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Der letzte Zeuge
Jedes Leben endet tödlich. Doch oftmals kommt der Tod sehr plötzlich und auf grausame Weise. Alfred Riepertinger ist spezialisiert darauf, Leichname so wiederherzustellen, dass Angehörige würdig Abschied nehmen können – was besonders wichtig ist, wenn es sich um Unfälle, Suizide oder Opfer schlimmer Verbrechen handelt. Erstmals schildert er seine ungewöhnlichsten Fälle aus der Pathologie und seine berührenden Begegnungen mit den Toten und ihren Angehörigen.
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Seitenzahl: 288
Alfred Riepertinger
Shirley Michaela Seul
Mein Leben
mit den Toten
Ein Leichenpräparator erzählt
Redaktion: Tamara Rapp, München
Copyright © 2012 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umschlagfoto: Kay Blaschke, München
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-08173-7
www.heyne.de
Dieses Buch widme ich meinen verstorbenen Eltern Rudolf und Anna Riepertinger sowie Dr. Ernst Keiditsch und Uwe Kostelecky, den Menschen, die maßgeblich daran beteiligt waren, dass ich einen der schönsten und interessantesten Berufe der Welt ausübe.
Vorwort von Mark Benecke
Medizinische Präparatoren leben zwischen den Welten. Weder sind sie die in Krimis respektvoll beäugten Leichenärzte noch die wahlweise schmissig bis verkracht dramatisierten Ermittler. In diesem Limbus bleiben Präparatoren, stets Handwerker, lebenslang und schreiben dabei keine langen Aufsätze und erst recht keine populären Bücher. Alfred Riepertinger hat das geändert. Es wurde auch Zeit.
Denn anders als in rechtsmedizinischen Abhandlungen, die erklären, was den Menschen umbringt, geht es hier um die Geschichte eines lebenslang staunenden Buam, der schon mit 16 Jahren begeistert sein erstes Grab zuschaufelt. Zwei Jahre später ist Riepertinger, eingedenk seiner klar erkennbaren Begeisterung sowie eines frischen Führerscheines, bereits Capo eines Bestattungsteams. Er landet dann als Zivildienstleistender in einer zu seinem Glück sehr guten Abteilung für Pathologie und erkennt dort seine Berufung: Präparator zu werden. Mit Leib, Seele, Haut, Haaren und einer Vorliebe für Kaiserling-Lösungen. Wozu man die braucht (und auch, was ein Bua ist), erfahren Sie im Buch – ebenso wie den Unterschied zwischen Pathologie und verwandten Fächern, das Geheimnis einer sagenumwobenen Holzkiste sowie einige sehr spannende Gedanken dazu, was der Tod eigentlich ist und was nicht.
Denn während ich als Biologe meine, dass man ab dem 25. Lebensjahr einfach langsam, aber sicher abbaut und damit also stirbt, ist Riepertinger wesentlich hemdsärmeliger am Thema. Von einer Kartoffelleber hatte ich beispielsweise noch nie etwas gehört, und die »große Kraft, die ein Mensch vor seinem nahen Tod entwickeln kann«, erlebt man als einer, der fast nur an faulen Leichen arbeitet, auch nicht. Auch dass Herzstiche als postmortale Versicherung gegen scheintote Bestattungen noch immer – zumindest in Wien – durchgeführt werden und es eine eigens zur Leichenbefüllung hergestellte Kräutermischung mit Lavendel und Kubeben gibt, dürfte nicht nur mich erstaunen. Sogar ein paar Präparatorentricks verrät der Autor, beispielsweise wie man Leichenblässe wieder rosig aussehen lässt und wie die Augenlider von Toten würdevoll geschlossen bleiben, ohne sie zuzukleben.
Natürlich überschneiden sich die Arbeitsgebiete aller, die mit Toten arbeiten. Riepertinger regt sich daher genauso wie ich über rauchende und saufende Studenten auf, die damit ihre Jahrzehnte später auf dem Sektionstisch freiliegenden Organe schädigen, und wir haben beide dieselbe Skepsis gegenüber Motorrädern, die durch Unfälle mehr Lebensfreude rauben, als sie schenken. Ebenfalls haben weder Riepertinger noch ich je eine der angeblich »süßlich« riechenden Leichen erlebt. Kein Wunder – Tote geben eben muffige, fäkale, stechende, käsige oder wie Feuerzeugbenzin leicht würgereizerzeugende Geruchsstoffe ab – aber warum um alles in der Welt sollten sie nach Zucker riechen?
Für Außenstehende irritierend ist vermutlich eine weitere gemeinsame Einstellung, nämlich das partielle Unverständnis für Suizide. Wo mitfühlendere Menschen vor allem das Leid der Freitoten sehen, ärgern wir uns über verspritzte Gehirnteile und bedauern traumatisierte Zugfahrer. »Aber natürlich denkt daran keiner, dem alles egal ist«, sagt Riepertinger dazu sehr treffend und verständlicherweise resigniert.
Muss einen der tägliche Umgang mit dem Tod nicht doch ein wenig angreifen? Na klar. Riepertinger ist sich sicher, dass das Leben nur der Weg zwischen zwei großen Meeren ist, die man mit dem Ziel durchschreitet, diejenigen (und einige mehr) wiederzutreffen, die man im Leben verloren hat. Das sind in seinem Fall ganz sicher die geliebte Oma und der Vater, wie man in vielen sehr persönlich gehaltenen Passagen erfährt.
Wenn Sie jetzt auch noch wissen wollen, warum der Autor um den bayerischen Landesfürsten Franz Josef Strauß mehr als eine Träne vergoss, wie der Tod unserem kühnen Präparator im Fall eines berühmten Regisseurs einmal ein äußerst heimtückisches Schnippchen schlug, warum er (der Präparator, nicht der Tod) stets Janker und Lederhose im Kongressgepäck hat und was die Kunst der Plastination mit igelförmigen Puddingschalen zu tun hat, dann sind Sie hier genau richtig.
Das Buch ist nicht lustig, aber sehr unterhaltsam; es ist nicht grausig, aber sehr offenherzig; es ist sehr menschlich, aber zugleich morbide. So wie ich in das wunderschöne Fach der professionellen Präparation mit voller Wucht stolperte, als ich bei der Jahrestagung der Präparatoren ein Bild von faulen Leichen nach dem anderen erklärte und leider erst hinterher feststellte, dass die meisten der Zuhörer und Zuhörerinnen beruflich nicht Leichen, sondern Steine und Blumen haltbar machen, so wird es auch Ihnen mit diesem Lebensbericht ergehen. Er lässt wirklich nichts aus und ist dennoch tröstlich, sodass Sie am Ende garantiert mit der einen Sicherheit im Leben versöhnt sind, die uns alle begleitet, zu der aber keiner frischere und handfestere Gedanken aufgeschrieben hat als Alfred Riepertinger, begeistertster Könner seines Faches: nämlich dem Tod und was vom Menschen übrig bleibt.
Viel Spaß beim Lesen.
Berlin, August 2012
Mark Benecke
Kriminalbiologe
Prolog – Der Tod rettete mir das Leben
An vielen Sonntagen in den Sommermonaten spazierte ich mit meinem Vater nach dem Mittagessen zum Münchner Ostfriedhof, wo wir auch den Toten im Leichenhaus einen Besuch abstatteten. Seinerzeit in den 1960er-Jahren war es gang und gäbe, die Verstorbenen offen aufzubahren. Die verschlossenen Särge in den blumengeschmückten Abteilen befanden sich in der Minderzahl. Unser Heimweg führte dann hinter dem Krematorium einen schmalen Pfad am Bahndamm entlang. Jeder Dampflokomotive, die Richtung Chiemsee an uns vorbeischnaufte, winkte ich begeistert nach. Mit dem »Bapa« Leichen und Dampfloks bestaunen, während meine kleine Hand in seiner großen warmen lag – schöner konnte ein Sonntag gar nicht sein. Heute wohne ich selbst nah an einem Bahngleis, aber Dampfloks sind längst ausgestorben.
Die Leichen und die Züge – Leichenzüge könnte man fast sagen – begleiten mein Leben, das durch einen Fenstersturz noch im Vorschulalter auch ganz anders – und kürzer – hätte verlaufen können. Wieder spielte mein Vater eine Hauptrolle, denn die Leidenschaft fürs Kasperltheater habe ich von ihm geerbt. Ich zeigte meine Stücke am offenen Küchenfenster – wir wohnten im Hochparterre –, und davor standen meine Freunde und schauten gebannt zur Bühne. Ich selbst kniete auf einem Unterbauschrank, und im Eifer des Spiels beugte ich mich manchmal recht weit nach vorne. 2,20 Meter ging es in die Tiefe, wie meine Mutter später maß. Denn eines Tages wagte ich mich zu weit vor, verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber auf den grobkörnigen Teerbitumenbelag. Im Fallen presste ich mir die Puppe aus dem Kasperltheater an den Kopf. So landete ich, ohne mich ernstlich zu verletzen. Sollte sich hier mein Schutzengel eingeschaltet haben, kam er in der Gestalt des Todes, den verkörperte diese Puppe nämlich. So rettete mir der Tod das Leben. Einige Jahre später stellte ich mein Arbeitsleben in den Dienst des Todes. Seit über 35 Jahren bin ich als Präparator tätig.
»Sie stopfen Tiere aus?«, fragen die meisten Leute und denken an präparierte Vögel und Wildtiere.
»Nein, ich arbeite als medizinischer Präparator an verstorbenen Menschen.«
Bevor die nächsten Fragen kommen, wie das so sei und ob das stimme, was man manchmal höre von all dem Blut, und dass es im Sektionssaal zugehe wie in einer Metzgerei, führe ich aus: »Im Rahmen einer Obduktion überprüfen wir die Diagnose der Ärzte, die den Verstorbenen zu Lebzeiten versorgt haben, sozusagen als klinische Qualitätskontrolle. Man soll nie vergessen: Der Tod kann uns dabei helfen, das Leben, vor allem aber Krankheiten, zu verstehen. Die ganze Medizin basiert auf dem Fach Pathologie.«
Und genau davon handelt dieses Buch, mit dem ich nicht nur Ihre Neugier zu einem Thema befriedigen möchte, das manche gruselig oder unheimlich finden, andere interessant oder lehrreich. Vielleicht gelingt es mir sogar, Sie zu begeistern, wie ich selbst schon so lange begeistert bin von dem Wunderwerk Körper und dem Leben – das mit dem Tod nicht aufhört, sondern manchmal erst dort beginnt. Zum Beispiel, wenn es darum geht herauszufinden, welche unerwünschten Wirkungen Medikamente entfalten können. Das sieht man bisweilen erst, wenn man einen Toten öffnet: ihn obduziert, seziert. Beides bedeutet das Gleiche. Eine Sektion oder Obduktion oder Autopsie bringt ans Licht, wie Krankheiten verlaufen sind. Das hilft den Lebenden, weil durch die in einem Institut für Pathologie gewonnenen Erkenntnisse die Therapien verbessert werden können. Eine Leichenöffnung ist nichts anderes als ein operativer Eingriff nach dem Tod – mit der ordnungsgemäßen Versorgung der Leiche.
Der große Pathologe Rudolf Virchow bezeichnete sie in seiner Rede zur Eröffnung seines Pathologischen Museums am 27. Juni 1899 in Berlin als »anatomische Operation«.
Mortui vivos docent. Diese lateinische Inschrift prangt über den vier Tischen aus Edelstahl im Sektionssaal der Pathologie im Schwabinger Krankenhaus: Die Toten lehren die Lebenden. Und das ist auch gut so, denn wie eine alte Medizinerweisheit besagt: »Wenn Ärzte nicht an Toten lernen können, müssen sie dies an Lebenden tun – und das kann Tote geben!«
Ein toter Mensch kann unendlich viele Geschichten erzählen. Da war die junge Frau, die sich nachts auf die S-Bahn-Gleise legte. An ihren abgetrennten Armen befanden sich unzählige Schnittverletzungen, manche verheilt, andere verkrustet. Diese Verletzungen hatte sie sich selbst beigebracht; Spuren einer leidvollen Existenz. Gerade Suizide werfen oft quälende Fragen auf. Wieso hat sich der Familienvater vor den Zug geworfen? Er war nicht depressiv, hinterließ zwei kleine Kinder und eine verzweifelte Frau. Warum? Selbst wenn Abschiedsbriefe vorliegen, ist es manchmal dennoch kaum nachvollziehbar für Außenstehende, warum ein Mensch seinem Leben ein vorzeitiges Ende setzte. So wie der Mann, der sich am helllichten Tag auf einer von Familien mit Kindern bevölkerten Wiese in einem Park – es war der Lieblingsplatz seines Hundes – in den Kopf schoss: am zweiten Todestag seines schmerzlich vermissten vierbeinigen Gefährten.
Wenn man so viele Tote von innen gesehen hat, erkennt man manches auch an ihrem Äußeren. Oft verrät es mir den Zustand der inneren Organe. Kürzlich ging ich mit meinem Kollegen Ralph Gillich – mit dem mich seit über 18 Jahren eine kollegiale Freundschaft verbindet – zum Mittagessen, da begegnete uns eine Frau mit aufgedunsenem Gesicht, gelblich verfärbter Haut und dünnen Beinen über einem aufgeblähten Bauch. Eine Patientin mit Leberzirrhose, womöglich eine Alkoholikerin, vermutete ich, und Ralph, ich erkannte es an seinem Blick, dachte dasselbe. Im Kreis von Kollegen zu arbeiten, die man mag und schätzt, ist ein großes Glück, und ich kann mich nicht oft genug dafür bedanken!
Manchem Toten bin ich näher gekommen, als es zu seinen Lebzeiten möglich gewesen wäre, denn aus dem Stegreif fallen mir keine Gelegenheiten ein, bei denen ich Franz Josef Strauß, Rudolph Moshammer, Roy Black oder das Fürstenpaar von Liechtenstein hätte kennenlernen können. Sie alle lagen vor mir auf dem Tisch. Ich habe sie sozusagen von einer Seite kennengelernt, von der sie sich selbst niemals gesehen haben.
Und wer weiß … vielleicht begegnen auch wir uns einmal, liebe Leserinnen und Leser, etwa bei einer Führung durch die Siegfried Oberndorfer-Lehrsammlung mit etwa 1000 ausgestellten Präparaten, die ich seit vielen Jahren als Sammlungsbeauftragter betreue. Das älteste Ausstellungsstück ist eine rund 3500 Jahre alte Mumienhand. Man kann aber auch zahlreiche Exponate von missgebildeten Säuglingen und Totgeburten besichtigen oder studieren, wie sich ein Magen verändert, wenn sein Besitzer Salzsäure geschluckt hat. Ebenso die abgestorbenen schwarzen Füße eines Obdachlosen, der unter schrecklichen Umständen lebte und die Füße mit Plastiktüten umwickelte, weil er den Gestank des faulenden Fleisches selbst nicht mehr ertrug. Fliegen hatten dort bereits Eier abgelegt, und Maden fraßen sich fett. Manche Menschen verwahrlosen unvorstellbar: Unvergessen ist mir der Stadtstreicher, dessen Socken, die er wohl über Jahre nicht gewechselt hatte, mit den Waden verwachsen, förmlich in sie eingewachsen waren. Selbstverständlich sind alle Exponate geruchsneutral konserviert.
Wo wir sein könnten, wenn wir nicht mehr da wären
Der erste tote Mensch, den ich anfasste, war meine Oma. 1966 verstarb sie in der damaligen DDR und lag offen aufgebahrt in einem kleinen Leichenhaus auf dem Land. Zwei Tage zuvor hatte ich sie noch im Krankenhaus besucht. Ein Telegramm hatte meine Eltern und mich nach Ostdeutschland gerufen, als die Oma spürte, dass ihr Leben zu Ende ging. Obwohl ich ihr nicht oft begegnet war, mochte ich sie sehr gern. Uralt kam sie mir vor. Sie sah aus wie eine richtige Oma – so wie alte Frauen heute nicht mehr zwangsläufig aussehen. Und genauso lag sie auch im Sarg. Wie immer in einem dunklen Kleid und mit Kopftuch. Lang und gründlich schaute ich sie an, denn meine Mutter hatte mir berichtet, dass die Oma seziert worden war.
»Was bedeutet das?«
»Dass man sie aufgeschnitten hat in der Klinik.«
Ich riss die Augen auf.
»Da war sie schon tot«, beruhigte mich meine Mutter.
»Aber warum?«, wollte ich wissen, ein neugieriger Elfjähriger.
»Die Ärzte haben Tante Erna und mich um unsere Zustimmung gebeten. Sie wollten in die Oma reinschauen, um ihre Krankheit besser zu verstehen. Vielleicht gewinnen sie so Erkenntnisse, die ihnen bei anderen Patienten, die ebenfalls an Bauchspeicheldrüsenkrebs leiden, helfen können.«
»Dann kann man sogar helfen, wenn man tot ist?«
»Freilich«, nickte meine Mutter.
»Und auch den Kopf, Mama, haben sie auch den Kopf aufgeschnitten?«
Meine Mutter nickte erneut.
»Aber davon sieht man gar nichts.«
»Vielleicht trägt sie deshalb das Kopftuch.«
»Sie schaut aus wie immer.«
»Ja, das haben sie gut gemacht«, stellte meine Mutter fest.
In dem Dorf, in dem meine Oma gelebt hatte, gehörte es zur Abschiedszeremonie, dass jeder Trauergast die Verstorbene noch einmal berührte, ehe der Sarg verschlossen wurde. Nach und nach gingen alle zum Sarg, legten ihre Hand kurz auf die Schulter oder den Oberarm meiner Oma und verabschiedeten sich von ihr. Dann waren wir an der Reihe. Ohne Scheu berührte ich die Oma an der Schulter. Der Stoff ihres Kleides fühlte sich normal temperiert an. Es war Sommer. Ich hatte keine Angst oder fand das seltsam. Irgendwie war das völlig normal und selbstverständlich. Aufmerksam beobachtete ich, wie der Sarg geschlossen und später an zwei Seilen in das Grab hinabgelassen wurde. Jetzt ist die Oma weg, dachte ich.
Meine Eltern sagten, die Oma sei erlöst. Das stand auch auf ihrem Grabstein. »Erlöst« – und ihr Name. Ich stellte mir vor, dass sie jetzt in einer anderen Welt angekommen war, in einem Paradies, einem blühenden Schlaraffenland. Da konnte man herumtollen und jede Menge Spaß haben. Schmerzen, Ärger und Kummer gab es in diesem großen Garten nicht. Alles Unangenehme war ausgesperrt. Ich wusste meine Oma gut aufgehoben. Meine Eltern waren erleichtert, dass die Oma »es noch geschafft hat zu warten, bis wir da sind«. Da erkannte ich zum ersten Mal die große Kraft, die ein Mensch vor seinem nahenden Tod entwickeln kann. Diese große Kraft ist mir seither unzählige Male begegnet.
Ein Mensch möchte jemand Bestimmten noch einmal sehen oder etwas Bestimmtes erleben, und wenn das geschehen ist, kann er loslassen und zufrieden für immer einschlafen.
Im Laufe meines Lebens bin ich oft gefragt worden, was ich glaube, wo die Seele sei. Ich habe zwei Vorstellungen: Leben und Tod sind beide in einem Ozean beheimatet. Wir stammen aus einem Ozean und gehen in einen Ozean ein. Vor der Geburt befinden wir uns im Atlantik. Der Akt der Geburt findet statt an der Ostküste Amerikas. Das Leben nimmt seinen Weg von Osten nach Westen, von New York nach San Francisco oder Los Angeles, manche kommen sogar bis nach San Diego. Und dann ist der Weg zu Ende und mündet in den Pazifik. Wir sterben im Westen. Die untergehende Sonne symbolisiert den Tod; was im Atlantik begann, endet im Pazifik.
Meine zweite Erklärung ist eher bayerisch-barock. Da halte ich es mit dem Brandner Kaspar. Dort droben im bayerischen Himmel geht es gemütlich zu. Ich stelle mir vor, eines Tages komme ich auch hinauf und treffe viele meiner bereits verstorbenen Angehörigen, Freunde und Kollegen. Da gibt es viel zu erzählen beim Weißwurstfrühstück! Und endlich kann ich auch Menschen kennenlernen, die schon tot waren, als ich auf Erden weilte – Menschen, die ich verehre. Dann kann ich sie all das fragen, was mich brennend interessiert: Wie hast du das gemacht, wie bist du auf diesen Einfall gekommen, jenes zu machen? Professor Carl Kaiserling beispielsweise (1869–1942) würde ich zu gern fragen, wie er auf die Idee verfiel, diese geniale Lösung herzustellen. Dank seines Rezepts zur Konservierung menschlichen Gewebes behalten die Organe in den Gläsern ihre schöne natürliche Farbe.
Ich könnte auch meinen ersten Chef, Professor Langer, und den Hauptpräparator in der Anatomie, Hans Buchheim, fragen, ob sie damit einverstanden waren, dass ich von ihnen eine Totenmaske herstellte – beide Male wurde ich von der jeweiligen Witwe damit beauftragt.
Heutzutage nimmt man nur noch selten eine Totenmaske vom Gesicht eines Verstorbenen ab. Früher war es gang und gäbe, zur Erinnerung sozusagen. Bei der Herstellung der Maske werden zuerst die Haare des Verstorbenen mit Vaseline bestrichen, damit das übers Gesicht fließende Silikon sie nicht verklebt. Wenn das Silikon an der Oberfläche angehärtet ist, folgt eine Stabilisierungsform aus Gipsbinden. Sobald diese komplett abgebunden hat, kann die Maske – das Negativ – abgenommen und mit Stuckgips gefüllt werden. Zum Glück funktionierte das bei meinen beiden verstorbenen Lehrern besser als im Leichenhaus der Gemeinde Wörthsee, wohin ich Ende der 1980er-Jahre vom Sohn eines Freiherrn gerufen wurde. Es war zwar schon Mai, doch für die Jahreszeit zu kühl. Ich schenkte dem Wetter keine Beachtung, und so unterlief mir ein verhängnisvoller Fehler: Ich vergaß, dass Temperaturen von mindestens 18 °C bis 20 °C zur Polymerisation des Silikons notwendig sind. So stand ich – peinlicherweise Seite an Seite mit dem Sohn des Verstorbenen – und wartete darauf, dass das Silikon endlich zu härten begann. Es härtete aber nicht. Ich hatte viel Zeit, mich in dem kleinen kühlen Raum umzusehen, und endeckte schließlich das Thermometer: 12 °C!
»Da können wir warten bis zum Jüngsten Gericht!«, entfuhr es mir, und ich erklärte dem Sohn mein Versäumnis.
»Das kann jedem mal passieren«, zeigte er sich verständnisvoll und half mir dabei, das Silikon vom Gesicht seines Vaters abzutragen. Schließlich formte ich die Totenmaske wie in alten Zeiten mit Gipsbinden, die ich als Stützkorsett für das Silikon mitgenommen hatte. Schön geworden ist die Maske trotzdem.
Einmal im Jahr findet bei uns im Klinikum Schwabing eine Gedenkfeier für die Hinterbliebenen unserer verstorbenen Patienten statt. Vor zwei Jahren hielt ich dort eine Rede, und es war mir ein großes Anliegen, den Trauernden Folgendes mit auf den Weg zu geben: Jeder Tag, seit dem Sie sich von Ihrem lieben Angehörigen für immer verabschieden mussten, bringt Sie dem Tag näher, an dem Sie diesen lieben Menschen wiedersehen werden. Freuen Sie sich also, denn Schritt für Schritt, Tag für Tag kommen Sie denen näher, die schon gegangen sind.
Am schönsten geht sich dieser Weg, so meine ich, in guter Begleitung. Auch ich weiß mich auf meiner Reise westwärts von vielen Menschen begleitet. Manche gehen schneller, andere langsamer als ich. Wir sollten die Zeit auf dem Festland, die Zeit zwischen den Meeren nutzen, um Menschen kennenzulernen, auf die wir uns später freuen!
Die Toten sollen sich bei mir wohlfühlen
Seit meinem 14. Lebensjahr spiele ich Schlagzeug. Mit ein paar Freunden formierte ich mich damals zu der Band »Butlers«. Wir machten Tanzmusik, und später verdienten wir – besonders im Fasching und an Silvester – auch ganz gut damit.
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