn er Mina anschaut, die neu in der Klasse ist und super Fußball spielt. Otto kämmt sich neuerdings die Haare. Und als ob das nicht eigenartig genug wäre, steht plötzlich Mattis Papa vor der Tür, der sich seit fünf Jahren nicht gemeldet hat. Dafür zieht Ottos Mutter aus. Erst mal. Sich mit Mina anzufreunden ist auch schwierig, denn sie will noch nicht mal verraten, wo sie wohnt. Dabei wollen Matti und Otto ihr Nachhilfe geben, damit sie nicht mehr von der fiesen Frau Streiter in Mathe gequält wird. Ziemlicher Schlamassel also für die beiden. Aber sie wollen unbedingt rausfinden, was mit Mina los ist ...

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Silke Lambeck

Mein Freund Otto,das große Geheimnis und ich

Mit Bildern von Barbara Jung

Inhalt

Erstes Kapitel, in dem es gleich aufregend wird

Zweites Kapitel, in dem gestritten wird

Drittes Kapitel, in dem es insgesamt ziemlich ungemütlich wird

Viertes Kapitel, in dem es um Väter geht

Fünftes Kapitel, in dem Geschichten erzählt werden

Sechstes Kapitel, in dem die Erwachsenen seltsam sind

Siebtes Kapitel, in dem ein Angebot gemacht wird

Achtes Kapitel, in dem entweder gelogen wird oder nicht

Neuntes Kapitel, in dem was rauskommt

Zehntes Kapitel, in dem ich mich komisch fühle

Elftes Kapitel, in dem wir eine Einladung bekommen

Zwölftes Kapitel, in dem wir angeben

Dreizehntes Kapitel, in dem es eng für mich wird

Vierzehntes Kapitel, in dem ich versuche, mich rauszuwinden

Fünfzehntes Kapitel, in dem Hotte sich stur stellt

Sechzehntes Kapitel, in dem wir reingelegt werden

Siebzehntes Kapitel, in dem ganz schön was los ist

Achtzehntes Kapitel, in dem es kompliziert wird

Neunzehntes Kapitel, in dem wir ziemlich lange unterwegs sind

Zwanzigstes Kapitel, in dem alle nach Hause kommen

Einundzwanzigstes Kapitel, in dem Probleme zu lösen sind

Zweiundzwanzigstes Kapitel, in dem jemand auffliegt

Dreiundzwanzigstes Kapitel, in dem wir einige Überraschungen erleben

Vierundzwanzigstes Kapitel, in dem wir Mina endlich besuchen und Otto mir etwas verrät

Fünfundzwanzigstes Kapitel, in dem wir noch eine Überraschung erleben

Erstes Kapitel, in dem es gleich aufregend wird

Gestern ist etwas passiert und seitdem ist alles anders.

Und das kam so: Es war der erste Tag nach den Osterferien und Otto und ich hatten uns an der Ecke verabredet, um zur Schule zu gehen. Otto kam zu spät (normal), trug ein komplett zerknittertes T-Shirt (normal) und eine fast saubere Hose (nicht normal). Wir hatten uns zwei Wochen nicht gesehen, weil Otto mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern an der Ostsee war und ich mit meiner Mutter und meinen Großeltern in Bayern.

Bayern war nicht so der Knüller. Meinetwegen soll es ruhig Berge geben. Aber warum man raufsteigen muss, verstehe ich nicht. »Damit man runtergucken kann«, sagt Mama. Ich finde, dass das Hochsteigen ungefähr dreimal so doof ist wie das Runtergucken schön. Darum lohnt es sich nicht. Meine Meinung. Das Beste an Bayern waren der Schweinebraten im »Alten Ochsen« und die Regentage. Davon gab es zum Glück ein paar. An den Regentagen sind wir ins Spaßbad und ins Kino gegangen. Einmal habe ich sogar ein Buch gelesen. Es war so mittel, aber immer noch besser, als auf die Berge zu klettern.

Jedenfalls: Ich freute mich echt, Otto wiederzusehen. Eigentlich hätte ich ihn gerne umarmt. Er mich, glaube ich, auch. Wir machten einen Schritt aufeinander zu und blieben dann stehen. »Alter!«, sagte Otto und schlug mir auf die Schulter. Und »Alter!« sagte ich und haute ihm auf den Arm.

Wir mussten uns dann schon ziemlich beeilen, darum erzählte Otto nur kurz von der Ostsee. Bei ihm war es auch nur so mittel. Und zwar wegen Fritz und Franz, seinen sechsjährigen Zwillingsbrüdern. Otto nennt sie manchmal die »Zwillinge des Grauens«. Sie sind laut und rotzfrech, besonders zu uns. Ich finde, sie könnten ein bisschen Respekt vor uns Älteren haben, aber damit ist es seit einer Weile vorbei. Wenn ich bei Otto bin, kommen sie ständig ins Zimmer gerannt, schreien rum, ziehen an unseren Hosen und spritzen mit ihren Wasserpistolen. Wenn wir uns bei Ottos Mutter Sandra beschweren, sagt sie: »Ja, sind sie nicht schlimm?«, und lächelt dabei so, dass man genau weiß: Sie wird gar nichts tun. In der Schule hatten wir neulich das Thema »gewaltfreie Erziehung«. Darin kam vor, dass unsere Eltern uns nicht schlagen und nicht anschreien dürfen. Es kam nicht vor, ob WIR die jüngeren Geschwister ein bisschen erziehen dürfen. Vielleicht etwas kräftiger schubsen. Oder mal eine Ansage machen. Fritz und Franz jedenfalls sind anders nicht in Schach zu halten.

Wir kamen mit dem Klingeln in der Klasse an und huschten gerade noch in den Klassenraum, bevor Frau Berendonck die Tür schloss. Frau Berendonck ist unsere Klassenlehrerin, an ihr ist alles rund, auch ihr Gesicht und ihre Locken, und sie ist sehr nett. Sie wedelte ein bisschen mit den Händen und scheuchte uns hinein, wo wir außer Atem auf unsere Plätze in der zweiten Reihe fielen. Otto und ich sitzen schon immer zusammen, seit der ersten Klasse. Vorher saßen wir auch schon im Kindergarten immer zusammen. Manchmal haben Lehrer versucht, uns auseinanderzusetzen, aber am nächsten Tag sind wir einfach auf unsere alten Plätze zurückgegangen. Irgendwann haben sie es dann aufgegeben.

Frau Berendonck hatte es gerade geschafft, für Ruhe zu sorgen. Das war nicht ganz einfach, weil Jan-Niklas sehr laut von seinem Sport-Feriencamp in Spandau erzählte und Yung-Ji dazwischenrief, dass sie bei ihren Großeltern in Korea war, und Anna, dass sie die ganze Zeit auf ihren kleinen Bruder aufpassen musste, weil beide Eltern arbeiten waren und die Kita geschlossen war. Frau Berendonck machte diese Bewegung, mit der sie uns schon in der ersten Klasse immer leise kriegen wollte: eine Art Maus aus Fingern. Da wir nicht mehr in der ersten Klasse sind, lärmten wir weiter. Sie sah uns hilflos an. Schließlich brüllte sie: »Ruhe!« Wir schwiegen verblüfft. Man muss ja nicht gleich schreien.

»Ruhe«, sagte sie noch mal, jetzt etwas sanfter. »Ihr habt einen etwas anderen Stundenplan, weil mehrere Referendare aufgehört haben.« Damit verteilte sie einen Zettel. Es hatte sich nicht viel geändert, nur in Mathe stand da jetzt »Frau Streiter«.

»Super!«, sagte ich. »Wir haben nicht mehr Frau Krieger.«

Ich sagte es ziemlich laut. So, dass es Frau Berendonck hörte. Jedenfalls drehte sie sich zu mir. »Doch«, sagte sie. »Sie heißt jetzt Streiter. Weil sie geheiratet hat.«

»Man fragt sich, wer so etwas tun würde«, sagte Otto. »Sie heiraten.«

»Ja, das fragt man sich«, sagte ich.

Frau Berendonck streifte uns mit einem Blick und sagte dann: »Nehmt bitte eure Federmappen und Deutschhefte raus.«

Aber bevor wir das machen konnten, klopfte es an der Tür des Klassenzimmers. Frau Berendonck rief: »Herein!«, und Frau Dr. Hausmann trat ein, die unsere Rektorin ist und vor der wir alle ein bisschen Angst haben. Sofort waren wir still. Hinter Frau Dr. Hausmann stand noch jemand. Sie trug Jeans und Turnschuhe und hatte lange schwarze Locken. In ihren Ohren steckten zwei kleine Ringe. »Das ist Mina Masowiecki«, sagte Frau Dr. Hausmann. »Sie ist neu und wird ab heute eure Klasse besuchen. Ich möchte, dass ihr euch ein bisschen um sie kümmert, damit sie sich gut einlebt.« Damit nickte sie unserer Lehrerin zu und ging wieder.

Eigentlich war unsere Klasse pickepackevoll. Wir waren 28. Und jetzt 29. Eigentlich war in der Klasse höchstens Platz für 20. Eigentlich waren alle Tische verteilt. Und eigentlich gab es auch keinen Stuhl mehr. Frau Berendonck sah sich suchend um. Schließlich entdeckte sie ganz hinten einen Tisch, auf den wir immer alles legten, was woanders keinen Platz hatte. Bücher, Karten, halbfertige Bilder. Und einen Stuhl, der übrig geblieben war, als wir letztes Jahr neue Stühle bekommen hatten. »Matti, Otto«, sagte sie. »Räumt bitte den Krempel da hinten weg, damit Mina sich setzen kann.«

Mina lief an uns vorbei und dabei guckte sie mich an. Also, so richtig. Sie hat lange schwarze Wimpern und ihre Augen sind blau. Oder grün. Oder beides. Jedenfalls guckte sie mich so an, dass mir etwas seltsam wurde. In der Magengegend. Ich drehte meinen Kopf und sah ihr dabei zu, wie sie ihre Sachen aus der Tasche nahm und auf den Tisch legte. Die Federtasche, den Block. Und das Deutschbuch, das ihr Frau Berendonck schon in die Hand gedrückt hatte. »Matti!«, rief Frau Berendonck. Otto knuffte mich. »Alter!«, sagte er. Ich drehte mich wieder nach vorne. Aber ungern.

In der großen Pause besetzten wir zusammen mit der Sechsten den Fußballplatz. Nächstes Jahr durften sowieso wir bestimmen, wer auf dem Fußballplatz spielt. Doch noch hatte die Sechste das Sagen. Und sie waren besser als wir. Otto stand am Rand und gab den Trainer und ich ging in den Sturm. Die andere Mannschaft hatte Louis aus der 6 b, das war schlecht. Denn er spielte gut. Sie führten schon 2:0, als plötzlich Mina neben dem Feld stand.

»Kann ich mitspielen?«, fragte sie. Louis musterte sie von oben bis unten.

»Du spielst Fußball?«, fragte er.

»Sonst würde ich ja nicht fragen«, sagte Mina.

»Die spielt aber bei euch«, sagte Louis.

Das sollte er bereuen. Denn Mina konnte wirklich Fußball spielen. Rennen, treffen, alles. Sie schoss zwei Tore und ich noch eins und wir gewannen. Anschließend sagte Louis: »Du hast nicht gesagt, dass du SO gut Fußball spielst.«

»Hättest du mir doch sowieso nicht geglaubt«, sagte Mina. Louis zuckte die Schultern. Und ich guckte Mina an und mir wurde wieder ÜBERseltsam. Ich weiß gar nicht, wieso.

Zweites Kapitel, in dem gestritten wird

Auf dem Heimweg war Otto ziemlich still. Mir fiel es erst nicht auf, denn ich fühlte mich bombig. Ich erzählte ihm von den Bergen und von meinen Großeltern und davon, dass Mama ständig am Handy hing und mit Herrn Niendorf whatsappte, und vom Kaiserschmarren und vom Spaßbad. Otto brummte zwischendurch ein bisschen. Deswegen wusste ich, dass er noch da war. Irgendwann wurde es mir zu bunt.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte ich. Otto zuckte die Schultern. »Sag schon«, sagte ich.

»Ich hab keine Lust, nach Hause zu gehen«, antwortete er.

Ich blieb stehen. »Echt jetzt?«, fragte ich. Das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Selbst wenn die Zwillinge noch so laut und Martha noch so zickig war – Otto liebt seine Familie. Es musste also einen anderen Grund geben, warum er nicht nach Hause wollte.

»Was ist los?«, schob ich hinterher. Er schien einen Moment nachzudenken. Dann gab er sich einen Ruck. »Mama und Papa streiten sich dauernd«, sagte er.

»Ach so«, antwortete ich und winkte ab. »Das tun sie doch immer.«

Und das stimmte. Sandra und Felix stritten darüber, ob Felix’ Arbeit wichtiger war als die von Sandra. (Felix: Ja. Sandra: Nein.) Sie stritten, ob sie strenger mit Fritz und Franz sein mussten (Sandra: Nein. Felix: Ja.) Sie stritten, ob Martha abends bis um elf Uhr wegbleiben durfte (Felix: Nein. Sandra: Ja.) Sie stritten, ob es okay war, Geld für einen Flachbildfernseher auszugeben (Sandra: Nein. Felix: Ja.), und ob die ganze Familie auf Fleisch verzichten sollte (Sandra: Ja. Felix: Nein. Nein!!!!!). Otto hatte mir oft genug davon erzählt, er fand es eher lustig. Und auch Sandra und Felix mussten irgendwann lachen. Meist, wenn einer gerade besonders zornig war. Das konnte ich sehr gut verstehen, denn ich musste auch oft lachen, wenn es nicht passte. Gerade, wenn es nicht passte. Jedenfalls: So vertrugen sie sich dann wieder. Indem sie lachten. Aber diesmal schien irgendwas anders zu sein.

»Streiten sie schlimmer?«, fragte ich.

Otto atmete tief durch. Eigentlich erzählte er mir immer alles. Und zwar sofort. Was war los? »Ich kann nicht«, sagte er unglücklich. »Du kannst was nicht?«, fragte ich. »Dir erzählen, warum sie sich streiten. Ich hab’s versprochen.«

»Du hast versprochen, mir nichts zu erzählen?«, fragte ich. Wozu man wissen muss, dass Otto und ich uns schon immer minus drei Wochen kennen. Und ich, so gesehen, auch Ottos Familie schon immer minus drei Wochen kenne. Eigentlich ist es auch meine Familie. So gut wie. »Nein!!!«, rief Otto jetzt, fast schon verzweifelt. »Ich habe versprochen, überhaupt niemandem davon zu erzählen.«

»Überhaupt niemand« hieß: Auch mir nicht. Schon klar. Einen Moment war ich unsicher, ob ich ihn überreden sollte, es mir trotzdem zu sagen. Doch dann entschied ich mich dagegen. Er fühlte sich sowieso schon schlecht. Und wenn er es mir erzählte, würde er sich noch schlechter fühlen. Das wollte ich nicht.

»Wenn du es doch irgendwann erzählen willst, kannst du es machen«, sagte ich. Er nickte.

Mittlerweile waren wir an Hottes Späti angekommen.

»Wollen wir Hotte besuchen?«, fragte ich. Seit wir Hottes Laden durch unseren Rap mit Bruda Berlin vor dem Aus gerettet hatten, waren wir beste Freunde. Wir kriegten Eis umsonst und wir hatten ihm geholfen, den Laden zu streichen. Es roch nicht mehr nach Schnaps, jedenfalls nicht wegen Hotte. Hotte selbst war zu anderen Leuten zwar nicht gerade überfreundlich. Aber er motzte auch nicht mehr jeden an. Deswegen trafen sich jetzt öfter Nachbarn bei ihm, um eine billige Cola zu trinken oder ein Vanilleeis für ihre Kinder zu kaufen. Und wenn sie schon da waren, blieben sie auch mal. Irgendwie war aus Hottes Späti so eine Art Dorfplatz geworden.

»Keine Zeit«, sagte Otto, »ich hab Yoga.« Eigentlich hätte ich dran denken können, Otto hat immer am Montag Yoga. Blöderweise mittendrin, von halb fünf bis sechs. Wir konnten uns weder vorher noch nachher treffen. Unter anderem deswegen mag ich den Montag nicht so richtig.

Otto hat es eigentlich nicht so mit Sport. In der Schule versucht er sich vor allem zu drücken, was mit Bällen oder Rennen zu tun hat. Fußball spielt er natürlich auch nie mit. Noch nicht mal während der WM, wenn plötzlich alle Fußball spielen. Das liegt daran, dass Otto seine Arme und Beine irgendwie nicht richtig unter Kontrolle kriegt. Ich weiß genau, was gemeint ist, wenn Leute über ihre eigenen Füße stolpern. Mein Otto tut das. Die einzige Ausnahme ist Yoga. Das kann er supergut. So gut, dass seine Mutter sogar schon ein Foto auf ihren Blog gestellt hat: Otto im Hund.

Ottos Meinung dazu war klar: »Ich finde, sie kann sich selbst beim Turnen auf die Website stellen. Aber ich bin mein eigener Mensch.« Ottos Mutter findet theoretisch auch, dass er sein eigener Mensch ist, doch praktisch hat sie einen Vertrag mit der Yogaschule. Jedenfalls ist das Foto immer noch auf der Seite.

»Na gut«, sagte ich. »Dann lass uns morgen treffen.« Ich guckte ihm einen Moment hinterher, als er davonging. Selbst von hinten sah er unglücklich aus.

Ich langweilte mich durch den Nachmittag. Das WLAN ging mal wieder nicht. Das mittelgute Buch aus dem Urlaub hatte ich noch nicht komplett zu Ende gelesen, aber ich hatte auch keine besondere Lust, es zu tun. Im Fernsehen liefen öde Serien mit mittelalten Leuten. Ich hätte vor lauter Langeweile sogar Hausaufgaben gemacht. Aber wir hatten keine auf. Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke und dachte ein bisschen an Mina. Wie sie mich angeguckt hatte. Wie sie Fußball spielte. Und wie sie Louis hatte abblitzen lassen. Sie war einfach viel toller als die anderen Mädchen in unserer Klasse. Und dann natürlich sehr schön.

Ich lief ins Bad und stellte mich vor den Spiegel. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob ich schön war. Aber jetzt doch. Meine Haare waren schon mal nicht schlecht. Ich hatte viele davon und sie waren dunkelbraun. Meine Augen waren auch braun. Und mein Gesicht … eben … normal, würde ich sagen. Ich war überhaupt ziemlich normal: normal groß. Normal dick. Normal schön. Ob normal schön für Mina reichte? Ich guckte Mamas Haarpflege-Sammlung durch und beschloss, es mal mit dem Wachs zu probieren. Ich schmierte mir etwas davon in die Finger und dann mit den Fingern in die Haare. Jetzt standen sie in langen Strähnen vom Kopf ab. Schöner wurde ich dadurch jedenfalls nicht.

Ich drehte den Wasserhahn an der Badewanne auf und verteilte Wasser und Shampoo in meinen Haaren. Irgendwie war das Wachs sehr hartnäckig und es schäumte auch nicht richtig. Ich ließ also noch mal Wasser drüberlaufen und wollte gerade die zweite Portion Shampoo reingeben, als es klingelte. Meine Hände waren voller Schaum und mein Kopf klatschnass. Vielleicht war ja Yoga ausgefallen und Otto kam vorbei. Ich ließ Wasser über meine Hände laufen und rannte zur Tür. Dabei tropfte ich den Flur voll. Es klingelte jetzt dringender.

»JAAA, ich komme!«, rief ich der Tür entgegen. Als ich sie aufmachte, liefen mir Wasser und Wachs in die Augen und ich konnte im halbdunklen Flur kaum erkennen, wer da stand. Otto war es nicht, dafür war er zu groß. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und langsam sah ich wieder was. Es war ein Mann. Er war groß und schlank, trug eine graue Jacke mit vielen Taschen und einen Bart, der zu lang war, um gut auszusehen. Er sah mich erwartungsvoll an.

»Ja?«, sagte ich. Er lächelte.

»Sag nicht, dass du mich nicht erkennst?«, sagte er.

Ich ging im Kopf alle Leute durch, die mir einfielen. Die Freunde von Mama. Meine Verwandten. Die Eltern aus der Klasse. Die Freunde von Ottos Eltern. Bartmann war nicht dabei. Ich schüttelte den Kopf. Der Mann ging vor mir in die Knie und sah mich an. Dabei wehte ein Geruch von ihm zu mir. Es war eine Art Parfum, herb und ein bisschen nach Zitrone. Diesen Duft kannte ich. Und komischerweise machte er, dass ich mich wieder wie ein ganz kleiner Junge fühlte.

»Matti!«, sagte der Mann fast flehend. Ich trat einen Schritt zurück. Und sah ihn noch mal an.

»Hallo, Papa«, sagte ich.

Drittes Kapitel, in dem es insgesamt ziemlich ungemütlich wird

Ich hatte meinen Vater zuletzt gesehen, als ich fünf Jahre alt war. Jetzt war ich zehn und es war kein Wunder, dass ich ihn nicht erkannte. Außerdem hatte er früher keinen Bart gehabt. Sowieso: Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht. Also manchmal schon, aber mehr so, dass ich gleich wieder von ihm wegdachte. Ich wollte ihn nicht in meinem Kopf haben. Warum auch? Was sollte ich mit einem, der fand, dass er ohne mich besser lebt?

Mein Vater ist Fotograf. Ein besonderer. Der überall da hinfliegt, wo es kracht. Einmal, als ich beim Arzt in einer Zeitschrift geblättert habe, sah ich ein Foto von einem Vulkan, der gerade ausbrach. Darunter stand »Foto: Sebastian Martens«. Das ist mein Vater. Er fotografiert Krieg, Erdbeben, Hunger und Oscar-Preisträger. Hat mir meine Mutter erzählt. Und auch, dass er alles stehen und liegen ließ, wenn ein Anruf mit einem Auftrag kam. Zum Beispiel am Nachmittag meiner Taufe. Die Gäste waren gerade in dem Gartenrestaurant angekommen, wo gefeiert werden sollte, als er einen Anruf bekam, dass es einen Volksaufstand im Kongo gab.

Fairerweise muss man sagen, dass er zehn Minuten nachdachte, bevor er zusagte und sich ins Flugzeug setzte. Danach wollte meine Mutter sich das erste Mal scheiden lassen.

Mama hatte immer wieder versucht, mit mir darüber zu reden. Sie hatte mir Fotos von uns beiden gezeigt und mir erklärt, dass Papa für ein Leben mit Familie einfach nicht gemacht war. Dass manche Leute sich selbst im Weg stehen. Aber dass er mich sehr lieben würde und es nichts mit mir zu tun hätte. Ich hatte mir das angehört und es doof gefunden. Zu kompliziert für meinen Geschmack. Ich fand die Sache sehr einfach: Er war abgehauen und hatte sich nie mehr bei mir gemeldet. Obwohl ich sein Sohn war. Das war alles, was man wissen musste. Meine Meinung.

Im Übrigen verstand ich meine Mutter auch nicht. Denn ich konnte mich zwar nicht richtig an meinen Vater erinnern. Aber daran, wie meine Mutter jede Nacht geweint hatte und mit ihren Freundinnen bis spätabends in der Küche saß. Immer eine Packung Taschentücher auf der einen Seite. Und ein Weinglas auf der anderen. Irgendwann hatte das Weinen aufgehört. Wir kamen zurecht, Mama und ich. Ich vermisste nichts. Und nun war ja auch noch Herr Niendorf da, den ich Torben nennen durfte. Er verstand, was ein Fallrückzieher war, und ich guckte mit ihm zusammen Actionfilme ab zwölf.

Der Mann, der mein Vater war, hatte sich wieder aufgerichtet und machte einen Schritt auf mich zu. Als ob er mich umarmen wollte. Ich wich einen Schritt zurück.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er.

»Weiß nicht«, sagte ich. Ich war mir nämlich nicht so sicher, ob Mama das wollte.

»Ich tu dir nichts«, sagte er und grinste schief. »Das wäre ja noch schöner«, fauchte ich und merkte plötzlich, dass ich wütend wurde. Nicht ein bisschen sauer. Sondern so richtig megamäßig rot glühend wütend. So nicht-mehr-denken-können-wütend. So wütend, dass mir fast die Tränen kamen. Am liebsten wäre ich mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Allerdings wusste ich, dass ich damit nicht weit gekommen wäre. Also begann ich zu schreien.

»Was willst du hier?«, schrie ich. »Glaubst du vielleicht, dass ich mich freue?« Anscheinend hatte er so was Ähnliches gedacht, denn er wirkte ziemlich erstaunt.

»Vielleicht sollten wir drinnen darüber reden«, sagte er.