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»Otto hat gesagt, wir sind viel zu brav, und seitdem denke ich über das wilde Leben nach. Und ob er recht hat. Und was wir tun sollen, falls er recht hat. Denn falls ja, kann es nicht so bleiben.« Matti und Otto kennen sich schon ihr ganzes Leben, minus drei Wochen. Sie wohnen da, wo andere Urlaub machen - mitten in Berlin. Sie gehen zum Yoga und spielen Klavier. Matti hat die Lachsucht und Otto kann nicht singen. Alles ganz normal, also. Zu normal?! Eines Tages sehen sie in der Schule Bruda Berlin auf You-Tube rappen und beschließen: Es muss sich was ändern! Fragt sich nur, wie ... Eine Großstadt-Kindergeschichte von heute, sie handelt von Freundschaft, komischen Lehrern und seltsamen Nachbarn, Immobilienhaien und gefährlichen Gangstern, von Müttern und Vätern - vom wilden Leben eben!
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Seitenzahl: 149
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Silke Lambeck
Mit Bildern von Barbara Jung
Otto hat gesagt, wir sind viel zu brav. Seitdem denke ich über das wilde Leben nach. Und ob Otto recht hat. Und was wir tun sollen, wenn er recht hat. Denn dann kann es nicht so bleiben.
Er hat es natürlich nicht einfach so gesagt, es gab schon einen Anlass. Und der ging so:
Wir hatten Musik bei Frau Schütz, was ziemlich langweilig ist. Wir singen Lieder, die ungefähr hundertdreißig Jahre alt sind. Oder zweihundert. Vorher machen wir Stimmübungen und müssen tief atmen oder uns schütteln und recken. Manchmal ist das echt peinlich und manchmal muss ich so lachen, dass ich nicht mehr singen kann. Otto kann sowieso nicht singen, und zwar, weil er die Töne nicht trifft. Er brummt einfach und hofft, dass es nicht auffällt. Es fällt aber auf und Frau Schütz sagt jedes Mal: »Otto, du sollst nicht brummen, sondern singen.« Otto guckt dann beleidigt und sagt: »Ich gebe mir wirklich Mühe.« Dann muss ich sofort wieder lachen.
Jedenfalls hatten wir neulich noch eine Viertelstunde Zeit und Frau Schütz sagte: »Ich habe eine Überraschung für euch.« Bei mir läuteten die Alarmglocken, denn das letzte Mal, als sie eine Überraschung für uns hatte, hat sie sich vor die Klasse gestellt und mit sehr lauter Stimme einen Teil des Weihnachtskonzerts gesungen, für das sie gerade mit ihrem Chor übte. Erst ging es noch, aber dann wurde ihre Stimme höher und höher und sie fuchtelte mit ihren Armen und riss den Mund weit auf, und gerade als sie ganz hoch sang, musste ich wieder lachen.
Ich kann einfach nicht anders. Es ist eine Art Lachsucht. Das Lachen gluckert in mir hoch, erst bis zur Brust, und ich versuche noch, es unten zu halten. Und dann steigt es höher und höher, ich presse die Lippen zusammen, versuche, an was Trauriges zu denken – und »Peng!« – lacht es aus mir heraus. Wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Oder so ähnlich. Jedenfalls: Das passierte. In die feierlichste Minute, in den höchsten Ton quietschte mein Lachen. Und als ich erst mal angefangen hatte, mussten die anderen auch lachen. Vorbei war es mit dem Weihnachtskonzert. Frau Schütz hörte auf zu singen, packte ihre Tasche und ging. Sie sah etwas betrübt aus. Ich hätte ihr gerne noch gesagt, dass es nichts mit ihr zu tun hatte, aber wahrscheinlich hätte sie mir sowieso nicht geglaubt.
Jetzt war allerdings fast noch Sommer, und ich war ziemlich sicher, dass es kein Weihnachtslied geben würde. Und tatsächlich bat sie uns, die Vorhänge zuzuziehen, und fragte Otto, ob er am Smartboard YouTube einstellen könnte. Wir haben in der ganzen Schule Smartboards, was natürlich eigentlich ganz cool ist. Wenn die Lehrer sie bedienen könnten. Können sie aber nicht. Die einen versuchen eine halbe Stunde lang fluchend, das Ding in Gang zu bringen, und hören dann mit hochrotem Gesicht auf. Die anderen suchen mit wichtiger Miene einen Gedichttext auf Google und werfen ihn dann triumphierend an die Wand. Am besten war die Geschichte von Herrn Dr. Wilmroth, der das Smartboard für eine Art weiße Tafel hielt und anfing, mit Edding-Stiften darauf herumzumalen. Die schreienden Schüler ignorierte er. Erst als er sich selber verbessern wollte und die Schrift sich nicht abwischen ließ, bemerkte er seinen Irrtum. Zu spät.
So gesehen war es ziemlich okay von Frau Schütz, dass sie schon mal von YouTube gehört hatte und die Sache vernünftigerweise einem Schüler überließ. Jedenfalls ging Otto nach vorne, tippte zweimal auf dem Gerät herum und hatte YouTube gefunden. Frau Schütz sah ihn mit einem Ausdruck ehrlicher Bewunderung an. Das war Otto im Musikunterricht noch nicht passiert. Er wollte an seinen Platz zurückgehen, aber sie hielt ihn am Ärmel fest. »Bitte gib mal ›Bruda Berlin‹ ein«, sagte sie. Otto tippte in die Suchmaske, und auf dem Smartboard erschien das Bild eines südländisch aussehenden Jungen, der an einem glänzenden schwarzen BMW lehnte. »Danke«, sagte Frau Schütz, die sich offenbar imstande fühlte, alleine auf »play« zu drücken.
Sie zog die Vorhänge zu und ließ das Video abspielen. Der Junge war vielleicht vierzehn, und nach einem kurzen Intro begann er, ziemlich lässig eine Straße entlangzugehen und sang dabei, was das Zeug hielt. »Ich bin Bruda Berlin und ich rappe vor mich hin, hab nichts anderes im Sinn, weil ich Gangsta bin. Ich bin Bruda Berlin und ich gehör hierhin, du, ich schlag dir gleich aufs Kinn, weil ich Gangsta bin.« So ging das weiter und nach ein paar Minuten hätte ich mitsingen können.
Es war echt still im Klassenraum. Carlo hatte aufgehört, mit Papierkugeln nach Marie zu werfen. Der Junge im Video war cool, das musste man sagen, und dabei war er nur ein paar Jahre älter als wir. In der letzten Szene grüßte er einen älteren Jugendlichen mit High Five und sang dann noch mal: »Ich bin Bruda Berlin, stecke ganz tief drin, bin ein riesiger Gewinn … weil ich Gangsta bin.« Damit grinste er in die Kamera, drehte sich um und lief langsam mit seinen Kumpels die Straße runter.
Frau Schütz gelang es, das Video zu stoppen und sie sah uns erwartungsvoll an.
»Wie hat euch das gefallen?«, fragte sie.
»War okay«, sagte Carlo.
»Ganz cool«, ergänzte Otto.
»Mahmoud ist dreizehn und hat das Video selbst produziert und geschnitten«, sagte sie. »Es hat auf YouTube 120 000 Klicke, oder wie das heißt.«
»Klicks!«, korrigierte ich sie.
»Wie auch immer – ich möchte, dass ihr einen Rap macht und vor der Klasse aufführt. Ihr könnt euch auch zu zweit oder zu dritt zusammentun, dann müssen nicht alle singen. Es soll um irgendetwas gehen, das mit euch zu tun hat.«
»Kriegen wir eine Note dafür?«, fragte Franzi, die in allen Fächern die Beste war.
»Ja«, sagte Frau Schütz.
»Fürs Singen?«, fragte Otto. Er klang ängstlich, und ich merkte, wie das Lachen hochkroch, als ich mir Otto beim Rappen vorstellte.
»Nein, es muss nicht jeder singen«, sagte Frau Schütz. »Aber ihr sollt das Lied zusammen erfinden.«
In der Klasse hing eine Art verwirrte Stille. Vielleicht, weil die einen nicht dichten und die anderen nicht singen konnten. In die Verwirrung hinein läutete die Pausenklingel. »Okay, viel Spaß«, sagte Frau Schütz. »Ich bin gespannt.«
Otto holte mich auf der Treppe ein. Seine Hose hatte einen riesigen Fleck auf dem Oberschenkel und der Bügel seiner Brille war an einer Seite mit Tesaband geklebt. Seine Mutter hatte sich geweigert, sie reparieren zu lassen. Weil Otto dreimal in zwei Monaten draufgetreten war.
»Matti«, sagte er, mit einer Stimme so weich wie Samt und Seide.
»Nein«, antwortete ich.
»Du weißt doch noch gar nicht, was ich dich fragen will.«
»Oh, doch«, sagte ich. »Du willst mit mir rappen. Nur dass du nicht singen kannst. Macht nix. Aber du kannst auch nicht reimen. Das heißt, ich muss alles alleine machen.«
»Och, Matti«, sagte Otto.
Und damit hatte er mich. So war es schon immer.
Wenn er auf die Art »Och, Matti« sagt, fühle ich mich alles auf einmal: Geschmeichelt, weil er meine Hilfe braucht. Verantwortlich, weil er immerhin mein bester Freund ist. Ein kleines bisschen wütend, weil er das ausnutzt. Und dann ist es auch ulkig. Ich musste also lachen. Und wenn ich erst mal lachen muss, sage ich zu allem Ja und Amen.
»Aber nur, wenn du wenigstens mitdenkst«, sagte ich.
»Klar!«, rief er. »Ich denk voll nach. Versprochen.«
Ich hielt ihm die Hand entgegen. Er schlug ein. »Nur mit dem Gangsta-Rap, das wird schwierig«, sagte er.
»Wieso?«, fragte ich.
Er sah mich an, vollkommen ruhig und vollkommen ernsthaft. »Wir sind viel zu brav«, sagte er.
Und je länger ich darüber nachdenke, desto nervöser macht mich das. Denn ehrlich, Otto hat absolut recht.
Ich glaube, ich hätte nicht halb so viel über die Sache mit dem Bravsein nachgedacht, wenn es nicht Otto gewesen wäre, der es gesagt hat. Denn Otto kennt mich mein ganzes Leben minus drei Wochen. Als ich drei Wochen alt war und Otto vier, waren meine Mutter und Ottos Mutter zur Antischwangerschafts-Gymnastik gegangen, hatten sich kennengelernt und ratzfatz befreundet. Otto und ich waren bei derselben Tagesmutter, im selben Kindergarten und wurden dann beide in die 1c eingeschult. Otto kannte meine Oma, mein geheimes Süßigkeitenversteck und sogar meinen Vater, bevor er sich vom Acker gemacht hatte. Ich wiederum wusste, dass Ottos Mutter sich immer freitags mit einem alten Freund traf, von dem Ottos Vater nichts wissen durfte. Ich kannte Ottos Brüder, Fritz und Franz, und seine große Schwester Martha. Wir hatten zusammen Silvester gefeiert und um Ottos Hund Heidi geweint. Wenn Otto so etwas über uns sagt, dann ist was dran.
Ich hätte von mir selber nie gesagt, dass ich brav bin. Und meine Mutter ganz sicher auch nicht. Sie findet, dass ich zu wenig Klavier übe, zu oft am Handy bin, mich morgens nicht schnell genug anziehe und meine Hausaufgaben nicht ernst nehme. Und noch alles Mögliche andere.
Ottos Eltern denken, glaube ich, nicht so viel darüber nach, ob er brav ist. Sie sind zufrieden, wenn er morgens aufsteht, zur Schule geht, alle seine Kurse besucht und im Hellen nach Hause kommt. Immer, wenn ich komme, oder jedenfalls meistens, stürmt gerade einer von ihnen aus der Tür. Sie sind irrsinnig beschäftigt. ÜBERbeschäftigt, finde ich. Wenn sie nicht unterwegs sind, reden sie darüber, was sie alles noch tun müssen. Obwohl ich sie so lange kenne, weiß ich nicht genau, womit sie ihr Geld verdienen. Otto weiß es auch nicht. Als ich ihn mal gefragt habe, sagte er: »Irgendwas mit Medien«, und zuckte die Schultern.
Eins allerdings wissen wir: was seine Mutter neben der Arbeit macht. Es ist ein Geheimnis, das Otto, seine Geschwister und ich teilen und absolut geheim halten. Und zwar, dass Ottos Mutter einen Mamablog schreibt. Wenn jemals jemand rauskriegt, dass dies der Blog von Ottos Mutter ist, wäre das sein Untergang.
Der Blog heißt »Mama Mitte« und wird richtig viel gelesen. Zum Glück nicht von Menschen, die so alt sind wie wir. Das Schlimme ist, worüber sie schreibt. Sie könnte ja über Antischwangerschafts-Gymnastik und so was schreiben. Erwachsenensachen. Aber was tut sie? Sie schreibt über Otto. Und Fritz und Franz und Martha. Es ist so überpeinlich, dass mir jedes Mal heiß wird, wenn ich es lese. Das einzig Gute ist, dass sie keine echten Fotos in den Blog stellt. Wer also nicht weiß, dass es Ottos Mutter ist, ahnt nicht, um wen es geht. Otto denkt aber, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es jemand rauskriegt. Und dass sich dann die ganze Klasse darüber lustig macht, was in Ottos Familie los ist. Sie schreibt zum Beispiel rein, dass Otto in verschiedenen Socken losläuft und mit neun Jahren noch an den Weihnachtsmann glaubte (»Stimmt nicht!«, sagt Otto). Dass Fritz und Franz jeden Morgen Kakao im Bett trinken und Angst vor der Kitareise haben und dass Martha sich das erste Mal verliebt hat. Das war das Schlimmste. Martha ist völlig ausgeflippt, als sie das gelesen hat. Ottos Mutter sagt, es sei doch anonym, aber wer weiß. Martha erzählt ihrer Mutter jetzt gar nichts mehr. Und Otto hat jeden Tag Angst, dass jemand dem Blog auf die Schliche kommt.
Heute Nachmittag hatten wir uns verabredet, um über den Rap zu sprechen. Wir haben uns nach der Schule Pizza aufgebacken und uns dann an den Küchentisch gesetzt. Erst mal haben wir Videos angeguckt. Zur Inspiration. Mein Großvater sagt immer: »Inspiration ist alles!« Aber der muss auch keine Hausaufgaben machen. Es war nämlich nicht so, dass wir uns nach dem Videogucken besser fühlten oder mehr Ideen hatten. Im Gegenteil. Diese ganzen Typen mit ihren dicken Ketten und Muskelshirts und schwarzen Autos und Bärten – das sind echte Rapper. Und Bruda Berlin ist der kleine Bruder von echten Rappern. Er hat das Gangsta-Gen. Wir haben das Gangsta-Gen nicht. Unsere Freunde haben es nicht. Unsere Eltern nicht. Um uns herum hat es überhaupt niemand.
In unserem Viertel gibt es keine Spielhöllen oder Döner-Läden oder Ein-Euro-Shops. Es gibt noch nicht mal mehr einen normalen Lebensmittelladen. Oder einen Bäcker. Dafür haben neulich zwei vegane Cafés eröffnet und eine Kindermode-Boutique, die »Carl und Clärchen« heißt. Die schlimmsten Verbrechen, die hier passieren, sind Kinderwagen-Diebstähle. Was toll ist: Wir können alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen. Klavier (ich), Yoga (Otto), Mathenachhilfe (ich), Fechten (ich), Gitarre (Otto), Kochen für Kids (Otto). Hört sich irgendwas davon nach Gangsta-Hobbys an?
»Wir machen eben auch nie was Verbotenes«, sagte Otto und klang dabei sehr trübsinnig. »Na ja …«, sagte ich. Wir machen schon verbotene Sachen. Wir sitzen am Computer, wenn wir nicht dürfen, klauen Schokolade aus der hintersten Ecke vom Schrank, fahren nach der Schule ohne Helm auf dem Fahrrad und sind schon heimlich in Filme ab zwölf gegangen, mit Toni, der dreizehn ist und einen Schülerausweis für uns gefälscht hat.
Aber ich muss zugeben, es war nichts gangstamäßig Verbotenes. Nichts, womit man dicke Goldketten oder dicke Autos ergaunert. Wobei uns dicke Autos ja auch nichts nützen würden. Und Otto würde seine goldene Kette sowieso am selben Tag verlieren.
»Woran dachtest du denn so?«, fragte ich. »Raubüberfälle? Wohnungseinbrüche?«
Otto starrte in die Luft. Er schien sehr angestrengt nachzudenken, aber offensichtlich fiel ihm nichts ein. »Nichts so richtig Schlimmes«, sagte er schließlich. »Und es darf nicht zu gemein sein. Also nix mit alten Leuten oder Kindern.«
»Was kaputt machen geht auch nicht«, sagte ich. Wenn man so ganz genau überlegte, was alles verboten war, hatte vieles mit Leute-Ärgern oder Sachen-Kaputtmachen zu tun.
»Wir müssen also was Verbotenes machen, das niemandem schadet?«, fragte Otto. »Warum sollte es dann verboten sein?«
»Wenn es jemandem schadet, müsste der es zumindest verdienen«, sagte ich.
Wir dachten. Wir schwiegen. Dann sahen wir uns plötzlich gleichzeitig an. Und wie aus einem Mund riefen wir: »Horst Zimmermann!«
Horst Zimmermann kennt jeder in unserer Straße. Ach Quatsch, in unserem ganzen Viertel. Zumindest jeder, der unter vierzehn ist. Und jeder mit Kindern. Horst Zimmermann gehört der letzte normale Laden in unserer Straße. Er heißt »Zur Ecke« und ist ein Kiosk mit angeschlossenem Späti, in dem es nicht etwa Buddha-Rollen und Rhabarberschorle gibt, sondern Riesengummibären und Eis am Stiel und Bier und abgepackte kleine Salamis. Horst Zimmermann ist klein und drahtig und auf seinem Kopf wellen sich dunkle, gegelte Haare. Er raucht wie ein Schlot und steht deshalb meistens auf der Straße. Egal, bei welchem Wetter. Das hat – aus seiner Sicht – den Vorteil, dass er besser brüllen kann. Denn er brüllt immer. Und zwar meistens in unsere Richtung. Für seine Freunde ist er »Hotte«. Für uns und unsere Freunde und unsere Eltern und die Eltern unserer Freunde ist er der »Kinderfeind«.
Ich weiß nicht, wer ihm den Namen zuerst gegeben hat. Aber ich weiß, dass er ihn sich verdient hat. Und zwar so richtig. Um ein echter Kinderfeind zu sein, reicht es nicht, unfreundlich zu sein, wenn einer mit einem Zehn-Euro-Schein kommt statt mit Kleingeld. Oder loszupoltern, wenn einer zu leise spricht. Oder eine Mutter anzubrüllen, weil ihr Baby in seinem Laden weint. Nein, man muss jeden Tag so richtig bekotzt sein, und das über Jahre. Hotte Zimmermann ist bekotzt. Er schreit uns an, wenn wir Ball spielen und wenn wir Fahrrad fahren, wenn wir zu nah an ihm vorbeigehen und wenn wir die Straßenseite wechseln.
Meine Mutter sagt immer, dass Leuten, die besonders unfreundlich sind, irgendwas Schlimmes im Leben passiert ist. Vielleicht stimmt das ja. Aber ehrlich: Weil man selber was Schlimmes erlebt hat, ist das ja noch kein Grund, das Schlimme im Leben von anderen zu sein. Ich meine, ich könnte ja auch den ganzen Tag rumprügeln und schimpfen, weil mein Vater abgehauen ist. Mach ich aber nicht. Bei Hotte Zimmermann denke ich, dass ihn vielleicht Vater und Mutter verlassen haben, weil er schon als Kind so scheiße war. Und dann wurde er noch fieser. Und nun ist er ein Megaekel.
Wir könnten ihn auch einfach ignorieren, aber er ist eben der mit den Süßigkeiten und dem Eis. Deswegen geht das nicht. Der einzige andere Eisladen nimmt 1,80 pro Kugel und es gibt Quitte-Lavendel und Chili-Erdbeere. Wer will das essen? Erdbeere reicht völlig. Meine Meinung. Dann kostet die Kugel auch nur 90 Cent.
Jedenfalls – das ist der Grund, warum wir öfter mal in Hotte Zimmermanns Laden gehen, obwohl er gemein und unfreundlich ist. Und Hotte Zimmermann ist auf jeden Fall jemand, dem man ein bisschen schaden kann, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
Otto und ich guckten uns an und grinsten. »Außerdem«, sagte Otto mit seiner »Und-jetzt-kommt’s!«-Stimme, »außerdem könnten wir den Rap über ihn schreiben.«
Otto ist ziemlich schlau. Nicht die Sorte schlau, die man sofort merkt. Er ist auch nicht so einer, der immer alles weiß. Oder etwa auswendig lernt. Er ist mehr so still-schlau. Er denkt über Sachen nach, über die ich nie nachdenken würde. Zum Beispiel, ob ein blinder Fisch traurig ist, weil er blind ist. Oder ob Fische nie traurig sind. Oder ihm das Blindsein egal ist, weil es sowieso dunkel ist, da ganz unten im Meer. Ein andermal hat er mir erzählt, dass er sich nachts im Bett erschreckt, weil er über die Unendlichkeit nachdenkt. Ich schlafe im Bett.
Die Idee mit dem Rap war super. Wir schoben die Pizzapackungen zur Seite, setzten uns an den Küchentisch und fingen an. Auf Zimmermann reimte sich: kann, dann, wann, fun, run, Spann. Und natürlich alles auf Mann. Blödmann, zum Beispiel. Oder Dobermann.
Auf Hotte reimen sich Motte, Flotte und Karotte. Alles Sachen, die leider nicht so gangstamäßig klingen.