Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz - E-Book

Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 E-Book

Heinz Scholz

4,7

Beschreibung

Mit diesem ersten Buch lädt der Autor den Leser ein, seinen Lebensweg vom niederschlesischen Heimatdorf bis ins thüringische Gotha mitzuerleben. Da sind seine Erinnerungen an seine schlesische Kindheit und Jugend in NS-Zeit, Hitlerkrieg und das Leben im Stalingrader Lager 1944/45, an die Rückkehr aus Gefangenschaft und an den schweren Beginn eines neuen Lebens während schwieriger Nachkriegsjahre im Raum Erfurt – Langensalza bis zu seinem Eintritt als „Neulehrer“ in Gotha. In einem Brief an seine Enkeltochter schreibt er am 01.09.1990: „Ich will mich da als ein Zeitzeuge verstehen, der denkt, dass manches historische Geschehen aus dem Großen und Ganzen der jüngsten Geschichte vielleicht anschaulicher und verständlicher werden kann durch subjektiv erzählte „Geschichte(n) kleiner Leute…“ Ebenso empfehlenswert sein zweites Buch „Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990“, in dem er seinen subjektiven, authentischen Lebensbericht fortsetzt und uns einen aufschlussreichen Einblick gewährt in sein persönliches Leben und seine 40-jährige Tätigkeit als Lehrer im Schuldienst der DDR.

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Heinz Scholz

Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950

Erinnerungen an eine schlesische Kindheit und Jugend in NS-Zeit, Hitlerkrieg und Nachkriegsjahren

Impressum

Herausgeber: Harald Rockstuhl, Bad Langensalza

Umschlaggestaltung: Harald Rockstuhl, Bad Langensalza

Titelbild: Hartelangenvorwerk im Jahr 1967

Foto: Heinz Scholz, Montage von Harald Rockstuhl

ISBN 978-3-86777-035-4, gedruckte Ausgabe

1.E-Bookauflage 2013

ISBN 78-3-86777-562-5, E-Book[ePUb]

Wortgetreue Transkription

Repro und Satz: Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza/​Thüringen

Innenlayout: Harald Rockstuhl, Bad Langensalza

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaber: Harald Rockstuhl

Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V. Lange Brüdergasse 12 in D-99947Bad Langensalza/​Thüringen

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Der Ort Hartelangenvorwerk

Statt eines Vorworts

Bahnerfamilie mit Kuh

Politik im Dorfe!

In der Schule

Deutsche Helden

Blond und blauäugig

Vom Leben in Haus, Familie und Dorf

Im Deutschen Jungvolk

Jungenstreiche

„Lesekultur“

Harmonikaspieler

Unsere Neuländer

Das Jahr 1938

Was soll der Junge werden?

Abschied vom Dorf und von der Kindheit

Lehrjahre sind keine Herrenjahre!

„Blitzkriege“

In Neuhammer am Queis, unserer neuen Wohnstätte an Bahnhof und Truppenübungsplatz

Kernige Sprüche

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Mein Bruder Helmut

Soldat an der Ostfront

In Gefangenschaft

Stalingrad, Dezember 1944 („Meine Weihnachtsgeschichte“)

Im Stalingrader Lager 1945

Wohin jetzt – in der „Freiheit“?

Thüringen – meine neue Heimat?

Familienangelegenheiten

In Erfurt

Auf der „PF“ in Langensalza

In Gotha

Vom Stand der Dinge – 1950

Über den Autor

Für Franziska und Maria

„Historie und persönliche Erfahrung widerlegen sich nicht, sondern sollen einander über ihre Grenzen informieren.“

Christian Dieckmann (in „Rückwärts immer – Deutsches Erinnern“)

DerOrt Hartelangenvorwerkist einer der ältesten in unserem Heimatkreis. Bereits im Jahr 1209 findet er erstmals urkundliche Erwähnung. Im Mai 1427 brennen die Hussiten das Dorf vollständig nieder. 1428 richteten sie abermals im Dorf Verwüstungen an. Bis zum Jahr 1500 saßen die Zedlitze auf Langenvorwerk. Siegismund zu Zedlitz kauft 1498 eine Mühle zu Nieder-Görisseiffen. Derselbe Besitzer ist es, der 1500Dorf und Gut Langenvorwerk der Stadt Löwenberg verkauft. Im 30-jährigen Krieg wurde der Ort erneut vollständig abgebrannt. 1567/​68 starben fast alle Einwohner an der Pest. Auch in den Schlesischen Kriegen wurde der Ort von Freunden und Feinden in Mitleidenschaft gezogen. 1893, am 21.Juli, brannte fast das ganze Vorderdorf ab. Im gleichen Jahr richtete ein Hochwasser großen Schaden an. 1904 wird der Ort an die Eisenbahn angeschlossen.

(aus: Heimatbuch des Kreises Löwenberg in Schlesien)

Statt eines Vorworts

Aus einem Brief an meine Enkeltochter…am 01.09.1990

Liebe Franziska,

bei Deiner Vorbereitung auf das Referat über die Hitler-Diktatur in Euerem Geschichtsunterricht hast Du mich nach Fakten und Meinungen gefragt. Indem wir daraufhin ins Gespräch kamen, hattest Du gemeint, ich solle doch mehr erzählen von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in Kindheit und Jugend während der NS-Zeit – möglichst auch schriftlich. Zuerst habe ich gezögert: Wie das alles machen? Wo anfangen, wo aufhören? Wie werde ich damit fertig? – Nun will ich es gern versuchen und Deinem Wunsche nachkommen, wenngleich ich mir nicht schlüssig bin, wie ich vorgehen müsste. Sagen wir so: Ich will ganz einfach beginnen aufzuschreiben, wie es uns jungen Leuten von damals, uns schlesischen Dorfkindern und Jugendlichen, in Nazideutschland ergangen ist, wie ich diese kurze Geschichtsära von 1933–1945 bis in die Nachkriegsjahre hinein bewusst miterlebt, durchlebt… und was ich dabei erfahren, gedacht, gefühlt und getan habe und wieso ich zu guter Letzt hier in Gotha angekommen bin.

Dies alles natürlich aus rein subjektiver Sicht nach meinen ganz persönlichen Wahrnehmungen und Erinnerungen, möglichst ehrlich und redlich – nach bestem Wissen und Gewissen – und authentisch!

Ich will mich da als ein Zeitzeuge verstehen, der denkt, dass manches historische Geschehen aus dem Großen und Ganzen der jüngsten Geschichte vielleicht anschaulicher und verständlicher werden kann durch subjektiv erzählte „Geschichte(n) kleiner Leute… “

Dein Großvater Heinz

Bahnerfamilie mit Kuh

1933 war ich 8Jahre alt. Was weiß man da schon von der großen Politik! In solch einem Kindesalter folgt man den Ansichten der Eltern. Was die für richtig halten, hält man auch selber für richtig.

Unser Vater war arbeitslos, von der Bahn, der „… Reichsbahn“, entlassen, mit anderen seiner Kollegen. Man ging „stempeln“, das heißt, einmal in der Woche musste er in der Kreisstadt beim Arbeitsamt vorsprechen, sich dort melden. Dabei wurde ihm das „Stempelgeld“ ausgezahlt: 5,00Reichsmark, seine Arbeitslosenunterstützung. Das musste eine Woche lang für unsere vierköpfige Familie reichen. Nur gut, dass wir Hühner, Ziegen, ein Schwein und eine Kuh im Stall hatten, und im Garten Obst und Gemüse.

Normalerweise hatte Vater als Gleisbauarbeiter etwa 25Reichsmark in der Woche verdient. Nicht viel für die körperlich schwere Arbeit, die er bei einer 48-Std.-Woche täglich zu leisten hatte.

Wenn seine Kolonne in einem Streckenabschnitt in der Nähe unseres Dorfes arbeitete, musste ich ihm, wenn es sich mit meinen Schulstunden vereinbaren ließ, manchmal im Essgeschirr das Mittagessen bringen. Dann blieb ich gern auch eine Weile, ließ mir dies und jenes erklären, sah wie die Männer mit ihren schweren Stopfhacken den Schotter unter Schwellen und Schienen hineinschlugen. „Stopfen“ nannten sie das. Von mal zu mal wurde die Messlatte angelegt, die Waagerechte zu prüfen oder in der Kurve die erforderliche Neigung des Gleises.

Aufregend war es, wenn der hinter dem Ende der Baustelle stehende Sicherheitsposten in sein Signalhorn blies. Er „tutete“, und es ertönten hintereinander laut krächzende Trompetenstöße, die einen herannahenden Zug ankündigten. Die gewarnten Männer hielten inne in ihrer Arbeit, griffen nach Hacken und Geräten und traten heraus aus dem Gleis, um an der Bahndammseite stehend, den herankommenden Zug an sich vorbeibrausen zu lassen. Mir schien oft, sie stünden zu nahe dran, ihre Hosen und Jackenärmel flatterten im Fahrwind des Zuges. Ich wusste: 80km pro Stunde auf freier Strecke! Auch die Kurven ausgebaut für diese Geschwindigkeit! Am schnellsten die „86“, eine Tenderlokomotive der Baureihe 86, für mich die schönste Lokomotive auf unserer Nebenstrecke Hirschberg– Sagan, meine Lieblingslokomotive! Einmal, mein Vater arbeitete gerade auf der Bahnstation des Nachbardorfes, bot sich für mich die Gelegenheit! Ich durfte hinaufsteigen und hineinklettern in „meine 86“. Der Lokführer – mit Schlips und Kragen – ließ mich seinen Führerstand bestaunen. Der freundliche kohlegeschwärzte Heizer öffnete für mich die schwere gusseiserne Klappe zum Feuerkessel. Ich starrte hinein in die grell heißen Flammen des brodelnden Feuers und konnte dann zusehen, wie er etliche Schaufeln großstückiger Steinkohle in den Feuerschlund hineinwarf und wie da drinnen das Fauchen und Rumoren zunahm.

Ich war stolz auf dieses Erlebnis, und ich weiß, es hat mein durch meinen Vater gewecktes Interesse für die Eisenbahn noch mehr bestärkt. Ich liebte die Eisenbahn, sie hatte etwas Dämonisches an sich, und sie war für mich wie ein technisches Wunder. Und: Keiner meiner Schulkameraden kannte sich mit ihr besser aus als ich.

„Bahner“ nannte mich unser Lehrer in der Schule. Ich war ja der Sohn des „Bahners“, des Bahnarbeiters. Mich störte dieser Spitzname nicht. Im Gegenteil, es gefiel mir, so genannt und hervorgehoben zu werden. Mein Bruder Helmut und ich, wir waren die einzigen Jungen, die einen Vater als Eisenbahner und dadurch auch entsprechende Kenntnisse in Sachen „Eisenbahn“ vorzuweisen wussten.

Die meisten unserer Mitschüler waren Bauernkinder. Einige Väter waren Gutsarbeiter. Andere arbeiteten als Zimmerer oder Maurer in der nahen Kreisstadt. Eisenbahner gab es nur vier im Dorf. Und unser Vater war ja – was wir Jungen sehr genau nahmen – nicht nur Gleisbauarbeiter, sondern zugleich „Hilfsrottenführer“. Das heißt, er vertrat gelegentlich den „Rottenführer“, den Leiter der Gleisbaukolonne.

Einmal sogar – ich erinnere mich – hatte unser Lehrer bei irgendeiner Personalbefragung meinen Vater unter der Rubrik „Angestellter“ eingeordnet, was ich als nicht zutreffend richtigzustellen versuchte. Aber er meinte, so ähnlich wie Angestellter, denn er sei ja im festen Arbeitsverhältnis. Doch das hatte sich in den Jahren zuvor, wie schon gesagt, als unwahr erwiesen, als unser Vater gleich den anderen Arbeitern im Dorf arbeitslos geworden war. Das war 1931–32… 33, die Zeit mit 6Millionen Arbeitslosen in ganz Deutschland.

Man „saß zu Hause“ jetzt, und mancher überlegte, mit welcher einträglichen Nebenbeschäftigung er seine „freie Zeit“ ausfüllen könne. Mein Vater ging zeitweise mit seinen Kollegen in den Wald, wo sie auf Kahlschlägen Baumstöcke rodeten, die zu Hause dann zu Brennholz zersägt und zerhackt wurden. In einem Winterhalbjahr hatte er auch aus herbeigeschafftem Birkenreisig in unserer Wohnstube Kehrbesen hergestellt, um sie in der Stadt zu verkaufen. Und es lag auch in der Arbeitslosenzeit, als mein Vater mit Hilfe unseres Nachbarn begann, hinter dem Haus einen massiven Schuppen zu bauen.

Unsere Mutter war Hausfrau. So hieß das, wenn die Ehefrau nicht einer beruflichen Tätigkeit nachging, sondern zu Hause die Kinder betreute und Küche und Hauswirtschaft bestellte. Wie bei anderen Arbeiterfamilien in unserem Dorf, zählte zur Hauswirtschaft meist ein kleinbäuerlicher Erwerbszweig mit Kleinvieh, Obst- und Gemüsegarten und einem Morgen Land hinterm Haus. Wir Jungen hatten die Kaninchen zu füttern und mussten wochentags das Futter für die Kuh vorbereiten. Letzeres war eine uninteressante, langweilige Arbeit, die wir möglichst aufschoben oder um die wir uns herumdrücken wollten, der wir aber nie entgehen konnten. Mutter, die uns zu diesem täglichen Pflichtpensum anhielt, hatte manchmal Ärger mit uns. Da gab es gelegentlich Streit um die gerechte Teilung der Arbeiten zwischen meinem Bruder und mir. Oder wir hatten viel interessantere Freizeitbeschäftigungen im Sinn als „Rieben schorben“ für unsere Kuh.

Und damit bin ich bei unserer Kuh. Wir nannten sie Muschka, aber nur in friedlichen Stunden. Meist bereitete sie uns Aufregung und zusätzliche Anstrengung. Sie war nicht etwa eine friedliche Milchkuh und schon gar nicht träge. Eher wie ein Dragoner zog sie im Geschirr an der Deichsel unseren leichten Futterwagen die Dorfstraße hinunter. Und wir mussten jeden Augenblick damit rechnen, wenn ein Schwarm Hühner aufgeschreckt wurde oder wenn am Bahndamm entlang ein Zug herandampfte, dass sie plötzlich lossprang wie ein Rennpferd und den Wagen mit Schwung in eine ungewollte Richtung versetzte. Manchmal scherte sie unberechenbar nach links oder rechts aus, das ging dann über Stock und Stein. Einmal, dieweil ich hinten auf dem Wagen saß und die Bremskurbel zu betätigen hatte, setzte sie bei ruhiger Fahrt plötzlich so schnell und ruckartig an, dass sie mir den Wagen unter meinem Hintern wegzog und ich mit einem schwungvollen Fall auf der Straße landete. Mein Vater vermochte sie auch nur mit großer Mühe im Zaum zu halten. Einmal, wieder bei so einer Attacke in die Quere, riss sie Vater zu Boden. Aber, indem sie doch zum Stehen kam, spreizte sie ihre vier Beine so aus, als wenn sie den unter sich Liegenden nicht treten wolle. Und wenn wir mit Mutter tagsüber allein mit unserem Kuhwagen aufs Feld fuhren, war das für sie oft ein angstvolles Unternehmen. – Es hieß: Unsere Kuh „scheut“. Sie konnte also durch jedwede unvorhergesehene Störung in Raserei versetzt werden. Das war im Dorf bekannt. So erregte unser sonderliches Gespann auf der Dorfstraße oft besondere Aufmerksamkeit. Mancher rief uns dann eine spöttische oder ermunternde Bemerkung nach.

Und Milch gab sie auch wenig. „Das ist eben eine Zugkuh“, sagte der Viehhändler Rübesam, der unseren Vater immer drängte, nun doch endlich das „wilde Luder“ zu verkaufen.

Außerhalb des Dorfes hatten wir noch einen Morgen Pachtland, eine Wiese und den billigen etwa 1km langen Bahndamm, dessen Gras Vater für 2Mark im Jahr beidseitig „abhauen“ durfte. Das brachte, wie er sagte, der Kräuter wegen gutes Heu. Nur beim Mähen gab es Grund zum Fluchen, wenn er mit seiner Sense wieder in einen heruntergerutschten Schotterstein hineingehauen hatte. – Im Sommer mussten wir beiden Jungen zweimal in der Woche mit Vater in der Feierabendzeit Grünfutter holen, mit unserem Kuhwagen, versteht sich. Es ging also hinaus auf unsere Wiese oder an den Bahndamm. Vater mähte, wir mussten das Gras zusammenrechen und aufladen und die Kuh im Zaum halten. Doch wenn die Eisenbahn herankam, übernahm dann Vater die Kuh an der Leine.

Ich konnte all diesen bäuerlichen Arbeiten nichts abgewinnen. Ich tat alles nur pflichtgemäß. Natürlich sah ich ein, dass wir auf verlangte Weise mithelfen sollten, Ernährung und Leben der Familie auf einem einfachen oder sicheren Stand zu halten. Aber dass ich mich mitverantwortlich gefühlt hätte, das kann ich nicht sagen.

Das einzige, was ich als schön empfunden habe, war die Heimfahrt vom „Grünfutterholen“ oder beim Einbringen der Getreideernte. Wir Jungen durften dann oben liegen auf dem Fuder, kuschelten uns in ein bequemes Liegenest und schauten in den Himmel. Seitlich, an den oberen Enden von Bäumen und Telegrafenmasten konnten wir während des Fahrens unseren jeweiligen Standort ablesen oder erraten. Und dann beobachtete ich gern die Wolken, ihre Formen, ihre Struktur, ihre Farben und die Richtung ihres Zuges. Manchmal sangen wir beide irgendein Lied, Helmut lieber und besser als ich. Es war ein Träumen nach oben und wohl auch in die Ferne.

Später, im Erwachsenenalter, als ich Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ las, musste ich an solch einen kleinen Glücksmoment in meiner Kindheit denken. Oder wenn ich mit meiner 6.Klasse die Lesebuchgeschichten aus „Pelle der Eroberer“ von Andersen-Nexö gelesen hatte, auch dann habe ich zurückgedacht und davon gesprochen, wie wir Jungen in unserer kleinen dörflichen Welt gelebt haben.

Nur in punkto Eisenbahn war ich dem „Taugenichts“ und auch „Pelle“ etwas voraus. „Hört ihr das Knacken in den Schienen!“ so erinnerte uns Vater dann am Sommerabend, wenn wir am Bahndamm das Heu oder Gras aufluden. Und wir wussten natürlich als „Bahner“ durch ihn: Jetzt ziehen sich mit der abendlichen Abkühlung die Stahlschienen wieder zusammen. Daher auch die kleinen Abstände zwischen den Schienen, die „Stöße“, die beim Bau oder Umbau der Gleise berücksichtigt werden mußten!

Politik im Dorfe!

Als ich im Sommer 1965, seit meiner Kindheit – nun als 40-Jähriger – das erstemal, wieder hinaufstieg auf „unseren Berg“ hinter unserem ehemaligen Haus und auf dem breiten hohen Feldrain dahinschritt, da sog ich den mir allzu vertrauten Duft der heimischen Gräser ein. Da war er wieder da, dieser unverwechselbare würzige Geruch des kargen Wachstums auf dem bergigen Sandboden, den ich als Kind unbewusst in mich aufgenommen, wenn ich hier oben gestanden hatte, die straffe Schnur meines schwebenden Drachens in fest ziehender Hand. Ilse, meine Frau, mit mir das erste Mal hier, war sehr angetan von der abwechslungsreichen, lieblichen Vorgebirgslandschaft. Oben, von der obersten Höhe meines Berges, wies ich hinüber nach Norden zur „Harte“, nach Westen zum Ortsteil „Klein-Berlin“, nach Süden auf „Vogels Pusch“. Hinter diesem ragte das „Kalte Vorwerk“ hervor. Und ganz hinten, am Horizont, konnten wir im Dunst die Konturen des Riesen- und Isergebirgskammes erkennen, auch deutlich sehen den herausragenden Kegel der Schneekoppe… . Ich kam auf den Namen unseres Dorfes zu sprechen: Hartelangenvorwerk. Dieser lange Ortsname hat oft Schwierigkeiten bereitet, wenn er anderswo amtlich genannt oder in eine viel zu kurze Spalte eines Personalbogens eingetragen werden musste. Und dann erzähle ich Ilse, wieder zurückblickend, wie uns zu meiner Schulzeit unser Lehrer in heimatkundlicher Unterweisung die Entstehung dieses Namens erklärt hatte:

Unser Dorf Hartelangenvorwerk 1967, polnisch: Radlówka.

Mit dem Teilwort „Harte“ ist der Name des am Dorfrand gelegenen bewaldeten Bergrückens gemeint. Und „Lange“ hat der Gründer und ursprüngliche Besitzer des „Vorwerks“ geheißen, in dessen Umfeld sich die Dorfsiedlung gebildet hat. Dass es sich in unserem Falle – im Gegensatz zu ehemals slawischen Gründungen in der Bober-Aue (wie Rackwitz, Sirgwitz…) um die Gründung eines Dorfes durch deutsche Siedler handele, ist dabei immer ausdrücklich gesagt worden… Das Vorderdorf, ein Straßendorf an der Hauptstraße zwischen Löwenberg und Lauban, war ein ausgesprochenes Bauerndorf, sagen wir: neben einem Großbauern hauptsächlich aus mittelgroßen drei- oder zweiflügligen Bauerngehöften bestehend, mit dem Hufschmied, dem „Gerichtskretscham“ und der Schule. Das Hinterdorf verfügte auch über einige kleinere und mittlere Bauern, doch hier wohnten dazwischen Arbeiter auf eigenem kleinen Hausgrundstück, sogenannte „Häusler“. Hinzu kamen ein Tischler, ein Stellmacher und ein Fahrradmechaniker, jeweils mit einer kleinen Werkstatt, und außerdem noch die Bäckerei Scholz und Runges kleiner Lebensmittelladen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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