Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das ist die Geschichte der jungen Krankenschwester Sophia Barbist, die sich vorgenommen hatte, das Krankenhaus zu rocken. Aber sie hatte nicht mit den krassen Umständen gerechnet, denen die Pflegerinnen und Pfleger ausgesetzt sind: ständige Überlastung, grassierende Personalnot, gesperrte Stationen, Frust, Ängste, Verzweiflung. Dennoch ist es für Sophia der wundervollste Beruf. Voller Momente auch des Triumphs der Medizin, der Dankbarkeit, der Menschlichkeit, der Heilung. In ihrem Buch erzählt sie, wie der Krankenhausalltag wirklich ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 283
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
unveränderte eBook-Ausgabe
© 2024 Seifert Verlag
2. Auflage (Hardcover): 2024
ISBN: 978-3-904123-93-8
ISBN Print: 978-3-904123-86-0
Umschlaggestaltung: Jakob Salner,
unter Verwendung eines Fotos von freystil_fotografie, Laura Frey
Der Verlag dankt dem Pfleger Dominik H. für seine wertvollen Ratschläge.
Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]
www.seifertverlag.at
facebook.com/seifert.verlag
Vorwort
1. Einleitung
2. Ein Blick hinter die Krankenhausfassade
3. Der erste Schritt ins Chaos
4. Das Wunder des Lebens
5. Ein Tageseinblick
6. Das Schicksals-ABC
7. Auf der anderen Seite des Krankenbettes
8. Das elendige C-Thema
9. Darüber spricht niemand
10. Weil sich alles nur noch um Zahlen dreht
11. Realität aus der Pflege
12. Wenn die Menschlichkeit fehlt
13. Dieser eine Tag
14. Wenn nichts mehr bleibt
15. Anhang
Anmerkungen
Einmal, da fragte mich ein guter Freund: „Was machst du eigentlich den ganzen Tag bei deiner Arbeit?“
Ich antwortete ihm: „Ich achte darauf, dass es den Menschen im Krankenhaus gut geht, und helfe ihnen, wenn es ihnen einmal nicht so gut geht. Ich versuche sie auf ihrem Genesungsweg bestmöglich zu unterstützen und ihnen den Krankenhausaufenthalt mit meiner humorvollen Art möglichst angenehm zu gestalten, ihnen Tipps zu geben und für sie da zu sein.“
Daraufhin schaute er mich fragend an und meinte: „Okay, und was machst du dann in der restlichen Zeit?“
Dieses Buch ist kein Roman und auch keine erfundene Geschichte, es ist meine Geschichte.
Dieses Buch ist eine Reise durch die unterschiedlichsten Lebenssituationen, eine Reise durch die schwersten Schicksalsschläge und die berührendsten Momente aus Sicht einer jungen Krankenpflegerin. Es ist eine Reise zwischen Freud und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, ermutigenden Momenten und Momenten der puren Verzweiflung.
Dieses Buch ist kein Ratgeber. Dieses Buch soll eine Inspiration sein und soll dein Mindset auf viele Dinge verändern.
Dieses Buch ist für jeden, denn es betrifft uns alle.
Für jeden, der verstehen, der hinterfragen und der denken möchte.
Für jeden, der etwas Positives zur Gesundheit von uns allen beitragen möchte.
So einfach erklärt,
dass es auch die
Schlauesten verstehen.
Aber vielleicht nicht ganz so schön,
wie man es gerne haben möchte.
Die in diesem Buch geäußerten kritischen Meinungen zielen keinesfalls auf einzelne Häuser, sondern betreffen das System. Die geschilderten Personen und Fallgeschichten wurden sorgfältig anonymisiert und verfremdet, sodass keinerlei Rückschlüsse auf tatsächliche Personen oder Institutionen möglich sind. Nichtsdestotrotz entsprechen die zugrundeliegenden Erzählungen der Realität und wurden nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben.
Alleine die Vorstellung, dass keine optimale pflegerische Versorgung gewährleistet werden kann, wenn jemand von uns oder einer unserer Liebsten einmal auf Hilfe angewiesen ist, sollte uns allen ein bisschen Angst machen. Bevor wir ein Medikament einnehmen, lesen wir in den meisten Fällen den Beipackzettel mit möglichen Nebenwirkungen. Wenn wir ein Gerät zum ersten Mal bedienen, lesen wir vorher die Gebrauchsanweisung. Vor Operationen werden wir sorgfältig über mögliche Komplikationen aufgeklärt.
In der Pflege läuft das dagegen ähnlich wie bei einem Brettspiel: Erst wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann informiert man sich über seine Rechte. Die Patienten erhalten im Voraus keine Informationen über mögliche Gefahren für Körper und Seele. Davon gibt es aber sehr viele.
Ich weiß nicht, wie viele einer pflegerischen Versorgung zustimmen würden, wenn im Aufklärungsbogen im Vorhinein stehen würde: Wartezeit nach Abgang von Stuhlgang in die Windel bis zu vier Stunden zum Frischmachen, dreimal täglich die Möglichkeit zur Umpositionierung und Verabreichen von Schmerzmitteln nur nach Personalbedarf. Ihr zahlt vielleicht alle brav euren Beitrag für die Krankenkassen, und dennoch können wir euch nicht immer alle adäquat und professionell versorgen, so wie ihr es verdient hättet. Vieles von dem, was passiert, wird verschönert, verharmlost oder einfach ignoriert. Die allermeisten wissen gar nicht, was abgeht, sie alle haben aber ein Recht dazu, es zu erfahren, weil wir alle ein Teil davon sind. Und erst wenn genug Menschen verstehen, wo das Problem liegt, kann ein Umdenken stattfinden. Ich hoffe immer noch sehr auf ein bisschen mehr Empathie für uns alle, und vielleicht schaffen wir es, das so essenzielle Gesundheitssystem für uns alle zu retten. Das ist wichtig. Denn auch Pflegepersonen haben einmal einen schlechten Tag, auch Rettungssanitäter werden im Dauerstress zornig, und auch Ärzte erhalten privat öfter einmal schlechte Nachrichten. Wir arbeiten zwar alle am Menschen, doch wir sind alle selbst auch Menschen, das darf man nicht vergessen. Nur wenn wir andere Menschen verstehen lernen, dann wird vieles einfacher. Vielleicht sogar das ganze Leben.
Mein Name ist Sophia, und ich habe einen der wundervollsten und wertvollsten Berufe erlernt, durfte enorm viel Wissen und Erfahrungen für mich und mein Leben mitnehmen. Ich habe aber auch Dinge gesehen, die ich nie wieder sehen möchte, und ich habe Sachen gemacht, die ich nie wieder machen möchte. Ich arbeite als Krankenpflegerin1, und ich liebe es die meiste Zeit über, aber meine Erwartungen an diesen wundervollen Beruf sind binnen kürzester Zeit beinahe komplett zerstört worden. Ich war voller Euphorie, habe mich so sehr auf diesen Beruf gefreut, wollte selbstständig arbeiten und das Krankenhaus mit meinen Kollegen rocken. Ich wollte die Menschen auf ihrem Weg zurück zur Gesundheit begleiten und sie vor Krankheiten schützen. Meine Empathie, meine Motivation und meine Leidenschaft wurden durch eine ständige Überlastung in Frust, Verzweiflung und Angst umgewandelt. Mir ist es wichtig, basierend auf meinen Erfahrungen, einen Einblick in die Welt der Pflegepersonen2 zu geben. Es ist mein Herzensprojekt, es geht uns alle etwas an, und ich glaube, es kann sich nur etwas ändern, wenn wir alle verstehen, worum es geht. Das kann aber nur funktionieren, wenn nicht nur diejenigen, die dort arbeiten, mitbekommen, was abgeht, sondern wenn es alle Menschen wissen.
Ich war als Kind schon des Öfteren in einem Krankenhaus, zum Glück in den meisten Fällen nur, um jemanden zu besuchen. Es hat mich damals schon fasziniert, wie souverän die Menschen dort arbeiten, alles wirkte so professionell und vertraut, nie hätte ich mir träumen lassen, jemals eine von ihnen zu sein.
Meine Oma war aufgrund ihres Alters und ihrer vielen altersbedingten Erkrankungen meistens auf einer Station für Innere Medizin, meine Mama lag mit ihrem Kreuzbandriss nach einem Skiunfall auf der Unfallstation. Wenn es jemandem sehr schlecht ging, dann hieß es oft, dass er auf der Intensivstation ist, und wenn eine Frau ein Kind bekam, dann lag sie auf einer Wochenbettstation. So war mir auch immer klar, dass ein Krankenhaus ein Ort mit Struktur ist, wo alles nach einem Plan abläuft. Dass es dort Stationen gibt, in denen Kinder zur Welt kommen, Stationen, in denen Menschen mit gebrochenen Knochen liegen, und Stationen, wo Menschen mit Krankheiten der Organe untergebracht sind. So dachte ich jedenfalls. Es gibt Stationen für Krankheiten der Haut, der Nerven, der Psyche, der Zähne, der Lunge, des Herzens, Stationen für Kinder und Stationen für alte Menschen, eigentlich für alle Bereiche, die man sich nur vorstellen kann. Ganz logisch eigentlich, denn jeder Mensch, der ins Krankenhaus geht, kommt aus einem unterschiedlichen Grund her, die einen hatten einen Unfall, die anderen bekommen schlecht Luft, manche erwarten ein Kind, wieder andere fühlen sich einfach schlecht und wissen nicht genau warum.
Während meiner Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegerin musste ich auf den verschiedensten Stationen ein Praktikum absolvieren, durfte also in die unterschiedlichsten Bereiche Einblick gewinnen. Für die meisten von uns stellte sich im Laufe der Praktika eine besondere Vorliebe für einen ganz bestimmten Bereich heraus. Manche entwickelten ein besonderes Interesse für Kinder und wollten unbedingt auf einer Kinderstation arbeiten, andere hatten eine Vorliebe für Wunden und wollten auf eine chirurgische Station, ganz egal welcher Schwerpunkt, manche wollten Menschen aller Altersgruppen und mit möglichst vielen Erkrankungen betreuen und entschieden sich für den Bereich der Inneren Medizin. Manche liebten es, Menschen nach einem Unfall zu versorgen, ihnen gefiel diese oft doch sehr blutige Angelegenheit. Einige fanden es schön, ihre Patienten zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld zu betreuen, und beschlossen, ihre Tätigkeit im mobilen Pflegedienst auszuüben. Es gibt Menschen, die erfüllt es, wenn sie in der Palliativpflege einen Menschen in den letzten Phasen seines Lebens betreuen können. Ein Teil der Studierenden wollte in die Notfallmedizin: reanimieren, intubieren, fixieren, sedieren. Einige fühlten sich mit dem OP- und Anästhesie-Bereich verbunden und waren eher technisch ausgerichtet. Manche waren beeindruckt von der Vielseitigkeit auf einer Intensivstation und entschlossen sich, dort zu arbeiten. Ein paar gingen in die Altenpflege. Andere wollten sich um die Allerkleinsten der Kleinen kümmern und wählten die Neonatologie. Und für mich stand bereits vor der Ausbildung fest, dass ich mich für den Bereich der Wochenbettpflege und der Neugeborenen-Versorgung interessiere.
Ich finde es völlig in Ordnung, dass jeder von uns eine gewisse Vorliebe entwickelt hat, dafür gibt es ja auch die unterschiedlichen Stationen. Grundsätzlich absolvieren wir zunächst eine allgemeine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege, entwickeln dann für einen gewissen Bereich Interesse, vertiefen uns, entwickeln uns weiter, spezialisieren uns, werden besser und können irgendwann die zu pflegende Person optimal versorgen. Wir erkennen im besten Fall sofort, wenn bei einem Patienten etwas nicht in Ordnung ist, intervenieren und leiten die weiteren Maßnahmen ein.
Wir können uns an verschiedensten Orten optimal einbringen. Und wenn man seinen Bereich gefunden hat, in dem man sich so richtig entfalten kann, dann ist dieser Beruf wunderbar. Man kann höchste Verantwortung tragen, sein flinkes Köpfchen nutzen, Leben verändern und Leben retten.
Dieser kleine, etwas rundliche onkologische Fachpfleger, der mit der Glatze und mit der ganz langsamen und tiefen Stimme, genau der ist aufgrund seiner einfühlsamen, verständnisvollen und liebevollen Art perfekt für die Onkologie. Er findet immer das richtige Wort, auch nach der schlimmsten Diagnose, und wenn es nichts mehr zu sagen gibt, dann schweigt er und nimmt seine Patienten in den Arm, auf eine Art und Weise, die nicht gefühlvoller sein könnte.
Der große Sportliche, dem kein Weg zu weit ist, der sie alle kennt, ganz egal wie hoch, wie weit und wie steil der Weg auf den Berg ist, der dir zu jedem Berg, zu jedem See, zu jeder Fahrradtour, zu jeder Skitour eine Geschichte erzählen kann, der genau weiß, wie man sich nach dem Sturz beim Skifahren fühlt, weil er selbst für den Sport lebt. Der nachvollziehen kann, wie sich ein Mensch fühlt, der bislang all seine Emotionen, Gefühle und den ganzen Stress durch Sport abgebaut und ausgedrückt hat. Der dieses Gefühl kennt und weiß, dass es sich wie ein Entzug anfühlt, wenn man es plötzlich nicht mehr kann. Dieser eine, der einen mit seiner humorvollen Art immer und immer wieder motiviert. Dem es nichts ausmacht, wenn Blut spritzt und Knochen in verschiedene Richtungen abstehen, genau der gehört auf die Unfallstation.
Die kleine, zierliche, noch ganz junge Pflegerin, die, die immer eine Haarsträhne im Gesicht hat und etwas verplant aussieht. Sie ist diejenige, die genau weiß, was in einer Notfallsituation zu tun ist, sie bringt ihre ganze Kraft bei der Reanimation ein, sie hilft bei der Intubation mit und zieht die verschiedensten Medikamente im Schockraum mit einer Souveränität auf, die ihr niemals jemand zugetraut hätte.
Der schüchterne, zurückhaltende junge Mann, der nicht gerne im direkten Menschenkontakt steht und dennoch gerne mit Menschen zusammenarbeitet und sie versorgt, zudem für technische Geräte ein enormes Hintergrundwissen mitbringt, genau der soll sich im OP-Bereich verwirklichen und diese Ruhe ausstrahlen, die die Patienten sich dort oftmals wünschen.
Die Frau kurz vor ihrer Pensionierung, die mit der ganz dicken Brille und den hochgesteckten Haaren, die nicht mehr ganz so schnell durch die Station flitzt, sie hat es verdient, dennoch auf der internen Station bleiben zu dürfen und den jungen, teils noch unerfahrenen Pflegepersonen ihre Tipps mitzugeben, ihre Geheimmittel zu verraten und ihre Leidenschaft für die Vielseitigkeit der Menschen weiterzutragen.
Die erfahrene, herzensgute dreifache Mama, die sich zu einem Kind hinkniet und sich mit ihm auf Augenhöhe unterhält, es fragt, welches seine Lieblingsfarbe ist, und dann gleich einen farbigen Luftballon ans Bett hängt, sie, die lieber Vertrauen schafft, anstatt gleich Blut abzunehmen, sie ist nirgendwo anders glücklich als auf der Kinderstation.
Und wenn jemand, der dir sehr nahesteht, oder auch du selbst, als Patient auf welche Station auch immer kommt, dann wirst du verstehen, was ich meine. Dann wirst auch du dir wünschen, dass die Pflegerinnen auf der Gynäkologie deiner Mutter erklären kann, warum ihr nach der Laparoskopie plötzlich die Schulter schmerzt, dass sie ihr sagt, dass sie damit nicht alleine ist, dass dies häufig vorkommt und dass sie erkennt, wenn ihre vaginale Blutung zu stark für die Norm ist. Du würdest dir vom Unfallpfleger erhoffen, dass er dich nach einem Unfall humorvoll auf der Station aufnimmt, dass er weiß, wann du dein gebrochenes Bein wieder belasten darfst, und dass er dich dabei unterstützt, bis du es selbst wieder schaffst. Wenn deine Liebste einmal ein Kind bekommen sollte, dann dürft ihr hoffentlich auf eine erfahrene Hebamme vertrauen, die weiß, wann das CTG schlecht ist, die euch verständnisvoll alle eure Fragen beantwortet und versucht, deiner Liebsten die Angst zu nehmen, die euch bestärkt, euch ermutigt und in einer Ernstsituation richtig handelt. Von den Pflegerinnen auf der chirurgischen Station erwartest du dir für deinen Onkel, dass er seine Wunden richtig versorgt bekommt, dass die Pflegepersonen wissen, dass die Betaisodona-Salbe mit einem Octenisept-Desinfektionsmittel keine gute Kombination ergibt. Du wirst auch davon ausgehen, dass die Pflegerin der internen Station deinem multimorbiden Großvater davon abrät, das blutdrucksenkende Medikament einzunehmen, wenn sein Blutdruck ohnehin nur systolisch 80 mmHg und diastolisch 40 mmHg beträgt,1 und ihm stattdessen etwas zu trinken bringt. Du möchtest dich auch darauf verlassen können, dass sie die Wechselwirkungen nach all der Zeit auf der internen Station von den unterschiedlichen Medikamenten kennt und ihn aufmerksam macht, wenn er etwas durcheinanderbringt. Du wirst hoffen, dass die Pflegerin auf der Neurologie Bescheid weiß, über welche Seite sie deinen besten Freund nach einem Schlaganfall mit einer Halbseitenlähmung auf der rechten Seite aus dem Bett mobilisieren muss, und dass sie ihn bequem ins Bett positioniert, denn eine 30°-Seitenlage ist für jeden normalen Menschen unbequem. Der Pfleger auf der Dermatologie kennt hoffentlich ein Wundermittel gegen den Juckreiz deines Lieblingsnachbarn und dessen Hautausschlag und lässt ihm vielleicht zur Symptomlinderung einmal ein entspanntes Bad mit Haferkleie ein. Wenn deine Mutter in die Notfallaufnahme eingeliefert wird, dann hoffst du, dass das erfahrene Team sie bei einem Verdacht auf eine Gehirnblutung zuerst ins CT bringt, um dies sicherzustellen. Und wenn deine Tochter aufgrund ihres Pseudokrupps auf die Kinderstation gelegt werden muss, dann wirst auch du hoffen, dass sie liebevoll, verständnisvoll und geduldig versorgt wird, dass sie vielleicht noch einen Luftballon ans Bett gehängt bekommt und für einen kurzen Moment vergisst, dass sie im Krankenhaus ist und aufhört zu weinen. Und wenn du eine geplante OP hast, wirst du wollen, dass sie durchgeführt und nicht ständig verschoben wird, weil kein Personal da ist, um ein OP-Team zusammenzustellen.
Dabei geht es um nichts anderes als um die Würde des Menschen. Ich persönlich wünsche mir, wenn ich einmal zur Patientin werde, jemanden, der meine Sprache spricht und versteht, auf meine Sorgen eingeht und meine Bedürfnisse erfüllt, und damit meine ich nicht jemanden, der schweigend mein Zimmer betritt, mich sauber abwäscht und mir mein Essen ins Zimmer stellt.
Pflege ist so viel mehr, als die Grundbedürfnisse eines Menschen zu stillen. Pflege ist etwas Professionelles, es fordert Herz und Verstand gleichermaßen und kann nicht von jedem Menschen durchgeführt werden. Denn es macht einen riesengroßen Unterschied, ob ein Mensch versorgt wird, sodass seine Grundbedürfnisse gestillt sind, oder ob ein Mensch professionell gepflegt und versorgt wird. Aber mittlerweile und ganz speziell in Zukunft werden wir alle froh sein müssen, wenn sich überhaupt noch jemand in irgendeiner Form um uns kümmert. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir uns nicht mehr wundern dürfen, wenn wir keinen Platz bzw. kein Bett in einem Krankenhaus bekommen. Die Betten sind vielleicht vorhanden, aber sie sind gesperrt, weil es an Personal fehlt, um das bewältigen zu können. Streng genommen gibt es nur diese eine Möglichkeit, um das Personal zu entlasten und eine qualitativ hochwertige Pflege zu gewährleisten. Wir müssen uns glücklich schätzen, wenn wir als kranke, verletzte, verzweifelte oder hilfsbedürftige Menschen einen Platz im Krankenhaus bekommen, das klingt vielleicht hart, aber es ist die bittere Realität.
Eine unserer größten Stärken ist, so glaube ich, dass wir einen unglaublich guten Rundumblick haben. Wir nehmen so vieles wahr! Während des gesamten Dienstes beobachten, interpretieren und intervenieren wir dementsprechend. Das muss man sich auch einmal bewusst machen, dass wir diejenigen sind, die regelmäßig beim Patienten sind, dass wir diejenigen sind, die die Informationen, Fortschritte oder Zwischenfälle oder Komplikationen an die Ärzte weiterleiten. Wenn wir das nicht erkennen und dementsprechend handeln, dann wissen die Ärzte das oftmals gar nicht. Pflegepersonen, die lange genug im Geschäft sind, erkennen beim Betreten der Station eines Menschen anhand seiner Haltung, seiner Statur und seines Gangbildes, was dem Menschen fehlen könnte, und sie überlegen sich in Gedanken schon mögliche Diagnosen und entsprechende pflegerische Maßnahmen. Wir beobachten ständig, immer wenn wir einen Menschen sehen, und ganz besonders intensiv beim Betreten eines Patientenzimmers. Anhand einer sehr blassen Hautfarbe können wir beispielsweise erkennen, dass der Patient einen Hb-Abfall hat und eventuell Blutkonserven benötigt, weil er irgendwo stark eingeblutet hat. Bei einem Patienten, dessen Hautfarbe eher in die gelbliche Schattierung schlägt, müssen wir an ein Problem mit der Leber denken. Gerüche sind nicht immer eklig, für uns sind Gerüche in den meisten Fällen etwas sehr Wichtiges. Anhand von bestimmten Gerüchen können wir gewisse Dinge erkennen, denn bestimmte Gerüche bleiben im Gedächtnis. Bestimmte Gerüche bringen uns zum Nachdenken, ein Mensch, der einen extremen Unterzucker hat, dessen Ausatemluft riecht nach Aceton, also wie ein Nagellackentferner. Bei einem extrem intensiven Geruch von Urin denken wir beispielsweise sofort an einen Harnwegsinfekt. Dann nehmen wir schon eine Urinprobe ab oder machen einen Schnelltest, sodass wir gleich alle Informationen an den Arzt weiterleiten können und dieser nur noch ein Antibiotikum anordnen muss.
In keinem Beruf der Welt gibt es die Möglichkeit, die Vielfältigkeit der Menschheit besser kennenzulernen als in der Pflege. Die Pflege beginnt in der Neugeborenenpflege mit den ersten Atemzügen und endet am Sterbebett mit dem letzten Atemzug eines Menschen. Wir sind von Anfang an dabei. Und wir bleiben oft sogar bis zum Schluss. Wir begleiten ein ganzes Leben durch die unterschiedlichsten Lebenssituationen und durch die schwersten Schicksalsschläge. Die Mischung aus Medizin und Pflege macht die Arbeit besonders vielseitig und spannend; wir arbeiten in Teams und sind dennoch oft auf uns allein gestellt, müssen Verantwortung übernehmen, werden erwachsen und wachsen an den Herausforderungen, die uns täglich gestellt werden. Wir müssen auf alle Situationen reagieren können, wir können keinen Tag planen, nichts ist planbar in unserem Beruf, wir müssen die Kompetenz erlernen, auf alles eingestellt zu sein und dabei immer adäquat zu reagieren. Aus chronischen und tagelang stabilen Fällen können ganz plötzlich akute Fälle oder gar Notfälle werden. Bei einem Patienten kann ganz plötzlich ein Gefäß verstopfen, sodass es zu einem Schlaganfall kommt, oder das Herz kann auf einmal stehen bleiben. Ein anderer blutet nach einer Operation extrem stark nach, wieder ein anderer stürzt aus dem Bett, und der Nächste krümmt sich vor unerträglichen Schmerzen. Wir müssen sehr flexibel und immer auf Zwischenfälle eingestellt sein. Aber immerhin haben wir einen extrem sinnhaften Beruf gewählt, wir haben eine Verantwortung, wir arbeiten am lebendigen Menschen. Wir begleiten Menschen von der Diagnose über die Therapie bis hin zu dem Zeitpunkt, an dem sie das Krankenhaus verlassen, und manchmal sogar noch darüber hinaus. Manche Menschen begleiten wir nur einige Tage oder gar nur einige Stunden, manche monatelang, andere ein ganzes Leben. Wir freuen uns mit ihnen über Erfolge, trocknen Tränen bei schlimmen Diagnosen und furchtbaren Schicksalsschlägen, wir versuchen, Menschen die Angst zu nehmen, sie zu ermutigen und für sie da zu sein. Wir lachen mit unseren Patienten, freuen uns mit ihnen, weinen mit ihnen und trauern mit ihnen. Manche Momente gehen dabei wortwörtlich subkutan (unter die Haut). Wir sind für die Menschen da, Tag und Nacht, Sonntag wie Donnerstag, Weihnachten wie im Sommer bei 40 Grad und Sonnenschein.
Der Job ist hart genug, doch es wird nur funktionieren, wenn jeder von uns sich genau dort verwirklichen kann, wo seine Leidenschaft liegt, und den Job dort in einem erträglichen Setting ausübt. Ich habe zum Beispiel überhaupt keine Ahnung von einer Dialyse, weiß nicht, was die Patienten dort benötigen, ich kenne mich absolut nicht mit Hals-Nasen-Ohren-Geschichten aus und wäre auf einer Intensivstation höchstwahrscheinlich massiv überfordert. Aber ich bin eine Krankenpflegerin und traue mich zu behaupten, dass ich in meinem Bereich ziemlich gut bin, weil ich darin Routine habe, weil es mich interessiert und weil ich es liebe.
Wahrscheinlich geht es ganz vielen Kollegen ähnlich, sie lieben ihren Bereich, kennen sich wunderbar darin aus und wollen gar nirgendwo andershin. Niemand wird mit Freude den Beruf ausüben, wenn man ihn aus irgendeinem Grund auf eine andere Station versetzt. Denn dabei wird den Pflegepersonen ein sehr wichtiger Aspekt genommen: Sicherheit und das Vertrauen in sich selbst, die Überzeugung, dass man das, was man macht, gut macht, weil man es kann. Wir haben uns aus Interesse für einen Bereich entschieden, vertiefen und bilden uns darin weiter, werden besser und routinierter. Aber man meint immer noch oft, dass alle Pflegepersonen Generalisten sind und sowieso alles können müssen. Wir in der Pflege müssen immer alles akzeptieren, am besten nicht viel Meinung haben und den Mund halten. Stellt euch doch bitte einmal vor, in welchem Chaos es enden würde, wenn der Gynäkologe plötzlich einen Meniskusriss operieren müsste? Oder was herauskommen würde, wenn ein Internist anstatt einem EKG plötzlich ein CTG auswerten müsste.2
Durch all das, was ich gesehen und erlebt habe, bin ich grundsätzlich viel ängstlicher geworden. Ich taste jetzt schon meinen Körper auf Veränderungen ab und denke bei jeder Kleinigkeit an irgendeine schlimme Krankheit. Sind die geschwollenen Lymphknoten nur Symptome der Erkältung, oder habe ich Krebs?
Aber ich hätte viel weniger Angst davor, einmal als Patient in ein Krankenhaus zu müssen, wenn ich darauf vertrauen könnte, dass die Menschen um mich herum wissen, was sie tun, dass ich auf Professionalität treffe. Ich hätte weniger Angst, ein Haus zu betreten, in dem jeder Handgriff sitzt und ich das Gefühl habe, in guten Händen zu sein. Vor allem aber würde ich mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass da genügend Menschen sind, damit ich schnell Hilfe bekomme, wenn es einmal gröber fehlt. Aber ich habe kein gutes Gefühl, wenn ich ein Haus betrete, in dem ich froh darüber sein muss, dass ich überhaupt ein Bett bekomme, und sich kaum jemand um mich kümmert, weil es vorne und hinten an Personal mangelt. Und vielleicht werde ich irgendwann auch schwer krank und auf Hilfe angewiesen sein. Dann wünsche ich mir nichts mehr als eine korrekte und schnelle Diagnosestellung, einen sicheren Behandlungsplatz mit einer zügigen Behandlung, und dass ich um Himmels willen nicht alleine gelassen werde. Eigentlich darf man gar nicht darüber nachdenken, dass niemand da ist, wenn einem etwas fehlt. Stell dir mal vor, du erhältst eine schlimme Diagnose, aber es kann wegen Personalmangels keine Behandlung durchgeführt werden. Davor habe ich unglaublich Angst, denn das kann uns alle sehr bald schon betreffen. Vielleicht werde ich so schwer krank sein, dass ich irgendwann auch eine Chemotherapie durchlaufen muss. Ich habe gelernt, dass eine Krebsdiagnose nicht gleich das Todesurteil bedeutet. Ich weiß, dass die Menschen, die eine Chemotherapie bekommen, monatelang durch die Hölle gehen müssen, aber wieder als Gesunde zurückkehren können. Und warum? Weil hinter der Diagnose Menschen stehen, die sich auskennen, die wissen, was sie tun, die für einen da sind, einen motivieren und Tipps geben.
Eine Krebspatientin hat das Wort Hoffnung wunderschön und unglaublich treffend definiert: „Hoffnung ist, wenn die Stimme in meinem Kopf mir ganz leise vielleicht flüstert, während alle Statistiken gegen mich sind.“
Nicht alle Menschen schaffen den Weg nach einer schlimmen Krankheit zurück ins gesunde und glückliche Leben, auch wenn sie noch so hart dafür gekämpft haben, doch es werden immer mehr, und das ist so wundervoll, das dürfen wir nicht zerstören. Absolut richtig, dass es in erster Linie die richtige Chemotherapie, abgestimmt auf die Krebsvariante, vom Arzt angeordnet, sein muss. Doch es gehört so viel mehr dazu, als nur dieses Gift in die Venen tropfen zu lassen. Dass die Haare ausfallen, weil eine Chemotherapie alle Zellen zerstört, das ist bei den meisten Menschen angekommen, doch da ist so viel mehr, worauf einen irgendjemand aufmerksam machen muss, der zudem im besten Fall noch einen Tipp dafür hat. Auch Augenbrauen und Wimpern sind Haare, die ausfallen werden, und ehrlicherweise sind nicht die Kopfhaare der ausschlaggebende Punkt dafür, um krank auszusehen, dafür gibt es Perücken, es sind in vielen Fällen die fehlenden Augenbrauen, die einen krank aussehen lassen. Durch moderne Methoden, wie Härchen-Zeichnung, kann man dem entgegenwirken, man muss nur darüber Bescheid wissen. Es gibt so viele coole Methoden, sich zu schminken, oder ein Tuch auf den Kopf zu binden, man muss es nur gezeigt bekommen. Und wenn kein Mittel gegen die Übelkeit hilft, hilft so ein Riechstift mit Zitronenöl manchmal Wunder, man muss ihn nur bekommen. Nicht zu vergessen ist, dass auch Nägel aus Zellen bestehen, genauso wie Schleimhäute, besonders die Mundschleimhaut. Die Liste der Nebenwirkungen ist lang.
Einmal, da hatte eine Krebspatientin eine so derartig zerstörte Mundschleimhaut, dass sie weder sprechen noch essen oder trinken konnte, weil es ihr solche Schmerzen bereitete. Die Mundschleimhaut vieler Krebspatienten wird extrem schmerzhaft, teilweise lösen sich zentimetergroße Schleimhautfetzen einfach ab. Eine Patientin schrieb meiner Kollegin Folgendes auf einen Zettel: „Die Chemotherapie fühlt sich an, als hätte ich zugestimmt, dass ich einverstanden damit bin, in verschiedenen Etappen auf eine grausame Art und Weise mich selbst zu zerstören.“
Es gibt heutzutage auch hierfür geniale Ideen, um einer Vielzahl der Nebenwirkungen entgegenzuwirken. Es gibt Mundpflegeöle, die verhindern, dass die Mundschleimhaut während der Chemotherapie angegriffen wird. Ganz häufig leiden die Menschen unter laufender Chemotherapie an massiven Durchfällen. Es kann helfen, wenn man ihnen vorher den Tipp gibt, getrocknete Heidelbeeren zu kauen, nur muss jemand da sein, der das tut. In vielen Fällen bekommen die Patienten den Zettel mit den Nebenwirkungen einer Chemotherapie unter die Nase gerieben, müssen ihn wohl oder übel unterschreiben und werden dann alleine gelassen. Wir wissen, wie viele Menschen von furchtbaren Nebenwirkungen betroffen sind, wir wissen aber auch, dass wir euch vieles ersparen können, wir müssen nur die Zeit dazu haben, euch diese Tipps zu vermitteln. Und diese Zeit fehlt uns leider oft im stationären Alltag. Sei es ein Gespräch, ein Fußbad, ein Buch, ein Rezept, irgendetwas, mit dem man die Menschen ein bisschen weiter in Richtung Genesung bringt, das ist bereits sehr viel. Aber das gehört für mich zu einer professionellen Pflege und darf keinesfalls weniger wertgeschätzt werden.
Das Schlimme ist aber, dass kaum noch Zeit für einen Patienten bleibt, dass der Alltag oft so stressig und der Personalschlüssel so knapp bemessen ist, dass es beinahe zu Fließbandarbeit ausartet und für ein solches Gespräch kaum Platz ist. In großen Kliniken kann man, glaube ich, mittlerweile echt von Fließbandarbeit sprechen. Dabei ist völlig egal, wie die Diagnose lautet, Parkinson, Krebs, Diabetes, Morbus Crohn, Long Covid, zystische Fibrose, Burn-out, Guillain-Barré-Syndrom, Multiple Sklerose, Bandscheibenvorfall etc. Hinter der Diagnose wird selten ein Mensch mit seinen Gefühlen, Sorgen und Ängsten gesehen, vielmehr wird er als eine Nummer gesehen, als einer von vielen. Immer schneller und weiter, nicht bewusster, achtsamer und menschlicher. Ich finde die Vorstellung aber immer noch so extrem heftig, dass wir einfach am lebendigen Menschen arbeiten. Das System macht die Arbeit in vielen Bereichen extrem unbefriedigend. Anstatt dass wir besser werden können, dass wir uns weiterentwickeln können, arbeiten wir aufgrund von Personalmangel und den damit verbundenen extrem harten Bedingungen immer mehr auf eine Deprofessionalisierung hin. Das macht Angst, und das geht uns alle etwas an.
Teilweise leiden die Patienten nicht nur schwer an ihrer Grunderkrankung, sondern werden im Zuge des stationären Aufenthalts noch kränker oder entwickeln zur eigentlichen Erkrankung beispielsweise noch eine Infektion zusätzlich. Das sind leider oftmals Folgen einer unzureichenden pflegerischen Versorgung, weil aufgrund des Zeitdrucks und der Personalknappheit immer häufiger die Hygiene vernachlässigt wird. Das kann für die Patienten lebensgefährlich sein. Bei langen Liegezeiten verflacht die Atmung, und das Infektionsrisiko für eine Lungenentzündung steigt drastisch an. Somit entwickelt beispielsweise ein vorübergehend bettlägeriger Patient aufgrund seines Unfalls und der damit verbundenen Liegedauer eine Lungenentzündung, weil die Zeit zur regelmäßigen Mobilisation und Belüftung der Lunge fehlt, und er bezahlt im Worst-Case-Szenario mit seinem Leben. Zudem bekommt die Haut bei langen Liegezeiten oft Druckstellen. Wir sprechen dabei von offenen Hautstellen, die oft die Größe eines Tellers einnehmen und bis zum Knochen reichen können. Eine der beliebtesten Stellen hierfür ist das Steißbein, eine optimale Eintrittspforte für Bakterien, die den gesamten Körper schwächen können. Zur Risikoeinschätzung für eine Dekubitus-Gefährdung gibt es Skalen; diese Menschen müssten demzufolge regelmäßig anders positioniert werden. Aber die Zeit fehlt schlichtweg immer häufiger. Es fehlt die Zeit dafür, alle Patienten regelmäßig zu mobilisieren, ihre Gelenke mehrmals täglich durchzubewegen, um Kontrakturen und Thrombosen zu vermeiden. Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob ich den Patienten dabei unterstütze, sich selbst zu waschen, oder ob ich mir irgendeinen Lappen schnappe und ihn schnell über ihn drüberschwinge. Ersteres ist Training, das ist Muskelaufbau, das motiviert, treibt an, ist gut für die Psyche und ist vor allem gute Pflege, aber dafür fehlt oftmals die Zeit. Es fehlt auch die Zeit für ein aufmunterndes Gespräch mit einem ohnehin schon verzweifelten Patienten. Ein gebrechlicher Patient könnte, wenn er regelmäßig mobilisiert wird und seine Prophylaxen erhält, besser werden und im besten Fall selbstständig mobil sein. Weil uns aber die Zeit fehlt, einen Menschen regelmäßig zu mobilisieren, pflegen wir ihn, anstatt aus dem Bett heraus, immer weiter ins Bett hinein. Wir legen Patienten beispielsweise einen Harndauerkatheter, weil die Zeit fehlt, um sie regelmäßig auf die Toilette zu begleiten, und es so einfacher und zeitsparender ist, einmal pro Schicht das Auffangsäckchen zu leeren. Ähnlich für die Stuhlausscheidung: Wir legen den Patienten einen Fäkalkollektor zum Sammeln ihrer Stuhlausscheidung, weil es zeitsparender ist, den Beutel zu entleeren, anstatt jedes Mal den Patienten und das Bett frisch zu machen oder ihn auf die Toilette zu begleiten. Dabei nehmen wir in Kauf, dass der Patient danach inkontinent ist. Wir machen die Situation oft schlechter, obwohl es unser Job und in unserem Interesse wäre, die Situation zu verbessern und ein Maß an höchstmöglicher Selbstständigkeit zu erreichen. Oft machen unsere Handlungen nur einen kleinen Unterschied, aber sie entscheiden zwischen Leben und Tod. Wenn ausreichend Zeit ist und eine professionelle Pflege durchgeführt werden kann, weil entsprechendes Personal zur Verfügung steht, dann gelingt es in ganz vielen Fällen, einen Menschen gesund zu pflegen. Das ist beeindruckend und schön. Aber es ist eben weder beeindruckend noch schön und geschweige denn befriedigend, wenn man nur noch mit den Waschutensilien durch die Station rennen muss, um einen Menschen nach dem anderen sauber zu machen, und für alles andere keine Zeit bleibt. Das hat in meinen Augen nichts mit einer professionellen pflegerischen Versorgung zu tun.
Bleibt zum Beispiel eine Hautfalte am Körper stehen, so können wir daraus schließen, dass der Patient ausgetrocknet ist und viel zu wenig Flüssigkeit zu sich genommen hat. Scheidet der Patient keinen Urin mehr aus, müssen wir ihn zum Trinken anleiten, Infusionen verabreichen und im Hinterkopf an ein akutes Nierenversagen denken. Dagegen beobachten wir eine geschmeidig glänzende, oft gespannte Haut bei Patienten, die einlagern und Ödeme bilden; wir denken an ein schlecht pumpendes Herz und müssen den Patienten eventuell medikamentös ausschwemmen. Der Urin eines Patienten gibt uns überhaupt so viel Auskunft. Wenn der Patient einen Dauerkatheter hat, ist es einfach, wir achten regelmäßig auf die Ausscheidungsmenge, Farbe und Geruch. Wir können regelmäßig Proben entnehmen. Aber auch bei einem Patienten ohne Dauerkatheter können wir anhand des Urins vieles erkennen. Denn ein trüber, übelriechender Urin, der aussieht wie ein abgestandenes Bier, entspricht nicht der Norm; wir müssen an Diabetes, an einen Harnwegsinfekt oder eine Dehydrierung denken. Stuhlgänge, die extrem dunkel sind, können auf eine Blutung im Verdauungstrakt hindeuten. Frisches Blut im Stuhlgang kann beispielsweise Hämorrhoiden oder eine frische Blutung im Darm bedeuten. Wenn ein Patient erbricht, beobachten wir ebenso Menge, Farbe, Geruch. Bricht der Patient Unverdautes, Blut oder Stuhl, dann ist es wichtig, dass wir dies genau beachten, um die nächsten Schritte richtig einleiten zu können. Ist die Stärke der vaginalen Blutung noch im Rahmen des Erträglichen oder ist die Nachblutung nach der Geburt viel zu stark? Welche Medikamente gebe ich, damit mir dieser Mensch nicht verblutet? Im besten Fall muss das die Pflegeperson schon herrichten, sodass es gleich parat ist, wenn der Arzt auf die Station kommt, denn Zeit bleibt in so einer Situation kaum.
Wenn ein Mensch Drainagen hat, beobachten wir ebenso Menge und Farbe der Flüssigkeit, die austritt. Wir müssen wissen, ob die Menge in einer gewissen Zeit der Norm entspricht oder ob wir einen Arzt verständigen und die nächsten Schritte einleiten sollen. Dabei müssen wir wissen, welche Drainagen wo liegen und welches Sekret in den entsprechenden Drainagen sein darf. Wir müssen das Sekret nach einer Aszitespunktion3 von anderen Körperflüssigkeiten unterscheiden können. Man muss unterscheiden können, ob die betroffene Stelle geschwollen ist, oder ob der Patient einblutet.
Wir können durch Beobachtung vieles frühzeitig erkennen und die nächsten Schritte vorbereiten. Unsere Beobachtungsgabe ist enorm wichtig und wertvoll. Sie ist vor allem etwas, was ziemlich einzigartig ist, und darauf können wir stolz sein. Denn nur weil ein Laborbefund in Ordnung ist, heißt es noch lange nicht, dass es dem Menschen gut geht. Das können wir aber auch nur dann erkennen, wenn wir ausreichend oft beim Patienten anwesend sind. Aber diese Beobachtungsgabe ist nicht von Anfang an da; sie muss trainiert werden und kommt erst nach und nach mit der Erfahrung. Ich habe bis heute zu wenig Erfahrung, um alle Dinge richtig zu beobachten, zu interpretieren und zu verknüpfen. Es braucht wahnsinnig lange, bis man ein perfekt geschultes Auge dafür entwickelt hat, das dann im besten Fall noch mit dem Gehirn kooperiert. Aber man lernt, immer genauer hinzusehen, und man schafft es auch, die dicksten Fassaden eines Menschen zu durchdringen.
Es wird immer schwieriger, professionelle Pflegekräfte zu finden. Aber anstatt die wertvollen Qualitäten der Pflegepersonen zu nutzen, geht in vielen Häusern immer noch so viel Zeit mit niedrig gestellten Aufgaben drauf: Vitalzeichen überprüfen, Essen austeilen, Betten machen etc., das könnten schon längst in allen Häusern Hilfskräfte übernehmen.