Mein Kampf – gegen Rechts -  - E-Book

Mein Kampf – gegen Rechts E-Book

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Beschreibung

Am 31. Dezember 2015 ist der Urheberrechtsschutz für Adolf Hitlers Hetzschrift Mein Kampf erloschen. Das Buch, das den Ausgangspunkt für den Rassismus unserer Tage in sich trägt, darf wieder verlegt werden. Zu einem Zeitpunkt, der gefährlich ist: Pegida boomt, Flüchtlingsheime brennen und Terroranschläge werden von rechten Parteien genutzt, um Vorurteile und Hass zu schüren. Mein Kampf – gegen Rechts hält der Neuauflage von Hitlers Hetzschrift elf starke Menschen entgegen. Menschen, die mit rechtem Gedankengut und rechter Gewalt zu kämpfen haben, und Menschen, die dagegen aufstehen. Ihre Berichte berühren, inspirieren und ermutigen dazu, selbst mitzukämpfen – gegen die drohende rechte Schieflage unserer Gesellschaft.

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Seitenzahl: 163

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1. eBook-Ausgabe 2016

© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin • München

Herausgeber: Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e.V.

Idee, Gestaltung, Satz: Ogilvy & Mather Werbeagentur GmbH, Berlin

Koordination und Redaktion: Lutz Meier

Fotografie: Dominik Butzmann

Bildbearbeitung: Simon Geis

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

eBook-ISBN 978-3-95890-033-2

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

www.meinkampfgegenrechts.de

Vorwort des Herausgebers

Ende des Jahres 2015 ist der Urheberrechtsschutz für Adolf Hitlers Hetzschrift Mein Kampf erloschen. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der es in Deutschland lichterloh brennt: Pegida verzeichnet großen Zulauf, Flüchtlingsheime werden mit Brandsätzen attackiert – und die Terroranschläge in Paris werden von rechten Parteien genutzt, um den schwelenden Fremdenhass zu schüren. Die Gesellschaft droht langsam, aber sicher in eine Schieflage zu geraten.

Hitlers Buch zeigt, welchen Ausgangspunkt der Rassismus unserer Tage hat und wo das Vorbild für aktuelle gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu finden ist. Für uns gibt es darauf nur eine vernünftige Reaktion: aufstehen, sichtbar werden – und dagegenhalten.

Aus diesem Grund gibt es das Buch, das Sie jetzt in den Händen halten. Mein Kampf – gegen Rechts zeigt, dass der Kampf gegen rechte Gewalt und rechtes Gedankengut in Deutschland auch im Jahr 2016 noch nicht zu Ende gekämpft ist. Es würdigt neben den Opfern rechter Gewalt vor allem die Menschen, die heute aufstehen und kämpfen. Jeder und jede auf seine und ihre Art.

Die Menschen, die hier zu Wort kommen, unterscheiden sich in ihrer politischen Weltanschauung, ihrem Werdegang, in ihrer Religion und in ihrer ganz persönlichen Art, in der sie gegen Rechts agieren und tätig werden. Sie sind bunt, wie die weltoffene Gesellschaft, die wir uns hier in Deutschland wünschen. Eine Gesellschaft, in der niemand aufgrund seiner Herkunft angefeindet wird, in der man Zuwanderung als Chance sieht – und in der rechtes Gedankengut und Hetzpropaganda keine Chance haben.

Wir sind allen Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sehr dankbar. Mit ihren starken und persönlichen Texten, ihren klugen und berührenden Worten und ihrem mutigen Handeln werden sie zu Vorbildern für uns alle. Wir hoffen, dass ihre Geschichten unsere Leserinnen und Leser dazu inspirieren, selbst weltoffen zu fühlen, zu denken und zu handeln. Die Möglichkeiten, für eine humane Gesellschaft den Kampf aufzunehmen – das zeigt unser Buch deutlich –, sind vielfältig.

Dazu möchten wir Sie und alle Leserinnen und Leser mit diesem Buch so herzlich wie nachdrücklich aufrufen: Stehen Sie auf, zeigen Sie Gesicht und kämpfen Sie mit uns – gegen Rechts!

Uwe-Karsten Heye, Sophia Oppermann und Rebecca WeisGesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e. V.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Iris Berben und Sascha Lobo

Hernán D. Caro

Mosche Dagan

Emma Louise Meyer

José Paca

Wana Limar

Frank Kimmerle

Andreas Hollstein

Nicola-Canio Di Marco

Irmela Mensah-Schramm

Dominik Bloh

Robert Koall

Ein Appell von Konstantin Wecker

Geleitwort von Iris Berben

Sehr geehrte Leserinnen, sehr geehrte Leser, liebe Betroffene, liebe Angehörige, liebe Porträtierte und liebe Autoren,

wann immer ich Drohbriefe bekomme, weil ich mich für Toleranz und gegen Fremdenfeindlichkeit einsetze, ist das genau der Moment, wo mir klar wird, man muss seinen ganzen Mut zusammennehmen und Gesicht zeigen. Nicht nur, um sich all dem zu stellen, was in unserem Land geschehen ist. Sondern auch um sich dem entgegenzustellen, was heute jeden Tag geschieht.

70 Jahre ist es her, dass Ausschwitz befreit wurde. 70 Jahre, in denen sich Deutschland mit seiner geschichtlichen Verantwortung auseinandersetzen musste, ein Prozess, der noch lange nicht zu Ende ist. 70 Jahre sind eine lange Zeit, doch es hat sich noch nicht genug geändert. Übergriffe auf Ausländer gehören wieder zum Alltag. Der Fremdenhass nimmt täglich zu und verbreitet sich in unserer Gesellschaft wie ein bösartiger Tumor: Zum prügelnden Nazi-Skinhead gesellt sich mittlerweile der besorgte Bürger auf der Pegida-Demonstration. Es kommen jene dazu, die ihre Sätze mit der scheinbar harmlosen Einleitung beginnen: »Ich habe nichts gegen Ausländer, aber …« Schlimm daran finde ich: Wir haben die schleichende Zunahme von Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz viel zu lange unterschätzt und vernachlässigt. Noch gefährlicher: Anstatt jetzt aktiv zu werden, nehmen wir all das viel zu oft einfach hin. Heute zeigen wir uns zwar schockiert über das brennende Flüchtlingsheim. Aber schon morgen haben wir es vergessen, bis das nächste Heim in Flammen steht. So dürfen wir nicht weitermachen.

Als ich 1967 im Fernsehen Bilder vom Sechstagekrieg in Israel sah, wurde ich neugierig. Mein erster Besuch in Israel war ein einschneidendes Erlebnis. Ich hatte Verantwortung angenommen. Die Verantwortung, nicht wegzuschauen, wenn Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Intoleranz ihr Unwesen treiben. Seitdem versuche ich für die Juden in Deutschland, für die Menschen in Israel, aber auch für alle anderen, die zu einer angegriffenen, verächtlich gemachten, an den Rand gedrängten Minderheit gehören, Freundin und Mitstreiterin zu sein. Ich engagiere mich seit Jahren gemeinsam mit Gesicht Zeigen! kompromisslos gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Vorurteile. Schauspielerei ist meine Passion. Aber der Kampf gegen Rechts ist meine Pflicht. Dazu gehört, gefährliche Entwicklungen nicht einfach wortlos zu akzeptieren, sondern ihnen lautstark etwas entgegenzusetzen. Und ich sehe die Gefahr, dass neben der kommentierten Auflage von Mein Kampf irgendwann auch unkommentierte Fassungen herausgebracht werden, denn das ist nach der veränderten Urheberrechtslage durchaus möglich!

Darum unterstütze ich das Buchprojekt Mein Kampf – gegen Rechts. Wo die Fremdenfeindlichkeit – so viele Mäntelchen sie sich auch umhängen mag – immer nur ein Gesicht hat, nämlich das des Hasses, da ist besonders wichtig, was dieses Buch zeigt: wie unterschiedlich die Schicksale der Betroffenen sind, wie vielfältig das Handeln derjenigen, die sich dem Hass entgegenstellen.

Ich empfinde Ehrfurcht und Respekt für die Offenheit und Eindringlichkeit, mit der die Protagonisten des Buches über Geschehenes berichten, und für die Größe, mit der sie trotz persönlicher Tragödien versöhnliche Töne anschlagen. Das beeindruckt und berührt mich. Die Kraft all jener, die nicht die Augen verschließen und sich einmischen, sollte uns alle motivieren, es ihnen gleichzutun. Denn solange Menschen von Rechtsextremisten und Neonazis verfolgt werden, solange Synagogen bewacht werden müssen und solange Menschen die Straßenseite wechseln, weil ihnen zwei Araber entgegenkommen, so lange lohnt es sich zu kämpfen. Mit all unserer Kraft. Mit Mut. Und mit einem großen Kämpferherz.

Iris Berben im Dezember 2015

Geleitwort von Sascha Lobo

Ein Buch mit dem Titel Mein Kampf zu veröffentlichen, das ist zweifellos eine Anmaßung. Es erscheint zumindest geschmacklos, in den Augen mancher vielleicht sogar abscheulich.

Für die meisten dieser und ähnlicher Empfindungen gibt es gute Gründe. Das fatale Buch von 1925, das diesen Titel trug, steht als programmatisches Werk für den schlimmsten Horror des 20. Jahrhunderts. Nichts weist heute deutlicher auf den im Holocaust mündenden, institutionalisierten Judenhass hin als eine zuvor millionenfach verbreitete Schrift: Mein Kampf ist das buchgewordene Symbol dafür, dass ein ganzes, als zivilisiert wahrgenommenes Land sich selbst aktiv der industriellen Menschenvernichtung verschreibt.

Aber im Jahr 2016 geschieht etwas mit diesem Buch. Das Urheberrecht von Mein Kampf erlischt, 70 Jahre nach dem Tod des Autors.

Darin liegt zuallererst eine Chance. Der bisherige Inhaber der Urheberrechte, der Freistaat Bayern, ist restriktiv mit der Verwendung des Werks umgegangen, auch gegenüber kritisch kommentierten Ausgaben. Sich aber inhaltlich mit dem Buch auseinanderzusetzen, das die intellektuellen und hasssatten Fundamente des Dritten Reichs gelegt hat, ist zwingend notwendig. Deutschland muss immer wieder aufs Neue verstehen, was damals geschah, weil das der einzige Weg ist, um zu verhindern, dass dieses Land jemals wieder in die Sphären des staatlich legitimierten Hasses abgleitet. Dabei kann die Beschäftigung mit dem Inhalt von Mein Kampf helfen; wahrscheinlich wird sie sogar umso wichtiger, je länger die demokratisch gewählte Herrschaft des Nationalsozialismus her ist.

Aber das kann nicht alles sein. Denn schon im Titel transportiert Mein Kampf eine alte Erzählung, die nie wieder aufleben darf. Diese Erzählung muss deshalb immer wieder gebrochen werden, sie muss gebrochen bleiben. Das lässt sich auch mit dem Versuch bewerkstelligen, dem ursprünglichen Autor die Deutungshoheit über den Titel streitig zu machen: mit einer neuen Erzählung. Das neue Buch mit dem Titel Mein Kampf – gegen Rechts ist genau aus diesem Grund entstanden.

Denn dieses Buch versammelt Stimmen von Leuten, die ihre eigenen Kämpfe ausgefochten haben, weil sie mussten. Sie wurden dazu gezwungen durch genau den Geist, der in dem dunkelsten Buch des 20. Jahrhunderts beschworen wurde. Für viele von ihnen bedeutet der Ausruf »Mein Kampf« deshalb, überlebt zu haben. Die in diesem Buch Versammelten haben ihren Kampf gekämpft und nicht verloren.

Die ruhigen, oft sanften, aber berührenden Berichte erzählen von Begegnungen mit dem Hass, der Gewalt, der Menschenfeindlichkeit. Der Lauf einer Pistole, in die ein Mann schauen musste, weil er schwarz ist. Die verächtliche Bezeichnung »Kanake«, die ein Mädchen in der Schule erdulden musste, weil sie in Afghanistan geboren wurde. Eine im Konzentrationslager Auschwitz in den Unterarm zwangsweise eintätowierte Nummer.

Dazu kommen Texte von Menschen, die nicht nur für sich, sondern auch und zuerst für andere kämpfen. Frank Kimmerle, Mitorganisator der Initiative Willkommen in Leipzig, stellt sich immer wieder dem Leipziger Pegida-Ableger Legida in den Weg, weil er nicht anders konnte und wollte. Er arbeitet mit Jugendlichen und klärt sie über die Verbrechen auf, die auch im Namen des Buches Mein Kampf geschehen sind. Kimmerle hat auch dabei geholfen, Stolpersteine zu setzen, also die messingbeschlagenen Steinquader, die der Künstler Gunter Demnig für die Opfer des Holocaust in den Boden hämmert. Dort, wo sie deportiert wurden: »Zusammen mit Demnig und vielen Schülern haben wir schon über 100 dieser kleinen Mahnmale verlegen können. Die Biografien der Familien, die von den Schülern selbst recherchiert werden, machen auf erschütternde Weise deutlich, wie menschenverachtend der Faschismus ist. In Leipzig fanden Schüler zum Beispiel heraus, dass ein jüdischer Vater für seine zehnköpfige Familie Ausreisevisa in die USA besaß. Die Gestapo zwang ihn schließlich, drei Familienmitglieder zu benennen, die ausreisen durften. Die anderen sieben wurden vergast. Das sagt alles über den Nationalsozialismus. Das vergessen die Schüler nie wieder.«

In diesem Buch sind Kämpfe dokumentiert, die nicht aufhören, weil die Verachtung in so viele Köpfe eingebrannt scheint. Wenn der Erfurter José Paca von seinem Kampf spricht, dann ist der Grund, ihn überhaupt führen zu müssen, so traurig wie nachvollziehbar: »Ich bin anders. Und das sehen alle auf den ersten Blick. Ich bin schwarz«, sagt er. Diese vollkommen alltägliche Andersartigkeit reicht aus, um zum Kampf gezwungen zu sein, fast jeden Tag, in Deutschland, auch noch im Jahr 2016.

Es brennen in diesem Land wieder Häuser, in denen Menschen leben, Flüchtlinge, die nichts getan haben, außer anders zu sein. Angezündet nicht nur von ungebildeten Horden, sondern auch von Leuten, von denen man meinte, sie seien die Mitte der Gesellschaft.

Die MTV-Redakteurin und Moderatorin Wana Limar wurde in Afghanistan geboren und hat in ihrem Kampf deshalb erleben müssen, wie Rassismus eben nicht allein ein Problem der Dummen oder Ausgestoßenen ist, wie häufig behauptet wird. »Nach den Anschlägen vom 11. September haben wir im Religionsunterricht über die Vorfälle gesprochen. Die Lehrerin stellte die Frage: ›Woran könnte man einen Terroristen erkennen?‹ Ich dachte mir, die Frage an sich ist ja schon total dumm, weil: Ein Terrorist macht sich ja nicht als solcher erkennbar. Aber dann hat sich wirklich ein Mitschüler gemeldet und meinte: ›Eventuell sind das Migranten mit einer asozialen Erscheinung.‹ Ich saß da zwischen Schock und Lachen, weil ich nicht glauben konnte, dass so etwas gesagt wird. Wenn das Leute gewesen wären, die einfach dumm oder völlig ungebildet sind, okay. Doch das waren alles Gymnasiasten.«

Gegen solche tief sitzenden, latent gefährlichen Haltungen gibt es nicht die eine einzige, funktionierende Strategie. Vor allem zeigen die Erzählungen in diesem Buch, dass der Kampf, die Kämpfe über 70 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches nicht abgeschlossen sind. Nichts ist vorbei. Es ist kein dickes Brett, das man bohren muss. Es ist ein Brett, das nie durchbohrt ist. Eine enorm ernüchternde, aber essenzielle Erkenntnis: Es hört niemals auf. Zivilgesellschaft heißt, jeden Tag aufs Neue für sie einzustehen. Dabei mag es trügerisch ruhige Phasen geben, aber es bleibt ein immerwährender Kampf. Und wenn man ihn nicht kämpft, gewinnt der Hass, heimtückisch oder explosiv, verborgen brodelnd oder offen radikal.

Weil das nicht passieren soll und nicht passieren darf, versucht dieses Buch die verschiedenen Perspektiven des Kampfes gegen den Hass abzubilden und mit dieser Botschaft das zu stören, zu zerfasern, zu überdecken, was im alten, dunklen Buch Mein Kampf geschrieben steht. Eine Gegenstimme, viele Gegenstimmen unter dem gleichen Label.

Deshalb ist der Titel dieses Buchs anmaßend, aber auf die richtige Weise. Er ist verstörend, aber mit einer wertvollen Wirkung. Man mag ihn als geschmacklos und sogar abscheulich empfinden, aber das, was sich hinter dem Titel verbirgt, ist zugleich Bericht, Mahnung und Hoffnungsschimmer. Denn solange Leute Mein Kampf sagen – aber damit für die Menschenwürde einstehen, so lange ist der Kampf gegen den Hass nicht verloren. Und das ist notwendig. Denn er ging in diesem Land schon einmal verloren.

Sascha Lobo im Dezember 2015

Ankommen

Um nach Neuberesinchen zu fahren, mussten wir die Straßenbahn nehmen. In einem der Abteile saßen ein paar alte, schweigsame Damen und Herren. Schon beim Einsteigen spürten meine Kommilitoninnen und ich ihre Blicke. Eine der Frauen starrte verstohlen in unsere Richtung. Ein Mann musterte uns kritisch von oben bis unten. Und ein Dritter schaute demonstrativ weg. Man sah uns an, dass wir nicht aus Frankfurt an der Oder stammten – und auch nicht aus einer anderen deutschen Stadt. Wir suchten uns einen Sitzplatz. Zwei oder drei Reihen vor uns drehte sich plötzlich eine alte Frau um, schaute uns verärgert an, gab ein unverständliches Grunzen von sich und wandte sich wieder ab. Mein erster Gedanke: Wir haben zu laut gesprochen. Wir Kolumbianer schauten uns verwundert an, und die Kommilitonin an meiner Seite flüsterte mir mit ironischem Unterton ins Ohr: »Ich glaube, da hat sich jemand in dich verliebt …«

An meinen ersten Tag in Deutschland erinnere ich mich noch gut. Es war einer von diesen trüben Wintertagen, an denen der Himmel tief und grau über einem hängt. Nach einem elfstündigen Flug von Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, nach Frankfurt am Main war ich nach Berlin weitergereist. Dort, am Flughafen Tegel, habe ich drei Kolumbianerinnen getroffen, die ebenfalls neu waren in Deutschland. Gemeinsam wollten wir weiter ins »andere Frankfurt«: nach Frankfurt an der Oder. Dort sollten wir ein Austauschsemester an der Europa-Universität Viadrina verbringen. Was als kurze Auslandserfahrung geplant war, wurde für mich zu einem Leben in Deutschland. Seit jenem Wintertag sind 15 Jahre vergangen. Ich bin immer noch in Deutschland – und ich werde auch hier bleiben.

Wenn ich heute an meinen ersten Tag in Frankfurt an der Oder denke, erinnere ich mich an meine gemischten Gefühle: die Aufregung, zum ersten Mal so weit weg von zu Hause zu sein; die Müdigkeit nach der langen Reise; die Unsicherheit, nur Fetzen dessen zu verstehen, was ich um mich herum hörte. Vor allem drei Momente habe ich noch genau vor Augen: einen missmutigen Blick, ein seltsames Gegröle und einen nett gemeinten Satz. Unabhängig voneinander erscheinen diese Momente relativ harmlos. Zusammen aber führten sie dazu, dass ich meine Ankunft in Deutschland als etwas »schwierig« empfand.

Das Erlebnis in der Straßenbahn, sollte nicht das einzige dieser Art bleiben. Während meiner Zeit in Neuberesinchen, etwas mehr als vier Monate, wiederholte es sich so oft, dass sich daraus schließlich ein Spiel entwickelte. Dieses bestand darin, sich unmittelbar vor dem Einsteigen in die Trambahn einen absurden Gruß an die Mitfahrenden auszudenken, der – würde man ihn tatsächlich aussprechen – ihre konsternierten Blicke erklären könnte. Zum Beispiel: »Guten Morgen! Ich bin ein Indianer aus Polen!«

Beim ersten Anblick von Neuberesinchen, der Plattenbausiedlung, die für ein paar Monate unser neues Zuhause sein sollte, waren wir verblüfft. So hatte sich keiner von uns Deutschland vorgestellt: lange Reihen grauer Betonblöcke, kahle Plätze, wenig Bäume. Der bitterkalte Wind, der an Wintertagen wie diesem durch die Birkenallee fegte. Die breite, meist leere Straße vor meinem Studentenwohnheim, die nichts von der Schönheit ihres Namens hatte. In diesem Wohnheim, im ungastlichen Neuberesinchen, sollte ich später viele glückliche Sommertage erleben, einige wilde Partys feiern und wunderbare Menschen kennenlernen, die bis heute eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen. Meine ersten Eindrücke des Plattenbaulebens waren jedoch, um ehrlich zu sein, ernüchternd.

Als wir in Neuberesinchen angekommen waren, gingen wir direkt zum Supermarkt gegenüber dem Wohnheim, um Einkäufe fürs Wochenende zu machen. Und hier vollzog sich der zweite Moment, der mir besonders in Erinnerung blieb. Vor dem Supermarkt saßen fünf oder sechs glatzköpfige Halbstarke – fast alle waren in meinem Alter, vielleicht auch jünger, also noch in der Pubertät. Doch in dieser Situation kamen sie mir vor wie Riesen. Einer hatte einen Kampfhund an seiner Seite. Um sie herum standen Bierdosen. Sie lachten laut und grölten. Als meine Kommilitoninnen und ich aus der Straßenbahn stiegen, begannen die Jungs Worte zu brüllen, die wir nicht verstanden. Ein deutscher Student, der uns an der Haltestelle abgeholt hatte, sagte zu uns: »Ignoriert sie einfach.« Der Versuch, uns zu beruhigen, bewirkte jedoch genau das Gegenteil. Denn der Kommilitone sprach damit aus, was mir und meinen Begleiterinnen vorher überhaupt nicht klar gewesen war: nämlich, dass sich die Schreie gegen uns richteten! Beim Verlassen des Supermarktes wiederholte sich das Spiel, das uns auch in den nächsten Monaten immer wieder begleitete. Nie eskalierte es, aber es blieb immer unheimlich – bis einem das hässliche Gebrüll irgendwann vertraut war.

Alles, was an diesem ersten Tag passierte, in dieser völlig neuen Welt, war mir fremd. Ich hatte mir meine Reise nach Deutschland als großes Abenteuer vorgestellt – was sie später auch werden sollte. Mir wurde aber schnell klar, dass ich auch ganz andere Dinge erfahren würde. Dinge, deren Bedeutung ich überhaupt erst einmal entziffern musste. Die Bestätigung dieses Gefühls kam bald, als ich endlich im Wohnheim angekommen war. Ich stellte mich meinen Mitbewohnern vor. Einer von ihnen, ein hilfsbereiter junger Mann aus Aachen, zeigte mir die WG, erklärte mir die Regeln und sagte am Ende einen Satz, der mich damals ganz schön erschreckte. Heute erscheint er mir wie der fast poetische, einzig angebrachte, nicht ganz humorlose Abschluss eines außergewöhnlichen Tages: »Aber jemand wie du in Neuberesinchen? Uff, hoffentlich kriegst du keinen Stress mit den Nazis – wegen der Hautfarbe, weißt du?«

Nein: »Stress mit den Nazis« habe ich nicht wirklich gehabt, auch wenn man wohl sagen kann: Ihre bloße Präsenz im Alltag war Stress genug. Genau wie die Geschichten, die damals in Frankfurt an der Oder kursierten, und die auf einen jungen, von Natur aus etwas verlegenen ausländischen Studenten definitiv Eindruck machten. Diese Geschichten kann man heute in den Chroniken rechter Gewalt der Stadt nachlesen. Juli 2000: Vier Inder und Pakistani werden von drei Rechtsextremen mit einem Baseballschläger, einem Billard-Queue und einem Skistock attackiert, als sie aus einem indischen Lokal kommen. März 2001: Zwei kenianische und ein kubanischer Asylbewerber werden beim Verlassen einer Diskothek von einer 20-köpfigen Gruppe Deutscher angegriffen und verletzt. Die dazukommende Polizei nimmt nicht die Angreifer, sondern die Asylbewerber fest. August 2001: Ein Liberianer wird von einem 19-jährigen Rechten an einer Bushaltestelle mit der Faust ins Gesicht geschlagen.