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Umbrüche – geplante oder ungeplante – stellen häufig unser ganzes Leben auf den Kopf. Denn ob Trennung, Umzug, Renteneintritt oder der Tod eines geliebten Menschen: Plötzlich ist nichts mehr wie zuvor. Gewohnte Sicherheiten brechen weg, wir müssen neue "Leitplanken" finden und uns einen neuen Alltag schaffen. Wir brauchen Rituale und Routinen, die uns Halt geben und den Tag so strukturieren, dass wir uns in unserem Leben wieder zu Hause fühlen können. So erging es auch Carmen Tatschmurat, der ehemalige Äbtissin der Abtei Venio, also sie von ihrem Amt zurücktrat und ein Sabbatjahr einlegte. In diesem Buch erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen in dieser Zeit und sucht Antworten auf Fragen, die Menschen sich generell in solchen Umbruchsituationen stellen: Was ändert sich gerade alles? Was soll sich ändern, was soll bleiben? Was will und brauche ich? Wie kann mein Weg weitergehen, praktisch und spirituell? Wo liegen ganz neue Chancen? Ein Buch voller Inspirationen und Impulse für neue Lebensphasen
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Seitenzahl: 175
Carmen Tatschumrat
Mein Leben neu ordnen
Benediktinische Impulse für Zeiten des Umbruchs
Vier-Türme-Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022
ISBN 978-3-7365-0451-6
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2022
ISBN 978-3-7365-0480-6
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Dr. Matthias E. Gahr
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller, Stuttgart
Covermotiv: robert_S / shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Ungewohnt frei
Ein Jahr liegt hinter mir, in dem ich keine Aufgaben und nur wenige Termine hatte. Im Januar 2021 habe ich die Verantwortung als Äbtissin für unser Kloster, die Abtei Venio, in jüngere Hände übergeben. Eine Sabbatzeit begann, die ich in räumlicher Distanz zur Gemeinschaft verbrachte. So konnte meine Nachfolgerin den Beginn frei gestalten und ich bekam genug Abstand, um mich neu zu orientieren. Unsere Ferienwohnung nahe dem Starnberger See, eine knappe Autostunde von unserem Kloster in München entfernt, war der ideale Ort dafür. Etwas aufgeregt fragte ich mich zu Beginn: Wie wird es mir gehen? Worauf muss ich achten? Wo entstehen besondere Herausforderungen und wo zeigen sich ganz neue Spuren?
Ich reflektiere in diesem Buch einiges, was mir in dieser Zeit wichtig wurde. Es ist eine Palette von persönlichen Themen geworden, von denen manche für Menschen in Umbruchsituationen vielleicht ebenfalls bedeutsam sind. Denn ähnliche Herausforderungen stellen sich auch an anderen Lebenswenden, etwa, wenn die Berufstätigkeit endet, die Kinder das Haus verlassen haben oder nach vielen gemeinsamen Jahren der Partner, die Partnerin nicht mehr da ist. So war ich mit ganz praktischen Fragen konfrontiert: Wie strukturiere ich meinen Tag? Welchen Maßstäben soll diese Struktur folgen? Welche innere und äußere Ordnung hält mich? Wie gehe ich unter ganz neuen Umständen weiter auf meinem Weg? Welche Orientierung und Hilfen brauche ich? Was brauche ich nicht mehr? Und zentral: Wie komme ich (wieder) zu innerer Freiheit und »Fröhlichkeit im Herzen«, wie Angela Merkel es bei ihrer Verabschiedung 2021 genannt hat? Es ging mir beim Schreiben nicht darum, diese Fragen eine nach der anderen abzuarbeiten, sondern sie sollten als bunte Fäden mitlaufen, in der Hoffnung, dass sich langsam ein Muster zeigt.
Zugleich verfolge ich hier wie insgesamt in meinem bisherigen Leben die Spur, den Weg Gottes mit mir zu finden und zu gehen. Die Gedanken, die ich in diesem Buch zusammengetragen habe, schreibe ich als Christin und Benediktinerin, das ist der Boden, auf dem ich mich bewege und der mich trägt. Mein früherer Professor der Soziologie, Karl-Martin Bolte, formulierte gelegentlich als Lebensregel: »Der Mensch braucht Sinn, Ordnung und Gefährten.« Das klingt benediktinisch: Für Menschen, deren Lebenssinn es ist, den Weg mit Christus und auf ihn hin zu gehen, wurde als ordnende Richtschnur die Benediktsregel geschrieben. Und die Gefährten sind die Schwestern oder Brüder, die unter der gleichen Ordnung zu leben versprochen haben. Auch wenn der heilige Benedikt das Leben in Gemeinschaft ordnen will, so kann manches aus dieser Tradition als allgemeine Richtschnur auch für Menschen, die ohne Klosterbindung einen Weg der Sinnsuche gehen, hilfreich sein. Daher habe ich immer wieder auf seine Regel und Erzählungen aus seinem Leben Bezug genommen.
Im Dezember 2021 hat in Deutschland eine neue Regierung die Arbeit aufgenommen. Noch immer hat uns die Corona-Pandemie im Griff. Weltweit sind weiterhin Millionen Menschen auf der Flucht, seit Februar 2022 auch aus der Ukraine. Die Klimakrise bedrängt uns und fordert entschlossenes Handeln. Angesichts all dieser Herausforderungen mag die Frage der Neugestaltung des eigenen kleinen Umfelds wie ein Luxusproblem wirken. Auch diejenigen (zu denen ich gehöre), die die Frage umtreibt, wie Kirche wieder zu einer glaubwürdigen Institution werden kann, die Lust auf eine gemeinsame Gottsuche in allen Facetten macht, weisen möglicherweise die folgenden Ausführungen als politisch unkorrekten Rückzug auf das Private zurück. Beide Einwände treffen zu. Und dennoch: Wahrhaftigkeit für das eigene Leben zu suchen, persönliche Umkehr und ein immer wieder neuer Anfang sind erste Schritte, die dann andere nach sich ziehen können.
Noch zwei Anmerkungen zum Buch: Die Abschnitte folgen zwar einer gewissen Logik, können aber auch einzeln nach den je persönlichen Vorlieben gelesen werden. Die Uneinheitlichkeit bezüglich weiblicher und männlicher Form ist beabsichtigt; das ist weniger ermüdend zu lesen als ständige Doppelungen (beziehungsweise Erweiterungen um diverse Formen) und kann gelegentlich hoffentlich überraschen.
Meine Schwestern haben mir durch die Freistellung von allen Verpflichtungen die Gelegenheit gegeben, dieses Buch zu schreiben. Tilly Miller hat das Entstehen des Textes Schritt für Schritt begleitet und einfühlsam und klug kommentiert. Ohne sie und ohne die Ermutigung und die hilfreichen Kommentare von Marlene Fritsch wäre das Buch in dieser Form nicht zustande gekommen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank!
München, den 21.03.2022, dem Fest des Heimgangs des hl. Benedikt
Wenn sich alles ändert
Plötzlich scheint die Zeit, die straff durchgetaktet war, symbolisiert durch den vollen Terminkalender, stillzustehen. Die freien Stunden und Tage sind zu einer Zeit der Gelegenheit geworden, in der Neues möglich wird. In der Sprache der griechischen Mythologie weicht der Gott Chronos dem Gott Kairos.
Viele von uns haben das angesichts der radikalen Reduzierung des öffentlichen Lebens und auch des Lebens der Kirchen durch die Corona-Pandemie erlebt. Unfreiwillig wurden wir in eine ganz andere Zeit gestellt. Nichts davon, was uns abverlangt wurde, war gewählt oder vorhersehbar und schon gar nicht planbar. Und dennoch: eine Zeit der Gelegenheit – das ist die Hoffnung, vielleicht sogar Verheißung.
Wer ist Kairos und wofür steht er? Im Haus der Begegnung in Burghausen findet man ihn in einer Wandnische. Ein kleiner hölzerner Läufer, im Profil dargestellt und mit drei versilberten Attributen versehen: ein Haarbüschel auf der Stirn, das gegen die Gesetze der Physik beim Lauf nicht nach hinten, sondern nach vorne weht; ein Messer in der rechten Hand, dessen Schneide ebenfalls nach vorne zeigt, an den Fersen je zwei kleine Flügel, wie sie sonst nur Putten in Barockkirchen zwischen den Schulterblättern tragen. Neben der Figur ist folgender Dialog zu lesen, bei dem der Betrachter schnell merkt, dass er selbst es ist, der die Fragen stellt:
»Wer und woher ist dein Künstler? – Aus Sikyon.
Und wie ist sein Name? – Lyssipos.
Und du selbst? – Kairos, der alle bezwingt.
Was stehst du so auf deinen Zehen?
– Bin stets auf dem Sprung.
Und warum denn hast du zwei Flügel am Fuß?
– Fliege ich doch wie der Wind.
Und das Rasiermesser in deiner Rechten?
– Den Menschen zum Zeichen, dass ich schärfer trenne als jede Schneide der Welt.
Was soll der Schopf an der Stirn?
– Wer entgegenkommt, kann mich da packen, ja, beim Zeus!
Aber wozu bist du denn hinten ganz kahl?
– Bin mit geflügelten Füßen ich einmal vorübergelaufen, niemand, wie sehr er’s auch wünscht, hält mich hinten mehr fest.
Warum denn schuf dich der Künstler?
– Für euch und euch zur Belehrung, Fremder, stellte er mich hier in der Vorhalle auf.«
Das Original dieser Darstellung samt Dialog befindet sich in Trogir in Kroatien, dort trägt er auf dem Schneidemesser noch eine Waage. Das Bild selbst stammt aus der griechischen Mythologie und verkörpert die »Erfüllte Zeit«. Das Griechische kennt zwei Begriffe für das, was wir einfach nur mit »Zeit« bezeichnen: Kairos und Chronos. Chronos meint die Zeit, wie wir sie auf der Uhr ablesen. Die Uhr, der Chronometer, misst die Zeit gleichmäßig und gleichgültig. Sekunden, Minuten und Stunden sind geeicht, keine länger, keine kürzer als die andere. Chronos, das ist die Zeit, die vergeht, vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Es ist unsere Lebenszeit, die abläuft, zwischen Geburt und Tod, auf den Tod zu. Chronos ist daher die Zeit, die wir nutzen wollen, weil sie begrenzt ist. Und das heißt: Man muss herausholen, was nur geht. Das hat freilich einen gehörigen Nachteil: Es kann nicht jeder alles unbegrenzt herausholen. Irgendwo gehen die Ressourcen aus. Vielleicht liegt hier, in der Vorstellung von der begrenzten Zeit, eine Wurzel des Unfriedens, den manche Menschen in sich tragen.
Die Zeit hat noch eine andere Gestalt und auch sie spricht von der Begrenzung, aber sie droht nicht, sondern lädt ein. Diese Gestalt ist Kairos. Der Name bedeutet: das rechte Maß, der günstige Augenblick, der entscheidende Zeitpunkt oder auch am rechten Platz zu sein. Die griechische Mythologie sah in Kairos die Gottheit der günstigen Gelegenheit und des Rufs in die Entscheidung. Schnell kommt sie daher, man muss sie sehr wach sehen und entschieden zupacken. Denn wenn sie vorbei ist, lässt sie sich nicht mehr festhalten. Von dem Bild des Läufers mit der Stirnlocke kommt der bekannte Ausdruck »die Gelegenheit beim Schopf packen«. Wer sie nicht kommen sieht, hat das Nach-Sehen. Denn hinten hat Kairos eine Glatze, dort kann man ihn nicht packen. Es heißt also geistesgegenwärtig zu sein. So ist Kairos im übertragenen Sinn der günstige Augenblick, der dem einzelnen Menschen entgegentritt und der von ihm erkannt und genutzt werden will.
Im Neuen Testament wird diese Gestalt mit Christus verbunden. Im Markusevangelium eröffnet Jesus sein öffentliches Wirken in Galiläa mit dem Satz: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15). Das meint: Jetzt! Und für die »Zeit« steht hier das griechische Wort Kairos. Wir begegnen an dieser Stelle der erfüllten, nicht der verrinnenden Zeit. Sie ist mit dem nahegekommenen Reich Gottes gefüllt, sagt Jesus. Das »Reich Gottes« ist aber nicht die eine oder andere Organisationsform, mit der wir unser Leben besser gestalten könnten, wie wir es ständig versuchen. Das »Reich Gottes« liegt in Jesus Christus selbst begründet, in ihm ist es uns schon jetzt nahegekommen. Die erfüllte Zeit ist die Zeit der Gnade, der Gnade Gottes. In Jesu Christus kommt sie auf uns zu und will ergriffen werden. Eindrucksvoll umgesetzt wird dies etwa in der Augsburger St.-Moritz-Kirche: Ein großer, leerer Kirchenraum und eine Christusfigur, die vom Altarraum her auf uns zuzulaufen scheint.
Der Künstler Leo Zogmeyer stellt die beiden Aspekte der Zeit gleichzeitig dar, indem er mitten auf das Zifferblatt einer Armbanduhr groß das Wort Jetzt schreibt. Das soll uns daran erinnern, dass immer beides da ist, die Zeit, die vergeht, und der Augenblick, den es wahrzunehmen gilt.
In der Praxis ist es wohl nicht so einfach. Wenn uns die Zeit unter den Fingern verrinnt, wenn wir nichts mehr zu tun haben von all dem, was unseren Tag bisher strukturiert hat, ist da zunächst eine Leerstelle, die nicht sofort als Freiraum erlebt wird. Wie aber gelingt es, diese Situation als Kairos wahrzunehmen? Das ist die Schlüsselfrage, der ich mich im Folgenden nähern möchte.
Wie gelingt es mir? Zunächst: Mein Kalender ist leerer, aber nicht ganz leer. Ich werde besucht und eingeladen und auch angefragt. Es gibt nicht wenige Menschen, die ich in den vergangenen Jahren viel zu selten gesehen habe und die mir sagen: »Du hast nun Zeit, jetzt können wir uns doch mal treffen!« Ich habe, wenn auch deutlich reduziert, weiterhin Termine für Beratung und Begleitung per Telefon und Video – und ich habe dieses Buchprojekt.
Als befreiend erlebe ich: Ich habe keine Gesamtverantwortung mehr. Ich muss Entscheidungen, die meine Gemeinschaft betreffen, weder ausführlich diskutieren noch dann verantwortlich fällen. Nicht so sehr die großen, sondern vor allem die vielen kleinen alltäglichen Entscheidungen, noch zugespitzt in dem ersten Jahr der Corona-Pandemie, habe ich als sehr ermüdend erlebt. So ähnlich wird es vielen Menschen ergehen, die ihre Berufstätigkeit beenden.
Als herausfordernd erlebe ich: Ich kann entscheiden, wie ich den Tag, die Woche gestalte, wann ich aufstehe, wie ich wann und wo meditiere, bete, was ich koche, wen ich treffe. Zugleich stehe ich in der altbekannten Spannung individualisierten Lebens: Ich kann, aber ich muss auch entscheiden. Wie oft habe ich das in Seminaren mit Studierenden diskutiert! Und wie oft habe ich erlebt, dass sie das freut und zugleich überfordert. Wie will ich leben? Welchen Beruf ergreife ich – jetzt, nicht auf Dauer? Welche Religion »passt« zu mir? Auto, ja oder nein? Welche Schule für mein Kind? Welches soziale Engagement? Kaum ein Bereich ist heute noch selbstverständlich und eindeutig. Nicht einmal das Fernsehprogramm ist eine fixe Größe, auch hier werde ich aufgefordert, selbst Strukturen zu schaffen. In meiner Jugend galt es noch als absolutes No-Go, jemanden während der Tagesschau um 20 Uhr anzurufen. Heute schauen junge Menschen kaum noch analoge Programme. Denn das Allermeiste kann man sehen, wann und wo man möchte, auf dem Tablet oder Smartphone. Dazu die Streamingdienste: Video on demand – ich schaue nach Bedarf, könnte man übersetzen. Ja, es ist herausfordernd, heute den Alltag zu bewältigen, auch wenn man allein lebt. Ich leide nicht darunter, kann aber die Menschen verstehen, denen es sehr schwerfällt, tage- oder wochenlang mit niemandem von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Es stellen sich mir Fragen wie: Mit wem bin ich in Resonanz? Brauche ich dazu das unmittelbare Gegenüber?
Ich werde im Folgenden der Frage nachgehen, wie die Zeit der Freiheit von – Terminen, Verantwortung und Verpflichtungen – zu einer Freiheit für – eine neue Ausrichtung des Lebens auf Gott hin beziehungsweise allgemeiner formuliert, auf das, was mich trägt, was meine Sehnsucht ist, wo ich meine Spur wiederfinden kann – werden kann. Und ich hoffe, dass darin aufleuchten wird, wie solche Zeiten zu einem Kairos werden können.
Zum Nach-Denken
Chronos und Kairos in meinem Leben: Wie erlebe ich diese Spannung? Was ändert sich gerade alles? Was soll sich ändern – was soll bleiben?Welche Stimmungen lösen diese Fragen in mir aus?Wünschen und planen
In Zeiten des Umbruchs stellt sich die Frage nach der Lebensgestaltung ganz neu. Wie kommen wir zu praktikablen und klugen Lösungen für die Themen, die vor uns liegen? Und vor allem: Wie kommen wir zu dem, was gerade in dieser Lebensphase richtig ist und uns reifen lässt? Welche Wünsche haben wir, welche Wünsche trauen wir uns zuzugeben? Und was geschieht, wenn sie sich nicht verwirklichen lassen? Denn bestimmte Rahmenbedingungen sind nicht veränderbar und unerwartete Ereignisse gibt es auch immer wieder.
Was wünsche ich mir eigentlich? Und welche Erwartungen habe ich an mich und meine Umwelt? Wenn ich Wünsche formuliere, dann ist damit die Hoffnung verbunden, dass sie sich erfüllen, manchmal habe ich aber bereits die leise Ahnung, dass das nicht unbedingt wahrscheinlich ist oder nicht in meiner Hand liegt. Einer der häufigsten Wünsche, der nach Gesundheit, ist ein gutes Beispiel dafür. Wünsche dürfen sich auch völlig verrückt anfühlen, denn dadurch zeigen sie eine Dimension unserer Persönlichkeit, die im Alltag nie ganz zum Tragen kommen kann. Aus den Märchen und auch aus der Bibel lernen wir allerdings, dass es wichtig ist, klug zu wünschen. So bittet der junge König Salomo, als Gott ihn auffordert, sich etwas zu wünschen, um ein »hörendes Herz«, um sein Volk regieren und Gut und Böse unterscheiden zu lernen (1 Kön 3,9). Das drastische Gegenteil wird im Märchen der Brüder Grimm »Der Fischer und seine Frau« erzählt, in dem die Frau immer extremere Wünsche hat, und als sie schließlich Gott sein möchte, findet sie sich wieder da, wo alles begann: in ihrer armseligen Hütte.
Erwartungen dagegen richten sich konkret an andere Personen oder Institutionen und sind mit einem Anspruch an Verwirklichung verbunden. Ich erwarte, dass meine Schwester mich regelmäßig anruft oder dass die Bank meine Geldgeschäfte zuverlässig abwickelt. Umgekehrt sind wir mit den Erwartungen anderer konfrontiert und müssen immer neu entscheiden, ob wir sie erfüllen wollen oder nicht. Erwartungen haben die Eigenschaft, uns einzuengen und zu bremsen, denn sie machen uns abhängig von einem Geschehen außerhalb unserer selbst. Wenn ich überwiegend Erwartungen habe, gebe ich dem Unerwarteten nur wenig Chancen.
In der Sozialen Arbeit wird zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterschieden. Professionell wird daran gearbeitet, Bedürfnisse zu klären und Menschen Wege aufzuzeigen, wie Bedürfnisse besser zu erfüllen sind. In dem Maß wie das gelingt, kann schrittweise eine bessere Lebensqualität hergestellt werden. In einem Realitätscheck geht es dann darum, Wünsche und Bedürfnisse abzugleichen: An der Verwirklichung welcher Bedürfnisse kann ich arbeiten? Ein Beispiel: Wenn eine Jugendliche Profifußballerin werden möchte, um dadurch schnell berühmt und reich zu werden, sollte – je nachdem, ob sie dafür überhaupt die Begabung mitbringt – erst einmal geklärt werden, was sie damit verbindet. Geht es um das Bedürfnis nach Anerkennung oder darum, anders als die Eltern keine Geldsorgen mehr zu haben, oder geht es um die Freude am Sport und am gemeinsamen Wettstreit? Herauszuarbeiten wären dann sowohl die konkreten Bedürfnisse und die ersten Schritte zu deren Umsetzung, wie auch der eine tiefe Wunsch dahinter, der vielleicht so formuliert werden kann: Ich möchte gesehen, anerkannt und geliebt werden als ganze Person, mit meinen Fähigkeiten und Stärken.
Es stellt sich nun die Frage, wie wir bei der Vielzahl von Wünschen, von Wünschenswertem, von Erwartungen und Bedürfnissen zu dem einen grundlegenden Wunsch gelangen können, auf den wir unsere Energie richten wollen. Worauf soll ich mein inneres Navigationsgerät einstellen? Um dem auf die Spur zu kommen, was wir uns im Innersten wünschen und was zu uns als Persönlichkeit passt, können zwei Stichworte hilfreich sein.
Aus der Grundkraft schöpfen
Erinnern wir uns an schöne Momente im Leben oder an ein spezielles Ereignis in der letzten Zeit: Wie war die Situation genau, wann, wo und mit wem war ich zusammen? Wodurch wurde diese Zeit zu einer glücklichen Zeit? Welche Bilder steigen in mir auf? Kann ich ein Gefühl von Leichtigkeit und Lebendigkeit spüren, wenn ich daran denke? Welche Kraft hat mich in diesem Moment getragen?
Er-innern ist ein Prozess, der, wie das Wort sagt, nach innen gerichtet ist: Ich höre auf das, was in meinem Innersten anklingt. Sehr wahrscheinlich hängt diese erfüllte Situation mit Bedingungen zusammen, die unwiederbringlich vorbei sind. Menschen, die nicht mehr da sind, Orte, an denen ich nicht mehr bin, Jugend, Gesundheit, ein aufregender Neuanfang, eine große Liebe ... Wenn man jedoch Erinnerungen nur rückwärtsgewandt als Vergangenes pflegt, kann man leicht ins Sentimentale abrutschen. Ein Zurückholen-Wollen dessen, was nicht mehr zurückkommt, ist eine Sackgasse. Vielmehr gilt es das, was zutiefst gut war, als Teil des gegenwärtigen Selbst neu zu entdecken und in die Gegenwart einfließen zu lassen. Die emotionale Quintessenz daraus soll neu aktiviert werden. Das bedeutet: Kann ich diese Momente von Leichtigkeit und Lebendigkeit in meinen Tag heute hineinbringen? Hilfreich ist es, wenn man sich dazu ein inneres Bild, eine Melodie oder ein Wort als persönlichen Anker für die als erfüllt erfahrene Zeit sucht.
In diesem inneren Aufhorchen darauf, welche Situation man aus dem vielen, was man bereits erlebt hat, ausgewählt hat, liegt der Schlüssel dazu, welche Grundausrichtung sich heute zeigt. In dem Maß, wie ich damit in Verbindung komme, gelingt es mit einiger Übung, zumindest für den Augenblick dem Leben etwas Leichtes, Unangestrengtes, Inspirierendes, Aufregendes, Fröhliches abzugewinnen. Indem man sich mit diesem Gefühl verbindet, kann man sich fragen: Was für ein Typ Mensch bin ich gerade? Welche Eigenschaften habe ich, was macht mich einmalig? Wie soll die Welt aussehen, in der ich leben, arbeiten, Freundschaften pflegen und mich weiterentwickeln möchte? Wenn ich von da aus nochmals auf meine Bedürfnisse und den einen, wesentlichen, darunterliegenden Wunsch schaue: Was zeigt sich mir – Freundschaft, Beziehung, im Herzen weit werden, Verbindung mit einem höheren Ganzen? Und was »bedarf« es, um dem näherzukommen? Da spannt sich der Bogen zu dem, was Arnold Mindell in der prozessorientierten Therapie mit dem Begriff der »Grundkraft« bezeichnet: Aus welcher Quelle speist sich meine Kraft? Denn mit der Energie, die in dieser Form nur ich habe, kann ich meine Aufgaben angehen und lösen. Dazu kann ich mich fragen: Kommt meine innere Stärke aus der Stille? Aus Begegnungen? Aus der Natur? Dem Gebet? Wie kann ich sie benennen? Ist es die Kraft einer Löwin, die ganz entspannt und ruhig lebt, aber im entscheidenden Moment zu voller Größe aufstehen kann, um ihre Jungen zu verteidigen? Oder welches andere Bild kann ich dieser Kraft geben?
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