Mein Herz ist eine Krähe - Lina Nordquist - E-Book

Mein Herz ist eine Krähe E-Book

Lina Nordquist

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Beschreibung

Norrland um 1900: Unni, Armod und der kleine Roar mussten überhastet aus Norwegen fliehen. Inmitten der blauen Berge und dunkelgrünen Wälder Hälsinglands finden sie ein neues Zuhause. Doch die brutalen Launen der Natur und des Landbesitzers lassen die kleine Familie kaum Frieden finden. Mehr als 70 Jahre später plant Kåra die Beerdigung ihres Schwiegervaters Roar. Was ist damals wirklich passiert? Und welche Geheimnisse verbinden Kåra und Unni über die Jahrzehnte hinweg?

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Lina Nordquist

Mein Herz ist eine Krähe

Roman

Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat

Diogenes

Für meine Familie, weil ihr das Schönste auf der Welt seid und mir oft mehr Verständnis entgegenbringt, als ich verdient habe. Für meine Schwester, die Bücher fast noch mehr liebt als ich. Für alle, die gelesen, mir zugehört und mir geholfen haben. Für den Fernsehtechniker, der versehentlich dafür gesorgt hat, dass wir nur noch zwei Kanäle empfangen, sodass mir genug Zeit fürs Schreiben bleibt.

 

Kahlschlag

Unter der Sonne, offene weiße Fläche. Lautloses Land. Ein paar Meter entfernt werfen mächtige Bäume Schatten, aber nahebei ist nichts, nur alte Kerben, vom Regen aufgeweichte Scharten, nackte Baumstümpfe.

Und mittendrin ein toter Mann. Falten wie in einer liebevoll abgegriffenen Ledertasche. Haare wie Wollgras. Weiß und dünn wirbeln sie in der Brise, die über den Kahlschlag weht, zum Wald hin. Ringsumher neigt sich das Farnkraut, ein Kauz flattert zum nächsten Zweig. Ameisen wimmeln. Die Bäume rund um den Kahlschlag strecken ihre Wurzeln nach dem Mann und den Stümpfen aus und können doch nichts für sie tun.

Von seinem Kopf zieht sich eine Spur aus zähem rotem Blut über Tannennadeln, Erde und Schnee wie ein im Fluss erstarrter Wasserlauf. Der Hochsitz vermisst den Mann jetzt schon. In seinem Schädel klaff‌t eine Wunde, aber er jammert nicht, atmet nicht, liegt einfach da in Waldnähe, so wie im Leben, das Gesicht den Baumkronen zugewandt. Er hat die Augen geschlossen, ist blind. Er existiert nicht mehr, wird nie wieder sehen, doch die Krähen sehen ihn noch immer. So wie ich.

Kåra

Am Küchentisch

»Freitag in zwei Wochen?«

Meine Schwiegermutter wirkt gestresst, als sie das fragt.

»In Ordnung«, antworte ich.

Natürlich ist Bricken aufgewühlt – ihr Mann ist kürzlich gestorben, die Papiere zwischen uns auf der Wachstischdecke dienen der Planung der Beerdigung. Auf sämtlichen Formularen der Name meines Schwiegervaters, Roar – aber sein erbsengrüner Lehnstuhl mit dem Flickenteppichbezug bleibt leer. Meine Schwiegermutter fingert an einer winzigen Narbe am Haaransatz. Graue Strickjacke, weißes Haar, buschige weiße Augenbrauen, Pergamenthaut. Sommersprossen und Leberflecke. Schlaghosen tragen wir beide nicht, dafür sind wir zu alt. Dreiundfünfzig und weit über siebzig und doch gleichermaßen zermürbt. Schon seit dreißig Jahren reiben wir uns in diesem Haus aneinander auf. Und dann er, mein Schwiegervater, der nicht hier geboren wurde, aber hier laufen lernte. Fast sein ganzes Leben hat er in diesem Haus verbracht.

»Erdbestattung und Sarg.«

Bricken blickt starr auf die Papiere hinab.

»Urne«, entgegne ich.

»Sarg.«

»Warum fragst du überhaupt?«

»Hab ich ja nicht.«

Wir schweigen.

Vorhin habe ich Eier gekocht, aber dann fiel mir ein, dass ja immer nur er welche wollte. Jetzt ist Roar bloß eine Kuhle in dem durchgesessenen Sessel in der Stube. Sein Kaffeebecher steht in dem hellblauen Hängeschrank über der Spüle, sein Kreuzworträtselheft liegt für niemand aufgeschlagen herum, und die Welt dreht sich weiter, hat sie überhaupt etwas gemerkt? Brickens markante Brille, zwei Lupen mit Bügeln; ihre Augen verwandeln sich in starrende braune Kugeln, es ist, als sähe sie alles, was ich getan habe. Hier in der Küche müssen wir uns den Sauerstoff‌ teilen, ich richte den Blick aufs Fenster, lasse ihn an der staubsteifen Spitzengardine vorbeigleiten. Draußen die vertrocknete spätsommermüde Wiese. Jetzt sind wir nur noch zu zweit, zum nächsten Nachbarn ist es fast einen Kilometer. Die Ortschaft liegt fünfundzwanzig Minuten Fußmarsch entfernt, aber viel ist ohnehin nicht mehr davon übrig. Nur ein Gemischtwarenladen, zwei neue Bremsschwellen und ein paar schmutzige Eternitfassaden. Und natürlich das Sägewerk.

Der Zaun steht schief, eine Latte fehlt, gleich dahinter ragen Bäume auf, dort, wo der große Wald beginnt. Nicht mal das Wetter bietet Anlass zum Reden – nur leichter Abenddunst, mehr nicht. Während die Stille zwischen Bricken und mir anschwillt, leiert das Radio vor sich hin. Die Geiselnahme am Norrmalmstorg scheint vorbei zu sein. Sechs Tage als Geisel. Was ist das schon, also im Vergleich? Ferdinand Marcos wurde als Präsident auf Lebenszeit vereidigt, sicher auf eigenen Wunsch. Und wer hat mir lebenslänglich gegeben? Ich will nicht hier sein, aber wo kann ich hin?

Bricken richtet sich auf, fasst sich an den Rücken. Ihr Körper ist wie spröder Lehm, ich weiche ihrem Blick aus.

»Noch Kaffee?«

Ehe ich antworten kann, schenkt sie mir nach. Kariertes Wachstuch, Kochkaffee aus der Thermoskanne, Würfelzucker in einer blau geblümten Mokkatasse. Tauglichkeit und Volksheim. Herrgott, wenn sie wüsste, was in dieser Küche alles vor sich ging, wenn sie nicht hinsah. Die Furche zwischen ihren Augenbrauen ist nicht allein Konzentration geschuldet, Bricken muss beide Hände zur Hilfe nehmen, um nichts zu verschütten.

»Danke.«

»Ich dachte mir schon, dass du wieder mehr willst.«

Ich antworte nicht. Sie gibt einen Zuckerwürfel in ihre Tasse, schenkt sich randvoll ein. Für meinen Geschmack waren die Tassen schon immer zu klein. Man kriegt den Henkel so schlecht zu fassen, kein Wunder, dass Roar den Becher aus der Holzfabrik lieber mochte. Brickens Kaffee ist mal wieder zu schwach. Sie sieht mich auf‌fordernd an, als solle ich sagen, wie der Kaffee schmeckt. Ich will nicht noch mehr lügen müssen.

Die Stille bildet eine Glasglocke über uns. Allein die Vorstellung, Bricken könnte Bescheid wissen, schürft mir den Brustkorb auf – wir waren doch immer so vorsichtig. In ihrem Gesicht sind kleine Blutgefäße geplatzt, vielleicht eins für jedes Jahr. An einer Stelle ähneln die Äderchen einer Spinne, zornig-rote Verästelungen. Draußen wiegen sich die Baumkronen, bis auf die gekappte Salweide, die nur einen Ast zum Winken hat. Es wird einen Herbst geben, in dem der Wind Zweige abreißt und ins Moos schleudert und Gartentische umstößt. Unwetter, wie ich sie hier im Haus nie anzuzetteln wagte.

»Ob unsere Kurrbits denselben Weg genommen hat wie Roar, als sie damals verschwand?«, fragt Bricken, den Blick unverwandt auf den Zaun gerichtet.

Ich antworte nicht, habe andere Probleme als eine tote Katze.

Im Fernsehen zeigen sie später Szenen einer Ehe, aber ich habe keine Lust, mir anzuschauen, wie dieses Paar sich gegenseitig an die Gurgel geht, schließlich haben wir genug mit uns zu tun. Soll ich weiter über die Dinge schweigen, die mich nachts zermartern – die Tabletten, der Holzschuppen, das Ventil –, oder schreie ich die Wahrheit in den Himmel wie die Gänse? Falls meine Stimme überhaupt trägt.

Draußen der Norrlandsommer, das Licht Hälsinglands. Sonne und Mond scheinen nachts Seite an Seite, und bald rufen die Einsamen und Verzweifelten bei den Abendsendungen im Radio an. Ich weiß, wie sie sich fühlen. Mein Haar ist ordentlich gebürstet, ich habe Balsam auf den Lippen und immerzu das Gefühl, in eine Reißzwecke zu treten. Als ich das erste Mal vor Angst eingenässt habe, war ich sieben, mit vierzehn passierte es immer noch, ich wurde achtunddreißig, siebenundvierzig, dreiundfünfzig. Mein Herz ist eine Krähe hoch oben in einem Baum. Mal krächzt sie in der Ferne, mal kommt sie näher. Ich schätze, ich wurde so geboren, und trotzdem habe ich mich oft gefragt, warum die Krähe gerade mich auserwählt hat. Aber ich klage nicht: Wenn die Angst kommt, dann wispernd, mild wie eine Spätsommerbrise. Mit den Jahren ist es so geworden. Als ich Kind war, war es schlimmer, obwohl ich eigentlich vor nichts Angst zu haben brauchte. Damals.

 

Ich will, dass Roars Witwe mich bittet, die Beerdigung zu planen. Ich sollte es sein, die sich hinters Telefon klemmt und alles organisiert. Die Kleidung heraussucht. Die Anekdoten über ihn erzählt und eine Sängerin anheuert, die bei der Trauerfeier Tove Janssons Herbstlied anstimmt. Aber das kann ich Bricken nicht erklären. Also halte ich mich zurück. Würde ich jetzt erzählen, was ich getan habe, wenn sie nicht hier war, müsste ich vermutlich meine Siebensachen packen und verschwinden. Oder man würde mich wegsperren. Deshalb nehme ich stattdessen ein Marmeladenplätzchen und kaue darauf herum. Und so sitzen wir da. Einsam zu zweit. Wiederkäuend, ausharrend. Teilen uns den Raum hier im Haus, wie jeden einzelnen Tag, seit ich Brickens und Roars Sohn geheiratet habe und nichts wurde, wie es hätte werden sollen. Am Fenster surrt eine Fliege. Sie will raus, so wie ich.

Dann bricht Bricken das Schweigen.

»Wusstest du, dass Roars Eltern da drüben zwischen den Kiefern aus dem Wald kamen?« Sie deutet mit dem Kinn zum Fenster. »Unni und ihr Armod haben sich genau die Stelle ausgesucht, wo die Sonnenstrahlen am meisten Platz hatten. Sie kamen zu Fuß aus Norwegen und hatten nichts dabei außer einem kleinen Jungen, einem Holzkästchen und einem Bündel Proviant.«

Mit dem Fuß rückte sie den Küchenteppich zurecht und sieht sich um, als gäbe es in dieser vorgestrigen Küche irgendwas Erbauliches zu entdecken. Hier drinnen ist so gut wie alles aus der Mode gekommen, uns inbegriffen, aber die Schränke sind hübsch, und zum letzten runden Geburtstag hat Bricken eine nagelneue Resopalplatte bekommen. Ich bekam nur eine Uhr. Auf der Suche nach Glanz wandert ihr Blick weiter, streift einen zerbeulten Aluminiumtopf und fettige Fliesenfugen, bleibt kurz an der vergilbten Synthetikgardine hängen. Dann findet sie etwas, das Fensterblech – der Weißlack wurde letztes Jahr aufgefrischt, er schimmert leicht. Bricken fährt mit der Hand darüber.

»Als sie hier einzogen, in Frieden, war das Haus kleiner und marode, es hatte lange leer gestanden. Im ersten Moment haben sie wahrscheinlich nur ein schmutzig graues Etwas zwischen den Bäumen gesehen. ›Hier sind wir sicher‹, sagten sie dann. ›Das wird unser Zuhause.‹ Dem Waldbauer passte es bestimmt gut in den Kram, dass sich jemand um das Haus kümmern wollte, und trotzdem hat er sich ordentlich bezahlen lassen.«

Ich habe so viele Geschichten über Unni und Armod gehört. Und mir oft gewünscht, ich wäre mehr wie Unni: geliebt, stark und imstande, einfach zu gehen. Alles zurückzulassen. Ich male mir aus, wie alles hätte sein können.

Unni

Wanderweg

Ich weiß nicht, was hätte werden können, aber ich weiß, wie es war. Und hätte ich damals gewusst, wie alles enden würde, wäre den Tagen ein anderer Wert zugekommen. Dem Warten. Selbst wenn ich in die Zukunft hätte blicken können, hätte ich sie nicht aufgehalten. Trauer fragt nicht nach Richtig oder Falsch, Glück nicht nach Moral.

Der Bauer, der mich fortbringen sollte, stank nach Fusel. Es war ein kalter Tag, als ich hinten auf seinen Karren kletterte, ringsum tuschelten die Leute. Er ließ meinen Arm los und stieß mich in den Rücken – ich sollte in eine Art Käfig kriechen. Viele, die ich seit Langem kannte, wandten den Blick ab. Einer spuckte auf den Boden. Unser Ziel: ein kalter Raum mit verriegelter Tür. Der Bauer trieb das Pferd an, und wir brachen auf. Als der Wagen losrollte, klapperte das Gitter. Das Pferd trabte schneller, Eisen schmetterte gegen Holz, und da begriff ich, dass der Bauer den Käfig nicht ordentlich verschlossen hatte. Die Sekunden flogen dahin. Oh, wie ich zu dir rannte, Roar! Ich befahl meiner Lunge nicht aufzugeben, ignorierte den Schmerz in meinem Fuß, bis ich in der Ferne das Wasser glitzern sah und am Ufer Armod, der ein Boot teerte. Und dann sah ich dich, Roar, dein helles flaumiges Haar hinter dem leuchtend blauen Heckspiegel.

Armod ließ das Boot halb geteert zurück. Er verließ meine Stadt als Erster, mit langen, entschlossenen Schritten, obwohl er hätte bleiben können. Nur ich warf noch einen letzten Blick über die Schulter, betrachtete den Zipfel Norwegens, der bis dahin meine Heimat gewesen war. Wir ließen den Hunger hinter uns, das Meer, die Anschuldigungen. Die hasserfüllten Augen und ausweichenden Blicke. Frühlingsgrüne Berge spähten zu den Menschen in der Stadt hinab, die winzige Gräber für ihre toten Kinder aushoben. Tränen schmecken nach Meer. Das Meer schmeckt nach Tränen. Ich wollte nicht weg, wollte dir, Roar, nicht diese Wanderung ins Unbestimmte antun, aber ich hatte keine Wahl. Viele Tage waren wir unterwegs, am Ufer des Jonsvatnet entlang, wo sich der Himmel in unseren Augen spiegelte, dann durch dunkle Wälder. Mein rechter Fuß schmerzte, doch damit konnte ich leben. Schlimmer war die Angst. Ich trug ein Kind im Arm, kaum ein Jahr alt, und im Bauch einen Apfelkern, der langsam wuchs. Ihr wart mir so nah. Du, Roar, warst das schlafende Bündel, die Beinchen zum Schutz vor Kälte an den Körper gezogen. Der namenlose Kern unter meinem Nabel war deine Schwester und ihr Vater ein Mann, den ich kaum kannte, doch seine Augen waren freundlich, ich vertraute ihm.

Außer dem rot lackierten kirschhölzernen Medizinkästchen, das ich von Wehmutter Brita bekommen hatte, besaß ich nur das, was ich am Leib trug: ein mausbraunes Kleid, ein Schultertuch und eine abgenutzte weiße Bluse, das Loch am Kragen fein säuberlich gestopft. Den Rest hatte ich zurücklassen müssen. Und er, der aus Kristiania stammte, wo ich nie gewesen war, trug eine verblichene schwarze Hose und eine Jacke, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Fahle, leblose Stoffe. Aber sein Gesicht war lebhaft, und er kam mit mir, er hatte dich gern, Roar. Wir kannten uns seit sechs Monaten, teilten seit einiger Zeit das Bett. Ich liebte seinen Namen, Armod, seine von Wanderungen und Wetter gegerbten Arme, voller Haare, mein eigener kleiner Märchenwald. Ich liebte, dass er angeboten hatte, auf dich aufzupassen, als ich mit meinem Medizinkästchen zu dem Mädchen am Fuß des Bergs musste. Ich konnte kaum glauben, dass er mich tatsächlich auf meiner Flucht begleiten wollte.

»Ich komme mit dir.«

Kaum hatte er das gesagt, waren wir aufgebrochen. Solange man liebt, dachte ich. Damals. Als wäre es so einfach.

Unsere Habe schnallte er sich auf den Rücken, von seinen früheren Wanderungen war er daran gewöhnt. Anfangs sah ich mich in einem fort um, die Worte des Pfarrers hallten mir hinterher. Mörderin. Wie lange würde es dauern, bis man uns einholte? Doch mit jedem Kilometer fiel mir das Atmen leichter. Wenn wir morgens erwachten, war das Feuer fast erloschen, doch das letzte Knistern schenkte uns genug Wärme, um den Tag zu beginnen. Ehe wir aufbrachen, pinkelte Armod oft in die Glut, um den Wald zu schützen. So langsam die Tage verstrichen, so schnell schwand unser Proviant. Armods Rucksack wurde immer leichter, bald hatten wir nur Anzündholz und mussten uns etwas zu essen kaufen. In der Ferne hohe, schneegetupf‌te Berge, obwohl es Sommer war.

Schon da musste er etwas wie Liebe empfunden haben – sonst hätte er mich wohl kaum begleitet, durch Dörfer und über Landstraßen, durch tanzenden Platzregen und gleißendes Sonnenlicht. Sein Anblick und sein Lachen wärmten mich. Doch die Gebirgsluft war eisig. Die Feuchtigkeit umschloss uns, weigerte sich, zum Meer zurückzukehren. Wasser drang in unsere Schuhe. Wenn ich Armod ansah, dachte ich oft, er würde sich jeden Augenblick umdrehen, mir sagen, ich müsse allein mit dem Jungen weiter, aber das tat er nicht. Stattdessen schaukelte sein Rücken beständig vor mir her, und wenn er sich umwandte, dann um zu lächeln, nie um zu zögern.

Wir schlugen einen Bogen um Røros, und die Natur funkelte wie Diamanten; Birkenwälder, Berge, Täler, Baumstämme. Ich erinnere mich an einen Nachmittag hoch unter dem Himmel, die Luft voller Schneeregen. Je weiter wir uns bergaufkämpf‌ten, umso harscher schlug uns der Wind entgegen. Wir gingen schnell, um unsere Körper warmzuhalten, und um ein Haar lief ich in Armod hinein, als er abrupt innehielt. Erst streckte er die Hand aus, dann zeigte er mir, dass etwas Feuchtes darauf gelandet war. Kein Regentropfen – eine Schneeflocke. Eine zweite legte sich auf sein Handgelenk, gleich unterhalb des Ärmels, wo die Haut dünn und empfindlich ist. Ich ging näher heran.

»Siehst du das fein gewebte Muster, Unni?«, fragte Armod. »Die kleine Flocke ist vollkommen anders als die größere daneben, anders als all ihre Schwestern und Brüder. Aber eins haben die Schneeflocken hier oben gemeinsam – glaub mir, der einmal das Wetter unterschätzt und fast die Finger verloren hat. Im Fjäll verheißt jeder Schneestern Gefahr. Wir müssen schnell runter ins Tal, zurück in den Sommer.«

Die Kristalle funkelten noch einen Augenblick, dann schmolzen sie, verschwanden. Armod strich mir mit dem Handrücken über die Wange.

»Schön bist du, Unni. Und mutig.«

Wir lächelten uns an und gingen weiter, immer schnelleren Schrittes. Der Mann, der damals mit einer hässlichen Wunde am Arm zu mir gekommen war. Ich hatte sie mit Torfmoos versorgt. Als er ein zweites Mal kam, wirbelte er dich durch die Luft, bis du vor Lachen kaum Luft bekamst. Der Mann, der mit bloßen Händen ein Huhn gefangen, ihm das Genick gebrochen und mich zum Essen eingeladen hatte, im Grenzland zwischen Stadt und Wasser. Der nicht nach Norden, Richtung Mo i Rana, weitergewandert war, wie er es vorgehabt hatte, sondern im Trondheimer Hafen Arbeit suchte, obwohl die Leute dort über mich tuschelten. Der Mann, auf dessen Gesicht dieses Lächeln aufblitzte, das die Fältchen um seine Augen vertief‌te. Der Mann, der bei mir geblieben war. Trotz allem.

Das war der Grund. Dafür, dass ich ihm folgte und er mir. Nicht aus Vernunft, sondern aus einem Gefühl heraus. Solange wir zusammen waren, übertrumpf‌te das Schöne die Angst. Wohin einer ging, ging auch der andere. Wohin einer wollte, wollte auch der andere. Das war der Grund. Und dass ich wusste, dass ich nie wieder zurückkonnte.

Bald stachen mir die Schneeflocken ins Gesicht und in die Augen. Dich, Roar, wickelte ich in Armods Schal und drückte dich fest an mich. Als der Wind stärker wurde, zog ich die Schultern hoch und beugte den Nacken, drückte das Kinn tief in den Schal. Trotzte dem Wetter Schritt für Schritt und heftete den Blick auf Armods Spuren, meine Füße passten genau hinein. Als er sich lächelnd zu mir umwandte, war sein Gesicht starr von Schneekristallen, das Kinn blau angelaufen. Erst später wurde mir klar, wie sehr er gefroren haben musste, denn er spaltete den Wind vor mir und hatte dir seinen Schal gegeben, trotzdem klagte er nicht.

»So, liebste Unni, muss es sich anfühlen, wenn man fliegen will!« Als er mein ängstliches Gesicht sah, lachte er. »Wer fliegen will, braucht Wind!«

Doch am Abend wurde der Wind zu stark. Er peitschte mich, wollte mich umstoßen, biss sich in meinen Ohren fest, obwohl ich mir den Schal fest um den Kopf geschlungen hatte. Armod entdeckte einen Felsen, hinter dem wir uns verstecken konnten, und türmte für die Nacht einen Schneewall auf, wir hoff‌ten, dass das Wetter bald umschlüge. Er bat mich, ein Feuer zu machen – seine Finger waren steif vor Kälte. Wir kauerten uns dicht aneinander und wurden eins, wie die russischen Matrjoschkas aus der Künstlerkolonie vor Moskau. Er habe sie mit eigenen Augen gesehen, flüsterte er mir zu und erzählte von ihren bunten Farben. In der Wärme seines Körpers aß ich Bergschnee und taute seine Hände unter meinen Achseln auf. Tief in mir wisperte die Kälte, wir würden es nicht schaffen. Aber hatten wir eine andere Wahl?

Unter sirrender Sonne überquerten wir die schwedische Grenze, ich glaube, in Härjedalen, an die genaue Stelle erinnere ich mich nicht. Die ersten Schritte auf fremdem Boden, ich atmete aus, und das Gehen wurde leichter. Die Angst zog weiter Schleifen in meinem Kopf, meine Beine schmerzten, doch ich straff‌te den Rücken, das Stechen im rechten Fuß war schon leichter zu ertragen. Wir sahen Wälder, Dörfer, Landstriche. Stiegen ins Tal hinab, über Bäche und Flüsse, mehr Wald, neue Gewässer. Weil ich noch immer fror, setzten wir unseren Weg in südöstlicher Richtung fort, suchten Wärme, weitab von allem, was hinter mir lag. Aber wohin wollten wir? Nur nichts allzu Großes, ein kleiner Ort, wo wir sicher wären. In Stockholm waren zwanzig Menschen zu Tode gekommen, als sie versucht hatten, einen Blick auf Christina Nilsson zu erhaschen. Sie wurden in der Menge zerquetscht, vor dem Hotel der Sängerin, so hatte Wehmutter Brita es mir erzählt, damals, als ich bei ihr wohnte, bevor sie starb und mich allein ließ, noch bevor du gezeugt wurdest, Roar. Nein, dorthin wollten wir nicht.

Nach ein paar Tagen wurden die Berge blau, und die Landschaft empfing uns in sämtlichen Himmelsschattierungen. Hälsingland. Natur in kristallklaren Farben. Wogendes Getreide. Lachende Flachsblumen. Sonne hinter Wolken. Bäume mit schroffer Rinde und knorrigen Ästen. Blaue Berge, tiefschwarze Wälder, Weite. Für Armod, der farbenblind war, gab es nichts Schöneres. Im Vergleich zu dieser Landschaft erschien die Wirklichkeit ihm sonst als fader Schlamm. Rot und Grün – ein ewig gleichbleibender Braunton. Aber hier, hier gab es Flachs, blaue Berge, kornblumenfarbenen Himmel. Eine Schönheit, die auch seine Augen bemerkten.

Lächelnd wandte er sich zu mir um.

Ich sah, was er dachte, was er hoff‌te. Würde dieses Blau unser Zuhause werden?

»Ja«, antwortete ich. »Das wird unser Zuhause.«

 

Wir sahen uns um und suchten einen ruhigen Ort. Es gab viel Arbeit hier – überall Ställe, riesige Vorratsschuppen und die Holzschlösser der Großbauern. Und inmitten weitläufiger, welliger Äcker: große rote Häuser mit lackierten Türen und hübschen Zierfenstern. Auf edlen Holzveranden saßen Kinder, Bauernkatzen streckten sich in der Sonne. Bestimmt würde Armod hier Arbeit finden.

Aber ich nicht. Nicht einmal auf die Gefahr hin, früher oder später vor die Tür gesetzt zu werden. Ich musste Menschen und ihre Fragen auf Abstand halten, denn sie würden Antworten verlangen, und ich konnte ja nicht mal Papiere vorweisen. Du, Roar, zogst mir an den Haaren, die nicht mehr strohblond waren, sondern grau vor Staub und Asche. Als ich protestierte, gabst du ein glucksendes Lachen von dir, aus deinen novembergrauen Augen blitzte der Schelm. Du zeigtest auf die dürren Beine der Ziegen und die mahlenden Kiefer der Kühe hinter einem Zaun. Armod und du, ihr würdet hier glücklich werden. Aber ich? Wenn die Menschen im Dorf die Wahrheit erführen, würden sie mich vertreiben, das Gleiche im nächsten Dorf und im übernächsten. In Dörfern wimmelt es von Augen und Fragen. Also zogen wir weiter, mein Hals wurde trocken und meine Glieder mit jedem Schritt schwerer.

Wir passierten Höfe, die Bebauung wurde lichter, ich sah Bauernhäuser und windschiefe Hütten, doch sie waren samt und sonders bewohnt. Du, Roar, blicktest hinauf zu den Tannenwipfeln in den großen Wäldern voller Mücken, während wir gewundene, seit Langem festgestampf‌te Pfade entlangwanderten. Die Kiefern waren dunkel, und die Fichten musterten uns mit jahrhundertealten Augen. Einen Augenblick lang sahst du zu mir hoch, aber dann galt dein Lächeln den Netzen der Waldspinnen. Die schönsten Spitzen des Waldes. Du wolltest, dass ich dich runterlasse, um sie dir anzuschauen, doch ich wagte nicht stehen zu bleiben – aus Angst, ich könnte mich nicht wieder aufraffen. Da! Hinter einer Mückenwolke zeichnete sich etwas ab, etwas Fahlgraues, Verschlossenes, mit schmutzgetrübtem Auge. Eine einsame Hütte, deren Fenster ich vielleicht putzen könnte? Ein Haus für uns? Mit jedem Schritt wuchs die Hoffnung. Aber nein, zum Eingang führte ein festgetretener Pfad. Vor der Tür stand ein Eimer, der kaum Rost angesetzt hatte. Offensichtlich ging hier jemand ein und aus und kam sicher bald zurück.

Tags darauf schlich ich mich ans Fenster. Ich sah, dass dort drinnen jemand geputzt und Äpfel auf den Tisch gelegt hatte. Für uns war hier kein Platz. In unseren Taschen klirrte nur noch eine Handvoll Münzen, und meine Kräfte waren am Ende. Ich sah Armod vor mir, breitschultrig und zielstrebig, obwohl er ebenso wenig wusste wie ich, wohin wir gingen. Inzwischen trug er auch dich, Roar, und trotzdem fiel es mir schwer, mit ihm Schritt zu halten. Unter all dem Straßenstaub war das Braun seiner Locken nicht mehr zu erkennen, doch als er stehen blieb, um auf mich zu warten, waren seine Augen hellwach. Warm und braun, wie regenfeuchte Rinde. Wenn er lachte, kniff er die Lider zusammen, als blinzele er in die Sonne. Dein blasser Kinderkörper an seiner wettergegerbten Haut – ihr zwei wart so schön. Der Anblick gab mir Kraft, um zu euch aufzuschließen, obwohl in mir eine Stimme sagte, dass ohnehin alles vergebens sei. Je tauber meine Füße wurden, desto klarer wurden meine Gedanken. Am Ufer des Örsjön verlangsamten sich meine Schritte, und in Österböle ließ ich mich gegen einen Baum sinken. Als ich die Worte endlich über die Lippen brachte, meinte ich sie ernst:

»Es geht nicht, Armod. Es gibt kein Zuhause für uns, lass mich hier und geh weiter, du findest überall Arbeit.«

»Unni, Unni«, sagte er. »Wohin du gehst, dahin gehe ich auch. Bevor ich dich fand, hab ich den ganzen Weg aus Kristiania allein zurückgelegt. Zusammen mit dir und dem Kleinen schaffe ich es noch viel weiter. Komm, Unni, tanz mit mir im Gras – es ist Sommer und Samstag!«

Armod hob dich hoch in die warme Sommerluft, Roar, als gehörtet ihr seit jeher zusammen. Er lachte und sang. Seine Freude brachte mich wieder auf die Beine, und wir wanderten weiter, bis ich innehalten musste und mich vor Schwindel krümmte. In dem Moment kam eine Bäuerin mit drei kleinen Kindern vorbei und brachte es nicht übers Herz, einfach weiterzugehen.

»Wir, die Arbeit haben und denen das Glück gewogen ist«, sagte sie zu ihrer ältesten Tochter, »wir sollten keinen höheren Zaun bauen, sondern einen längeren Tisch.«

Die Melodie ihrer Worte klang fremd. Ich wollte sie umarmen.

»Ihr könnt eine Nacht auf unserem Heuboden schlafen«, sagte sie. »Wenn du uns hilfst, die Felder zu düngen.«

Darauf gab Armod ihr die Hand. Die Bäuerin lud uns in ihre Küche ein und tischte uns Roggenbrei und Milch auf, und während ich dasaß, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, spürte ich, wie sich mein Magen füllte und ich schläfrig wurde. In der Kammer hinter der Küche stand ein Bett, es sah himmlisch aus. Die Bäuerin bemerkte meinen Blick.

»Schaust du dir die Bordüre am Bettüberwurf an? Brita Rudolphi aus Delsbo hat sie gestickt. So jung Witwe zu werden, mit vier kleinen Kindern … aber Brita schlägt sich durch. Und sticken kann sie!«

Das Blumenmuster hatte ich noch gar nicht bemerkt, aber es war so schön wie die Schneeflocken im Fjäll. So wollte ich auch sticken lernen.

Armod erzählte der Bäuerin Geschichten aus seiner Kindheit und von seinen Wanderungen nach Dänemark, die Stimmen der beiden drangen an mein Ohr wie weit entfernte Wellen. Er erzählte vom langen Sturm 1875, als sein Onkel Seemann auf einer Bark gewesen war, der Ydale mit den feinen Masten. Im Sturm lief das Schiff auf eine Schäreninsel auf und zerschellte an den Klippen. Mit wilden Gesten malte Armod Sturmböen und Wracksplitter in die Luft, schilderte, wie sein Onkel sich auf einen Fels gerettet hatte und fast erfroren war, hätte man ihn nicht am nächsten Tag gefunden. Ich hörte die Bäuerin nach Luft schnappen.

»Unsere Ydale war ein Dampfer«, sagte sie. »Ist ganz in der Nähe gesunken, im Varpen. Ist man gut zu Fuß, kann man von hier aus zum See laufen. Es hat nicht mal gestürmt an dem Tag – herrlichstes Ausflugswetter. Trotzdem wurden dreizehn Kinder auf den Grund hinabgezogen. Schüler der Taubstummenschule – wenigstens hörten sie einander nicht schreien.«

Noch mehr Geschichten. Armod schmückte sie aus, fand kein Ende. Er erzählte, wie er aus der Ferne den Erdrutsch bei Hagamarka beobachtet hatte, wo mehr als hundert Höfe für immer im Erdboden versunken waren – Menschen, Vieh, alles.

»Das Einzige, was zurückblieb, war ein riesiger Krater.«

Und die Überlebenden? Ohne Dach überm Kopf, verarmt. Es klang beinah so, als hätten wir Norwegen deshalb verlassen. Dann kam Armod zum Punkt.

»Sicher gibt’s hier leer stehende Häuser«, antwortete die Bäuerin, »man muss nur wissen, wo man suchen soll. Lasst euch aber nicht übers Ohr hauen. Es fehlt noch, dass euch jemand schröpft.«

Sie rief ihren Mann aus der Scheune. Er wusste sofort, wo wir hinmussten. Kaum drei Wanderstunden entfernt, in einem kleinen Birkenwald, stehe eine Kate leer, die Familie sei vor langer Zeit nach Amerika ausgewandert.

»Sie hatten jahrelang Pech mit der Ernte. Jetzt hat sie seit zwei Jahrzehnten niemand mehr gesehen«, erklärte der Bauer und schenkte Armod Schnaps ein.

Seine Stimme sang dieselbe Melodie wie die seiner Frau.

»In der Nacht, in der sie aufbrachen, verschwand auch die Kasse im Dorf‌laden am Risland-Hof, wo ich Klee und Käse verkaufe. Die kommen nie und nimmer zurück, darauf könnt ihr Gift nehmen. Sprecht mit Bauer Nilsson vom Rävbacka-Hof, er macht euch bestimmt ein vernünftiges Angebot, wenn ihr pachten oder kaufen wollt. Bestellt ihm einen schönen Gruß, wir sind Vettern. Er wohnt auf halber Strecke zwischen Dorf und Kate. Wenn ihr zu ihm wollt, müsst ihr an dem rundgeschliffenen Stein mit scharfer Kante von der Straße abbiegen.«

Eine Kate zu einem vernünftigen Preis, gut drei Stunden entfernt. Der Gedanke wärmte mich wie vorhin der Brei. Als ich am Abend ins weiche Heu sank, spürte ich, wie mein Körper sich Stück für Stück auf‌faltete. In jedem Wort, das hier gesprochen wurde, diese fremde Melodie – aber das Heu fühlte sich vertraut an. Und neben mir Armod. Unsere Körper verstanden einander, sprachen denselben Dialekt.

 

Am nächsten Morgen hast du mich mit deinen knubbeligen Händen geweckt, Roar. Hast mich mit einem Halm an der Schläfe gekitzelt, erwartungsfrohe Augen unter wirrem Haar. Meine Muskeln fühlten sich baumwollweich an, als wir der Beschreibung des Bauern folgten, erst Richtung Süden, dann nach Südosten, den gewundenen Glössboån entlang, bis der Bach eine scharfe Krümmung machte. Wir stillten unseren Durst und gingen weiter, suchten lange und wanderten mit wunden Füßen. Wir waren auf dem Heimweg, wussten nur nicht, wohin. Aus den drei Stunden wurden vier – ein Weg wird schnell lang, wenn man keine Abkürzungen kennt und nicht weiß, wo man am besten einen Wasserlauf überquert.

Kilometer um Kilometer über Landstraßen und an blauen Feldern entlang. Zwischen den Steinen und Bäumen auf den Äckern hatten einst Menschen gewohnt. Jetzt waren sie tot. Aus der Zeit verschwunden. Fortgewischte Leben und vergessene Erinnerungen, begraben zwischen gelbem Weizen, Flachs und buckeligen Steinen. Gräber inmitten der Lebenden und irgendwo: ein Zuhause für uns. Schließlich passierten wir einen Krämerladen, die Luft duftete nach Tabak und Zimt, und im Schaufenster waren Bonbongläser und Säckchen mit Klee- und Lieschgrassamen ausgestellt. Hatten wir unser Ziel jetzt fast erreicht? Meine Füße waren taub, und die Sonne ging bald unter. Die Straße führte aus dem Dorf hinaus, und nach einer kurzen Weile gelangten wir an einen Waldweg mit einer Furche in der Mitte, aus der Grün spross. Zu beiden Seiten Nadelbäume, Mückenschwärme und Kühle, obwohl es Sommer war.

Dort. An der Stelle, wo die Kiefern nicht mehr weiterwollten, wo sie sich mit ihren Wurzeln noch tiefer in die Erde gruben und eine Öffnung für Himmel und Sonne ließen, mit gerade genug Abstand zur Weggabelung, an der das Dorf begann, in dem Menschen ihr Leben lebten. Mitten im kühlen Wald lag unsere sonnige Lichtung. Genau so hatte der Bauer sie beschrieben. Ein Gewimmel von weißen Birken hielt die Mücken fern, und hinter den Stämmen erspähten wir unser Zuhause. Ringsum Gras und Gestrüpp, nirgends waren Spuren von Menschen oder Werkzeug zu sehen. Eine verfallene Kate aus grau gestrichenem Holz, das zwischen den Bäumen silbern funkelte. Der Weg zum Eingang war überwuchert, verwilderter Flieder, Sträucher voller Johannis- und klebriger Stachelbeeren, zwei alte Bäume, die Äste schwer von unreifen Äpfeln und Kriechen-Pflaumen. Das Dach war verwittert, und hinter einem morschen Zaun ragte eine Salweide mit hellgrauer Rinde auf.

Wir blieben am Zaun stehen, dessen Latten sich in verschiedene Richtungen neigten. Während ich einatmete und wieder aus, kamen mir die Tränen. An all das erinnere ich mich und wie Armod den Brustkorb mit Luft füllte und in die Baumkronen rings um die graue Kate blickte. Lange stand er so da, schweigend. Er, der sonst immer einen Scherz auf den Lippen hatte und so mitteilsam war.

»Stell dir vor, Unni«, sagte er schließlich, »wie furchtbar klein ein Mensch zwischen erwachsenen Bäumen ist.« Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Siehst du die magere kleine Tanne dort? Man hat erst gelebt, wenn man einen Wald beim Heranwachsen beobachtet hat.«

Ich richtete den Blick für einen Moment auf die flaumig-grauen Früchte der Salweide und dachte daran, was Wehmutter Brita mir über die Rinde beigebracht hatte.

»Hier will ich bleiben«, sagte ich. »Hier ist Frieden.«

Frieden. So sollte unsere Kate heißen.

Vielleicht waren wir nach neunzehntägiger Wanderung ans Ziel gelangt.

 

Ich legte mich ins Gras unter die Salweide und sah hoch zu den Blättern und in den Himmel dahinter, war es derselbe Himmel wie über meiner alten Heimat? Die Kate zu mieten war zu unsicher, und unsere letzten Münzen reichten kaum für Fensterleisten, doch vielleicht könnten wir für den Eigentümer arbeiten oder in Raten zahlen?

Ich blieb noch eine Weile dort liegen und atmete ein und aus, bis Armod mir seine Hand entgegenstreckte und mir aufhalf. Es war Zeit, den Eigentümer aufzusuchen und ihn zu bitten, freundlich und gerecht zu sein. Der Bauer hatte uns von einem rund geschliffenen Stein mit scharfer Kante erzählt, auf halber Strecke ins Dorf. Dort müssten wir nach links, und nach ein paar hundert Metern sähen wir den Rävbacka-Hof von Bauer Nilsson.

Schon von Weitem hörten wir Tiere muhen, blöken, gackern. Der Hof bestand aus einem Schuppen, Wirtschaftsgebäuden und einem Haupthaus mit nagelneuem Dach. Auf dem Feld arbeitete eine hochschwangere Magd mit langem dunkelbraunen Zopf. Als wir näher kamen, stützte sich der Waldbauer auf seinen Spaten, die andere Hand in der Hosentasche vergraben. Sein blaues Hemd war durchgeschwitzt, von Sonne und Arbeit. Seine Augen waren hell, die Wimpern fast weiß. Der dichte Bart von hellen Strähnen durchzogen, feuchte Hände, Trauerränder unter den Nägeln. Für jemand, der tagtäglich Land bestellte, wirkte sein Körper seltsam weich unter der Kleidung. Vielleicht ist es so, wenn man Weizenmehl hat, dachte ich. Armod hatte bereits die Mütze abgenommen, blickte dem Bauern fest in die Augen und sprach ihn geradezu selbstverständlich an – kaum zu glauben, dass er sich das traute. Sein Nacken war nur leicht gebeugt, als er nach einem Bückling die Hand zurückzog.

Als ich ihn begrüßte, trat er verlegen von einem Bein aufs andere, doch dann fiel die Anspannung von ihm ab, und er hieß uns willkommen. Seine Frau, Ada, war farblos. Eine Frau, die Jahr um Jahr ein Kind zur Welt gebracht hatte, bis ihrem Körper die Kräfte ausgegangen waren. Jetzt schlich sie wortlos zwischen den Gebäuden umher. Später konnte ich mich nicht einmal an ihr Aussehen erinnern, nur daran, dass sie auf dem Hof kinderfaustgroße Enteneier aufgesammelt und in einen Korb gelegt hatte. Jedes Mal, wenn sie sich vornüberbeugte, stemmte sie eine Hand in den Rücken. Dann ging sie mit dem Korb hinein, auf einen Gehstock gestützt, dabei war sie wohl kaum älter als dreißig. Schon kurz darauf trat sie wieder hinaus, in der freien Hand einen neuen Korb, darin lagen Gläser und eine Flasche. Mit zittrigen Händen schenkte sie uns ein bläuliches Getränk ein. Es schmeckte süß: Hier tranken sie ihren Blaubeersaft mit Zucker. Du, Roar, hast auf einem Zuckerstück herumgelutscht und schliefst wenig später im Gras ein.

Nach dem zweiten Glas kamen die Papiere auf den Tisch. ›Süd-Kate‹, so hieß Frieden of‌fiziell, ›in zehn Jahresraten‹, stand dort geschrieben.

Armod unterzeichnete zwei identische Dokumente mit Armod Moen Ulefos. Ja, er konnte schreiben.

Gleich daneben unterschrieb der Waldbauer mit Erik Nilsson, Rävbacka.

Danach zeigte er uns einen überwucherten Waldpfad. Der kürzeste Weg zur Kate, erklärte er. Er und seine Frau winkten uns von der Eingangstreppe aus zu, als wir losgingen, die unterzeichneten Dokumente in Armods Rucksack verstaut.

»Das ist mein Waldbauer«, sagte Armod. »Ein ehrlicher, redlicher Mann. Hier können wir eine Weile bleiben.«

»Ja, hier bleiben wir«, sagte ich.

 

Der Pfad durch den Sommerwald war unser Heimweg, der Boden bedeckt von Tannennadeln und Blättern. Wir passierten einen kleinen Waldsee, ein gedankenverlorenes schwarzes Auge zwischen den Bäumen, mit Seerosen und umrahmt von Binsen und Schilf wie dichte flatternde Wimpern. Das Wasser lappte sanft ans Ufer. Am Grund versteckten sich sicher Hechte. Vielleicht konnte Armod hier Fische fangen, die wir beizen würden? Wir lächelten uns zu und rückten näher zusammen.

Wenig später erblickten wir die Kate – höchst baufällig, doch mit harter Arbeit würden wir sie in ein Zuhause verwandeln.

»Kätner Moen Ulefos!«, rief Armod. »Wer hätte das gedacht? Der Vagabund ist sesshaft geworden!«

Wände, Boden und Decke aus Kiefer. Neben der Haustür eine alte Holztruhe mit rostigen Beschlägen, auf dem Deckel das winzige Gerippe einer Maus. In einer Zimmerecke ein dreibeiniger Stuhl, von dem der rote Lack blätterte und verwittertes Holz zum Vorschein brachte. Einst musste er einer von vielen gewesen sein – jetzt war er allein. Vermutlich waren hier Plünderer ein und aus gegangen, nachdem die Familie ausgezogen war. Rostige Scharniere an den Türen, die alten Dielen übersät mit Tierkot. Im Dach ein Loch für Sonne und Regen, wo das Holz vermorscht war. Als Erstes wischte ich mit dem Handrücken den Schmutz von den Fenstern, um die Sonne hereinzulassen. Dann entfernte ich vorsichtig all die Spinnweben in Haus und Schuppen, sie würden uns noch gute Dienste leisten als Heilmittel für Wunden. Anschließend breitete ich unsere weißen Laken und warmen Felle auf dem Boden aus und bettete dich zum Mittagsschlaf, du warst so schön in deinem neuen Heim, Roar: Haar wie Wollgras, pummelige Handgelenke und Arme, die Augen grau wie der Trondheimfjord bei trübem Wetter. Ein einziges Wort hüllte dich ein: bedingungslos.

In der Speisekammer entdeckte ich einen von Grünspan überzogenen Kessel. Armod machte ihn für mich sauber, bis das Kupfer in der schummerigen Kate strahlte wie eine Kerze. Dann trieb er vier kleine Nägel in die Wand, die später einmal unsere Becher vor Mäusen schützen würden. Zwei gröbere Nägel schlug er in die Wand gleich neben der Tür.

»Für unsere Kleider«, sagte er, »jetzt sind wir hier zu Hause.«

Ich blinzelte Tränen weg, als er unter die zwei großen Nägel noch einige kleinere in einer Reihe in die Wand trieb. Für die Zukunft.

 

Uns blieben nur wenige kurze Monate, um das Land urbar zu machen und genug Nahrung für den Winter anzubauen. Wir hatten keine Zeit zu verlieren – morgens weckte ich Armod im Dunkeln, und im Dunkeln gingen wir abends zu Bett. Oft schlief er ein, ohne mir vorher noch ein paar Worte ins Ohr zu flüstern. Zu wandern war eine Sache; sesshaft zu werden und auf einem Acker zu buckeln eine andere. Aber Armod war mehr als ein Singvogel, der uns hierhergeführt hatte, er erwies sich als zäher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Unsere Tage waren lang und schweißtreibend, die Nächte kurz – wir standen früh auf, damit Armod unsere Schulden beim Waldbauern abarbeiten konnte, ehe er aus dem Wald nach Hause eilte, um sich hier abzuplacken. Er versprach mir, vorsichtig zu sein zwischen den Kiefern, und ich hörte seiner Stimme an, es war mehr als nur ein einfaches Versprechen, es war eine Umarmung aus Wörtern. Ich begriff, dass er alles daransetzte, dem Waldbauern und mir zu beweisen, dass er seine Schulden tilgen und uns ein neues Leben aufbauen würde. Und schon vor unserer Wanderung hatte ich gewusst, wie geschickt er der Angst durch die Finger schlüpf‌te.

»Angst schaff‌t Hunger, Unni«, hatte er daheim in Trondheim gesagt, als wir uns gerade erst kannten und ich wegen Stürmen, Untiefen und hohen Wellen um ihn bangte. »Ich bin Vagabund und jetzt auch Fischer. Ein Vagabund kann sich nicht vorm Loslaufen drücken, und ein Fischer darf das Meer nicht fürchten. Wer Funken meidet, taugt nicht zum Schmied.«

Etwas Ähnliches sagte er jetzt über den Wald.

»Der Wald ist unser Brot, Unni. Menschen des Waldes dürfen sich nicht vor Bäumen fürchten.«

Jeden Tag hatte ich Angst, und jeden Tag war ich überglücklich, wenn er heil zurückkam und sich mit der sonnengegerbten Hand durchs Haar fuhr, die Augen glänzend wie dunkle Apfelkerne. Morgens Angst. Abends Glück. Und dazwischen du, Roar. Morgens erwachte ich, wenn deine Stimme in meine Haut floss und sich die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster schlichen. Ich setzte die Füße auf die Dielen, die eines Tages mein Eigentum wären, machte Frühstück und fütterte dich, Roar. Dann ging ich an die Arbeit. Ein Tag glich dem anderen. Armod hatte sein Wort darauf gegeben, ab Sonnenaufgang zu schuften, bis die Sonne am Himmel sank. Das ganze Jahr gehörte er dem Wald, ausgenommen die Tage, an denen seine Kinder zur Welt kamen, dem ersten Weihnachtstag und beim ersten Schneefall. Da hatte er frei. Ganze zehn Jahre würde er unsere Schulden abarbeiten, der Mann, der sich nie irgendwo niedergelassen hatte. Wir sprachen wenig und arbeiteten schnell, wir waren angekommen und hatten keine Zeit zu vergeuden. Armod setzte sich nie hin, er stand, wenn er nicht schlief. Der Boden war voller Steine, die noch nie eine Menschenhand angerührt hatte. Vielleicht war die Kate deshalb so lange unbewohnt geblieben; weil der Boden alles Essbare für sich behalten, seine Schätze nicht teilen wollte. Wir sagten ihm den Kampf an, schürf‌ten uns Knie, Handflächen und Arme auf. Legten einen Stein nach dem anderen auf einen Haufen im Gras. Der Wald schenkte uns Weißmoos, mit dem wir unsere Wunden kühlten. Weiches Gras unter unseren Füßen. Aus dem Schornstein stieg nach langer Zeit wieder Rauch auf. Mit reichlich Geduld und wunden Händen flickte Armod das morsche Dach, während ich schaufelte und säte, Rüben und Kartoffeln setzte, die Erde von Wurzeln befreite und weiter Steine über den Hof schleppte, um sie auf den zusehends in die Höhe wachsenden Wall zu legen, ein Zeugnis zusammengebissener Zähne und aufgeschürf‌ter Haut. Wenn mein Rücken allzu laut protestierte, lockerte ich stattdessen den Boden und häufte behutsam gestohlenen Dünger um die zarten Triebe, sie sollten wachsen und Nahrung werden, damit uns bald der Essensdunst in den Augen brannte und du dich satt essen konntest. Die Obstbäume bekamen Gesellschaft in Gestalt junger, schmächtiger Apfelbäume, für die Armod sich Geld geliehen hatte. Auch sie würden wachsen und uns nähren. Und du, Roar: Du krabbeltest zwischen uns umher, Staub und Erde zwischen den Zehen, und spieltest mit Zapfen, Steinen und Käfern.

Ich erinnere mich an einen Morgen, da ich wach wurde und ihr nicht neben mir lagt. Ich sah Armods Fußspuren im Morgentau auf der Wiese und folgte ihnen auf die Rückseite der Kate. Er hatte dich auf dem Arm, erzählte dir Geschichten und zeigte dir Vögel, während du an seinen Hemdknöpfen zogst. Als gehörtet ihr zusammen. Ich ging zu euch und schlang die Arme um Armods Rücken.

»Wie kann ich dir je zurückgeben, was du für mich getan hast?«, fragte ich.

»Lieb mich«, antwortete er. »Das reicht. Lieb mich.«

 

Ich sammelte Heilkräuter und wählte Salweiden-Zweige, von denen ich die raue Rinde abschabte. Es war immer noch Frühsommer, sie ließ sich leicht lösen. Ich nahm nur die dünnsten Zweige, um dem Baum nicht zu schaden, und drinnen breitete ich alles aus und trocknete unsere Medizin für Herbstleiden und Winterwunden. Die Kräuter schnürte ich zu kleinen Büscheln zusammen. Während Hummeln um mich her schwirrten, schabte ich noch mehr Rinde ab und flocht uns einen Henkel- und einen Buckelkorb. Wir waren zäh und stark zusammen, die Weide und ich. Als ich fertig war, gingen Armod und ich zum Dorf‌laden an der Weggabelung beim Risland-Hof. Den ganzen Weg über rollte eine leere Flasche im Korb hin und her. Um uns herum leuchteten die Felder. Hafer, Roggen und überall Blau.

»An Schönheit gewöhnt man sich viel zu leicht«, sagte ich.

»Ich hoffe, dass du dich an sie gewöhnst«, erwiderte Armod. »Und egal, was du tust: Gewöhn dich nie an das Hässliche.«

Wir verweilten einen Moment im Blau und betrachteten die Blumen im Wind. Da spürte ich etwas, gleich unter den Rippen.

»Fühl doch, Armod!«, rief ich. »Sie winkt uns zu!«

Seine Hand war so warm auf meiner Haut. Als wir uns dem Laden näherten, sog ich die Luft ein – Snus, Petroleum, Lieschgras, gesalzener Hering, Kardamom. Der Krämer stand in einer Schürze hinter dem Tresen, begrüßte uns und lachte wie ein Pferd. Seine Glatze glänzte, die Schürze spannte über dem Bauch. Er füllte unsere kleine Flasche bis in den Hals mit Branntwein, obwohl ich Armod mit einem Blinzeln zu verstehen gab, dass wir mit unseren wenigen Münzen sparsam sein mussten. Wir kauf‌ten Waren, die der Händler erst sorgsam in Papier einschlug und in unseren Korb legte und für die er sich dann gut bezahlen ließ. Entgegen meinen Befürchtungen fragte er nicht, woher wir kamen und was uns herführte. Gleichgültige Arroganz. Nach einer Weile bimmelte das Glöckchen an der Tür, eine Bäuerin trat ein und lächelte uns und meinem Bauch zu. Ihr strohblondes Haar war zu einem Knoten gebunden, sie hieß Anna und kam aus Flor, das Kind in meinem Bauch werde bestimmt mit ihrem Jüngsten zur Schule gehen, sagte sie, würde die Niederkunft noch vor dem Jahreswechsel stattfinden? Und was für ein lustiger Dialekt, stammten wir aus Värmland? So viele Fragen, ich wollte sofort gehen. Armod schwatzte noch eine Weile mit ihr, ehe wir endlich aufbrachen. Auf dem Hinweg hatte die Flasche hohl im Korb geklirrt, aber jetzt ruhte sie in einem Bett aus Päckchen mit Würsten, Mehl und Hafer, darunter ein Glas Honig, etwas sorgfältig eingewickeltes Salz und eine kleine Portion Kaffee. Ich hatte mir schon lange Kaffee gewünscht, aber noch nie welchen gekauft. Zu Hause angekommen, ließ Armod sich im Gras nieder, lehnte sich an die Salweide und trank den Branntwein, Schluck für Schluck. Wider besseres Wissen mischte ich kaum Roggen in den Kaffee, er würde rasch zur Neige gehen, aber als ich den ersten Schluck trank, schmeckte er himmlisch.

Dann machten wir uns wieder daran, den Boden zu zähmen. Unsere Körper waren warm und schwitzig, unsere Muskeln hart von der Arbeit, der Erdboden bäumte sich gegen uns auf. Sie passt sich nicht gern an, die Erde. Aber wir, wir passten uns an, nicht, weil wir es so wollten, sondern weil uns nichts anderes übrig blieb. Elchkot, Sauerklee, angefressene Tierkadaver, Vögel, die ihre Flügel vor der Sonne ausbreiteten. All das gehörte uns, niemandem, allen.

 

Hälsinglandsommer. Manchmal regnete es in Strömen, doch wir wurden nicht fortgespült, wir schlugen uns durch. Ich pflanzte Walderdbeeren. Du, Roar, lerntest laufen, kamst auf mich zu mit klebrigen Händen und feuchten Küssen. Nachts ließen wir die Werkzeuge ruhen, und ihr zwei lagt neben mir, Armod und du. In deinem Gesicht spiegelten sich deine Träume. Wenn es kalt war, deckte ich dich zu, wärmte dich an meinem Körper. Die Sonne tauchte den Himmel in helles Violett, und Armod und ich blieben zusammen wach. Sah er mich an, legte ich ihm die Fingerspitzen aufs Handgelenk und spürte, wie das Blut durch seine Adern strömte. War er glücklich, bogen sich seine Mundwinkel nach oben. Ich strich ihm übers Kinn, seine Bartstoppeln piksten. Seine Augen waren geöffnet, und ich blickte in seine Gedanken.

»Ich will dich, Unni.«

Wortlos antwortete ich. Vor dem Einschlafen glitt meine Hand in seine, sie passte perfekt hinein. Sein Atem roch nach Apfel und Petersilie.

Als der Sommer sich dem Ende neigte, waren wir völlig zerschlagen. Ich bekam einen Hagebuttenstrauch für meinen Garten, Armod hatte ihn bei einer verlassenen Kate ausgebuddelt, eine gute Stunde Fußmarsch in östlicher Richtung. Wir besaßen weder Gold noch Silber, doch wir zeigten dir die Hagebuttenblüten, Roar, den tiefen Wald und die kleinen Vögel, die überall nisteten. Du hast gelacht und auf alles gezeigt.

Vor Sonnenaufgang raff‌te Armod Proviant und Werkzeug zusammen und machte sich auf den Weg. Ich schluckte meine Angst mit Haferschleim herunter und spürte den morgenkühlen Luftzug, ehe Armod die Tür hinter sich schloss. Er ging in die Wälder des Waldbauern, und nach getanem Tagwerk klapperte er die umliegenden Höfe ab, um etwas dazuzuverdienen. Wenn er heimkam, roch er nach Schweiß und Schwerarbeit. Doch obwohl er völlig entkräftet war, lächelte er.

»Ich habe die Nase wieder in den Wind gehalten, Unni!«

 

In der ersten Zeit kamen hin und wieder Neugierige aus dem Dorf, als wollten sie hier Blaubeeren oder Sauerklee pflücken. Ein älterer Mann konnte sich noch an die Familie erinnern, die vor uns hier gewohnt hatte. Er kommentierte, was wir repariert und gerichtet hatten, schlich auf dem Hof umher und inspizierte alles.

»Ja, jetzt hör ich’s«, fiel er Armod ins Wort. »Es stimmt also, dass ihr aus Norwegen kommt.«

Sein Bruder sei vor geraumer Zeit unter die Streckenarbeiter gegangen und in die umgekehrte Richtung gezogen, westwärts, er lebe jetzt in Norwegen.

»Wir Geschwister, die geblieben sind, nennen ihn Schienen-Anders, wenn wir ihm schreiben. Er war dabei, als die Gleise von Östersund nach Norwegen verlegt wurden. Dort lebt er jetzt. Woher aus Norwegen kommt ihr?«

Östersund.

Von dort führten die Gleise geradewegs nach Trondheim. Ich sah zu Armod. Keiner von uns sagte ein Wort. Im nächsten Moment hörten wir dich weinen, Roar, du warst hingefallen und hattest dir das Knie aufgeschlagen.

»Kristiania!«, rief ich über die Schulter und eilte ins Haus.

Als ich wieder hinausging, war der Mann verschwunden.

 

Mir fiel ein Stein vom Herzen, als die Erntezeit anbrach und alle mit sich selbst beschäftigt waren. Wir hatten Glück. Die Beerensträucher hingen voll, und das Kartoffelkraut wuchs schön niedrig, die Setzlinge bildeten bis zu zwölf dicke Knollen aus; solange es einen milden, nicht zu langen Winter gab, blieben uns genug Saatkartoffeln fürs nächste Jahr. Wir ernteten Erbsen und pflückten Beeren, buddelten Nahrung aus der Erde und trugen unsere Schätze in die Kate, die jetzt unser Zuhause war, am Schnittpunkt zwischen Menschenland und Wildnis. Essen, das wir mit Genuss verspeisen würden, solange es reichte. Die Karotten waren noch nicht reif, aber sie schmeckten dir, Roar, sie machten dich satt.

»Meeah!«, riefst du, die Hände von dir gestreckt, und ich kochte weitere Karotten weich.

In die Küche drangen nur sanfte, freundliche Lichtstrahlen, alles andere sperrte ich aus. An den Tagen, an denen ein Wurzelgemüse-Eintopf in meinem Kupferkessel köchelte, roch die Kate nach dem Versprechen, dass wir satt einschlafen würden.

Ich klaubte Äpfel vom Boden und pflückte reife Pflaumen, ehe sie ins Gras fielen. Allmählich schüttelten die Bäume die Blätter ab. Sämtliche Kartoffeln hatten wir aus der Erde geholt, und der Acker lag leer da und zerfurcht. Die Beerensträucher waren abgepflückt, und drüben beim Plumpsklo wucherte nicht eine Nessel. Jetzt war die Welt graubraun. Die Farbe des Wartens auf den nächsten Frühling. Mein Bauch wuchs, und die Stoppelfelder verrieten, dass Herbst und Kälte auf dem Weg zu uns waren. Noch mutete die Landschaft weich an, doch schon bald würde sie in Herbstfarben leuchten, und im Winter wäre die Welt in Schwarz-Weiß getaucht.

Armod hackte Holz, das ich zum Trocknen aufstapelte, und dichtete die Fenster ab. Wir liefen umher und erledigten unsere Aufgaben, so schnell wir konnten. Die Rävbacka-Bäuerin borgte uns Kaffeebecher, die nicht zusammenpassten, und drei angeschlagene Porzellanteller mit blauem Blumenmuster. In einem Schuppen stöberten wir einen Sprossenstuhl mit geschwungenen Beinen auf und einen Hochstuhl, von dem die blaue Farbe blätterte – gegen Extraarbeit sollten sie uns gehören. Ein getauschtes Trittbrett – schon war der Hochstuhl wie neu. Emsig wie Ameisen eilten wir durch den Wald. Machten uns wie Biber über das Holz her. Als Armod uns einen Küchentisch zimmerte, roch das ganze Haus nach Harz, und ich weiß noch, wie sich Bratenfett und Haferbrei in den Duft mischten. Kurz vor Allerheiligen ölten wir den Tisch das erste Mal. Armod zerhackte Äste, Jungbäume, Windwurf. Ich erlaubte mir, mich für einen Moment auf einen umgestürzten Baumstamm zu setzen und wahrzunehmen, wie der Wald und der Mann, den du Vater nanntest, um mich her lebten. Das Bild steht mir noch immer vor Augen: Armod, der die Axt über den Kopf schwang, das aufblitzende Blatt. Er atmete schwer. Sein Körper glänzte vor Schweiß, unter der Haut spannten sich die Sehnen. Ihm war anzusehen, dass er sich schon lange nicht satt gegessen hatte, aber das kümmerte ihn nicht. So erinnere ich mich an ihn.

Das Dach wurde fertig, ehe die Schwalben hochflogen und der Peitschregen zu uns herfand. Wir flickten auch das Schuppendach, damit das Brennholz gut geschützt trocknen konnte. Am Abend ein langer Seufzer: Bald würde draußen Schnee liegen, nass und bleischwer, doch wir würden im Trockenen schlafen. Trotzdem gab es noch jede Menge zu tun: Die Holzwände ließen uns im Stich und den Winter ins Haus. An manchen Abenden stellte ich in der Dämmerung eine Kerze auf den Tisch, und nachdem Armod sie behutsam angezündet hatte, sahst du mit großen Augen in die flackernde Flamme. Schon bald würden die Nächte eisig werden. Ich nähte Vorhänge, um die Kälte auszusperren, aber sie schlüpf‌te am Stoff‌ vorbei. Abends legte ich mich in die Wärme neben Armod, den Geruch seines Arbeiterkörpers, den Klang seiner Stimme, und erwachte morgens in frostiger Kälte. Die Temperaturen würden weiter sinken, es würde Winter werden, wir würden uns dem Jahr 1898 zuwenden und den ersten Frühling in unserer neuen Heimat erleben. Armod und ich hüllten dich in eine zweite Decke und lächelten über die flackernde Flamme; jeden Tag würden wir die Wände weiter abdichten.

Abends zwei Becher auf dem Tisch, einander zugewandt wie ein Paar im Tanz. Im Schummerlicht stickte ich Blumenmuster und Monogramme, und oft malte Armod mit Worten und Gesten Geschichten, wenn er nicht gerade vor Erschöpfung zitterte. Dann nahm ich seine Hände, während das Kind in mir sich in meinem warmen Bauch zurechtlegte. Die Haut an Armods Fingern war trocken, ledern. Trotz Müdigkeit lächelte er.

»Bald flackert die Kerze hier drinnen nicht mehr. Die Kinder und du, ihr sollt vor Wind und Wetter geschützt sein wie in einem Ei – solange du hierbleiben willst.«

Er behielt recht. Beim Kochen brannten mir die Augen, aber solange der Dunst nicht entweichen konnte, fanden Feuchtigkeit und Kälte auch nicht herein.

Die Tage krochen dem Winter entgegen, und noch waren sie lang, die Nächte immer größere Versprechen. Der Zauber, wenn vorm Morgengrauen Dampf aus dem kostbaren Kaffee aufstieg. Wenn sich nicht minder kostbarer Rauch aus dem Schornstein gen Himmel kräuselte. Regen, der aufs Dach trommelte. Und unter Fellen und Decken Armod und ich, zwei dampfende Körper. Während du schliefst, Roar. Du warst noch so klein, stapf‌test auf pummeligen Kinderbeinen über die schlafende Wiese, die Haare standen dir vom Kopf ab wie bei einer Pusteblume, und wir drei lachten. Damals schliefen wir noch auf den Bodendielen. Die Nacht vorm Fenster war unsere Decke, durchwirkt mit Tausenden leuchtenden Punkten. Nachdem du eingeschlafen warst, legten Armod und ich dich in ein Bett aus unseren Kleidern, nicht mehr als eine Armlänge von uns entfernt.

Danach ertasteten unsere Hände den Körper des anderen. Armod streif‌te mir behutsam das Nachthemd ab, und wir lagen nackt beisammen. Wir wussten nicht, zu welcher Uhrzeit wir einschliefen, aber geweckt wurden wir von einem kalten Luftzug, der frühmorgens über den Boden kroch, noch bevor das erste Licht durchs Fenster fiel. Ich betrachtete meinen Armod und dich und dachte, so würden wir in Zukunft leben.

Kåra

Die Einsamkeit zwischen uns

Bricken ist wie ein Möbel, das sich nicht austauschen lässt. Sie sitzt, wo sie immer gesessen hat. Von wo aus sie über das Zimmer, das Haus und uns andere bestimmt hat. Gut möglich, dass die Alte uns allesamt überlebt, sie ist wie die Einlagerungen in den Steinstufen zu Doktor Thorséns Praxis in Söderhamn. Wie ein Fossil. Roar war einmal jung, wurde älter, wurde alt – und jetzt ist er tot, das weiß ich ganz sicher. Als Bricken und ich uns das erste Mal begegneten, war sie nicht mal fünfzig, und trotzdem hat sie sich seither kein bisschen verändert. Die gleichen Blicke aus den braun glänzenden Augen, dieselbe verfluchte Pelzmütze. Das Gesicht breit wie das einer Katze, das dunkle Haar tagsüber gebändigt, aber wenn sie es vorm Schlafengehen aufmacht, fällt es ihr über den Rücken wie ein Umhang. Falten um Augen und Mund, wie feine Lebenslinien oder Regenschlieren am Fenster. Mal wortkarg und auf Moll gestimmt, doch schon im nächsten Moment verwandelt sie sich in eine Schwiegermutter, die lacht und atemlos jeden Satz ausschmückt, Wörterflechten wie Spitzendekor auf einer Hochzeitstorte. Wie wir uns hier in der Küche angeglotzt haben. Sie Topf‌lappen häkelnd, während ich ihr am liebsten den Eintopf über den Kopf geschüttet hätte. Aber ich war hier auch schon halb benommen vor Glück. Den Rock hochgezogen, über mir ein Mann, der nicht meiner war. Da war Bricken woanders. Sie ahnt nicht, was die Küche ihr verheimlicht.

Die Kiefernplatte unter dem karierten Wachstuch ist geschwärzt von Schmutz und Zeit, hier hilft kein Putzmittel der Welt. Macken von Kindergabeln und achtlos abgelegtem Werkzeug, Kerben, wo das Brotmesser an dunklen Wintermorgen ins Holz schnitt – alles verborgen unter der Tischdecke. Es gibt so viel im Haus, was man nicht sieht.

 

Noch vor Kurzem war Roar hier bei uns. Mein Schwiegervater mit den gewitterwolkenfarbenen Augen. Seinen Kaffee trank er von der Untertasse. Genau wie Bricken mit Zucker, nur dass er den Zuckerwürfel mit dem Kiefer festklemmte. Danach kippte er den Kaffee auf die Untertasse und schlürf‌te ihn mit kleinen Schlucken. Vielleicht, weil er in einer ausgebauten Waldarbeiterkate lebte? Oder weil ihm oben ein paar Zähne fehlten, schon als ich ihn das erste Mal sah?

»Ein paar musste ich ziehen. Die anderen habe ich verloren, könnte man sagen, an einem Abend als Kind, an dem Stein an der Weggabelung.«

Der Stein auf halber Strecke ins Dorf, wo die Schritte mal leichter, mal schwerer werden, je nachdem, welcher Tag es ist. Der einzige Stein auf dem Weg und nicht mal sonderlich groß.

Als ich hier einzog, behielten Roar und Bricken das untere Stockwerk, den ursprünglichen Teil des Hauses. Dag und ich bekamen die neue obere Etage. Geräumige Küche, Wohnzimmer mit beiger Mustertapete, gelb gestrichene Bettnische mit schmalem Fenster. Die Küchenschränke hatte Dag in einem tristen Grauton lackiert, aber immerhin gab es in meiner Küche eine Speisekammer, unten bei Bricken nicht. Zudem hatte mein frischgebackener Ehemann ein paar klapprige Möbel besorgt, aber die konnte ich nach und nach austauschen. Ich legte ein paar von zu Hause mitgebrachte Flickenteppiche aus und setzte mich anschließend in einen Sonnenfleck, ließ mich wärmen. Hier gehörten wir jetzt also hin. Aber Dag, wie soll ich sagen, hing in der Schwebe. Nach einem gemeinsamen Leben waren die drei ganz aufeinander eingespielt. Hatten die gleiche Art, sich über die Morgenzeitung zu beugen. Die Augen zusammenzukneifen, wenn sie einander zulächelten. Den gleichen beseelten Gesichtsausdruck, wenn sie sich im Wald nach Steinpilzen und Pfifferlingen streckten, den gleichen Watschelgang. Hier auf der Lichtung bildeten sie ein kleines Rudel. Ich war die Untermieterin. Ich erinnere mich an den zugigen Fußboden oben bei mir im Herbst, den großen Schritt von der Treppe auf den rettenden Teppich, daran, wie ich abends die Füße unter die warme Decke zog. Im Winter nistete sich die Kälte im Dachstuhl ein, den mein Schwiegervater mit ein paar Kerlen aus dem Sägewerk gebaut hatte, derart dürftig gedämmt, dass wir bald ins Erdgeschoss flohen und in Brickens und Roars Küche hockten. Ich weiß noch, wie Brickens Blick an mir nagte, wenn sie mit der Kälte im Rücken von draußen reinkam, wie die Fältchen um Augen und Mund sich zu Sonnenstrahlen zusammenzogen, wenn sie ein Lächeln auf- und ihre verfluchte Dachsfellmütze absetzte. Im Winter sahen unsere zwei Waldarbeiter abends aus wie Märchenfiguren. Sie arbeiteten im Trupp mit ein paar anderen, in erster Linie aus Sicherheitsgründen. Beide mit Motorrad, beide mit blecherner Brotdose. Roar war Vorarbeiter, Dag befolgte seine Anweisungen. Bevor sie ins Haus kamen, klopf‌ten sie sich den gröbsten Schnee ab, aber die Kälte steckte ihnen tief in der Kleidung, sie waren voller Raureif, kleine Eistropfen in Brauen und Bart. Roar ließ Dag immer zuerst ins Warme treten. Dann, kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen und die Jacke aufgehängt, streckte er sich wie ein Jagdhund.

Anfangs streichelte Dag mir manchmal über den Rücken, damit ich lockerer wurde. Ich sah zu ihm hoch und lächelte. Oft meinte ich das Lächeln sogar ehrlich – das war, bevor mir auf‌fiel, dass er ziemlich einfältig dreinguckte. Einmal zog er mich nah an sein kaltes Gesicht heran, und es war, als erstarrte mein Gehirn zu Eis. Er sagte nichts, vielleicht ein kurzes »Hallo«, wenn’s hochkam. In der Hinsicht war er optimal – einfach gestrickt, anspruchslos. Einsilbig und nicht mit der Gabe gesegnet, Worte hübsch aneinanderzureihen. Ein paarmal die Woche wollte er Sex und stets warmes Essen auf dem Tisch. Nicht mehr, nicht weniger.

»Ich hab Hunger.«

So redete er. Klare Worte. Solide, normal. So, wie ich es haben und wie ich sein wollte.

›Ganz normal‹, flüsterte ich manchmal in mich hinein. ›Geh ganz normal. Nick den Leuten zu, wenn du sie grüßt, gib knappe Antworten, lächle ein bisschen, aber ja nicht zu breit und nicht zu oft, sei einfach normal.‹

Vater und Sohn waren grundverschieden. Dag kratzte sich alle naselang am Kopf, brauchte Erklärungen und Wiederholungen. Roar war dagegen so ein Mensch, den die Leute nach dem Weg fragten. Der ein zerfleddertes Notizbuch in der Brusttasche trug, in das er täglich einen Wetterbericht, allerlei Zahlen und zu erledigende Aufgaben schrieb. Der im Lauf weniger Abende ein ganzes Kreuzworträtselheft löste. Ich sah ihn oft an, wenn er voller Konzentration in seinem Sessel in der Stube saß. Hässlicher Fisch – Kliesche. Krautige Pflanze – Gras. Den Naturfragen widmete er sich jedes Mal zuerst.

»Anständiger Kerl«, sagte mein Vater einmal über Roar.